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XIV
Der König trinkt

Sankt Martinstag (11. November)

Heute morgen war es auftauend mild. Es schwebte etwas in der Luft also lau wie die Liebkosung einer samtenen Haut. Es strich an einem vorüber gleich einer vorbeistreifenden Katze. Es rann längs meines Fensters gleich einem goldenen Muskateller. Der Himmel hatte sein Nebellid emporgeschlagen, und sein blaßblaues Auge schaute mich friedvoll an, und ich sah auf meinem Dach einen blonden Sonnenstrahl lachen.

Ich fühlte mich erschlafft – ich alter Dummkopf und Träumer, gleich einem Jüngling. (Ich habe aufs Altern verzichtet, ich wandle meine Jahre nach rückwärts; wann das noch fürderhin so geht, dann werde ich in Bälde ein Wickelkind sein.) So war also mein Herz erfüllt von phantastischer Erwartung, als war ich der wackere Roger, der nach Alcine schmachtet. Ich betrachtete jedwedes Ding mit gerührtem Bück. Ich hätte an jenem Tage keiner Fliege weh zu tun vermocht. Und mein Bosheitsranzen war leer.

Und dieweil ich mich noch eben allein glaubte, gewahrte ich plötzlich Martine, die in einem Winkel saß. Ich hatte nicht bemerkt, wann sie eingetreten war. Sie hatte mich wider ihre Gewohnheit nicht angesprochen; sie hatte sich mit einer Handarbeit niedergelassen und schaute mich mitnichten an. Es drängte mich, andere an meinem Wohlsein teilnehmen zu lassen, und so sagte ich aufs Geratewohl (jedweder Gegenstand ist gut, eine Unterhaltung zu eröffnen):

»Weshalb hat denn die große Glocke heut morgen geläutet?«

Sie zuckte die Achseln und sagte:

»Nun, für Sankt Martin.«

Ich fiel aus allen Himmeln. Wie, meine Träumereien hatten mich den Schutzgott meiner Vaterstadt vergessen lassen? Ich fragte:

»Heute ist Sankt Martinstag?«

Und alsobald tauchte aus der Herde der Junker und der Damen des Plutarch zwischen meinen neuen Freunden der alte Freund empor (er ist ihres Schlages), der Ritter, der mit dem Säbel seinen Mantel zerschneidet.

»Ei der Daus, Martinlein, mein alter Zechgenoß, habe ich wahrlich deinen Geburtstag vergessen!«

»Du wunderst dich dessen?« meinte Martine. »Es ist hohe Zeit, du vergißt alles, den lieben Gott, die Familie, die Teufel und die Heiligen, Martinlein und Martine; nichts ist fürder für dich da, ausgenommen dein verflixter Schmöker.«

Ich lache; ich hatte allbereits jedweden Morgen, wenn sie kam, ihren scheelen Blick bemerkt, wann sie sah, daß ich mit Plutarch geschlafen hatte. Niemalen wird eine Frau die Bücher mit selbstloser Liebe lieben; sie sieht in ihnen Nebenbuhlerinnen oder Liebhaber. Ob Mädchen, ob Weib, wann sie liest, treibt sie ein Liebesspiel und betrügt den Mann. Derhalben schreit sie Verrat, sobald sie uns lesen sieht.

»Das ist des Martinus Schuld«, sage ich. »Man sieht ihn nimmer. Dabei ist ihm doch die Hälfte des Mantels geblieben. Er behält sie. Das ist mitnichten schön. Ja, so ist's nun einmal, mein gutes Kind. Man darf sich im Leben nicht in Vergessenheit bringen. Wer sich in Vergessenheit bringt, wird vergessen. Merke dir das.«

»Das tut mir nicht not«, meinte sie. »Allwo ich bin, da komme ich bei niemand in Vergessenheit.«

»Das ist wohl wahr. Man sieht dich, man hört dich noch mehr. Ausgenommen heut morgen, als ich dein täglich Gezanke erwartete. Warumb hast du's mir mißgönnt? Es fehlt mir. Verabfolge mir's jetzo.«

Sie aber sagt, ohn den Kopf zu erheben:

»Nichts verabfolge ich dir. Und hören sollst du mich auch nicht.«

Ich blickte in ihr eigensinniges Gesicht, wie sie die Lippen zusammenkniff, um den Nähsaum ihrer Arbeit festzuhalten.

Sie schaute traurig und niedergeschlagen drein; und mein Sieg tat mir leid. Ich sagte:

»Gib mir zumindest einen Kuß. Wenn auch den Martinus, die Martine habe ich nicht vergessen. Es ist dein Namenstag, komm, ich habe ein Geschenk für dich. Hol es dir.«

Sie zog die Brauen hoch und sagte:

»Du schlimmer Spaßvogel!«

»Ich spaße nicht«, sagte ich. »Komm, komm doch. Du wirst schon sehen.«

»Ich habe keine Zeit.«

»O du entartete Tochter! Wie? Du hast keine Zeit, mir einen Kuß zu geben?«

Es tat ihr leid, sie stand auf; mißtrauisch kam sie näher.

»Welchen Streich, welchen Possen wirst du mir noch spielen?«

Ich reckte ihr die Arme entgegen.

»Nur zu«, sagte ich. »Küsse mich.«

»Und das Geschenk?« fragte sie.

»Da hast du's, du hast es ja. Ich bin es Selbsten.«

»Ein schön Geschenk! So ein Kerl!«

»Ob häßlich oder schön, alles, was ich habe, gebe ich dir. Ich übergebe mich bedingungslos auf Gnade und Ungnade. Tu mit mir, wie du willst.« ...

