Erwin Rosen
In der Fremdenlegion
Erwin Rosen

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Meine Flucht.

Im Arabergefängnis. – Der Brief. – Schwere Tage. – Flucht! – Der gewinnsüchtige »Crédit Lyonnais«. – Schacher im Ghetto. – Toilette unter Palmen. – Auf den Bahngeleisen. – Von arabischen Gendarmen und fürchterlichen Minuten. – Fahrt nach Oran. – Vorbereitungen. – Qualvolle Minuten auf dem »St. Augustin«. – Marseille-Ventimiglia. – Frei! Frei!

Die Tage kamen und gingen, und mit jedem Tag fühlte ich mich verlassener, vergessener, – Legionär in Afrika.

Ich war immer traurig.

Eines Tages war ich auf Wache im Arabergefängnis von Sidi-bel-Abbès, einem häßlichen, düsteren Gebäude inmitten der Stadt. Ein alter Sergeant hauste dort als Gefängnisaufseher und hielt, mit zwei Gendarmen als Gehilfen, die arabischen Sträflinge in harter Zucht. Das Gefängnis war stets überfüllt. Die kleinen Diebereien auf dem öffentlichen Markt, die fortwährenden Fehden im Negerviertel, bei denen die landesüblichen matraques immer eine körperverletzende Rolle spielten, sorgten dafür, daß in dem grauen Haus beim Place Sadi Carnot die Zellen niemals leer wurden. Die gefangenen Eingeborenen waren aber oft genug widerspenstig geworden, und es hatte häufig Meutereien gegeben. Seitdem stellte, als vorbeugende Friedensmaßregel, die Legion dem Arabergefängnis alltäglich und allnächtlich ein Wachkommando von einem Korporal und sechs Legionären zur Verfügung. Langsam schritt ich dahin, das Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett über der Schulter, oben auf der breiten Mauer, die in weitem Viereck das Gefängnis umsäumte. Die Sonne brannte erbarmungslos hernieder. In den winzig kleinen Gefängnishöfen unter mir kauerten die gefangenen Araber in kleinen Gruppen beisammen, in dumpfem schweigendem Nichtstun. Im Gefängnis durfte nicht gesprochen werden. In die Stille tönte nur die scharfe Kommandostimme eines Aufsehers dann und wann hinein, und das schallende Dröhnen meiner Tritte auf den Steinen der Mauer. Gedankenlos machte ich meinen vorgeschriebenen Weg, das Gefängnisviereck beständig umwandelnd, in ewig gleichem Marschschritt.

Ich konnte weit sehen von der hohen Mauer. Die Stadt lag in der Sonnenhitze wie tot da. Die Fensterläden an den Häusern waren geschlossen, die Straßen waren öde und menschenleer. In der zitternden heißen Luft schimmerten in weiter Ferne in undeutlichen Umrissen die Felsen des Thessalagebirges. Kein Lüftchen ging.

Zwei Legionäre im weißen Arbeitsanzug, einen großen Kessel schleppend, bogen in die zum Gefängnis führende Straße ein. Soldaten unserer Kompagnie, die uns die Abendsuppe brachten. Sie riefen mir irgend etwas zu, das ich nicht verstand, und ich dankte mit einem gleichgültigen Kopfnicken. Dann läuteten sie am Gefängnistor und mußten lange warten, bis der Aufseher mit seinem klirrenden Schlüsselbund öffnete, und sie ihren Suppenkessel in die Wachtstube tragen konnten. Nach einigen Minuten kam einer von ihnen in den Zellenhof beim Wachlokal und winkte mir, ich solle näher kommen. Als ich ihm entgegenging, sah ich, daß er ein weißes Etwas emporhielt.

»Eh, une lettre pour toi!« rief er herauf, »ein Brief für dich.«

Da wurde ich ärgerlich und schrie hinunter, er solle machen, daß er weiterkomme. Es sei zu heiß für schlechte Witze. Ich bekäme überhaupt keine Briefe.

