Erwin Rosen
In der Fremdenlegion
Erwin Rosen

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»Marschier oder verreck!«

Der Sturmruf der Legion. – Nachtalarm. – Auf dem Marsch. – Das Zählen der Kilometersteine. – Im Zeltlager. – Die Brutalität der Märsche. – Fremdenlegionär und Stabsarzt. – Der Kampf um das Opiat. – Das »Marschierschwein«. – Die Psychologie der Märsche. – Exaltierte Nerven. – »Cafard«. – Das Lied der Flüche.

Die Wochen verflossen. Die Rekrutenzeit war vorüber, und ich tat Dienst mit der Truppe.

Von allem Anfang an war ich fast ängstlich darauf bedacht, meine Pflicht voll und ganz zu tun, wahrscheinlich aus dem Rest eines einst stark entwickelten Selbstbewußtseins heraus. Die eigentliche Soldatenarbeit machte mir Freude, und ich sehnte mich in gleicher phantastischer Ungeduld nach blutigem Legionsdienst vor dem Feind wie alle anderen Legionäre, die täglich über die Chancen eines Marschbefehls debattierten.

Die Legion schien mir stets in fiebernder Ungeduld auf dem Sprung zum Ausmarsch zu sein – der feurige Soldatengeist einer langen Tradition steckte selbst den jüngsten Rekruten an und stellte vielleicht den einzigen edlen Kern einer Truppe dar, an der sonst ganz gewiß nichts Edles ist. Wenn vage Gerüchte über einen neuen Araberaufruhr an der Marokkogrenze in die Kaserne drangen, oder wenn das » Echo d'Oran« in der lakonischen Kürze eines offiziellen Telegramms von den kleinen Scharmützeln in Indochina berichtete, verbreitete sich die Nachricht wie ein Lauffeuer in den Mannschaftszimmern. Ueberall bildeten sich Gruppen von Legionären, die nur von ihrer Hoffnung sprachen, daß Alarm geblasen würde. Manchmal standen sie in Scharen vor der Regimentskanzlei, wenn irgendein aufregendes Gerücht verbreitet worden war, und warteten darauf, daß einer der Schreiber des Bureaus die Treppe herabstürme mit der Nachricht:

» Faites le sac!«

Packt euren Tornister! Das ist der alte ominöse Sturmruf, der von Mannschaftszimmer zu Mannschaftszimmer gellt, wenn die Legion mobil macht, das trockene, geschäftsmäßige Kennwort, das die Legion zu ihrem Kriegshandwerk ruft.

Das Abenteurerfieber, das ein ebenso unzertrennlicher Bestandteil des Legionslebens ist wie Armut und Entbehrungen und harte Arbeit, lag stets in der Luft.

Die gellenden Töne des Alarms hörte ich zum erstenmal in tiefer Nacht. Ich fuhr erschreckt aus dem Schlafe auf. Aux armes! schrillte die Trompete vom Kasernenhof. Die Sergeanten und Korporale stürmten durch die Zimmer und schrien den Weckruf durch die Kaserne » aux armes«! – zu den Waffen!

Mit einemmal wurde aus der Stille der Nacht eine wahre Hölle – Jauchzen und Gellen und Brüllen schallte von Zimmer zu Zimmer, die Kaserne war in Aufruhr.

» Faites Ie sac! En tenue de campagne d' Afrique,« schrien die Unteroffiziere, und neuer Jubel antwortete ihnen.

Die »afrikanische Feldausrüstung« war gar keine so einfache Sache, und bei allem Lärmen und Schreien wurde fieberhaft gearbeitet, denn in zehn Minuten mußte man feldmarschmäßig unten auf dem Kasernenhof antreten. Unter Singen und Pfeifen wurden die Tornister gepackt, während die einen schrien, es gehe » au Maroc«, und die anderen behaupteten, in Saïda seien die arabischen Stämme in hellem Aufruhr. Da wurden die Patronenkisten vom Regimentsmagazin gebracht. Mit einem Sappeurbeil wurden die Holzdeckel entzwei geschlagen, und von Mann zu Mann flogen die Patronenpakete. Wir rissen die Pappenumhüllung auf und sahen, daß es Platzpatronen waren!

» Merde!« schrie Korporal Wassermann.

Lärmen und Singen hörten wie durch ein Wunder auf. Da nur Platzpatronen verteilt wurden, konnte es sich nur um einen kleinen Manövermarsch handeln, und sich für einen » marche militaire« zu begeistern, fiel einem Legionär nicht im Traum ein. In diesem Fall erstreckte sich der kleine Manövermarsch allerdings über 300 Kilometer – 300 Kilometer hin, 300 Kilometer her; eine Gesamtdistanz von 600 Kilometern, ein kleiner Marsch von der Länge Preußens ...