»Du willigst darein, hinabzukommen?«

»Ich liefere mich dir aus, gefesselt an Händen und Füßen.«

»Und du versprichst mir Gehorsam? Du wirst verstatten, daß man dich liebt, dich leitet, schilt, verwöhnt, pflegt, demütigt?«

»Ich habe meinem Willen entsagt.«

»Ah! Nunmehr werde ich mich rächen! Warte, mein lieber Alter! Du arger Bursch! Wie gut du bist! Du alter Dickkopf! Hast du mich nun genug zur Verzweiflung gebracht?«

Sie küßte mich, schüttelte mich gleich einem Ballen und zog mich gleichwie ein Pausbäcklein auf ihren Schoß. Sie wollte nicht eine Stunde warten. Man packte mich auf. Florimond und die Bäckerburschen mit ihren baumwollenen Mützen schoben mich, die Füße voran, den Kopf hinten nach, über die enge Treppe hinab in ein helles Zimmer, in ein großes Bett, darein mich Martine und Glodie feststopften, mich verspotteten und wohl an zwanzigmalen wiederholten:

»Da hat man dich am End! Jetzo hat man dich, nunmehr hat man dich fest, du Strolch! ...«

Wie wohl das tat!

Und seither bin ich gefangen; ich habe meinen Stolz eingepackt; ich alter Ölgötz habe mich der Martine unterworfen ... Und doch bin ich's, ohn daß man's merkt, der alles im Hause regiert.

 

Martine setzt sich von nun ab häufig neben mich. Dann plaudern wir. Wir gedenken daran, daß schon einmalen, das ist gar lange her, wir also einer neben dem andern saßen. Derzeit aber war sie es, so der Fuß festhielt, dieweil sie sich eine Verstauchung hätt zugezogen, als sie eines Nachts (die verliebte Katz!) aus dem Fenster wollt springen, um zu ihrem Galan zu laufen. Ohngeachtet der Verstauchung tat ich sie – heidi! – gut verwamsen. Heutigentags lacht sie derhalben und meint, ich hätt noch nicht genugsam geprügelt. Derzeit aber konnte ich noch so sehr prügeln und aufpassen und bin doch geziemlich schlau; sie war es zehnmal mehr denn ich, der verschmitzte Schalk, und schlüpfte mir zwischen den Händen hindurch. Am End war sie nicht also töricht, wie ich glaubte. Sie verlor nicht den Kopf, wenn auch manches andere. Sonder Zweifel verlor ihn dafür der Galan, dieweil heutigentags er – ihr Mann ist.

Sie lacht samt mir ihrer Tollheiten und sagt mit einem tiefen Seufzer, daß das Lachen nun ein End hätt, der Jungfernkranz sei verwelkt, zu Spiel und Tanz würd nimmer geführt. Und wir reden von ihrem Ehemann. Als brave Frau findet sie ihn bieder und rechtschaffen, alles in allem zu ihrem Genügen, obzwar nicht sonderlich zum Sich-vergnügen. Die Ehe ist nicht zur Verlustierung da ...

»Jedweder weiß das«, sagt sie, »und du besser als irgendwer. So ist's nun einmal. Man muß Vernunft annehmen. Bei einem Ehemann die Liebe suchen, war ebenso närrisch, wie mit einem Sieblein Wasser schöpfen wollen. Ich bin nicht närrisch. Ich schaffe mir keine Verdrießlichkeit und weine nicht über das, so ich nicht habe. Mit dem, was ich habe, da gebe ich mich zufrieden; was da ist, ist gut, wie es ist. Immerhin, heutigentags sehe ich wohl, welch Unterschied zwischen dem ist, was man wünscht, und dem, was man kann; zwischen dem, was man in seiner Jugend träumt, und dem, woran man sich im Alter oder wann man älter wird, genügen läßt. Ist's rührend oder lächerlich (man weiß nicht recht, was von beiden), daß all unser Hoffen und Harren, diese ganze Glut und diese Sehnsucht, diese heißen Wunsche und diese prächtigen Strohfeuer nur dazu da sind, um letztlich den Topf zum Sieden zu bringen, darin wir unser täglich Süpplein in Zufriedenheit kochen! ... Und wahrlich, es ist gut, gut genug für uns: es ist alles, was wir verdienen ... Doch so man's mir derzeit vorausgesagt hätt! ... Nun, am End bleibt uns für jeden Fall unser Lachen, damit wir die Mahlzeit würzen; es ist eine herrliche Zutat, es könnte gar Steine genießbar machen. Ein trefflich Heilmittel: sich selbst verspotten können, wann man damisch war und es einsieht! Mir hat's niemalen gefehlt und dir gleicherweis nicht.«

Noch minder lassen wir uns entgehen, der andern zu spotten. Ab und an schweigen wir, träumen, grübeln, ich, die Nase ins Buch gesteckt, sie in ihre Arbeit; aber die Zungen wandern heimlich weiter, gleichwie zwei Bächlein, die unterirdisch ihren Weg machen und, jählings aufsprudelnd, wieder ans Sonnenlicht kommen. Mitten aus der Stille heraus bricht Martine in ein schallend Gelächter aus, und die Zungen beginnen von neuem ihren Tanz.

