Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V
Belette

Mai

Seit drei Monden war mir ein Auftrag für eine Truhe und einen großen Anrichtetisch für Schloß Asnois zuteil worden; ich harrete, damit anzufangen, nur darauf, daß ich nochmalen hingehe und das Haus, das Zimmer und den Platz, dafür sie bestimmt waren, mit eigenen Augen wiedersehe. Denn ein schön Möbel ist gleich einer Frucht, so man vom Spalier selbsten pflücken muß; es könnte nicht ohne Baum wachsen; und wie der Baum, so die Frucht. Sprecht mir mitnichten von etwas Schönem, das hier oder dorten sein mag, das sich jeder Umgebung kann anpassen gleich einer Dirne dem, so sie am besten bezahlt. Das war eine Venus von der Straße. Die Kunst gehöret für uns zur Familie, ist der Genius des heimischen Herdes, ist der Freund, der Gefährte, der besser als wir selbsten auszudrücken vermag, was wir allesamt empfinden. Die Kunst ist unser Hausgott. Willst du ihn kennenlernen, mußt du sein Haus kennen. Der Gott ist für den Menschen geschaffen, und das Werk für den bestimmten Platz, durch den der erst vollkömmlich wird und ausgefüllt. Schön ist, was an seinem Platz am schönsten ist.

Ich ging also, mir den Platz ansehen, allwo ich mein Möbel hinpflanzen könne, und verbrachte dorten einen Teil des Tages, Essen und Trinken mitgerechnet: denn über dem Geist soll man des Leibes nicht vergessen. Nachdem daß beide ihre Vergnügung gefunden hatten, ging ich des Wegs, den ich gekommen, wieder fürbaß und kehrte frohgemut nach Hause zurück.

Ich war allgemach dorten angelangt, wo die Wege sich kreuzen, und wenngleich ich keinerlei Zweifel hegte, welchen Weg ich müsse einschlagen, schielte ich dennoch nach dem andern Pfad hinüber, den ich zwischen Wiesen und blühenden Hecken sich hinschlängeln sah ...

Wie wär's ergötzlich, sagte ich mir, nach jener Seite zu schlendern. Zum Teufel mit den breiten Straßen, so geradeswegs zum Ziel führen! Der Tag ist noch lang und schön. Wollen wir, mein Freund, gar schneller sein denn Apollo? O nein. Unsere Alte wird vom Warten gewißlich die Sprache ihres Maulwerks nicht verloren haben ... Gott, wie ist dieser kleine Apfelbaum mit dem weißen Frätzlein so liebreizend anzuschaun! Statten wir ihm einen Besuch ab. Nur fünf oder sechs Schritte. Zephir läßt seine Federlein in der Luft umherflattern, man könnte vermeinen, da schneie es. Wie gar viele zwitschernde Vögel! O wie wonnesam sie singen! Und dieses Bächlein, das da brummelnd unterm Gras dahingleitet, gleichwie ein Kätzlein, so unter einer Decke nach einem Knäuel hascht! ... Laßt uns dem Bächlein folgen. Eine Wand von Bäumen verstellt seinen Weg. Jetzo wird's ihm übel gehen. Ei, seht den kleinen Schelm, wo ist er denn hindurchgekommen? Hier, hier, unter den Beinen, den alten, knorrigen, gichtischen, geschwollenen Beinen dieser gekappten Ulme hindurch. Sieh einer den kecken Burschen. Aber wohin, zum Teufel, führt mich dieser Weg?