Bei Laternenschein formierten sich die Kompagnien auf dem Kasernenhof. Im Handumdrehen waren die Bagage- und Munitionskarren gepackt, denn scharfe Munition führt die Legion immer mit sich, um auf alle Fälle gerüstet zu sein. Dann ging es unter den Klängen des Legionsmarsches in die Nacht hinaus.

Wer den Marsch der Fremdenlegion ein einzigesmal gehört hat, wird ihn nie wieder vergessen, seinen merkwürdigen scharfen Rhythmus, der immer wieder vom Sturmsignal der Trompeten unterbrochen wird, und den die Kapelle niemals in der Garnison oder auf einer Parade spielen darf, sondern nur auf dem Marsch oder vor dem Feind.

In Sidi-bel-Abbès wurde es mit einemmal lebendig, als die Musikklänge durch die stillen Straßen hallten: Fenster wurden aufgerissen, und aus den Straßenwinkeln kroch der Riff-Raff der schlafenden Stadt hervor: verkommene Weiße und schmutzige Neger, die aus schläfrigen Augen verwundert die marschierende Kolonne anstarrten. In wenigen Minuten waren wir aus der Stadt hinaus und marschierten auf der sandiggelben Truppenstraße hin, die sich schnurgerade wie ein helles Band aus dem Nachtdunkel der Weinfelder heraushob. Die Marschordnung war in Kolonne zu Vieren wie immer bei der Legion, das Lebelgewehr bequem am Riemen über die Schulter gehängt, in immer gleichem Marschschritt, der jede Stunde fünf Kilometer bewältigte.

Ich marschierte in der ersten Viererreihe der Kompagnie. Vor mir stampften die vier Trommler dahin, dicht hinter dem Schimmel unseres Kapitäns. Daneben ging Leutnant Garde-Jörgensen, ein Däne, der als Landsknecht diente, genau wie wir, wenn er auch die Epauletten trug.

Der schweigende Marsch in die Nacht hinein war meiner brennenden Neugierde unerträglich, und ich tat ein höchst unmilitärisches Ding.

»Mein Leutnant,« fragte ich, »– wohin?«

Der Offizier wollte sich ausschütten vor Lachen.

»Ich weiß selbst nicht, wohin es geht, so wenig wie du,« sagte er. »Wenn du ein alter Legionär wärest, würdest du nicht fragen, mein Junge. Wir marschieren. Wahrscheinlich marschieren wir sehr lange. Wir marschieren immer. Wir wissen nie, ob wir nur ins Manöver gehen oder an den Feind. So ist es – tiens, willst du eine Zigarette haben?«

Die ersten Reihen lachten, und Guttinger sang gröhlend mit seiner tiefen Stimme:

» Le sac, ma foi, toujours au dos«.

Neues Gelächter. Alle sprachen durcheinander und stellten Vermutungen darüber an, wohin man nun marschieren würde, und wie lange der Marsch wohl dauern könnte. Die einen meinten, es wäre weiter nichts als ein Nachtmarsch: die anderen erklärten weise, vielleicht gehe es doch zur campagne.

»Wie solle mir das wisse,« schrie Guttinger. »Glaubst vielleicht, daß sie uns vorher lange Rede halte und uns ergebenst um uns're Erlaubnis frage, wenn's wirklich losgeht?«

Wir hörten das Getrappel eines galoppierenden Pferdes, und als wir neugierig die Köpfe wandten, sahen wir auf der Brust des Reiters einen leuchtenden Punkt, der wie ein Stern funkelte und glänzte. Der Reiter war der kommandierende General des Departements Oran, und der Lichtschein war das diamantbesäte Großkreuz der Ehrenlegion.

» Oh la, la,« sagte Guttinger kopfschüttelnd, »wenn der Alte selber mitten in der Nacht aufg'standen ist, dann kannst du gleich deinen Beinen sagen, daß sie sich parat halten solle'. Jetzt wird marschiert, mei' Sohn! Darauf kannst Gift nehme! Der Alte da bedeutet Manöver oder Araber!«

Kilometerstein auf Kilometerstein, weißleuchtend wie Sternenflimmern schwand vorbei, und nach und nach verstummten die Scherze, und schweigend trampelte das Regiment vorwärts. Der Tornister drückte gewaltig. Die Köpfe senkten sich, und die Schultern bückten sich tief, um die niederziehende Last besser auf dem Rücken zu verteilen. Der Gewehrriemen auf der Schulter schnitt ein, bis der rechte Arm fast gelähmt war, und das prickelnde, schmerzende Gefühl angestauten Blutes permanent wurde.