Ich machte den Versuch, Plutarch in unsere Gesellschaft einzuführen. Ich wollte Martine zum Genuß der schönen Geschichten und der erhabenen Art, in der ich sie vortrage, bewegen. Indes, wir hatten keinen Erfolg. Um Griechenland und Rom schert sie sich allsoviel wie ein Fisch um einen Apfel. Selbst wann sie aus Höflichkeit zuhören wollte, so war ihr Sinn in einem Augenblick in der Weite und lief davon; lief über die Felder – oder vielmehr er lief treppauf, treppab in ihrer Behausung umher. An der spannendsten Stelle meiner Erzählung, wann ich mit der Erregung klüglich sparte und einen Anlauf zum wirksamen Schluß machte, unterbrach sie mich und schrie Glodie oder wohl auch Florimond am andern End des Hauses etwas zu. Ich war gekränkt. Ich gab es auf. Man darf von den Weibern nicht verlangen, daß sie unsere tiefen Gedanken teilen. Das Weib ist die Hälfte des Mannes. Freilich. Aber welche Hälfte? die obere? Oder etwan die untere? Auf keinen Fall ist beiden das Hirn gemeinsam; jeder hat das seine, hat seine eigene Schachtel voll Narrheiten. Gleichwie zwei Reiser, so aus demselben Stamme hervorgingen, sind sie durch Herz und Trieb verbunden ...

Ich verbinde mich den Weibern sehr wohl. Obzwar ein verbrauchter, welk und schlapp gewordener Graubart, verstehe ich's doch, fast jedweden Tag eine Leibgarde junger und hübscher Gevatterinnen aus der Nachbarschaft um mich zu versammeln, so, um mein Bett gereiht, mir frohgemute Gesellschaft leisten. Sie kommen, um mir eine wichtige Zeitung zu überbringen oder um einen Dienst zu erbitten oder um sich ein Werkzeug zu leihen. Jedweder Vorwand ist ihnen gut, vorausgesetzt, sie brauchen seiner nimmer zu denken, sind sie nur erst im Haus. Einmal darinnen, lassen sie sich gleichwie auf dem Markt nieder: Guillemine mit den lustigen Augen, Huguette mit dem niedlichen Naschen, die erfahrene Jacquotte, Margueron, Alizon, Gillette und Macette; allsamt ums Kalb im Daunenbett; und wir schwatzen, Gevatterin hin, Gevatterin her, wie die Glockenschwengel, und wir lachen, daß es einen hellen Klingklang gibt! Ich bin die große Glocke. Ich habe in meinem Säckel alleweil irgendeine feine, kitzlige Geschichte, so sie am rechten Punkt zu treffen weiß. Wie schön ist's, wann sie dann übers ganze Gesicht strahlen! Bis auf die Straße hört man ihr Gelächter! Und Florimond, den mein Erfolg ärgert, fragt mich neckend um mein Geheimnis.

Ich erwidere: »Mein Geheimnis? Ich bin jung, alter Freund!«

»Und dann«, meint er gereizt, »macht's auch dein schlechter Ruf! Alten Weiberhelden laufen die Weibchen nach.«

»Zweifelsohn«, erwiderte ich. »Hat man etwan vor einem alten Soldaten keine Achtung? Man drängt danach, ihn zu sehen, man sagt sich: ›Er kommt aus dem Land des Ruhmes.‹ So sagen sich auch diese: ›Colas hat im Land der Liebe den Feldzug mitgemacht. Er kennt sie, er kennt uns ... Und dann, wer weiß? Vielleicht ist er noch kampftüchtig.‹«

»Alter Schwerenöter!« erregt sich Martine. »Daß dich das Mäuslein beiß! Wird es ihm etwan beifallen, sich noch zu verlieben!«

»Und weshalb nicht? Das ist ein Gedanke! Dieweil euch das in Zorn bringen wird, werde ich wieder heiraten.«

»Ei freilich, heirate du nur wieder, mein Junge, laß dir's wohl bekommen! Man muß seine Jugend genießen! ...«

Sankt Nikolaus (6. Dezember)

Zu Sankt Nikolaus bin ich außer Betts, und man hat mich in einem Sessel zwischen Tisch und Fenster gerollt. Unter meinen Füßen steht ein Fußwärmer, vor mir ein Holzpult mit einem Loch für die Kerze.

Gen zehn Uhr zog die Gilde der Flußschiffer und der Floßmacher mit Geigenspiel an unserm Haus vorbei, Arm in Arm im Tanze hinter ihrem Gildewahrzeichen. Bevor sie sich zur Kirche begaben, machten sie eine Runde durch die Wirtshäuser. Maßen sie mich sahen, riefen sie mir zu. Ich stund auf, grüßte meinen Schutzherrn, der mir den Gruß zurückgab. Durchs Fenster drückte ich ihre schwarzen Pfoten und goß in den Trichter ihrer großen, gähnenden Mäuler einen guten Tropfen (ebensogut könnte man wahrhaftiglich einen Tropfen auf ein trocken Feld gießen).

Über Mittag kamen meine vier Söhne, mir ihre Glückwünsche darzubringen. Versteht man sich auch nicht allzugut, einmalen im Jahr gilt's, miteinander im Einvernehmen zu sein; der Namenstag des Vaters ist geheiligt: er ist der Halt, an den sich die Familie hängt gleichwie ein Bienenschwarm; dieweil sie ihn feiert, knüpft sie ihre Bande fester und unterwirft sich ihrem Zwang. Und darauf halte ich.