»Hier ist aber einer!« sagte der Mann. »Dein Name, deine Nummer, alles in Ordnung! La, la – ich gehe – deinen Brief gebe ich dem Korporal. Allah bessere deine schlechte Laune! Sapristi, welche Hitze!«

Eine halbe Stunde hatte ich noch auf meine Ablösung zu warten. Es waren fürchterliche Minuten. Ein Brief – ein Brief! Wie war das nur möglich, da doch niemand wissen konnte, wissen sollte, wo ich war und was ich war! In heißen Wellen stieg mir das Blut in den Kopf. Und mit einemmal wußte ich, daß nur ein einziger Mensch an mich geschrieben haben konnte, daß die große Liebe nicht gestorben war.

Die Sekunden schlichen dahin, und ich wartete – wartete in unbeschreiblicher Angst. Die Sonne war gesunken und überschüttete die flachen Häuser mit glühendrotem Schein. Unter mir in den Höfen des Gefängnisses begann lärmendes Schwatzen in gutturalem Arabisch. Die Gefangenen bekamen ihr Essen, und während der Essensstunde durften sie sprechen. Mir schien es, als ob die armen Teufel in meine Gedanken hineinschwatzten, das summende Geräusch da unten tat mir wehe, ich konnte es nicht mehr ertragen ...

»Ruhe!« schrie ich hinunter.

Sofort wurde es still. Ein Aufseher rief mir zu, ich hätte mich geirrt. Sprechen sei jetzt gestattet. »Pas défendu de parler,« sagte er zu den Gefangenen, und die Araber sahen mit bösen Augen zu mir herauf.

Und ich wartete.

Viele Stunden lang schien mir dieses angstvolle Warten gedauert zu haben, als der Korporal mit den ablösenden Posten kam. Die formellen Worte der Posteninstruktion wurden gewechselt. Wir waren im Dienst, es war gegen alle Disziplin – aber ich konnte nicht mehr warten:

»Sie haben einen Brief für mich, Korporal?« fragte ich.

»Jawohl,« antwortete er. »Sie können ihn haben, wenn ich mit der Ablösung der Posten fertig bin. En avant – marche ...«

Wieder Minuten des Wartens, quälendes Wundern, was wohl in dem Brief stehen mochte. Endlich kam der Wachhabende zurück und griff in seine Tasche:

»Voilà!«

Aus dem weißen Briefumschlag leuchteten mir die Züge einer unvergeßlichen Handschrift entgegen. Ich ging hinaus in den viereckigen Hof, der nun leer war, weil die Gefangenen wieder in ihre Zellen eingesperrt worden waren. Ich las und las ..., immer wieder, immer wieder.

Die große Liebe reichte dem verlorenen Legionär die Hand und sprach von kommendem Glück. In langen Jahren, wenn der Legionär kein Legionär mehr sein würde. Und die Zeilen trugen Tränenspuren.

Mir war es, als müßte ich mir die Uniform vom Leibe reißen, dieses Zeichen der Knechtschaft, das mich zur Untätigkeit verdammte. Wenn ich nur draußen in der Welt wäre, arbeiten könnte, schaffen könnte. So stürmte es in mir. Im Dunkel des häßlichen Hofes träumte ich Bilder der Vergangenheit, die zum Greifen nahe schienen und doch so hoffnungslos fern waren. Die vier Stunden Zeit zwischen Wache und Wache kauerte ich regungslos im Zellenhof.

In diesen Stunden ist die Energie entstanden, die mir ein neues Leben schuf.

Meine Wache kam wieder, zwei Stunden, die in Hoffnungsträumen wie im Flug verrannen. Und dann setzte ich mich, während Korporal und Kameraden schliefen, vier Stunden lang an den kleinen Tisch im Wachzimmer und schrieb mit des Korporals Bleistift auf den Rückseiten der Meldungsformulare einen langen, langen Brief. Seite auf Seite. Unzusammenhängendes Stammeln.

