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Fünftes Kapitel.

Es war zu Ende des Monats März im kommenden Jahre, da man 1522 schrieb. Übergenug war es dessen, was die Geister allerorten bewegt hatte, und viel Gesetzloses war geschehen, in Wittenberg zumal; der rechte Führer fehlte. Von Monat zu Monat hatten die Anhänger des Martinus treulich geharrt, denn fest stand es in ihrem Herzen, daß die gute Sache auch zum guten Ende kommen müsse. Meister Andreas hatte seine Worte nicht gespart und sonderlich im Sommer, wo er unter der kleinen Linde vor seinem Hause sein Handwerk geübt, hatte er Zuhörer genug gehabt; einige, die ihn verlachten, andere, die ihm zugestimmt, und der letzteren war die große Mehrzahl gewesen. Je kleinmütiger er selbst geworden, desto lauter und eindringlicher hatte er gerufen: »Mut, Mut! Die Sache des Martinus muß siegen, dafür stehe ich ein, ich, Meister Andreas Schünemann!« Wenn er aber dann in der Morgenfrühe oben an der offenen Dachluke gestanden und in der Stille den Tauben zugeschaut, wie sie im sonnigen Raum schwebten und der »schillernde Papst« den andern allen vorausflog, hatte er den Kopf geschüttelt, die Hände in einander gelegt und heimlich geseufzt.

Oftmals hatte sich die Luke drüben aufgethan und Karstens blasses Antlitz ihn freundlich angeblickt. Das hatte ihm allemal die trüben Gedanken verscheucht, denn der junge Schulgeselle war seine ganze Freude. Mußte es nicht etwas Sonderliches mit ihm sein? Hätte sonst der Ratmann Johann Salige ihn für seinen Junker angenommen? Würde Bruder Benedikt ihn so lieb haben? Und wie gut stand ihm der Rock aus flandrischem Tuch, den er, Meister Andreas, mit besonderem Fleiß angefertigt hatte! Wie anders war Karsten geworden, wie glänzten seine Augen, und wie gerade hielt er sich.

Wenn dann beide in der Dachluke standen und zum lichten Himmelsraum aufblickten, rief Meister Andreas wohl, indem er am Ende die Luke zuklappte: »Hoffnung läßt nicht zu Schanden werden! Karsten, wir wollen uns nicht gegen Gott und den Martinus versündigen, es wird noch alles gut werden.«

Aber Monat um Monat verging, und es geschah nichts, was diese Hoffnung rechtfertigte. Im Gegenteil, die Nachrichten über das Treiben der Wittenberger kamen immer häufiger und beunruhigender, und auch im neuen Jahre war es nicht anders geworden.

Hinrich Malenbeke schüttelte betrübt den Kopf, und Meister Andreas rief sich selbst auf seinem Schneidertisch zu: »Mut, Mut, die Sache des Martinus muß siegen!« Nur Bruder Benedikt, ob er wohl vieles tadelte, war sorglos und hoffnungsfroh.

»Ich weiß nicht, wo der Mönch das unentwegte Hoffen herkriegt,« sagte Meister Andreas oft und schob die Zipfelmütze von einem Ohr aufs andere.

»Es wird eben die rechte Quelle sein, aus der er schöpfet,« meinte der Flickschuster. –

Der Frühling kam in das Land. Es war viel Schnee gewesen, nun hatte es getaut, und aus den weithervorragenden Dachrinnen strömte das Wasser auf die Straßen.

Die beiden Alten saßen gegen Abend auf den Holzschemeln neben einander, aber nicht wie sonst gab es schnelle Rede und Gegenrede, sondern schweigend blickten sie zu Boden, voll sorgenvoller Gedanken, bis Meister Andreas sagte: »Man weiß nicht mehr, was reden; wenn nur der Martinus wieder da wäre und Freude und Ärger in die Welt brächte; es ist nichts, also zu warten. Er mag längst tot sein.«

Der Flickschuster antwortete nicht, und das vorige Schweigen herrschte in dem kleinen Gemach, bis Meister Andreas von neuem anhub: »Hinrich, Ihr solltet Euch einen Kanarienvogel anschaffen, dann ist doch ein bischen Sing-Sang um einen, denn anders giebt's nichts Frohgemutes mehr.«