Also fanden sich an diesem Tage meine vier Jungen bei mir vereint. Sie hatten keine sonderliche Freud daran. Sie lieben einand wenig, und ich glaube wohl, ich bin das alleinige Band zwischen ihnen. In unsrer Zeit schwindet alles, was die Menschen einander einte: das Haus, die Familie und die Religion. Jedweder glaubt, alleinig recht zu haben, und jedweder lebt für sich Selbsten. Ich mag nicht den Alten spielen, der sich entrüstet und die Nase rümpft und vermeinet, mit ihm gehe die Welt zu End. Die Welt wird sich trefflich zurechtfinden; und ich glaube, die Jungen wissen besser, was ihnen frommt, denn die Alten. Aber die Rolle des Alten ist undankbar. Die Welt rings um ihn her ändert sich; und dafern er sich nicht auch ändert, ist kein Platz mehr für ihn da! Nun, ich, für meine persona, bin auf diesem Ohr taub. Ich sitze in meinem Sessel. Und sachte, sachte, da bleibe ich auch! Und wenn's gilt, um seinen Platz zu behalten, andern Sinns zu werden, so werde ich gewißlich andern Sinns, und ich werde es derart einrichten, daß ich beim Sinnesändern immer der gleiche bleibe (das versteht sich). Unterdes schaue ich von meinem Lehnsessel aus zu, wie die Welt sich ändert und die jungen Leute sich streiten; ich bewundere sie und warte desohngeachtet heimlich auf den rechten Augenblick, um sie dahin zu führen, wohin ich will ...

Meine Buben hielten sich vor mir: am Tisch zu meiner Rechten saß Jean-François, der Frömmler; zu meiner Linken Antoine, der Hugenott, der in Lyon ansässig ist. Ohn sich anzuschauen, saßen sie beide, in ihre Kragen verkrochen, mit steifem Hals und erfrorenem Steiß da. Jean François mit blühenden Wangen, hartem Blick und lächelndem Munde sprach unaufhörend von seinen Geschäften, rühmte sich, protzte mit seinem Geld und seinen Erfolgen, lobte sein Tuch und Gott, der es ihn verkaufen ließ. Antoine, der die Lippen rasiert und ein Bärtlein am Kinn trägt, saß mürrisch, steif und kühl da, redete, als spräche er zu sich Selbsten, von seinem Buchhandel, von seinen Reisen nach Genf, von seinen Geschäfts- und Glaubensbeziehungen und lobte gleichermaßen Gott; nur daß es nicht der nämliche Gott war. Sie redeten umschichtig, achteten mitnichten, was der andere sang, und jedweder nahm, alsobald die Reihe an ihn kam, seinen Kehrreim wieder auf. Am End aber begannen beide, geärgert, Materien zu behandeln, die den andern aus dem Häuslein bringen konnten. Dieser redete von den Fortschritten der alleinig wahren Religion und jener von den Erfolgen der wahren und alleinigen Religion ... Und dabei taten sie hartnäckig, als sähen sie einand nicht; ohn sich zu regen, gleichsam von der Steifhalsigkeit befallen, kläfften sie mit wütender Mien und scharfer Stimme ihre Verachtung für den feindlichen Gott in die Luft.

Zwischen ihnen stand mein Sohn, der Sergeant im Regiment von Sacermore, der Streithahn Aimon-Michel (er ist kein ungeraten Kind), betrachtete sie, zuckte mit den Schultern und lachte laut. Er konnte sich mitnichten ruhig verhalten, lief wie ein Wolf hin und her, trommelte wider die Scheiben oder trillerte: »Halli, hallo!« hielt inne, um den beiden streitenden Älteren ins Gesicht zu sehn, lachte sie aus oder unterbrach sie roh, um zu verkünden, daß zween Hammel, seien sie mit einem roten oder blauen Kreuz gezeichnet oder auch nicht, immerhin zu mancherlei gut wären, dafern sie nur recht gemästet wären, und daß man ihnen das schon zeigen wolle. »Da haben wir noch andere verspeist ...«

Anisse, mein jüngster Bub, der wahrlich nicht das Pulver erfunden hat, schaute ihn entsetzt an, Diskussionen beunruhigen ihn. Nichts auf der Welt ficht ihn an. Er kennt nur ein Glück, das ist, in Frieden gähnen und sich den lieben langen Tag langweilen können. So findet er auch die Politik und die Religion teuflisch, sintemalen sie nur erfunden seien, um den Geist der Leute, so da schlafen, zu verstören ...

»Mag das, was ich habe, gut oder schlecht sein, dieweil ich's habe, warumb sollt ich's ändern? Das Bett, darein man sein Loch gelegen hat, ist von uns und für uns geschaffen. Ich will's nicht neu gemacht haben ...« – Aber ob er wollte oder nicht, man schüttelte seine Matratze auf. Und darob war dieser sanfte Mensch also empört, daß er die, so ihn störten, männiglich am liebsten dem Henker überliefert hätt, auf daß er seine Ruhe wiederherstelle. Für den Augenblick hörte er den Reden der andern mit erschreckter Miene zu; und alsobald ihr Ton sich erhob, zog sich sein Hals in seine Schultern zurück.

Ganz Auge und ganz Ohr, verlustierte ich mich, zu entdecken, inwiefern diese vier da vor mir von mir sind und zu mir gehören. Sie sind doch nun einmalen meine Söhne; dafür steh ich ein. Aber stammen sie auch von mir, so sind sie doch weidlich mir entwachsen. Und wie waren sie – potz Zickel! – in mich hineingekommen? Ich betaste mich: wie habe ich in meinem Ranzen diesen Sittenprediger, diesen Scheinheiligen und diesen ausgemachten Hammel herumtragen können? (Bei dem Abenteurer mag's noch eher gehen!) ... O du betrügerische Natur! Waren sie wahrhaftig in mir? – Ja. Ich trug die Keime zu ihnen; ich erkenne gewisse Gebärden wieder, die Redeweise und wohl gar mancherlei Gedanken; ich finde mich in ihnen vermaskiert wieder: die Maske macht stutzig, aber darunter ist derselbige Mensch; derselbige einmal und vielfältig. Jedweder Mensch trägt in sich zwanzig verschiedene Menschen: einen lachenden und einen weinenden, einen, der für Regen, und einen, der für schön Wetter unempfindlich ist gleichwie ein Klotz; einen Wolf, einen Hund und ein Schaf; einen guten Kerl und einen Taugenichts. Einer von den zwanzig aber ist der stärkste. Er maßt sich alleinig das Wort an. Er stopft den neunzehn andern den Schnabel. Derhalben kommt's, daß die, alsobald sie die Tür offen finden, sich aus dem Staube machen. Meine vier Söhne haben sich aus dem Staube gemacht. Die armen Burschen! Mea culpa. So nahe mir, sind sie so fern! ... Und doch, sie bleiben allzeit meine Kinder. Wann sie Dummheiten reden, kommt mich die Lust an, sie um Verzeihung zu bitten, maßen ich sie so dumm geschaffen habe. Zum Glück sind sie zufrieden und finden sich schön! Mögen sie sich bewundern, das ist mir überaus recht; doch was ich nicht vertragen kann, ist, daß sie nicht dulden mögen, so andere zur Genüge häßlich sind, dafern es ihnen so behagt.