*

Am nächsten Tage schon kam ein Brief meiner Mutter, ein lieber Brief, der weder Fragen stellte noch Vorwürfe machte. Nur Güte und Sorge sprachen aus ihm. Er löste auch das Rätsel, wie ich gefunden worden war. Nach vielen Monaten des Wartens und Beratens waren die Menschen, die mich lieb hatten, auf den Gedanken gekommen, ich könne in der Fremdenlegion sein. Die letzte Nachricht stammte ja aus Belfort. Meine Mutter schrieb an den kommandierenden General der Festung und an das französische Kriegsministerium. Die Antwort lies lange auf sich warten, aber schließlich brachte sie die Nachricht, ich sei in Sidi-bel-Abbès Soldat der Fremdenlegion – Legionär Nummer 17889.

Mit jener Stunde im Arabergefängnis, die mir den ersten Brief brachte, begannen schwere Tage. Ich tat meinen Dienst und meine Arbeit wie eine Maschine, ich dachte an nichts als an die Briefe, die mir die nächste Post bringen würde. Mit keinem Menschen sprach ich mehr und machte täglich lange Spaziergänge in den stillen Alleen bei der Festungsmauer, um in meiner freien Zeit allein zu sein. Schließlich beherrschte mich ein Gedanke völlig: Flucht!

Wochenlang wanderten die Briefe hin und her, und immer wieder brachten sie die flehentliche Bitte, Geduld zu haben. Ich müsse daran denken, daß alles Zukunftshoffen ein Ende haben würde, wenn man mich als Deserteur ergriffe. Lieber noch Jahre lang warten, als alles aufs Spiel setzen! Aber ich konnte nicht mehr! Eines Tages brachte mir die Militärpost wieder einen Brief meiner Mutter. Als ich ihn öffnete, hielt ich Banknoten über eine große Summe Geldes in Händen.

Das war die Freiheit! Wie im Traum schritt ich über den Kasernenhof. Das Geld, das in meiner Tasche steckte, bedeutete neues Leben; mir war, als ob mir meine Mutter zum zweiten Male das Leben gegeben hätte. Ich wußte, welch' aufopfernde Liebe in diesen Geldscheinen steckte: wie schwer es der Mutter mit der kargen Witwenpension geworden sein mußte, mir solch eine Summe zu schenken. Und mit einem Male überkam es mich wie eine Welle überströmender Freude. Frei würde ich sein! Danken würde ich der Liebe können, die mir half.

*

Um fünf Uhr nachmittags hatte ich den Brief erhalten. Ich war gerade vom Arbeitsdienst in die Kaserne zurückgekommen, vom Unkrautjäten auf den Gräbern des Legionsfriedhofes. Das sollte mein letztes Arbeiten als Legionär gewesen sein!

Denn auch nicht eine einzige Stunde wollte ich mit der Flucht warten! Jeder Gedanke drängte mich hinaus in die Freiheit. Im Lande von Sidi-bel-Abbès ließ es mir keine Ruhe mehr.

Auf dem Mannschaftszimmer saßen die Kameraden schon bei der Suppe, als ich mit meinem Brief vom Postbureau der Kaserne kam, und Guttinger schien verwundert darüber, daß ich nichts aß und sofort die »Ausgeh-Uniform« anzog. Er sah mich mißtrauisch an, als ob er eine Ahnung hätte, daß ich etwas Ungewöhnliches im Sinn hatte. Gar zu gerne hätte ich dem alten Trommler, der mir in seiner Art Freundschaft gegeben hatte und ein guter Mensch war, einen letzten Gruß gesagt, doch er saß mit den andern am Tisch. Als ich mich aber angezogen hatte und Briefe und einige Kleinigkeiten, die ich mitnehmen wollte, verstohlen aus meinem Tornister hervorholte, kam Guttinger und legte sich auf sein Bett, wie immer nach der Suppe.

»Adieu, Trommler,« flüsterte ich. »Bist ein guter Kamerad gewesen!«

Guttinger rührte sich nicht. Nur in seinen Augen blitzte es auf.

»Hast Geld?« fragte er leise.

»Ja!«

»Dann is' gut! Adieu – Adieu!«

Die andern Menschen im Zimmer saßen auf den Bänken, als ich hinausging, und arbeiteten an der Kleinarbeit der Legion. Sie putzten und polierten – polierten und putzten. Keiner von ihnen war mir damals mehr als eine Begegnung am Weg. Heute freilich sind sie mir unvergeßliche Typen geworden.