Nach den ersten zehn Kilometern ertönte ein kurzes Pfeifensignal. Die Viererreihen schwenkten nach dem Straßenrande zu ein, und in langer Linie rastete das Regiment fünf Minuten lang. Ich riß den Tornister ab und warf ihn mit einem Gefühl grenzenloser Erleichterung zur Erde. Sofort fühlte ich mich wieder frisch und munter in der Freude, die drückende Last auf ein paar Minuten los zu sein. Zu meiner großen Verwunderung behielten meine Kameraden ihre Tornister auf den Rücken und warfen sich nur langgestreckt auf den Boden hin. Später machte ich es ebenso. Die Rastzeit war so kurz, daß man mit dem Abnehmen und dem Wiederanschnallen des Tornisters unschätzbare Ruhezeit verlor. Wenn es auch nur Sekunden waren – in diesem Falle schienen selbst Sekunden wertvoll.

Fünf Minuten sind eine kurze Spanne Zeit! Aber niemals im Leben ist mir eine Ruhepause so köstlich, so wohltuend, so kraftspendend erschienen, als die armseligen fünf Minuten langgestreckten Daliegens auf dem heißen Sande Afrikas!

Die Kolonne schwenkte wieder in Reihen ein und stampfte vorwärts auf der endlosen Straße, deren gerade Gleichförmigkeit nur die Kilometersteine unterbrachen. Mit jedem Kilometer wurde es stiller in den marschierenden Reihen. Die Beine und der Rücken mußten alle Kraft hergeben, und ein gesprochenes Wort empfand jeder instinktiv als Energievergeudung. Man kam sich wie eine Maschine vor; man marschierte mechanisch weiter, wenn man einmal in Bewegung gesetzt war; jeder in schnurgerader Linie hinter seinem Vordermann, jeder hatte genug mit sich selbst zu tun. Wer in seiner Müdigkeit um einen Schritt nach rechts oder nach links von der Marschlinie abwich, bekam ein derbes Schimpfwort zu hören, denn man war so müde, daß selbst die leise Berührung eines aus der Linie geschwankten Kameraden von dem geplagten Körper wie eine neue Last empfunden wurde.

Als nach den Morgennebeln und der bitteren Kälte des ersten Tagesgrauens die heiße Sonne herniederbrannte, hatten wir eine Marschleistung von 40 Kilometern hinter uns, und der Zeitpunkt kam, wo der Körper sich gegen weitere Arbeit wehrte und sträubte. Wenn zur Ruhepause gepfiffen wurde, sank man kraftlos hin, und wenn der Weitermarsch wieder begann, sah es aus, als ob eine Schar von Kranken und Greisen in mühsamer Wanderung langsam die Straße hinabzöge. Die müden Beine hatten ihre eigene Art, sich für die harte Behandlung zu rächen. Sobald in der Ruhepause das Marschieren aufhörte, staute sich das Blut in den Gliedern. Sobald man wieder auf den Füßen stand, empfand man in der Fußsohle einen stechenden Schmerz wie von tausend Nadelstichen. Es war ganz unmöglich, kräftig mit dem Fuß aufzutreten, und fünf Minuten lang schlich man auf den Zehenspitzen dahin, bis man wieder zur fühllosen Marschiermaschine geworden war.

Von neuem begann das Zählen der Kilometersteine, die so unendlich langsam vorbeizogen. Um elf Uhr vormittags tauchte ein Dörfchen auf. Die Inschrift auf dem Stein vor dem Amtsgebäude des arabischen Bureaus besagte, daß wir 50 Kilometer von Sidi-bel-Abbès entfernt waren. Durch das Dörfchen mit den wackeligen alten Häusern ging es hindurch, bis auf ein langgezogenes Pfeifensignal die Regimentskolonne hielt. Die einzelnen Kompagnien formierten sich in den vorgeschriebenen Lagerabständen auf dem dürren sandigen Platz links von der Straße.

Dann kam das Kommando: »Halt« und gleich darauf der Befehl: »Campez!«

Im Nu waren die Gewehrpyramiden gebildet. Die Tornister wurden zu Boden geworfen, und die zusammenlegbaren Zeltstangen und Zelttücher hervorgezogen. Dann traten die Korporale jeder Sektion einen Schritt aus der Linie hervor und hielten die Zeltstangen hoch über dem Kopf, um die gerade Zeltlinie für die ganze Kompagnie zu markieren. Wieder ein kurzes Kommando, und in wenigen Sekunden verwandelte sich die öde Sandfläche in eine Stadt von kleinen weißen Zelten.