Wie sie, so in die Brust geworfen, mit Auge und Schnabel alle vier sich bedrohten, sahen sie wie Kampfhähne aus, bereit, aufeinander loszuspringen. Friedfertigen Herzens beobachtete ich, alsdann sagte ich:

»Bravo, bravo, meine Lämmer! Ich sehe wohl, man wird euch nicht leichtlich die Wolle vom Rücken scheren. Das Blut ist gut (das glaub ich, das ist das meine), und die Stimme ist noch besser. Jetzo aber, da man euch zugehört hat, ist die Reihe an mir! Die Zunge jucket mich. Und ihr könnt euch nun ausruhen.«

Aber sie hatten's nicht sehr eilig, mir zu gehorchen. Ein Wort hatte den Sturm zum Ausbruch gebracht. Jean-François sprang auf und packte den Stuhl. Aimon-Michel zog seinen langen Degen, Antoine sein Messer; und Anisse (zu brüllen versteht er wie ein Kalb) schrie: »Feuerjo! Feuerjo!« Ich sah den Augenblick kommen, da die vier Kerle mit Mord und Totschlag widereinander wüten würden. Ich ergriff ein Ding, das erste, was mir zur Hand war (just wollt es der Zufall, daß es die Wasserkanne mit den beiden Tauben war, die meine Verzweiflung und Florimonds Stolz ausmachte), und gedankenlos zerschlug ich sie am Tisch in drei Stücke. Unterdes kam Martine herzugelaufen, schwenkte einen dampfenden Kochkessel und drohte, sie damit zu übergießen. Sie schrien gleichwie eine Herde junger Esel; doch wann ich schreie, da ist kein Esel, der nicht die Flagge streicht. Ich sagte:

»Hier bin ich der Herr und befehle. Schweigt, ihr! Ja, sagt mal: Seid ihr närrisch? Sind wir beisammen, um über das Credo von Nicäa zu diskurieren? Ich mag's gern, so man diskuriert, ei freilich; aber wenn's beliebt, meine Freunde, so wählt neuere Themen. Die da hab ich überdrüssig, damit könnt ihr mich totschlagen. Dafern's für eure Gesundheit euch verordnet ist, so streitet, zum Teufel! über diesen Burgunderwein oder über diese Zervelatwurst; über alles, so man sehen oder trinken oder anrühren oder essen kann; dann essen und trinken wir, um es nachzuprüfen. Aber über Gott streiten? Du lieber Gott! Über den Heiligen Geist? Das beweiset, meine Freunde, daß man wenig Geist besitzt ... Ich sage niemand, der da glaubt, Übles nach: ich glaube, wir glauben, ihr glaubet ... alles, was ihr wollt. Aber reden wir von anderem. Gibt's nicht noch anderes auf der Welt? Jedweder von euch ist sicher, ins Paradies zu kommen. Ausgezeichnet, ich bin's überaus zufrieden. Man harret euer da oben. Der Platz steht für jedweden der Auserwählten bereit; die anderen bleiben vor der Tür; das versteht sich ... Ei, potz Blitz! so laßt doch den lieben Gott seine Gäste unterbringen, also wie es ihm beliebt: es ist sein Haus, drängt euch nicht dazu, seine Polizei zu spielen. Für jedweden sein Königreich. Den Himmel für Gott, für uns die Erde. Unsere Sache ist, sie bewohnbar zu machen, dafern es angeht. Wir allesamt sind nicht zuviel, um das fertigzubringen. Vermeinet ihr, man könnte einen von euch entbehren? Ihr seid alle vier dem Lande nützlich. Es bedarf deines Glaubens, Jean-François, in betreff dessen, was war, wie des deinen, Antoine, in betreff dessen, was sein wird. – Es bedarf deines Abenteurersinns, Aimon-Michel, wie deiner Unbeweglichkeit, Anisse. Ihr seid die vier Grundpfeiler. So einer schwankt, stürzt das ganze Haus zusammen. Und ihr selbsten würdet als nutzlose Ruine zurückbleiben. Wollt ihr das etwan? Das wäre, meiner Treu, trefflich ausgedacht!