»Meine Seele ist stille zu Gott!« entgegnete Hinrich Malenbeke. »Andreas, ich habe Freude genug im Herzen. Laßt uns zufrieden sein mit solchem Anfang, vielleicht sollen wir den Fortgang allein machen, ohne die mächtige Hülfe von außen her.«

»So?« fuhr der Schneider mit altem Feuer auf. »Alleine machen –, und dann auch Schwarmgeister werden, wie sich in Wittenberg aufgethan?«

Hinrich Malenbeke wollte etwas erwidern, aber er hörte, wie die Hausthür geöffnet wurde, und ehe er sich erheben konnte, trat Bruder Benedikt ein. Ohne des Willkommgrußes zu gedenken, sprang Meister Andreas auf und rief: »Gut, daß Ihr kommt. Das Herz ist uns schwer. Es giebt anjetzo nichts als traurige Botschaft, wollet uns trösten, ehrwürdiger Bruder.«

»Was habt Ihr denn Betrübliches?« fragte der Mönch mit fröhlicher Stimme, die nicht zu der Frage paßte.

»Betrübliches? Darnach könnet Ihr noch fragen? Ist nicht auch Euer Herz erschrocken über die Dinge in der Welt? Ihr wisset sowohl als ich, wie die Nachrichten aus Wittenberg lauten. Die Mönche des Augustinerklosters allda haben den Anfang gemacht, Privat- und Seelenmessen abgeschafft, den Kelch bei dem Abendmahl hergestellt, den Mönchen die Freiheit gelassen, ihr Gelübde für nichts zu achten. Die Leute sind ihnen zugefallen, der Heiligendienst ist aufgegeben. Und daran nicht genug, das möchte ich ja alles mitgehalten haben, aber es sind Schwärmer gekommen, haben groß geredet, das Volk aufgereizt, die Bilder der Heiligen aus den Kirchen geworfen, und ist ein unordentlich Wesen eingerissen, daß man wenig den heilsamen Anfang wahrnehmen kann.«

Bruder Benedikt hatte sich während dieser Rede einen Holzschemel neben den des Schneiders gerückt, jetzt legte er die Hand auf dessen Arm und sagte langsam: »Der Martinus ist wieder da!«

Einen Augenblick war's totenstill im Stübchen, und Meister Andreas starrte den Mönch fassungslos an, dann sprang er auf, riß die Zipfelmütze vom Kopf und rief: »Viktoria, Gott sei gelobt, nun ist Alles gut! Hab ich's nicht immer gesagt? Mut, Mut, die Sache des Martinus muß siegen? Ich hab's gewußt, daß es so kommen würde, Hinrich, wo ist die Lampe? Zünde sie an, ich mache die Laden zu. Man muß sich bei solcher Botschaft und Freude doch in die Augen sehen können!«

Er war aufgesprungen und eilte hinaus, der Altflicker aber fuhr sich mit dem groben Ärmel über die Augen und sprach: »Bruder Benedikt, das war eine gesegnete Nachricht. Der Hochgelobte sei gepriesen, es war aber auch Zeit, daß sie kam, die Leute haben nicht alle eines Flickschusters Geduld.«

Meister Andreas kam wieder herein gesprungen, schob den niedrigen Schustertisch bei Seite und jubelte: »Gearbeitet wird nicht, erzählt, Ihr Gesegneter von Sankt Kathrinen!«

»Wie die Sachen standen, habt Ihr vorhin gesagt, Meister Andreas,« hub der Mönch an, »und wenn solches auch eine Weile konnte dem Luther verborgen bleiben, so doch nicht für immer.«

»Aber wo war er denn?« fragte der Schneider.