Ein allerletzter Aerger sollte mir noch bevorstehen.

Der wachhabende Sergeant am Kasernentor hielt mich an, weil ich in der Eile meine Capote falsch zugeknöpft hatte, und sagte mir, er habe gute Lust, mich wegen meiner Nachlässigkeit zurückzuschicken.

»Nom de Dieu, weißt du Schwein denn nicht, daß diesen Monat die Capote nach rechts geknöpft wird!«

Aber er ließ mich gehen. Im Strom der in die Stadt eilenden Legionäre eilte ich die Promenade entlang. Zum Crédit Lyonnais, der beim Place Carnot eine Filiale hatte, mußte ich zuerst. Ein großer Teil meines Geldes bestand aus belgischen Banknoten, die natürlich in Algerien nicht angenommen werden, und ich gedachte, das Wechselgeschäft in der Bank am schnellsten und billigsten zu erledigen. Darin irrte ich mich. Der Beamte am Schalter erklärte umständlich, daß er für belgische Banknoten keine Verwendung habe, und daß es viel Geld koste, wenn er sie nach Paris schicken müsse. Natürlich war er nur gewinnsüchtig, wie ganz Sidi-bel-Abbès gewinnsüchtig ist, und spekulierte darauf, eine möglichst hohe Provision zu berechnen. Er mochte denken, daß es einem Legionär, der so glücklich war, Geld zu haben, auf einige Francs mehr oder weniger nicht ankommen würde. Darin irrte er sich nun wieder! Ich erwiderte ihm, ich würde mich bei meinem Regimentskommandeur darüber beschweren, daß die einzige Bank in Sidi-bel-Abbès einen einfachen Soldaten übervorteilte. Worauf dieser sonderbare Beamte einer weltberühmten Bank brummend meine Banknoten überzählte und mir französisches Geld gab.

Durch die hellerleuchteten Hauptstraßen schlenderte ich, rechts und links Offiziere grüßend, dem Ghetto zu. Gleich in der ersten der engen Gassen begegnete ich einem alten Mann, der mir vielversprechend aussah. Ich klopfte ihm auf die Schulter.

»Eh, Zivilkleider?«

Der Jude hob den Zeigefinger in die Höhe:

»Darf Legionär nichts verkaufen!«

Ich drehte mich um und schritt langsam weiter. Aber schon war er hinter mir her:

»Wieviel?«

»Zwanzig Franks.«

»Fünfzig!«

»Dreißig.«

»Fünfundvierzig!«

»Vierzig Franks bekommst du – aber nur, wenn es sehr schnell geht.« Er blieb stehen, sah mich an und hielt mir die gekrümmte Hand hin; der Pantomime Sinn war klar: ich beruhigte ihn, indem ich ihm ein paar Goldstücke zeigte. Der Mann Israels nickte zufrieden und zog mich nach wenigen Schritten in ein Haus. Eine kleine Lampe qualmte in einer übelriechenden Stube. –

»Sarah!« rief mein Begleiter.

Eine alte Frau kam mit schlürfenden Schritten aus einem Nebengemach und schleppte, als sie hörte, um was es sich handelte, einen Haufen Kleider herbei. Ein Anzug war darunter, der anständig aussah. Er paßte mir ziemlich und – natürlich wurde wieder geschachert. Fünfzig Franks wechselten ihre Besitzer.

Dann gab ich ihm noch ein Goldstück: »So, jetzt besorgst du mir Hut, Stiefel, Kragen und Kravatte.«

Da aber fing die dicke Frau mit kreischender Stimme zu zetern an. Ich brächte das Unglück über ihr Haus, das Geschäft sei abgeschlossen – ich dürfe nicht länger im Hause bleiben! Es sei viel zu gefährlich! Allez-vous-en – allez-vous-en!

Die alte Dame fiel mir auf die Nerven, und ich ging gerne. An der Ecke der Gasse wartete ich auf den Juden. In zehn Minuten war er zurück und meinte, für weitere zwanzig Franks würde er besonders gute Sachen, mehrere Kragen, einen guten Hut und Handschuhe schaffen können; für zwanzig Franks darüber einen ausgezeichneten Revolver. Ich gab ihm die Goldstücke. In kurzer Zeit kam er wieder und gab mir zwei Bündel.