Was wolltet ihr zu vier Seeleuten sagen, die auf den Fluten im Sturmwetter, anstatt das Takelwerk zu bedienen, nur daran dächten, miteinand zu streiten? ... Ich erinnere mich, daß ich dereinst eine Unterhaltung zwischen König Heinrich und dem Herzog von Nevers mit angehört habe. Sie seufzten über den Hang ihrer Franzosen, einand zugrunde zu richten. Der König sagte: ›Alle Wetter und heiliger Muck! Ich möchte sie am liebsten, auf daß sie sich beruhigen zu zween und zween in einen Sack nähen lassen, allweil einen wütigen Mönch und einen verbissenen Verkünder des Evangeliums, und sie alsdann gleich einem Wurf Katzen in die Loire werfen!‹ – Und der lachende Niverneser sagte: ›Ich meinesteils wollte mich damit begnügen, sie in Ballen auf jenes Inselein zu spedieren, an dessen Ufer, wie man uns erzählt, die Herren von Bern die streitsüchtigen Ehemänner und ihre Frauen absetzten, allwo man sie einen Monat darnach, wann das Boot sie wieder abholte, gleichwie die Turteltauben vor Zärtlichkeit liebegirrend fand.‹ – Euch täte eine gleiche Kur not! Ihr schmollt, ihr Knirpse? Ihr dreht euch den Rücken? ... Ei, schaut doch einander an, Kinder! Wann ihr auch noch so sehr glaubt, daß jedweder von euch aus anderem Teig geknetet und trefflicher sei denn seine Brüder; ihr seid vier Mischungen eiusdem farinae, richtige Breugnons, wie sie leiben und leben, Burgunder von echtem Schrot und Korn. Sehet mir doch diese großspurige Nase an, die sich übers ganze Gesicht erstreckt. Diesen breit in die Rinde hineingeschnittenen Mund, diesen Trichter zum Trinken, diese überbuschten Augen, die grimmig dreinschauen möchten und doch lachen! Ihr seid ja gezeichnet! Sehet ihr nicht, daß ihr euch selbsten zerstört, so ihr einand Schadens tut? Und tätet ihr nicht besser, euch die Hand zu geben? Ihr denkt nicht das gleiche? Das wär mir auch was Schlimmes! Ei, potz Zickel! um so besser! Wollt ihr männiglich dasselbe Feld bearbeiten? Je mehr Felder und Gedanken die Familie hat, um so glücklicher und stärker werden wir sein. Dehnet euch aus, mehret euch und umarmet alles auf Erden und in der himmlischen Gedankenwelt, was immer ihr vermögt. Jedem das Seine, und alle vereinet – (vorwärts, meine Söhne, umarmen wir einand!) – auf daß die große Nase der Breugnons ihren Schatten über die Felder dehne und die Schönheit der Welt einschnüffele!«

Sie schwiegen mit saurer Miene, dieweil sie sich auf die Lippen bissen; aber man sah, daß es ihnen schwer ward, nicht zu lachen. Und plötzlich brach Aimon-Michel in ein lärmend Gelächter aus, reckte seine Hand Jean-François entgegen und sagte ihm: »Wohlan! Nasenältester! Topp! Tölpel! schließen wir Frieden!« – Und sie küßten einander.

»Martine, holla! Auf unsere Gesundheit!«

In diesem Augenblick merkte ich, daß ich mir das Handgelenk zerschnitten, als ich meinen Zorn an der bewußten Wasserkanne ausgelassen hatte. Ein weniges Blut befleckte den Tisch. Der allweil feierliche Antoine hob meine Hand auf, hielt sein Glas darunter, fing meinen tiefroten Adersaft darein auf und sagte pomphaft:

»Trinken wir vier aus diesem Glas, auf daß unsere Brüderschaft besiegelt sei!«

»Nicht doch, nicht doch, Antoine!« rief ich. »Gottes Wein also zu verpanschen! Pfui, du machst mir übel! Fort mit dieser Mixtur! Wer mein Blut rein trinken will, der möge herb und rein seinen Wein trinken!«

Daraufhin tranken wir, und über den Geschmack des Weines stritten wir mitnichten.

Wann sie davongegangen waren, sagte Martine, dieweil sie meine Hand verband:

»Alter Bösewicht, hast du's diesmalen doch erreicht?«

»Was soll ich erreicht haben? Sie zusammenzubringen?«

»Ich rede von einem andern Ding.«

»Und wovon denn?«

Sie wies auf dem Tisch die zerbrochene Wasserkanne.

»Du verstehst mich sehr wohl. Spiele nicht den Unschuldigen ... gestehe ... du mußt es gestehen ... nun los, mir ins Ohr! Er soll es nicht erfahren ...«

Ich spielte den Erstaunten, den Entrüsteten. Ich leugnete und leugnete. Aber ich platzte vor Lachen und erstickte schier.

Sie drohte mir abermals:

»Bösewicht, Bösewicht!«

Ich sagte: »Sie war allzu häßlich. Wahrhaftig, mein gutes Kind: sie oder ich, eins von beiden mußte verschwinden.«

Martine sagte: »Der Hinterbliebene ist nicht schöner.«

»Nun, dieser Vogel mag häßlich sein, soviel es ihm beliebt, das ficht mich nicht an. Ich brauch ihn ja nicht zu sehen.«

Weihnachtsabend

In seinen geölten Angeln dreht sich das Jahr. Die Pforte schließt sich und öffnet sich aufs neu. Gleich einem Stoff, den man zusammenfaltet, sinken die Tage tief in den bergenden, weichen Schrein der Nächte. Auf der einen Seite kommen sie herein und auf der andern heraus, nach Sankt Lukas schon um einen Flohsprung gewachsen. Durch einen Spalt sehe ich allbereits den Blick des neuen Jahres glänzen.

Ich sitze in der Weihnachtsnacht unter dem großen Kamindach und beäugle, wie vom Grunde eines Brunnens aus, ober mir den besternten Himmel, seine blinzelnden Lider, seine zitternden kleinen Herzen; und ich höre die Glocken daherkommen, so auf der glatten Luft näher und näher schweben und die Mitternachtsmesse läuten. Ich mag es gerne denken, daß das göttliche Kind zu dieser Stunde der Nacht geboren, zu dieser düstersten Stunde, in der es mit der Welt zu Ende scheint. Sein Stimmlein singt: »O Tag, du kehrest wieder! Du kommst uns nah! Da bist du, neues Jahr!« – Und die Hoffnung brütet unter ihren warmen Flügeln die eisige Winternacht und rühret ihr Herz, so daß es schmilzt.