Es war wie ein Wunder. Jeder Handgriff, die Aufgabe jedes Einzelnen einer escouade, »Zeltgenossenschaft«, war so in uns hineingedrillt, daß der Zeltbau tatsächlich nur wenige Sekunden in Anspruch nahm, und die Metamorphose der langen Soldatenreihen in ein Zeltlager von wunderbarer Schnelligkeit erschien. Fünf Minuten nachher standen in der letzten Linie des Lagers die Offizierszelte aufgerichtet, und madame la cantinière hatte aus ihrem Marketenderwagen die zusammenlegbaren Tische und Bänke herausgeholt, um brillante Geschäfte zu machen mit den ermüdeten Legionären. Der schwere Algierwein gab eine prachtvolle Erquickung. Wer in diesen Marschtagen nicht die paar Kupferstücke für den Kantinenwein besaß, der fühlte sich wahrhaftig als Aermster der Armen.

Nach zehn Minuten waren am Lagerrande die schmalen Kochrinnen gegraben, und an zwanzig Stellen zugleich prasselten die Feuer empor. Rings um die weiße Soldatenstadt marschierten die Posten auf und ab. Das Essen, Makkaroni und Büchsenfleisch, wurde förmlich hinuntergeschlungen.

Dann kam die Ruhe der Erschöpfung über das Lager. Die Legionäre drängten sich in den winzigen Zelten zusammen, die Decke auf dem Boden ausgebreitet, mit dem Mantel zugedeckt, die Tornister als Kopfkissen. Die Gewehre wurden in die Zelte hereingeholt und von den Korporalen einer jeden escouade mit einer langen dünnen Kette kunstvoll zusammengebunden. Das Ende der Kette aber schlang sich jeder Korporal um sein Handgelenk, denn die Araber schleichen mit großer Vorliebe durch die Postenlinie eines Lagers, um die heiß ersehnten Gewehre zu stehlen. Die Posten haben stehenden Befehl, einen Araber nachts nur einmal anzurufen und dann sofort zu feuern. Schon in dieser ersten Nacht erwischten die Wachen einen arabischen Gewehrdieb, der fürchterlich mißhandelt am nächsten Morgen den Zivilbehörden des Dörfchens übergeben wurde.

Um sieben Uhr abends schon lag das Lager im tiefen Schlaf, in einem müden Schlaf von sieben Stunden.

Eine Stunde nach Mitternacht, im flimmernden Schein eines prachtvollen Sternenhimmels, formierte sich die Kolonne und nahm die Route nach Süden wieder auf. Acht Tage lang dauerte der Manövermarsch. An dem einen Tag legte die Kolonne vierzig Kilometer zurück, um am nächsten Tag mit einer Leistung von fünfzig Kilometern den Durchschnitt wieder zu erreichen. Die Eintönigkeit und die Interesselosigkeit dieses Marsches, der jeden Tag die ganzen Kräfte jedes Einzelnen in Anspruch nahm, läßt sich kaum beschreiben. Zuletzt, als die eigentliche Wüste begann, und die Kolonne auf Oasenbrunnen mit dürftigem Wasserstand angewiesen war, kam Wassermangel hinzu. Nachts, wenn abmarschiert wurde, füllte man die Feldflaschen. Die Wasserverteilung ging unter strenger Aufsicht vor sich. Von dem trüben, schmutzigen Getränk wurden jedem Mann vom »Wasserkommando«, das ein Offizier befehligte, zwei Liter zugemessen. Durch Kolonnenbefehl wurden wir gewarnt, daß wir einen halben Liter für die soupe des nächsten Tages aufsparen müßten. Wenn am nächsten Tag kampiert wurde, hatte jeder Legionär an die Küche seiner Kompagnie einen halben Liter Wasser zum Kochen abzuliefern. Wer in der Hitze und der Müdigkeit des Marsches seine Feldflasche ausgetrunken hatte und kein Wasser abliefern konnte, der bekam ohne Gnade und Erbarmen ein wenig ungekochten Reis in die Hand geschüttet und konnte nun sehen, wie er zu seinem Essen kam.

Es ist das eine der vielen Härten der Legionsmärsche, hinter deren Brutalität Methode steckt. Ich habe im Gegensatz zu den meisten Legionären stets Verständnis für die Notwendigkeit dieser harten Marschdisziplin gehabt. Eine Truppe, die in derartig wasserarmen Gegenden zu operieren hat, muß im stande sein, mit ihrer Wasserration hauszuhalten. Das ist einfach ein Gebot der Notwendigkeit. Selbst der schlimmsten Brutalität der Legionsmärsche liegt eigentlich weiter nichts zu Grunde, als der Selbsterhaltungstrieb. Ich habe mehr als einmal gesehen, wie ein Legionär, der nicht mehr weiter konnte und liegen blieb, an einem Bagagewagen festgebunden wurde. Eine Stange wurde in Brusthöhe quer durch die Seitenwände des Wagens gesteckt, und der Legionär an den Schultern daran angeseilt. Die Stange hielt ihn in stehender Stellung – der Wagen rollte weiter. Entweder mußte er laufen oder er wurde geschleift. Als ich diesen Prozeß zum erstenmal sah, stieg in mir eine heiße Empörung über die infame Grausamkeit auf, und ich wagte nicht, mir auszudenken, was ich tun würde, wenn man mich so behandelte. Aber dann kam das Verständnis. In den Gefechten im Süden beruht der große Kampfwert der Fremdenlegion nur auf ihren ungeheuren Marschleistungen. Der Ambulanzwagen kann häufig genug nicht folgen. Der Legionär, der in der Wüste auch nur einen einzigen Kilometer hinter der Kolonne zurückbleibt, ist rettungslos verloren. Hunderte und Aberhunderte von Marschunfähigen sind so einen fürchterlichen Tod gestorben. Die Araberweiber, die weit grausamer sind als die Männer, umschwärmen bald den Hilflosen, der einem qualvollen Tode unter Schändung und schrecklichen Verstümmelungen verfallen ist.