Am Ende der nächsten Gasse begann die Festungsmauer. Ich konnte sie von der Innenseite leicht ersteigen. Auf der Außenseite war die Entfernung zum Boden ziemlich groß, aber beim Sprung in die Tiefe fiel ich unbeschädigt in den Sand und stand in einem Palmenhain. Aus den weit geöffneten Fenstern einer Villa dicht bei den Baumgruppen des Hains strömte eine Flut von Licht, und lustige Walzerklänge tönten herüber. In schattenhaften Umrissen sah ich Paare sich im Tanze wirbeln. Offiziere waren darunter! Aber unter den Palmen war es dunkel. In fieberhafter Eile streifte ich die Uniform ab und zog die Zivilkleider an. Sie paßten! Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder einen Kragen anzuknöpfen und wieder eine Kravatte zu binden.

Und als ich umgezogen war, spießte ich Uniform und Mantel, Militärschuhe und Käppi mit dem spitzen Bajonett an eine Palme. Mochten sie's da finden am Morgen!

Ich streifte die Handschuhe über – meine Toilette war beendet. Drüben in der Villa wurde ein deutscher Walzer gespielt: »Das ist das süße Mädel ...«

Mit einem häßlichen Furchtgefühl schritt ich dem nächsten Tore in der Festungsmauer zu. Aber die Legionäre, die dort auf Wache waren, beachteten mich gar nicht. Das gab mir Selbstvertrauen. Langsam und unauffällig, als sei ich ein spazierengehender Bürger, ging ich wieder über die Promenade. Ueberall schlenderten Legionäre. Mehreremale mußte ich umkehren und einen Umweg machen, weil mir Unteroffiziere meiner eigenen Kompagnie entgegenkamen! Es war ein aufregender Weg! Endlich hatte ich die innere Stadt durchquert und bog in das Villenviertel ein, dessen Hauptstraße geradenwegs nach dem Bahnhof führte. Das kleine Stationsgebäude lag verlassen da. Sorgfältig sah ich mich um, ob mich auch niemand beobachtete, und kletterte über die felsige Böschung hinab auf das Geleise.

Die Schienen führen in gerader Linie nach Norden, Oran zu. Es war unterdessen völlig dunkel geworden. Vom Bahnhof her funkelten Lichter und Signallaternen; der Schienenstrang selbst lag in Dunkelheit da. Ich fing an, zu laufen. Im Anfang stolperte ich fortwährend über die spitzen Steine der Schotterung zwischen den Schwellen und fiel einmal der Länge nach hin. Aber ich gewöhnte mich rasch daran, von Schwelle zu Schwelle zu springen. Aus vollen Kräften rannte ich, eine Viertelstunde lang, eine halbe Stunde lang. Dann mußte ich, schwer keuchend, stehen bleiben. Feiner Regen rieselte herab. Die Gegend war in tiefes Dunkel gehüllt, und nur ein schwacher Lichtschein weit hinten am Horizont zeigte, wo Sidi-bel-Abbès lag. Meiner Schätzung nach mußte ich ungefähr fünf Kilometer zurückgelegt haben. Meine Füße schmerzten mich. Als ich einen Stiefel auszog und ihn tastend untersuchte, fühlte ich, daß innen im Stiefel lange Reihen von spitzen Nägeln durchdrangen; daß die Sohle feucht war von meinem Blute. Ich zerriß ein Taschentuch und polsterte die Nägelstellen mit Tuchfetzen aus. Zwar bohrten sich die spitzen kleinen Ungeheuer auch durch diese Hülle, aber es war doch weit besser als vorhin. Nun untersuchte ich den Revolver in meiner Tasche und sah mit freudigem Erstaunen, daß es eine prachtvolle Waffe war, eine Browningpistole. Der alte Jude, der von Schußwaffen nichts verstehen mochte, hatte seine Stiefelsünden mit dem Revolver gut gemacht!