Ich bin ganz allein im Haus; meine Kinder sind in der Kirche; zum erstenmal gehe ich nicht mit. Ich bleibe mit meinem Hund Citron und meinem grauen Kätzlein Patapon zurück. Wir träumen und schauen zu, wie das Feuer den Kamin beleckt. Ich denke meinen Abend durch. Noch eben hatte ich meine Brut um mich; ich erzählte Glodie, die große Augen machte, Märchen, vom häßlichen Entlein und vom gerupften Hühnchen, vom Burschen, so sein Glück mit seinem Hahn machte, maßen er ihn den Leuten verkaufte, die auf ihrem Wäglein den Tag suchen gingen, um ihn darauf zu entführen. Wir haben uns trefflich unterhalten. Die anderen horchten auch und lachten, und jeder fügte noch ein weniges hinzu. Und dann schwieg man eine kleine Weil, lauschte dem Wasser, so da kochte, lauschte dem Feuer, dem Fallen der weißen Flocken gegen die Scheiben und dem Heimchen unter der Asche. Ach, wie schön diese Winternächte sind, das Schweigen, die Wärme der kleinen aneinand gedrängten Herde, die Träumereien solcher Abende bei gemeinsamer Arbeit, wenn der Geist seine eignen Wege geht ...

Jetzo mache ich meinen Jahresabschluß und stelle fest, daß ich binnen sechs Monaten alles verloren hab: mein Weib, mein Haus, mein Geld und die Beweglichkeit meiner Beine. Aber das Vergnüglichste ist, daß, wann ich jetzo am End meine Waage aufstelle, da finde ich mich ebenso reich wie vordem! Ich habe nichts nicht mehr, sagt man? Nein, nichts mehr zu tragen. Nun wohl! Da bin ich entlastet. Niemalen bin ich so frisch gewesen, bin so frei mit dem Strom meiner Phantasia geschwommen ... Wer indes hätte mir vergangenen Jahres gesagt, daß ich es so frohgemut hinnehmen würde! Habe ich nicht allweil geschworen, ich wollte bis zu meinem Tod Herr in meinem Hause, Herr meiner selbst bleiben, unabhängend, und wollte niemand denn mir selbsten mein Lager und mein Zubrot und Rechenschaft ob meiner Narrheiten schulden! Der Mensch denkt ... Am End gehen die Dinge gänzlich anders, wie man will; und just gerade so mußt es kommen. – Schließlich ist der Mensch alles in allem ein braves Tier. Alles schlägt ihm zum Guten aus. Er paßt sich gleichweis dem Glück wie dem Leid an, dem Überfluß wie der Not. Gebt ihm vier Beine oder nehmt ihm seine zween beiden, macht ihn taub, blind, stumm, er wird Mittel und Wege finden, sich anzupassen und in seinem heimlichen Innern zu sehen, zu hören und zu reden. Er ist wie Wachs, so man auseinanderzieht und wieder zusammendrückt; die Seele knetet es in ihrem Feuer. Und gar schön ist, zu fühlen, daß man diese Geschmeidigkeit des Geistes und der Sprunggelenke hat, man ebensogut ein Fisch im Wasser, ein Vogel in der Luft, im Feuer ein Salamander oder auf der Erde ein Mensch sein kann, der fröhlichen Herzens wider die vier Elemente ankämpft. Solcherart ist man um so reicher, je ärmer man ist: denn der Geist schafft, was ihm fehlt; der allzu buschige Baum, den man ausschneidet, wächst in die Höhe. Je weniger ich habe, desto mehr ich bin ...

Mitternacht. Die Turmuhr schlägt ...

»Euch ist heute der Heiland geboren ...«

Ich singe das Weihnachtslied ...

»Stille Nacht, heilige Nacht ...«

Ich nicke ein und mache ein Schläflein, sicher im Sessel verstauet, auf daß ich nicht ins Feuer falle.

»Stille Nacht ... Euch ist heute der Heiland geboren ...«

Je weniger ich habe, desto mehr ich bin ...

Epiphanias

Ich bin ein rechter Schelm! Denn je weniger ich habe, desto mehr habe ich. Und ich weiß es sehr wohl. Ich habe das Mittel gefunden, reich zu sein, ohn irgendein Ding zu haben, reich an Gut der andern. Ich habe Macht sonder Last. Was redet man nur von alten Vätern, die, nachdem sie sich vollkömmlich entblößt haben, nachdem sie ihren undankbaren Kindern alles gegeben, ihr Hemd und ihre Hose, einsam im Stich gelassen werden und sehen müssen, wie aller Blicke sie in die Grube stoßen. Das sind jämmerliche Tölpel. Niemalen bin ich, meiner Treu, mehr geliebt, mehr gehätschelt worden denn in meiner Armut. Also aber ist's, dieweil ich nicht so dumm bin, mich von allem zu entblößen und nichts nicht zu bewahren. Hat man denn nur seine Börse zu geben? Ich bewahre, wann ich alles hergegeben habe, das Beste. Ich bewahre meinen heiteren Sinn, bewahre, was ich fünfzig Jahre lang beim Bummeln kreuz und quer durchs Leben aufgesammelt habe: gute Laun und Pfiffigkeit, tolle Weisheit oder weise Tollheit. Und der Vorrat ist noch lange nicht erschöpft. Ich erschließe ihn allen; mögen alle daraus schöpfen! Ist das etwan nichts? Empfange ich von meinen Kindern, so gebe ich auch. Wir sind quitt. Und geschieht es, daß der eine etwas weniger gibt als der andere, so stellt die Liebe das Gleichgewicht wieder her; und niemands beklagt sich über die Rechnung.