Unter derlei Reden folgte ich meinem geschwätzigen Schatten auf den Fersen. Und ich Heuchler tat so, als wisse ich nicht gar wohl, in welcher Richtung dieser schmeichelnde Pfad uns führen wollte. Wie gut du lügen kannst, Colas! Erfindungsreicher noch als Odysseus, machst du dir gar selbsten etwas vor. Du weißt überaus wohl, wohin du gehst. Du wußtest es, du Listiger, des Augenblicks, da du in Asnois aus dem Tore tratest. Eine Stunde von dorten befindet sich der Pachthof Celines, meiner alten Flamme. Wir wollen sie überraschen. Aber wer von uns beiden, sie oder ich, wird mehr überrascht sein? Gar viele Jahre ist es her, seit ich sie nimmer gesehen habe. Was wird von dem spöttischen Frätzlein und dem feinen Mäulchen meiner kleinen Belette noch übrig sein? Jetzo vermag ich wohl, ihr standzuhalten; nunmehr ist keine Gefahr, daß sie mir mit ihren spitzen Zähnlein das Herz zerreißt. Mein Herz ist eingetrocknet gleichwie ein alter Rebstock, und sie, ob sie wohl ihre Zähne noch hat? Ach Belette, Belette, wie trefflich konnten deine kleinen Zähne lachen und beißen! Wie hast du mit dem armen Breugnon gespielt! Hast du ihn genugsam sich drehen und wenden und widewitt herumwirbeln lassen gleich einem Kreisel! Bah, wann's dir ein Spaß war, mein Kind, so tatest du recht. Ich war ein rechtes Kalb!

Ich sehe mich heutigentags noch vor mir, wie ich, offenen Mundes, beide Arme mit gespreizten Ellbogen auf Meister Medardus Lagneaus Mauer stütze, meines Lehrherrn, der mich in der edlen Kunst der Bildhauerei unterwies. Und auf der anderen Seite, in einem großen Gemüsegarten, der an den Hof stieß, so uns als Werkstatt dienete, zwischen Lattich – und Erdbeerbeeten, roten Radieschen, grünen Gurken und goldgelben Melonen, da ging barfüßig, mit nackten Armen und bloßem Hals, ein schön, hurtig Mägdelein; als alleinigen Ballast ihre schweren, roten Haare, ein gelblich Leinenhemd, darunter sich ihre festen Brüste abzeichneten, und einen kurzen Rock, der reichte ihr bis ans Knie; sie hielt in ihren beiden braunen und kräftigen Händen zwei volle Wasserkannen geschickt ob der blättrigen Pflanzenköpfe, die ihre kleinen Schnäbel zum Trinken aufsperrten. Und ich riß den meinen, der nichts weniger denn klein war, erstaunt auf, um besser sehen zu können. Sie ging hin und wider, leerete ihre Gießkannen und füllete sie von neuem, mit beiden Armen gleichzeitig im Brunnen, schnellte alsdann gleich einer Gerte wieder in die Höhe und kehrte fürsorglich auf der feuchten Erde in den schmalen Gängen zurück, indes ihre feinnervigen Füße mit den langen Zehen im Vorübergehen die reifen Erdbeeren zu betasten schienen. Sie hatte die runden, robusten Knie eines jungen Knaben. Ich verschlang sie schier mit den Augen. Sie schien nicht zu sehen, daß ich sie betrachtete, aber sie kam, ihren kleinen Regen ausschüttend, immer näher; und als sie ganz nahe war, da schoß sie aus ihren Augen einen Pfeil auf mich ab. Ich fühlte den Angelhaken und das kleinmaschige Netz mich umschlingen. Mit Recht heißt es: »Im Weiberaug dräut Minne, wie in dem Netz die Spinne.« Kaum gefangen, wehrte ich mich. Zu spät. Ich dumme Fliege blieb an der Mauer kleben, die Flügel im Leim. Sie beschäftigte sich fürder nicht mit mir. In huckender Stellung verpflanzte sie ihren Kohl. Nur hie und da versicherte das arglistige Geschöpf sich mit einem Seitenblick, ob die Beute in der Schlinge gefangen blieb. Ich sah, wie sie sich das Lachen verbiß, und ich hatte gut zu mir selbst sagen:

»Du armer Junge, geh davon, sie macht sich über dich lustig.«

Als ich sie lachen sah, mußte ich gleicherweis gar töricht lachen. Wie dämisch muß ich ausgeschaut haben! Und siehe da, plötzlich macht sie einen Seitensprung. Sie überspringt ein Beet, ein zweites, ein drittes, sie läuft, springt, erhascht im Vorbeieilen ein Samenkorn vom Löwenzahn, das da wie ein Schifflein weich auf der Luftströmung dahinglitt, und die Arme schwenkend, ruft sie, dieweil sie mich ansieht:

»Wieder einen Liebhaber eingefangen!«

Mit diesen Worten versenkte sie den flaumigen Nachen hinein in die Öffnung ihres Halsausschnitts zwischen ihre beiden Brüstlein. Ich, wenngleich ein Dummbart, gehöre doch mitnichten zu den Galanen, so ihre Zeit unnütz vertrödeln, und ich sagte zu ihr:

»Lege mich doch dazu.«

Nunmehr fing sie an zu lachen. Und die Hände auf den Hüften, breitbeinig, ganz mir zugekehrt, erwiderte sie:

»Sieh einer das Leckermaul! Meinst du, meine Äpfel reifen für deine Lefzen?«

Also machte ich an einem späten Augustabend Bekanntschaft mit ihr, der Belotte, der Belette, der schönen Gärtnerin. Belette ward sie genannt, weil sie gleich jener anderen, der Dame mit dem zugespitzten Schnäuzlein, einen gestreckten Körper und einen kleinen Kopf hatte, das listige Näslein der Pikardinnen, einen etwas vortretenden Mund, der war schön geschwungen und taugte gar wohl zum Lachen und zum Beißen in Herzen und Nüsse. Aber von ihren stahlblauen Augen, die gleichsam im Dunst eines strahlenden gewittrigen Himmels schwammen, und von ihren Mundwinkeln, den Mundwinkeln einer artigen Faunin, darin ein verzehrend Lächeln saß, da spann sich der Faden, damit die rothaarige Spinne ihr Netz um die Menschen legte.

Die Hälfte meiner Zeit verbrachte ich jetzo, anstatt zu arbeiten, damit, über meine Mauer zu starren, bis des Meisters Medardus Fuß meinen Arschbacken einen kräftigen Besuch verstattete und mich hiemit zur Wirklichkeit hinabsteigen ließ. Manchmal rief die Belette ungeduldig:

»Hast du mich wohl genugsam von vorn und von hinten betrachtet? Was willst du mehr noch sehen? Du mußt mich ja schon trefflich kennen.«

Und ich, spitzbübisch mit den Augen zwinkernd, erwiderte: »Weiber und Melonen sollst mit dem Blick nicht schonen.« Wie gern hätte ich mir eine Scheibe davon geschnitten! Vielleicht hätte eine andere Frucht es auch getan. Ich war jung, heißblütig, in jede Schürze verliebt. War sie die eine, die ich liebte? Es gibt Augenblicke im Leben, da würde man eine aufgeputzte Vogelscheuche lieben. Aber nein, Breugnon, du lästerst. Du glaubst ja Selbsten kein einzig Wort davon. Die erste, so man liebt, ist die wahre, die rechte, die, so man lieben sollte. Die Gestirne haben sie ins Leben gerufen, auf daß sie unsern Durst stille. Und mir scheint, dieweil ich von ihr nicht getrunken habe, derhalben leide ich Durst, allweil Durst, und werde ihn leiden, allsolange ich lebe.

Wie wir uns verstanden! Wir waren beide nicht auf den Mund gefallen. Sie sagte mir Grobheiten, und ich zahlte sie ihr mit Zinsen zurück. Beide waren wir mit Auge und Zahn bereit, anzubeißen. Manches Mal lachten wir darüber, bis wir schier erstickten. Und hatte sie eine Bosheit losgelassen, da ließ sie sich, auf daß sie besser lachen könne, zur Erde in die Hucke gleiten, als wollte sie ob ihrer Rüben und Zwiebeln brüten.