»Der Kurfürst hat ihn auf die Wartburg bringen lassen ganz im geheimen. Dort sollte er bleiben bis auf weiteres, heißt, bis die Feinde das Feuer ihres Hasses hätten ein wenig verlodern lassen. Wie nun aber der Martinus höret, was in Wittenberg geschieht, da wartet er nicht länger, sondern frank und frei geht er an seinen alten Platz, treibt die Wiedertäufer aus der Stadt, stellt die Ruhe her und predigt sieben Tage nach einander. Das soll ein gewaltig Predigen gewesen sein. Alle Welt richtet nun wieder den Blick gen Wittenberg, wie vordem.«

»Nun wird das Heil kommen!« rief Meister Andreas begeistert.

»Gott geb's,« fügte der Flickschuster ernst hinzu.

Am andern Morgen, so früh es schicklich, ging Bruder Benedikt zu Jungfer Elsabe. Sie war allein in dem Gemach oben und saß vor dem hellbrennenden Kamin. Ernst blickte sie in die Glut. Es war manches, was ihr das Herz beschwerte, und eben hatte sie sich Hülfe und Trost aus der Höhe erbeten. Da trat Bruder Benedikt ein, und mit leuchtenden Augen ihr ins Antlitz blickend, sagte er leise: »Er lebt! Er ist da, er steht an seinem alten Platz!«

»Wer? Der Martinus?«

»Ja, Gott sei gelobt!«

Große Thränen rannen aus Jungfer Elsabes Augen. Das Hoffen und Harren hatte so lange gewährt, und fast müde war die Seele geworden im sehnsüchtigen Flehen, daß, der den rechten Weg gewiesen, ihn nun auch weiter bahne, mehr Klarheit, Festigkeit und Stärke den ringenden Gemütern gebe.

Der Mönch erzählte ihr nun, was er selbst wußte; als er geendet, sagte Jungfer Elsabe: »Wir haben Unrecht gethan, daß wir verzagten, als die Hülfe nicht sogleich kam. Der Hochgelobte hat andere Zeit als wir und rechnet mit göttlicher Weisheit.«

»Ihr habt recht,« entgegnete Bruder Benedikt, »es wird noch viel geduldiges Warten vonnöten sein, denn schwer und hart wird der Kampf allhier werden, dennoch – wie ich von Anbeginn gesagt habe – die gute Sache wird siegen.«

»Noch eines laßt mich fragen; was sagt der Kaiser?«

»Der Kaiser ist meistens außer Landes, und das hat Gott gegeben, sonst würden die Sachen bald anders laufen. Möge er noch so lange fern bleiben, bis das Pflänzlein der neuen Lehre erstarkt ist, daß es dem Sturmwind rechter Weise trotzen kann.«

Draußen wurde es jetzt lebendig und Junker Raimar rief: »Bruder Benedikt ist hier! Komm, Kordula! und auch Ihr, Karsten! Er muß Ball schlagen mit uns auf der Diele; der Vater ist nicht daheim, wir stören ihn nicht.« Da wurde auch schon die Thür aufgerissen, und zwei Kinderarme umschlangen den Mann in der braunen Kutte.

»Bruder Benedikt! ich habe Euch drei Tage lang nicht gesehen!«

Liebreich strich der Mönch dem Knaben das Haar aus der Stirn und sprach: »Darum bin ich nun auch gekommen, aber nicht Ball schlagen gilt es, sondern ich will wissen, was mein fleißiger Junker gelernt hat.«

»Ja, das sollt Ihr,« entgegnete der Knabe stolz. »Nicht wahr, Karsten, er wird mich loben?«

»Ich hoffe es,« stimmte dieser freundlich zu.

Raimar holte seine Tafel, aber ehe er sie dem Mönch reichte, zog er ihn ans Fenster und flüsterte: »Bruder Benedikt, der Luther ist wieder da.«

»Woher weißt Du das?« fragte der Angeredete erstaunt.