Die Entfernung von der Truppe bedeutet den Tod. So war es nicht nur zu den Zeiten der großen Araberaufstände, die ganz Algerien erschütterten, sondern so ist es heute noch. Der Friede zwischen Franzosen und Arabern im tiefen Süden Algeriens ist etwas sehr Problematisches. In den winzigen militärischen Stationen an der Saharagrenze gehören kleine Scharmützel zum täglichen Leben. Wenn die Station alarmiert wird, und die dreißig oder vierzig Mann Besatzung ausrücken, um in Gewaltmärschen einen räuberischen Beduinenstamm zu verfolgen, so weiß jeder Legionär ganz genau, daß es jetzt heißt: Marschieren oder sterben!

Sterben in den Händen der Araberweiber! Der Beduine, der Araber bedeutet dem Legionär keinen persönlichen Feind: er ist dem Wüstenräuber eher noch dankbar für die Abwechslung, die Aufregung, die er in das entsetzlich einförmige Leben auf den Grenzstationen bringt. Im arabischen Weib aber sieht der alte Legionär den Teufel. Er denkt an die Qualen der Hölle, die Verwundete von Araberweibern erleiden mußten, an die geschändeten Leichen von Legionären, die nach stundenlangen Martern gestorben waren.

Rassedin hatte, als er im vierten Jahr seiner Dienstzeit auf eine der kleinen Saharastationen kommandiert war, viel gesehen von der Grausamkeit der arabischen Weiber. Einmal fand sein Detachement bei einer Streife ein Skelett im Wüstensand. Uniformfetzen bewiesen, daß das Skelett einmal ein Legionär gewesen war. Der Kopf aber lag dem Gerippe zwischen den Beinen! Ein andermal wurde der Korporal von Rassedins escouade beim Morgenappell vermißt. Er war Abends in nächster Nahe der Station spazieren gegangen und nicht zurückgekommen. Nach kurzem Suchen fanden sie ihn.

»Tot war er. Aber im Tode noch konnte ich die fürchterliche Angst in den weitaufgerissenen Augen sehen,« behauptete Rassedin. »Beide Beine waren ihm gebrochen und nach hinten umgebogen. Sein Unterleib war förmlich zerfetzt. Aber an und für sich war keine seiner Wunden tödlich. Sie müssen ihn viele Stunden lang gequält haben. Und von da ab machten wir keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen im Gefecht, sondern schossen alles nieder. Woher ich weiß, daß es wirklich Weiber waren, die den Korporal marterten? Der Tote hielt ein Stück eines gläsernen Armbands in der Hand, das er im Kampf einem seiner Peiniger entrissen haben mußte. Solche Armbänder tragen bei den Beduinen nur die Frauen!«

So ist der Legionär dazu gekommen, im Araberweib den Satan selbst zu sehen. Ich habe schon von dem Soldaten mit dem auf der Stirne eintätowierten Totenkopf erzählt, der mir einen aus einer Frauenbrust gegerbten Tabaksbeutel zeigte. ...

*

Eine nutzlose, völlig unberechtigte, menschenquälende Art von Legionsbrutalität erlebte ich bei dem Manövermarsch am eigenen Leibe. War es das Frieren unter dünner Decke in den eiskalten Nächten mit ihrem kolossalen Temperaturwechsel, war es das schlechte Wasser oder die körperliche Ueberanstrengung der harten Marschtage, ich litt an quälenden Magenschmerzen. Während des Marschierens bekam ich alle Augenblicke Magenkrämpfe und konnte nur in gebückter Haltung, zusammengekrümmt wie ein Wurm, mit Mühe und Not mich weiterschleppen. Als wir ins Biwak kamen, war ich mit meinen Kräften zu Ende. Ich ging zu dem Zelt des Arztes, in Begleitung des Korporals du jour mit dem Krankenbuch. Der Arzt, ein Oberstabsarzt erster Klasse, dessen Name mir leider entfallen ist, riß dem Korporal wütend das Meldebuch aus der Hand und schrie ihn an:

»Auf dem Marsch gibt es keine Kranken! Das könnte Ihre Kompagnie doch eigentlich wissen.«

Der Korporal zuckte die Achseln. »Befehl des Kapitäns,« sagte er lakonisch.