Am Abend kam sie an meine Mauer plaudern. Ich sehe sie noch, wie sie einmalen, unter Schwatzen und Lachen, dieweil ihre kecken Augen in meinen Augen nach der schwachen Stelle im Herzen spähten, um ihm wehtun zu können – ich sehe sie noch, wie sie da mit erhobenen Armen einen Kirschzweig zu sich herunterzog, der war rot und schwer behangen, und schlang einen Kranz um ihre roten Haare, und ohn die Früchte zu pflücken, pickte sie sie mit gerecktem Hals, den Schnabel in der Luft, vom Baum, indes sie die Stiele samt Kernen dran hängen ließ. Ein Augenblicksbild, unvergeßlich und wunderbar: Jugend, gierige Jugend, die an den Brüsten des Himmels sauget! Wie viele Male habe ich die Linie dieser schönen Arme, dieses Halses, dieses Busens, dieses naschlüsternen Mundes, diesen zurückgebeugten Kopf auf den Möbelfüllungen zwischen Blumengewinden dargestellt! – Und ob meiner Mauer gebeugt, reckte ich den Arm, erfaßte jählings den Zweig, den sie abweidete, riß ihn herab, drückte meine Lippen darauf und sog begierig an den feuchten Kernen.

Sonntags fanden wir uns gleicherweis zusammen, sei's zum Spaziergang oder im Wirtshaus von Beaugy. Wir tanzten. Ich war so steif wie ein Stock, Liebe gab mir Flügel. Liebe, sagt man, lehrt gar die Esel tanzen. Ich glaube, wir hörten nicht einen Augenblick auf, miteinander zu scharmützeln ... Wie sie zu sticheln vermochte! Mit welch beißendem Spott bedachte sie nicht meine lange, schiefe Nase, meinen großen offenstehenden Mund, darein man, wie sie sagte, eine Pastete hätte zu backen vermocht, meinen Schusterbart und dies ganze, mir gehörige Gesicht, davon der Herr Pfarrer behauptet, es sei nach dem Ebenbild des Gottes gemacht, so mich geschaffen hat. (Das wird ein schön Gelächter geben, wann ich ihn dermaleinst werde sehen.) Sie ließ mir keine Minute Ruhe. Und ich war gleichweis weder auf den Mund fallen noch linkisch.

Auf die Dauer machte uns solch Spiel, bei Gott, gar heiß! Denkst du noch, Colas, der Weinlese bei Meister Medardus Lagneau? Belette war dazu geladen. Seite an Seite saßen wir gebückt in den Furchen. Unsere Köpfe berührten sich schier, und ab und an streifte meine Hand beim Pflücken einer Traube aus Versehen ihren Rücken oder ihre Wade. Alsdann erhob sie ihr erhitztes Gesicht, schlug gleich einem jungen Füllen nach mir aus oder beschmierte mir die Nase mit dem Saft einer Traube. Und ich, ich zerdrückte eine dunkle, saftige auf ihrem goldigen, von der Sonne heißen Halse. Sie wehrte sich wie eine Teufelin. Ich hatte gut, sie bedrängen, es gelang mir doch niemalen, sie zu fangen. Einer paßte dem andern auf. Sie schürete das Feuer, schaute zu, wie ich brannte, und spottete dann meiner:

»Du kriegst mich doch nicht, Colas.« ...