»Tile, der Koch, erzählte es Emerentia, und einer der Hausarmen, die gestern zum Mittagessen kamen, berichtete dem alten Martin davon. O, Bruder Benedikt, ich freue mich so, denn es wird Euch freuen, und die Leute sagen, nun wird alles anders, und das mag ich auch gern; es ist schon so lange immer dasselbe gewesen.«

Der Mönch lächelte: »Junker Raimar, sprich nicht vom Luther; Du verstehst es noch nicht, und es kränkt den Herrn Vater.«

»Meint Ihr? dann will ich's lassen, aber wenn ich groß bin, dann rede ich immerfort vom Luther mit Euch, mit Muhme Els, mit Karsten, aber nicht mit Kordula, die macht solch ein finsteres Gesicht, wenn jemand den Namen nennt; sie hat ihn nicht lieb, Bruder Benedikt.«

»Zeig mir Dein Täflein her,« brach der Mönch das Gespräch ab, und gleich darauf saßen beide am Tisch, eifrig beschäftigt mit den Schulwissenschaften; Karsten war fortgegangen und Muhme Els und Kordula hörten den Beiden zu.

* * *

Nicht so gesellig ging es in Frau Herbort Luntes Hause zu. Dasselbe lag in der nämlichen Straße, wie das des Ratmannen, da, wo man sie damals »Gegen des Rades Cancellie over« nannte. Es war stattlich von innen und außen. Frau Herbort hatte verstanden, sich behaglich einzurichten. Sie und Eva waren außer den Dienstboten die einzigen Bewohner, es war also reichlich Platz vorhanden und nicht not, die immerhin engen Räume sorglich auszunutzen.

Frau Herbort war Witwe, als Harmen Lunte sie ehelichte, und hatte er des Geldes reichlich gehabt, so sie noch viel mehr. Jakobina war ihre Tochter aus erster Ehe gewesen, und ein gut Teil des Vermögens durch sie an Herrn Johann Salige gekommen; aber es blieb ihr noch übergenug, um vornehm zu leben.

Frau Herbort saß allein in dem hohen Gemach zu rechter Hand der Hausthür; Eva war von ihr mit einer Bestellung zur Äbtissin von St. Johannis geschickt, denn sie suchte Gelegenheit, das Mädchen so viel wie möglich mit Menschen zusammenzubringen, die am alten Glauben festhielten.

Frau Herbort gedachte vergangener Zeiten, und die Hände mit der feinen Leinenstickerei ruhten müßig im Schoße. Auf ihrem Antlitz, welches regelmäßig und streng war, lag jetzt ein bittrer Zug, und sie murmelte vor sich hin: »Warum, ihr Heiligen, ist mir all das Herzeleid gekommen? Habe ich nicht geopfert und gefastet schier über Vermögen?«

Dann blickte sie durch die kleinen grünen Scheiben auf die schmutzige Straße hinaus. Es war heute einsam und still draußen und nichts, was ihre Gedanken abzog. Sie lehnte sich zurück in den hohen Armstuhl, dessen gerade Rücklehne oben an beiden Seiten mit geschnitzten Löwenköpfen verziert war; sie sah auf die bunten Bilder aus der heiligen Geschichte, die über der zur halben Höhe eingefügten Täfelung längs der Wände hinliefen, und ihre Augen blieben haften auf der Verkündigung Mariä. Die heilige Jungfrau trug die Züge ihrer Anna, so hatte Harmen Lunte es damals gewollt. War es eine Sünde gewesen? Nein, nein, ihr schönes, reines, unschuldiges Kind konnte wohl sein Antlitz hergegeben haben zum Abbild für die Gebenedeite.

Frau Herbort war eine kluge Frau, und da sie jahraus jahrein dieselben Gedanken gesponnen hatte, konnte es nicht fehlen, daß ihr die rechte Erkenntnis gekommen war, ob sie sich ihr gleich gewaltsam verschloß. Sie hatte einen stolzen, hochfahrenden Sinn, und als sie einstens des Reichtums genug gehabt hatte, da wollte sie mehr der Ehren. Jakobina, ihre ältere Tochter, konnte von Glück sagen, daß sich noch ein Freier für sie gefunden hatte, war er auch ein Emporkömmling; aber ihre Anna, die mußte etwas Sonderliches haben, und da diese selbst dessen nicht begehrte, mußten ihrer Mutter Augen offen stehen und suchen nach einem aus edlem Geschlecht, denn geringer sollte es die Maid nicht thun.