Nun wandte sich der Arzt an mich.

»Was fehlt dir?«

Ich beschrieb kurz meine Magenkrämpfe und betonte, daß ich nur um ein Linderungsmittel, ein Opiat oder dergleichen bitten möchte und meinen Dienst tun wolle.

Er sah mich einen Moment lang an und meinte dann verächtlich:

»Was weißt du von Opiaten! Du bist, deinem Akzent nach, Engländer?«

»Nein, monsieur le major, Deutscher.«

»So, ich will dir etwas sagen. Wir kennen diese Dinge! Ob du nun Engländer bist oder Deutscher oder Hottentotte, ich halte dich für einen ganz gewöhnlichen Simulanten. Ich schreibe dich non-malade, nichtkrank. Non-malade, Korporal!«

Ich war niedergeschmettert. Erstaunen kämpfte mit Entrüstung. Soeben, in dem Augenblick, als dieser Arzt mit mir sprach, hatte ich mich in den Schmerzen eines Magenkrampfes zusammengekrümmt! Ich sei nicht krank! Das bedeutete nicht nur den Verlust lindernder Medizin, sondern eine sehr empfindliche Strafe. Wer vom Arzt als »nichtkrank« befunden wird, gilt ohne weiteres als der Simulation überführt und wird gewohnheitsmäßig mit vier Tagen Arrest bestraft.

Ich grüßte militärisch und sagte:

» Non-malade, monsieur le major? Ohne Untersuchung?«

»Va-t-en!« schrie der Oberstabsarzt. »Hinaus mit dir!«

Der Korporal schüttelte den Kopf, als mir durch das Lager gingen, und riet mir, geduldig zu sein. Er glaube ja, daß ich Schmerzen hätte, und er wisse, daß »das Schwein von einem Doktor« schon manchen armen Teufel ins Unglück gebracht habe. Aber eine Beschwerde würde die Sache nur noch schlimmer machen. Ich antwortete nichts und malte mir die kommende Nacht aus. Ich würde vor dem Wachtzelt an einen Pflock angebunden werden und ohne Decke in der eisigen Kälte auf dem nackten Boden liegen müssen, weil – ich so unverschämt gewesen war, ein bißchen Arznei haben zu wollen. Eine wahnsinnige Wut stieg in mir auf. Als der Korporal seine Meldung erstattet hatte, ließ mich mein Kapitän rufen.

»Sie sind noch nicht bestraft?«

»Nein.«

»Weshalb haben Sie simuliert?«

Da wurde ich fassungslos und schrie in einem Paroxismus von Aufregung dem Offizier Anklagen und Vorwürfe zu. Der Doktor sei ein Esel und ein Schandfleck seiner Profession. Er sei nicht nur hirnvernagelt, sondern unanständig, niederträchtig und gewissenlos. Seine Diagnose sei eine infame wissentliche Lüge, und es sei eine Schande, daß solche Leute Autorität besäßen. Ich erinnere mich nicht mehr an all das, was ich damals hinausbrüllte, aber es war ein niedliches Sammelsurium von allerkräftigsten Worten – Insubordination, wie sie im Buch steht. Schließlich endigte mein Wutanfall damit, dass ich sofortige Vorführung beim Regimentskommandeur verlangte und (das muß sehr lächerlich gewesen sein!) damit drohte, mich beim französischen Kriegsminister zu beschweren.

Der Kapitän hörte mich ruhig an und sagte:

»Ich glaube, daß man Ihnen unrecht getan hat. Ich werde einen Brief an den Unterarzt schreiben, der Ihnen Arznei geben wird. Von einer Beschwerde beim Regiment rate ich Ihnen ab.« Dann nach einer Pause:

»Was erwarten Sie denn eigentlich? Was wollen Sie? Wir sind in der Legion. Sie sind Legionär – vergessen Sie das nicht wieder – Legionär!«

Hätte ich nicht in der absoluten Fassungslosigkeit meiner Wut diese in der Legion unerhörte Sprache gewagt, so würde ich den ominösen Pflock am Wachtzelt wahrscheinlich als todkranker Mann verlassen haben.