Ich aber lungerte mit unschuldiger Miene fürder auf meiner Mauer, gleich einer dicken, zusammengerollten Katze, die da tut, als schliefe sie, und durch die enge Ritze der halbgeöffneten Lider dennoch der tanzenden Maus auflauert – ich wischte mir im voraus den Mund und dachte:

»Wer zuletzt lacht, lacht am besten!«

Also kam ein Nachmittag (das war in diesem selbigen Monat wie jetzt) Ende Mai (aber derzeit war es viel heißer denn heute), die Luft war schwül; der weiße Himmel hauchte seinen glühenden Atem gleichwie aus dem Rachen eines großen Backofens zu uns herab. Seit etwan einer Woche brütete, in dieses Nest geduckt, das Gewitter auf seinen Eiern, so nicht auskriechen wollten. Man schmolz vor Hitze. Der Hobel wurde schier naß, und mein Bohrer klebte mir an der Hand. Belette hörte ich nicht mehr, wenngleich sie noch eben gesungen hätt. Ich suchte sie mit den Augen. Im Garten, niemand ... Plötzlich sah ich sie, da hinten im Schatten der Laubhütte auf einer Stufe, da saß sie und schlief offenen Mundes, den Kopf zurückgelehnt, auf der Türschwelle. Ihr einer Arm hing über der Gießkanne. Der Schlaf hatte sie jählings übermannt. Unverteidigt, mit ausgestrecktem Körper, halb entblößt und ohne Besinnung unter dem glühenden Himmel, bot sie sich, einer Danae gleich, dar. Ich fühlte mich Jupiter. Ich kletterte über die Mauer, zertrat im Laufen die Kohl- und Salatköpfe, nahm sie in meine beiden Arme, küßte sie mitten auf den Mund. Sie war heiß und nackt und feucht von Schweiß; halb im Schlaf, von Wollust geschwellt, ließ sie sich nehmen; und ohn die Augen zu öffnen, suchte ihr Mund meinen Mund und erwiderte meine Küsse. Was ging in mir vor? Welche Verirrung ergriff mich! Der Strom des Begehrens rann unter meiner Haut. Ich war trunken. Ich umschlang dies schöne, warmblütige, zur Liebe bestimmte Geschöpf. Die Beute, der ich auflauerte, die gebratene Taube flog mir just in den Schnabel ... Und da (ich Esel!) wagte ich nicht, sie zu nehmen. Ich weiß nicht, welch blöde Bedenken mich ergriffen. Ich liebte sie allzusehr. Der Gedanke war mir peinvoll, sie sei vom Schlafe befangen, ich hielte wohl ihren Leib, indes mitnichten ihre Seele, und also sollte ich meine stolze Gärtnerin, so sich mir schlafend darbot, nur einem Verrat verdanken. Ich entriß mich meinem Glück, ich löste unsere Arme, unsere Lippen und die Bande, die uns miteinand verketteten. Das ging nicht schmerzlos; denn der Mann ist Feuer und das Weib Zunder. Wir brannten selbander lichterloh, und ich zitterte und stöhnte, gleichwie jener andere Esel, der die Antilope besiegte. Letztlich blieb ich Sieger – das heißt, ich entfloh. Noch heute, nach fünfunddreißig Jahren, steigt mir die Röte ins Gesicht, so ich daran denke. O törichte Jugend! Und doch geht einem das Herz auf, und es tuet gar wohl, denket man daran, daß man dermaleinst so dumm könnt sein.