Und es kam einer, der hieß Hans von Jentzkow und war ein jüngerer Sohn derer zu Dewitz im Lande Mecklenburg. Er war stattlich und wohlgestaltet, aber er hatte kein adelig Herz, sondern war roh von Sitten, wenngleich nur dann, wenn er vermeinte, daß ihn niemand sähe von denen, an deren Wohlmeinen ihm gelegen war. Er hatte verstanden, sich bei Frau Herbort einzuschmeicheln, die damals schon als Wittib lebte, und obgleich redliche Freunde sie warnten, so verstummten sie doch bald vor der herben Weise, in der sie abgewiesen wurden.

Jungfrau Anna weigerte sich wohl und flehte die Mutter an, sie nicht dem wüsten Gesellen zu eigen zu geben, aber diese entgegnete kühl und hart, daß schon Männer, die es ärger getrieben hätten, gute und ehrenwerte Eheherren geworden seien.

Prächtig war die Hochzeit gewesen. Der ganze Wohlstand Frau Herborts wurde zur Schau gestellt, und mehr als einer blickte neidisch auf das schöne, vornehme Paar; man verwunderte sich nur, daß die Augen der Jungfer Braut so glanzlos und ihre Wangen so bleich waren.

Nun kam ein Jahr des Leides. Frau Herbort zuckte leise schaudernd zusammen, als sie des Elends, des Haders und Zwiespalts gedachte, zumal sie alles allein und heimlich getragen hatte. Es war ihr Streben gewesen, daß nichts über die Mauern des Hauses hinaus kam, damit nicht die Welt ein mitleidig Achselzucken für sie habe.

Herr Hans und Frau Anna wohnten nicht weit von ihr, und oftmals des Abends kam ihre Tochter gegangen, legte das junge, beschwerte Haupt an ihre Schulter und weinte bitterlich. Aber nicht ein einzigmal hatte sie gesagt: »Frau Mutter, Ihr habt es verschuldet.« Still trug sie des rohen, verschwenderischen Mannes Launen, still besorgte sie ihr Hauswesen; es war fast, als gehöre sie nicht dem Leben an, wenn sie der Arbeit und den Pflichten des Tages oblag.

Langsam und qualvoll verging das Jahr. Da wurde Eva geboren. Als die junge Mutter ihr Kindlein in den Armen hielt, leuchtete ihr Auge zum erstenmal wieder in seliger Freude, aber auch zum letztenmal, denn der Tod erlöste ihre fromme, geduldige Seele aus irdischer Knechtschaft. Herr Hans von Jentzkow hatte bald darauf der Mutter seines Weibes trotzig und hochfahrend Valet gesagt; doch hatte sie einen Zug des Grames in seinem Antlitz zu entdecken geglaubt. Sie hatte ihm gegeben, was er verlangte, nur daß er ihr aus den Augen käme, und langsam war er in der Morgenfrühe zum Thor hinausgeritten auf Nimmerwiedersehen. Nur einmal waren Gerüchte zu Frau Herbort gedrungen, er sei ein Kriegsmann geworden und suche Abenteuer; andere dagegen wollten gehört haben, er sei als Pilger fortgezogen. Frau Herbort achtete weder des einen, noch des andern Geschwätzes; sie hatte sich mit ihm abgefunden und er hatte ihr das Kind übergeben; er wollte nimmer Anspruch an dasselbe erheben.

Die Augen der einsamen Frau hefteten sich wieder auf die ein wenig verblaßte Malerei an der Wand. Ja, also war ihr Blick, und so demütig ergeben, wie hier die Hochgebenedeite vor dem Engel kniete, war sie gewesen in dem langen Jahre voll Unbill, Angst und Weh. Sie legte die Hände vor das Antlitz, aber sie weinte nicht, nur wie leises Stöhnen rang es sich von Zeit zu Zeit von ihren Lippen.