Dank der Opiumpillen des Assistenzarztes konnte ich am nächsten Tag mitmarschieren. freilich unter Aufbietung jedes Funkens von Willenskraft. Unendlich wie die Ewigkeit schien die Zeit zwischen den Kilometersteinen zu sein. Die Hoffnung auf jene fünf Minuten Ruhe am fünften Kilometerstein war die Kraft, die mich vorwärts trieb. Ich zählte meine Schritte, um über dem mechanischen Zählen meine Schmerzen zu vergessen. Hundertzwanzig Schritte bedeuteten hundert Meter: wenn ich zehnmal 120 gezählt hatte, so war ein Kilometer überstanden, der fünfte Teil des Weges zur Ruhe.

Endlich kamen, wie ein Himmel der Erlösung, die wenigen Minuten erschöpften Daliegens. Und dann begann wieder die Qual ...

Die Felddienstübung in einer mit sonderbar spitzen Steinen besäten Wüstenei 300 Kilometer südlich von Sidi-bel-Abbès dauerte genau acht Stunden und war vom Standpunkte der Legion überflüssig und daher wertlos. Die Entwicklung der Feuerlinie, das geschickte Deckungsuchen, der Sturmlauf des Bajonettangriffs, das Verständnis aller Signale, vollkommene Feuerdisziplin sind Dinge, die bei der unendlich praktischen militärischen Erziehung dieses Kampfregiments jedem Legionär völlig in Fleisch und Blut übergehen. Das Schlußmanöver war (ich hörte, wie unser Kapitän sich mit Leutnant Garde über diese Dinge unterhielt) weiter nichts als eine kleine Privatbelustigung unseres Colonels, der mit seinem Regiment brillieren wollte; eine militärische Liebhaberaufführung. Der kommandierende General dagegen habe zu seinem Adjutanten gesagt, es mache ihm ein diebisches Vergnügen, seine Legionäre wieder einmal »auszulüften«! Das Regiment faulenze schon sechs Monate in den Kasernen herum und könnte am Ende vergessen, daß seine eigentliche Heimat der Wüstensand sei, und daß es keinen andern Daseinszweck habe als zu laufen – viel zu laufen – kolossal zu laufen!

Die Legionäre kannten die Vorliebe des Generals sehr genau und nannten ihn niemals anders als: »das Marschierschwein«. Der dicke Sergeant unseres ersten pelotons pflegte mit der Respektlosigkeit in lustigen Dingen, die in der Legion erlaubt ist, zu sagen:

»Wenn ich den Kerl nur sehe, bin ich schon müde ...«

Als der General noch Oberst war und das erste Regiment kommandierte, begegnete ihm einmal in einer Nebenstraße von Sidi-bel-Abbès ein betrunkener Legionär. Der Mann, der mit Ach und Krach eben noch grüßen konnte, hatte den wahnsinnigen Einfall, seinen Oberst anzusprechen.

»Eh, mon colonel,« stotterte er. »ich hab' noch viel Durst. Zehn Sous, mon colonel

Der Oberst sah ihn erstarrt an.

Da wurde der Legionär unter dem Blick der harten Augen mit einem Ruck nüchtern, und die rettende Idee fiel ihm ein:

»Ich bin nämlich der beste Marschierer meiner Kompagnie, mon colonel!«

Nun schmunzelte der Oberst und schenkte ihm ein Fünffrancsstück ...

Gerade die kleinen Anekdoten und die derben Witze im Legionsjargon sind typisch für das ungeheure Gewicht, das im Regiment der Fremden auf die Marschleistung gelegt wird, ohne Rücksicht auf die Abnutzung der menschlichen Maschine, ohne Rücksicht, wie viele Leben dabei zugrunde gehen.

General de Négrier, der einzige Kommandeur, den die Legion liebte, weil er sie liebte und es verstand, ein fast persönliches Verhältnis mit jedem Legionär herzustellen, sprach über die Härte der Legionsmärsche nur mit drei Wörtchen. Er tat, als er Kommandeur der Fremdenlegion war, alles für seine Truppe. Jeder Legionär durfte mit Privatanliegen zu ihm kommen, jeder Verwundete war ein Held für ihn, ein braver Mann, für den er nicht genug tun konnte. Wenn er aber auf den fürchterlichen Märschen in Madagaskar einen erschöpften Legionär aus der Kolonne taumeln und zusammenbrechen sah, so wurde sein Gesichtsausdruck hart und mitleidslos. Das war ein gemeines Verbrechen in seinen Augen. Dann schrie er die Worte, die zum Legionärssprichwort geworden sind:

» Marschier' oder verreck'!«

Märsche, die kein europäischer Kommandeur wagen würde, sind etwas Gewöhnliches; sie sind die Basis, auf der die Fremdenlegion ihre militärischen Erfolge errungen hat.