Nachdenklich sah ich die Waffe an. Mit Browningpistolen konnte ich umgehen. Ich probierte, ob der federnde Hebel gut funktionierte, der die Waffe schußfertig machte, schob den Patronenhahnen mit seinen acht vernickelten Geschossen schußfertig an seinen Platz. Es war mir, als sei die blitzende Waffe in meiner Hand ein guter Freund, ein hilfsbereiter Fluchtgenosse.

Wieder sprang ich vorwärts. Die Füße mußten sich an die stechenden Plagegeister gewöhnen. Von nun an wechselte ich systematisch im Laufschritt und Marschierschritt ab, meine Kräfte schonend, wie ich es in der Legion gelernt hatte. Fünf Minuten Laufschritt, fünf Minuten Marschierschritt. Immer auf den Geleisen, immer schnurgerade nach Norden. Einmal hörte ich einen Zug hinter mir herbrausen und legte mich flach in den Sand neben den Geleisen. Stunde auf Stunde verrann. Dreimal schon war ich an Stationen vorbeigekommen, die aus wenigen Häusern bestanden und in der Dunkelheit verlassen dalagen. Bei einem einsamen Bahnwärterhäuschen bellte einmal ein Hund, und ich stürmte entsetzt davon, wie ein Wahnsinniger rennend, bis ich das Gekläff des an seiner Kette zerrenden Tieres nicht mehr hörte. Wie war ich dankbar für Stille und Dunkelheit! Mein Atem ging in schweren keuchenden Stößen. Ich war völlig durchnäßt von Schweiß, und wenn ich einen Augenblick stehen blieb, um zu ruhen, erzitterte mein Körper in eisigen Schüttelfrösten. Aber ich nahm alle meine Kräfte zusammen, denn ich wollte eine mittelgroße Station erreichen, wo ich nicht so sehr auffiel, wenn ich mir eine Fahrkarte nach Oran löste.

Der Regen hatte bald wieder aufgehört. Jetzt leuchtete auch der Mond dann und wann zwischen den Wolken hervor, und sein mattes Licht gab einen weit helleren Schein, als mir lieb war. Ich stand eine fürchterliche Angst aus, von irgendeiner Gendarmenpatrouille gesehen zu werden. Da wurde das Terrain felsig. Auf beiden Seiten des Schienenweges lagen mächtige Felsblöcke, zerrissene, zackige Kalkfelsen, und ich freute mich über den verbergenden Schutz, den sie mir gaben. Einige Minuten lang mochte ich zwischen den Felsen gelaufen sein, als ich ein eigenartiges Geräusch hörte. Zuerst glaubte ich, es sei wieder ein Eisenbahnzug. Als aber das Geräusch näher kam, schärfer und klarer wurde, wußte ich, was es war: galoppierende Pferde!

Zwischen den Felsen hindurch konnte ich den feinen hellen Streifen sehen, der die Militärstraße bedeutete. Sie war kaum hundert Meter von den Geleisen entfernt. Auf dieser Straße kam eine Patrouille galoppiert.

Vielleicht hatten die Gendarmen mich schon längst gesehen! Vorhin, als die Gegend flach war, mußte sich im Mondschein meine Silhouette scharf gegen den Himmel abgezeichnet haben.

In einem Paroxismus von Angst kroch ich zwischen zwei Felsen und lauschte atemlos. Immer näher kamen die Pferde, immer schallender tönten die Hufschläge. Nun sah ich, aus meinem Versteck hervorlugend, die dunklen Gestalten von Pferden und Reitern. Nun waren sie mir gegenüber. Und in diesem Augenblick hörte ich einen scharfen arabischen Ausruf. Die drei Reiter parierten ihre Pferde und hielten.