Andere Begebenheiten waren nicht minder schmerzlich für sie, und unbewußt hauchte sie: »Markus, Markus!« Lange saß sie regungslos, seine brechenden Augen ließen ihr keine Ruhe, und seine letzten Worte mahnten sie ohne Aufhören an ihr Versprechen, für Jutta und das Kind zu sorgen. Hatte sie es nicht gethan? O ja; wer würde ihr einen Vorwurf machen können? War der Friede des Klosters nicht das Beste und Wünschenswerteste für sie gewesen? Und Kordula? hatte sie nicht einen Platz in ihrem Herzen, und wurde ihr nicht fast weich zu Sinne, wenn sie sich von ihr mit den Augen ihres Markus angeblickt fühlte? Ja, ja, sie wollte redlich für sie sorgen, sie wollte ihr das eigene Haus so einrichten, wie es ihr als Großmutter zukam, nur wissen sollte es niemand, daß sie ihres Sohnes Kind sei, man hätte dann ja auch nach der Mutter gefragt.

Jutta, wie schön und anmutig war sie gewesen! Oft hatte es Frau Herbort geschienen, der Maler habe dem Engel dort an der Wand ihre Züge gegeben; aber sie wollte nicht hinsehen, es war Einbildung. Jutta war eines Goldschmieds, eines unbemittelten Mannes Tochter; wie sollte sie solcher Ehre teilhaftig geworden sein!

Frau Herbort schrak zusammen, denn laut ertönte jetzt der schwere Messingklopfer an der Hausthür, und gleich darauf trat Eva ein, die Wangen gerötet von dem scharfen Winde und dem schnellen Gange. Frau Herbort streckte ihr in ungewohnter Freundlichkeit die Hand entgegen und sagte: »Ich freue mich, daß Du kommst. Lege den Mantel ab und hole das Legendenbuch aus der Truhe; mich verlangt etwas zu hören, was mich von der Gegenwart ablenkt, ich meine, von meinen Gedanken; denn nicht allemal sind diese gute Gesellschafter in der Einsamkeit.«

Das Mägdlein gehorchte, und bald waren Frau Herborts Finger wieder eifrig an dem feinen Linnen beschäftigt. Nur von Zeit zu Zeit flogen ihre Blicke von dem Antlitz der Vorleserin zu der Malerei an der Wand. Ja, Eva glich ihrer Mutter, und tief seufzend flehte die alte Frau, sie möchte von dem Glück des Lebens mehr genießen, als die, deren Züge die Gebenedeite trug. Und wer hatte ihr den Becher des Glückes vom Munde genommen? »Du selbst,« rief die Stimme des Gewissens; Frau Herbort aber sprach leise und trotzig: »Ein ungütig Geschick.«

Als Eva schwieg, war es lange Zeit still im Gemach, endlich sagte sie aufblickend: »Ahne, ich sollte Euch von der Äbtissin bestellen, es sei einer im Leprosen-Hause zu St. Georg vor dem Mühlenthore, der aus dem gelobten Lande gekommen und allhier siech liegen geblieben. Er sei aussätzig, und sie bäte Euch, daß Ihr Euch seiner mit Gaben hülfreich annehmt.«

»Ich will es thun,« entgegnete Frau Herbort; »die Bitte kommt mir sehr gelegen; denn ehe Du eintratest, flehte ich zu den Heiligen, sie möchten mir zeigen, ihnen zu Ehren ein gutes Werk zu verrichten. Du sollst teil daran haben und dem Ausgestoßenen bringen, was ihn erquickt.«

Ängstlich blickte das Mägdlein ihr bei diesen Worten ins Antlitz, sie aber fuhr strenge fort: »Entziehe Dich dem nicht; weißt Du nicht, wie die Heiligen, da sie auf Erden wandelten, ihrer armen und elenden Brüder wahrgenommen haben? Und Du brauchst zudem ja nur von ferne den zu sehen, der Deiner Hülfe bedarf. Wenn Du das Klingeln seiner Schelle hörst, legst Du die Gabe auf den Weg, er wird sie bald finden. Komm, wir wollen Linnen und etliche Dinge zu leiblicher Erquickung in ein Bündlein schnüren, und morgen in der Frühe bringst Du ihm solches. Die alte Emerentia kann Dich begleiten; geh heute noch in ihre Bude und bescheide sie.«

Eva seufzte; schier hart und schwer erschien ihr der Auftrag, aber sie wagte keine Einrede. Zudem war es ihr, als sähe sie die ernsten Augen der Muhme Els auf sich gerichtet und hörte sie sagen: »Was ihr gethan habt einem unter diesen geringsten meiner Brüder, das habt ihr mir gethan.«

Selbigen Nachmittags ging sie zur alten Emerentia, die, wie schon gesagt, durch des Ratmannen Gunst eine Bude in der Straße Ballavervort Jetzt Balauerfohr. inne hatte. Es war eine ganz enge Wohnstätte, eine Stube, zehn Fuß im Geviert, dahinter der Herd, das war alles, aber die Alte war zufrieden mit dem Wenigen.