Aber auch die Basis von Krankheit und Siechtum und Tod! In jedem dieser Märsche verkörpert sich das Prinzip der absoluten Menschenausnutzung als Leitmotiv der fremden Söldnerinstitution auf algerischem Boden. Militärisch gedacht, sind die Märsche der Legion prachtvoll, ein Triumph von Training und Disziplin. Menschlich gedacht, sind sie der Gipfel von gewissenlosem Ausbeutertum. Kein Neuyorker Kleiderjude, der in seiner »Schwitzbude« Hunderte von Menschen zu Hungerlöhnen an der Nähmaschine stöhnen läßt, macht solch' ausgezeichnetes Geschäft wie la légion, die für ein Nichts aus Tausenden von Menschen die Lebenskraft saugt. Nicht die Greuel der Strafbataillone, nicht die Brutalität der Strafen, nicht die armen Teufel, die wegen irgendeiner Lappalie standrechtlich erschossen werden, werfen die grellsten Lichter auf die Fremdenlegion – das tun die Märsche!

Sechzehn Tage lang dauerte unser Manövermarsch von 600 Kilometern. Auf den Etappen im äußersten Süden hatte die Verpflegung fast nur aus Reis bestanden, und zu der Plage der täglichen 40 Kilometer hatte sich der Hunger gesellt. Trotzdem blieben die Tagesleistungen die gleichen wie auf dem Hinmarsche. Ich litt noch immer an meinen Magenschmerzen. Heute ist es mir ein Rätsel, wie ich es in diesem Zustand fertig brachte, noch 300 Kilometer in glühender Sonne zu marschieren und die Kälte der Nächte auszuhalten. Anderen ging es nicht besser. Sie marschierten mit offenen Wunden an den Füßen; mit eiternden Stellen zwischen Hals und Schulterblatt, da, wo die Riemen des schweren Tornisters drückten; mit Augen, die von der Sonne entzündet waren; mit schweren katarrhalischen Krankheiten; mit blutenden und schwärenden Reibungsstellen an den Oberschenkeln. Manche hinkten, und die meisten marschierten in gebückter Haltung, zusammengesunken, erbärmlich zum Ansehen wie ein Häuflein Elend. Mürrisch, schweigend, wütende Verbitterung in den harten Gesichtslinien und in den müden Augen, stampften wir dahin. Wenn jemand sprach, war es ein häßlicher Fluch.

Die Nerven schienen zum Zerspringen angespannt. Über der ganzen Truppe lag das Aufgeregtsein der Übermüdung, körperliche und seelische Nervenkrankheit. Die Fremdenlegion hat sich einen eigenen Ausdruck dafür geprägt!

Der » cafard« regierte. Der cafard der Fremdenlegion, der ein naher Verwandter des Tropenkollers ist und einen Sammelnamen darstellt für all' die unbegreiflichen Dummheiten, Exzesse, Verbrechen, die gequälte Nerven begehen können. Die deutsche Sprache hat kein Wort für diesen Zustand. Im cafard ist Mord verborgen und Selbstmord und Massenmeuterei, Selbstverstümmelung und planlose Flucht in die Wüste hinaus; er ist der Gipfel der Torheit und der Höhepunkt der Verzweiflung.

Auf den letzten Etappen, wenn nachts das Regiment im Zeltlager kampierte, wurden wir häufig durch einen Höllenlärm aus dem Schlafe geweckt. Legionäre – Legionäre im cafard – sprangen im Licht der Wachtfeuer um die Zelte herum und brüllten die alten Legionslieder in die Nacht hinaus, die mit dem Fluchen auf den Korporal begannen und die ganze Skala aller Chargen bis zum kommandierenden General hinauf gewissenhaft durchschimpften – in einem entsetzlichen Legionsfranzösisch, das nur den Vorteil ungemeiner Kraft des Ausdrucks besaß. Kein Offizier wurde dabei übergangen, und jeder wurde vorsichtig mit Namen genannt, damit ja kein Irrtum möglich sei.

Das Lied schillerte in farbenstrotzenden Beleidigungen. Der Vorwurf, daß Hauptmann Soundso mit dem Menagegeld der Kompagnie seinen Privatharem verpflege, war noch einer von den harmlosesten, und mit der Behauptung, er sei ein alter Affe, fing das Sündenregister des Regimentskommandeurs erst an.

Mit gellender Stimme schrien die Cafard-Besessenen dieses hohe Lied der Insubordination in die stille Nacht hinein, bis es in den Zelten lebendig wurde. Unter Gelächter und Schimpfen balgten sich die Wachen mit den rabiaten Sängern herum, und aus der Dunkelheit heraus gröhlten johlende Stimmen Beifall.

Man nahm das nicht sehr ernst. Die »Sänger« wurden zur Abkühlung die Nacht über vor dem Wachzelt an Pflöcken angebunden und mit Tagesanbruch zu ihren Kompagnien geführt – zum Weitermarschieren.

Als wir nach Sidi-bel-Abbès zurückkamen, waren unsere Uniformen und unsere Gemüter in einem traurigen Zustand...


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