Ich riß die Pistole aus der Tasche. Ihr glänzender Stahllauf funkelte. Schleunigst bedeckte ich die Waffe mit meinem Rock, damit ihr Blitzen mich nicht verrate. Vorsichtig entsicherte ich die Pistole und probierte tastend, ob der Patronenrahmen auch fest und richtig säße. Ein Gefühl eisiger Ruhe kam über mich. Ich nahm mir vor, mich nicht von meinem Platze zu rühren und erst zu feuern, wenn die Gendarmen bei ihrem Suchen ganz in meine Nähe kommen würden. Ich überlegte. Ich nahm den zweiten Patronenrahmen in die linke Hand, zum Nachfüllen bereit. Ich beschloß in raschem Schießen das Magazin zu entleeren, damit ich möglichst viele Schüsse anbringen konnte, ehe sie sich von ihrem Schrecken erholten.

Da flammte unten ein Zündholz auf. Eine Sekunde lang. Ich hörte den lachenden Ruf eines der Gendarmen. Und dann galoppierten die drei Mann weiter. Einer von ihnen mußte einen Kameraden um Feuer zu einer Zigarette gebeten haben.

Das Galoppieren verklang in der Ferne, und ich saß immer noch da, am ganzen Leibe zitternd. Die Tränen liefen mir über das Gesicht, als ich die Pistole einsteckte. Hinausschreien hätte ich mögen in jubelnder Dankbarkeit, daß diese fürchterliche Gefahr vorüber war. Und als ich aufstand, fiel ich zurück gegen den Felsen. Meine zitternden Knie konnten den Körper nicht tragen!

*

Les Imberts hieß die Station. Sie war 42 Kilometer von Sidi-bel-Abbès entfernt. In sieben Stunden hatte ich diese 42 Kilometer zurückgelegt. Als ich um vier Uhr morgens den Bahnhof erreichte und in der Dunkelheit mühsam Stationsnamen und Kilometerbezeichnung entzifferte, war kein Mensch zu sehen. Tiefe Nachtstille überall. Einige hundert Meter von der Station standen leere Güterwagen auf einem Nebengeleise. In einen dieser Waggons kletterte ich und studierte, ein Zündhölzchen nach dem andern entzündend, den Fahrplan der algerischen Bahnen, den mir die fürsorgliche Mutter gesandt hatte. Kurz nach fünf Uhr ging der erste Zug nach Oran. Nun hieß es, vor allem für den äußeren Menschen zu sorgen. Ich kletterte wieder aus dem Waggon heraus und fand nach langem Suchen ein halbgefülltes Wasserfaß, das unter einem Schuppen stand. Es fing an hell zu werden. So wusch ich mich eilends und versteckte mich wieder hinter der Reihe von Güterwagen. Mit dem Taschentuch klopfte ich meine Kleider ab und rieb meine Stiefel blank, zog den »Reservekragen« meines Ghettofreundes aus der Tasche und band ihn um. Dann betrachtete ich mich in einem winzig kleinen Taschenspiegel. Es ging! Es ging sehr gut! Elegante Menschen sind etwas Seltenes in Algerien.

Um fünf Uhr schritt ich auf einem Umweg zum Bahnhof. Auf dem Perron standen ein Dutzend wartende Menschen und – ein arabischer Gendarm, gravitätisch gegen die Mauer gelehnt. Wieder kam die Angst! Aber ich ging ruhig zum Schalter.

»Oran – première classe.«

»Sept-soixante,« sagte der Beamte. »Sieben Franks sechzig.« Und da kam schon der Zug. Ich stieg in das nächste Abteil erster Klasse und sah zu meiner Wonne, daß es leer war! Der Zug brauste davon. Die zwei Stunden der Fahrt von Les Imberts nach Oran benützte ich dazu, um meine Toilette so gut als möglich in Ordnung zu bringen und – unzählige Zigaretten zu rauchen, die mir die Müdigkeit vertrieben. An der Perronsperre in Oran standen Zouavenunteroffiziere und ein Legionskorporal. Sie beachteten mich gar nicht.

Bis zehn Uhr wanderte ich in der Stadt herum. Dann ging ich in das Passagebureau der französischen Mittelmeerlinie und besorgte mir einen zweiten Kajütenplatz nach Marseille. Das Paketboot »Sankt Augustin« sollte um fünf Uhr nachmittags abgehen!