»Setzet Euch, wohlgeborne Jungfer,« sprach sie erfreut, als Eva bei ihr eintrat, und zog einen grob gezimmerten Holzschemel unter dem Tisch hervor.

»Ich danke Euch,« versetzte diese und nahm Platz. Dann sagte sie der Alten von Frau Herborts Ansinnen.

»Ich gehe mit Euch,« erwiderte sie zustimmend, als das Mägdlein geendet hatte, »aber mich bedünkt, ich könnte es allein ausrichten.«

Eva schüttelte den Kopf. »Gerade das erstrebt Frau Herbort, daß ich mein Grauen überwinden soll, und ich will es.«

»Recht, recht,« stimmte die Alte bei, »morgen nach der Messe bin ich bei Euch.« Es war eine sonderliche Behaglichkeit in dem engen, schmucklosen Raum, und Eva ließ ihre Blicke umherschweifen.

»Woher habt Ihr das kleine, silberne Kruzifix dort an der Wand?« fragte sie plötzlich.

»Mein Tochtermann hat es gearbeitet für Anna Lunte, da sie noch ein jung Mägdlein war; sie hat es allezeit über ihrem Lager gehabt, und als sie von hinnen gegangen ist, hat Frau Herbort es mir zum Angedenken verehrt.«

Evas Antlitz wurde ernst, und sie sprach wehmütig: »Meine Mutter! O Emerentia, ich wollte, ich wüßte mehr von ihr und meinem Vater, aber Frau Herbort ist karg mit ihren Nachrichten.«

»Sie thut recht daran,« entgegnete die Alte, »was soll man viel rühren an dem trüben Wasser leidvoller Vergangenheit! Es wird nur trüber dadurch. Eure Frau Mutter ist zu ewigem Frieden von hinnen gefahren, und, will mich's oft kränken, daß sie zuviel der Bitterkeit des Lebens gekostet hat, so schüttele ich gewaltsam solche Gedanken ab. Darf man auch die Heiligen meistern und gegen den Hochgelobten murren?«

»Ihr habt recht, Emerentia, und ich will mich allezeit des getrösten, daß meine Mutter im Himmel ist; aber mein Vater –«

»Lasset das,« rief die Alte hastig und legte ihre Hand auf des Mägdleins Arm, »den wird die göttliche Barmherzigkeit milde richten. Redet nicht mit mir von ihm, ich stehe nicht Rede und Antwort.«

Fast erschrocken blickte Eva in das harte Antlitz, welches jetzt den Stempel von Haß und Bitterkeit trug; dann sagte sie leise: »Wir wollen nicht aufhören, für ihn zu bitten.«

»Bittet Ihr für ihn,« grollte die Alte, »nicht ich.«

»Emerentia! Ihr hofft doch selber auf Barmherzigkeit?«

»Ich kann bestehen vor den Heiligen. Oder heißt es jetzt anders?«

»Ja, es heißt anders. Und nun seid mildherzig.«

»Ich will's versuchen, aber ich werde es nicht können.«

»Emerentia, es ist mein Vater.«

»Er hat Markus und Jutta verraten. Aber laßt das; ich habe schon zu viel gesagt und will, um solches zu sühnen, morgen drei Paternoster für seine Seele beten.«

»Aber andächtig; ich bitte Euch von Herzen, er wird's nötig haben.«

»So er noch am Leben ist, sicherlich; die Heiligen seien ihm gnädig.«

Bald darauf ging Eva fort, ernst und in tiefen Gedanken. Ach, daß niemand ihr von der Vergangenheit reden mochte! Sehnsüchtig gedachte sie ihrer liebreichen Mutter und malte sich aus, wie froh das Leben an ihrer Seite gewesen sein würde. Noch im Traum sah sie die zarte Gestalt; nicht knieend vor dem Engel, wie die heilige Jungfrau im Gemach Frau Herborts, sondern dahinschreitend an des Engels Hand.