Wer einen König ohne Königreich, einen Hans ohne Land, einen glücklichen Schelm sehen will, einen gallischen Breugnon, der schaue zu, wie ich heutigen Abends auf meinem Thron dem lärmenden Fest fürstehe! Heut ist Epiphanias. Am Nachmittag sah man die Heiligen Drei Könige, ihre Gefolgschaft, eine weiße Herde, sechs Hirten und sechs Hirtinnen, singend durch unsere Straßen ziehen; und die Hunde des Stadtviertels kläfften. Und heutigen Abends sitzen wir allesamt um den Tisch: alle meine Kinder und meine Kindeskinder. Das macht dreißig, mich mitgezählt. Und alle dreißig schreien miteinand:

»Der König trinkt!«

Der König, das bin ich. Ich trage als Krone eine Kuchenform auf meinem Haupt. Und meine Königin ist Martine: wie in der Heiligen Schrift habe ich meine Tochter geehelicht. Jedwedes Mal, da ich mein Glas zum Munde führe, jauchzt man mir zu. Ich lache und schlucke mit der falschen Kehle; aber ob mit der falschen oder der rechten – ich schlucke und verliere nichts nicht davon. Meine Königin trinkt gleicherweis und läßt, mit nacktem Busen, an ihrem roten Sauger ihren roten Säugling trinken, meinen jüngsten Enkel, der da plärrt, trinkt, sabbert und seinen Arsch weiset. Und der Hund unterm Tisch schlappert und schleckt seinen Napf aus. Und die Katze schnurrt, macht einen runden Buckel und schleicht sich mit einem Knochen davon.

Und ich denke (ganz laut, denn leis zu denken behagt mir nicht):

›Das Leben ist schön, meine Freunde! Sein alleiniger Fehler ist, daß es gar so kurz ist: man hat nicht genugsam für sein Geld. Ihr werdet mir sagen: Sei zufrieden, dein Teil ist gut, und du hast es gehabt. Ich sage nicht nein. Aber ich möchte zwei haben. Und wer weiß! Am Ende bekomme ich, dafern ich nicht zu ungebärdig schreie, ein zweites Stück vom Kuchen. Aber das Traurige ist, wenn ich selbsten auch noch da bin, da sind so manche wackeren Burschen, so ich gekannt habe, ach – wohin? – Gott, wie die Zeit vergeht und die Menschen gleicherweis. Wo ist König Heinrich und der gute Herzog Ludwig? ... ‹

Und siehe, da habe ich mich auf den Weg der Vergangenheit begeben, um die welken Blumen der Erinnerung aufzusammeln; und ich erzähle und erzähle immer wieder meine Geschichten, werde nie müde und kaue sie allzeit von neuem durch. Meine Kinder lassen mich gewähren; und wann mir in meinem Bericht ein Wort fehlt oder ich mich verhasple, dann helfen sie mir mit dem Schluß der Geschichte ein; und vor ihren spottlustigen Augen reiße ich mich aus meiner Verträumtheit.

»Nicht wahr, alter Vater«, sagen sie, »mit zwanzig Jahren lebte sich's gut! Dazumal hatten die Frauen einen schöneren und volleren Busen; und die Männer hatten das Herz auf dem rechten Fleck, und das übrige gleichermaßen. Den König Heinrich und seinen Zechgenossen, den Herzog Ludwig, mußte man gesehen haben! Aus solchem Holz schnitzt man heute keinen mehr ...«

Und ich erwidere:

»Schelme, ihr lacht? Nun, ihr tut recht daran, lachen tut wohl. Bei Gott, ich bin nicht so närrisch, zu glauben, daß bei uns Mangel an Weinernte oder Mangel an Burschen zur Weinlese sei. Ich weiß wohl, daß für einen, der davongeht, drei neue kommen und daß das Holz, daraus man die stämmigen Kerle, die gallischen Burschen zimmert, alleweil wächst, dicht, gedrungen und gerade. Aber die man daraus zimmert, sind nimmer die gleichen. Fällte man auch tausend und abertausend Klafter, niemalen mehr würde man Heinrich, meinen König, noch meinen Ludwig wieder schaffen. Und just die da liebte ich ... Nun, nun, mein Colas, werden wir nicht gerührt! Wie? Eine Träne im Auge? Alter Esel, willst du etwan bedauern, daß du nicht all dein Leben lang denselben Bissen wiederzukäuen vermagst? Der Wein ist nimmer der gleiche? Derhalben ist er doch nicht minder gut. Trinken wir! Hoch der trinkende König! Und hoch auch sein zechend Volk!

Und dann, um unter uns und offen zu reden, Kinder, ein guter König ist wohl was Gutes; aber das Beste bin wiederum ich selbsten. Bleiben wir frei, liebwerte Franzosen, und schicken wir unsere Gebieter zum Teufel. Ich und mein Land, wir lieben und wir genügen einand. Was soll mir ein König des Himmels oder der Erden? Ein Thron tut mir nicht not, weder hienieden noch da oben. Jedwedem seinen Platz in der Sonne und seinen Schatten! Jedwedem sein Stückchen Land und seine Arme, es zu beackern! Mehr brauchen wir nicht. Und käme der König, mich zu besuchen, so würd ich ihm sagen:

›Du bist mein Gast! Auf Dein Wohl! Da, sitz nieder, Vetter! Ein König ist des andern wert. Jeder Franzose ist König. Und Meister Breugnon ist Herr auf seiner Scholle.‹«

Ende


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