Mit einemmal kam die Müdigkeit überwältigend über mich. Ich konnte kaum mehr stehen. Ein Hotel aufzusuchen, um einige Stunden zu ruhen, wagte ich nicht. So ging ich in ein Restaurant, aß mich in wonniger Langsamkeit durch ein französisches Diner durch und trank eine Flasche schweren Burgunders. Dann fiel mir ein, daß es entschieden auffallen mußte, wenn ich eine Seereise ohne jegliches Gepäck antrat. Für wenige Franks erstand ich einen Handkoffer, dessen Wände aus Pappe »wirklich wie Leder« aussahen, und kaufte an jeder Ecke Zeitungen, mit denen ich ihn vollstopfte. Das war mein »Gepäck«.

Wenige Minuten vor fünf Uhr ging ich auf den Dampfer, Zigarette im Mund, ein Bündel Zeitungen unter dem Arm. Ich spazierte auf dem Verdeck auf und ab, las »Le Rire« und zwang mich krampfhaft, ein unbefangenes, amüsiertes Gesicht zu machen. Ein Gedanke nur erfüllte mich: War mein telegraphisches Signalement vom Regiment schon in Oran eingetroffen?

Es wurde halb sechs, und noch immer lag der »St. Augustin« am Quai! Gendarmen kamen und gingen. Und mit einemmal fühlte ich, wie ich leichenblaß wurde: eine Patrouille kam, vier Zouavenunteroffiziere stiegen die Gangplanke herauf! Sie schritten durch das ganze Schiff und sahen sich überall sorgfältig um. Dann wechselten sie einige Worte mit dem Kapitän und gingen wieder.

Schon atmete ich auf, als ein Gendarm auf mich zutrat und höflich grüßte.

»Monsieur sind Franzose?«

» Non monsieur, Engländer,« erwiderte ich ruhig und sah den Gendarmen lächelnd an – eisige Furcht im Herzen ...

Wenn es ihm einfiel, eine Legitimation zu verlangen, war ich verloren!

»Ihr Name, bitte?«

»Eugen Sanders.«

»Beruf?«

»Maschinist – von Tlemcen – bin auf dem Wege nach Nizza.«

»Ich danke verbindlichst!«

Wenige Minuten später läutete die Schiffsglocke, die Gangplanken wurden eingezogen, und der Dampfer fuhr ab. Ich ging in meine Kajüte und schlief. Ich habe nichts gedacht während der Seereise, nichts gefürchtet, nichts gehofft – nur geschlafen!

Als der »St. Augustin« im Hafen von Marseille einlief, kam eine neue Schwierigkeit. Die Zollrevision meines nur mit Zeitungen gefüllten Koffers! Derartiges Gepäck mußte ja verdächtig aussehen!

Der Zufall half. Eine Menge von Booten umdrängten das Schiff, und allerlei Agenten kletterten an Bord, um Aufträge für Gepäckbeförderung und dergleichen zu erbitten. Ich wandte mich an einen von ihnen und sagte ihm, ich wünschte, möglichst schnell an Land zu kommen. Ob er mich nicht hinüberfahren könne?

»Fünf Franks!« sagte der Mann.

»Gerne!«

Die Gangplanke an der Schiffsseite war schon hinabgelassen. Ich stieg mit ihm in sein Boot hinunter.

Den Koffer mit seinem Zeitungsinhalt ließ ich an Bord, um der Zollinspektion aus dem Weg zu gehen.

In zehn Minuten stand ich auf dem Quai in Marseille. In weiteren fünf Minuten hatte ich eine Droschke gefunden und war auf dem Weg nach dem Bahnhof. Eine halbe Stunde später saß ich in einem Coupé des Rivierazugs.

Rivierafahrt in dunkler Nacht ... Toulon flog vorbei – Cannes. In Nizza hörte ich den Straßenjubel des zu Ende gehenden Karnevals bis in den Bahnzug hinein. Der Perron war mit Konfetti überschüttet. Monaco kam – Monte Carlo mit seinem funkelnden Lichtmeer.

Endlich war Ventimiglia erreicht. Die erste italienische Station!

Es war ein Uhr nachts. Ich stürzte aufs Telegraphenamt und sandte zwei Telegramme an zwei liebe Menschen ...

Frei – Frei!


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