Der andere Morgen war kühl, aber die Sonne brach sich Bahn und als Emerentia und Eva ihre Wanderung antraten, sagte erstere: »Jungfer, ein schöner Tag; die Heiligen segnen Euer Werk.«

Schweigend gingen beide zum Mühlenthore hinaus, wo zur Rechten am Hamburger Wege die St. Georgs-Kapelle mit dem Aussätzigen-Hause lag. Das Haus war nicht so besetzt wie vor Jahren, denn durch geeignete Vorkehrungen, besonders durch Anlegung von Badstuben, die sehr fleißig von dem Volke benutzt wurden, Man gab damals nicht ein »Trinkgeld,« sondern ein »Badgeld.« war dem Umsichgreifen des Übels gesteuert; dennoch wurde die Krankheit immer wieder ein geschleppt, vornehmlich durch Pilger.

Als das Mägdlein mit ihrer Begleiterin den schmalen Fußsteig eine Weile verfolgt hatte, blieb sie plötzlich erschrocken stehen und faßte Emerentias Arm: »Seht, dort sitzt er, in seinen grauen Mantel gehüllt.«

Die Alte blickte scharf hin; da ertönte auch schon der Klang der Schelle zur Warnung. Sie rief laut, und der Fremdling erhob sich. Er war ein Mann in mittleren Jahren, groß und kräftig gebaut, aber jetzt gebückt durch die Seuche, die ihn verzehrte.

»Kommt,« flüsterte Eva angstvoll, »mir graut's; ich kann nicht sagen, wie sehr.«

»Grüßet den Elenden,« entgegnete Emerentia, »und betet für ihn, daß seine Seele nicht versinke im Leide.«

Das Mägdlein winkte mit der Hand, und beide kehrten eiligst um; noch einmal wandte sie sich, da hatte der Kranke das Bündlein aufgenommen und öffnete es hastig.

Als sie am Thore anlangten, bat Eva: »Wartet ein wenig, Emerentia, daß ich mich fassen kann; ich bin so betrübt.«

Die Alte führte sie zu einem großen Stein, hieß sie sich setzen und mahnte: »Lehnt das Haupt an meine Schulter und könnt Ihr weinen, so thut es; die Heiligen haben solche Thränen gern.«

Eva hörte nichts; es war wie ein Brausen vor ihren Ohren, dann weinte sie lange.

»Ihr seid noch nicht oft dem Elend begegnet, Jungfer,« sprach die Alte, als sie endlich weitergehen konnten; »Frau Herbort hat recht, daß sie Euch sendet, damit Ihr es lernet. Wenn man so alt ist, wie ich, schaut man anders darauf hin.«

Schweigend gingen beide durch den kühlen, sonnigen Morgen nach Hause.

Als Eva den Thürklopfer in der Hand hielt, um Einlaß zu begehren, sagte sie hastig: »Emerentia, versprecht mir, jeden Tag für den Ausgestoßenen zu bitten; auch ich will es thun.«

»Von Herzen gern,« versetzte die alte Frau, »und wenn Ihr wieder hingeht, so laßt mich Euch begleiten.«

Gleich darauf schloß sich die schwere Hausthür hinter dem jungen totbleichen Mägdlein. Als sie bei Frau Herbort eintrat, blickte diese sie prüfend an: »Es ist gut, daß Du gegangen bist. Man muß sich an das Elend dieses Lebens gewöhnen.«

»Ja,« erwiderte Eva leise, »und so Ihr mich wieder entsenden wollt, bin ich bereit.«

»Das werden Dir die Heiligen anrechnen,« versicherte Frau Herbort freundlich.

Eva schwieg; ihr Blick ruhte auf dem milden Antlitz der heiligen Jungfrau, und es wurde ihr still ums Herz. Ihre Mutter würde ihr Werk gutgeheißen haben; das war ihr genug.


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