Ab diesem Tag war sie wider mich gleich einer wahrhaftigen Teufelin. Launisch wie drei Herden Ziegen, so im Zickzack hin und wider hüpfen, mehr veränderlich als die Wolken, schleuderte sie mir des einen Tags ihre beleidigende Verachtung zu oder sah mich schier gar nicht. Des andern Mals bedachte sie mich mit schmachtenden Blicken und schmeichelndem Lachen. Hinter einem Baum versteckt, zielte sie arglistig mit einem Erdklumpen nach mir, der, alsobald ich den Rücken gewandt hätt, mich im Nacken traf, oder piff, paff, puff mit einem Pflaumenkern, so ich nur die Nase hob. Und gar auf dem Spazierweg, da quackelte und kolkte und kokettierte sie mit allen und jedem. Das ärgste war, sie kam auf den Einfall, damit sie mich noch mehrer reize, einen andern Vogel in die Falle zu locken, und zwar meinen besten Kameraden, Quiriace Pinon. Er und ich waren wie zwei Finger einer Hand. Gleichwie bei Orest und Pylades gab's nie keine Schlägerei, Hochzeit oder sonstige Festlichkeit, allwo es mit dem Mund, den Beinen oder den Fäusten etwas zu fechten gab, da einer ohne den andern gegangen wäre. Er war knorrig gleich einer Eiche, untersetzt, vierschrötig, mit plumpen Schultern und plumpem Geist, offenherzig, gerad heraus und arbeitstreu. Jedweden, so Händel hätt mit mir anfangen wollen, den hätte er auf der Stelle niedergeschlagen. Und just ihn wählte sie, um mich zu ärgern. Sie hatte leichtes Spiel. Da genügten vier bedeutungsvolle Blicke und ein halb Dutzend der üblichen Frätzlein. Eine unschuldsvolle, schmachtende oder kecke Miene zur Schau tragen, verstohlen lachen, wispern, die Spröde spielen, blinzeln, die Augen niederschlagen, die Zähne zeigen, sich auf die Lippen beißen oder gar mit der spitzen Zunge darüber hinlecken, den Hals verdrehen, sich in den Hüften wiegen oder gleich wie eine Bachstelze mit dem Steiß wackeln, – wo ist der Adamssohn, der sich nicht von derlei kleinen Künsten einer Evastochter fangen ließe? Pinon verlor derhalben das wenige an Vernunft, so er besaß. Von nun an waren wir ihrer zween, die ob unserer Mauer gebeugt, fiebernd und fauchend der Belette auflauerten. Schon wechselten wir wortlos wütende Blicke. Sie schürte das Feuer, und um es noch mehr zu entfachen, sprengte sie ab und an einen Guß Eiswasser drüber. Ohngeachtet alles Schimpfens lachte ich weidlich ob solcher Taufe. Aber Pinon, dies Riesenroß, tobte derhalben auf unserem Hofe umher. Er schäumte vor Wut, fluchte, drohte, wetterte. Er war unfähig, einen Spaß zu verstehen, ausgenommen einen, so er selbst machte (und den verstand niemand außer ihm selbsten, indes er lachte darob für drei). Die Mamsell hingegen tat sich gütlich gleich einer Fliege auf der Milch und schlürfte seine amourösen Grobheiten. Solche rohe Art war nicht die meine; und obzwar diese verschmitzte Gallierin, die lose, lachende Dirne, mir um vieles näher stund denn diesem wiehernden, sich bäumenden, ausschlagenden und furzenden Tier – bedachte sie doch, aus Kurzweil, aus Lust an der Abwechslung und um mich zur Verzweiflung zu bringen, nur ihn mit verheißenden Blicken und mit lockendem Lächeln. Aber alsobald es darum ging, ihre Versprechungen einzulösen, und der Narr, der Prahlhans sich schon anschickte, ins Horn zu blasen, da lachte sie ihm ins Gesicht und ließ ihn gar beschämt stehen. Ich lachte auch – das verstand sich – und der enttäuschte Pinon kehrete seine Wut wider mich; und er argwohnte, ich könne ihm seine Schöne wegschnappen. So geschah's, daß er eines Tages gerad heraus von mir erbat, ich möchte ihm den Platz überlassen. Ich sagte ihm gar sanftmütig:

»Bruder, just hatte ich die Absicht, die gleiche Bitte an dich zu richten.«

»Ja, Bruder, dann gilt's, einand den Schädel einzuschlagen.«

»Ich habe wohl dessen gedacht«, antwortete ich; »aber Pinon, das kommt mir schwer an.«

»Nicht so schwer als mir, mein Breugnon. Also, mach dich von hinnen, wenn's beliebt. Ist genug an einem Hahn auf einem Hühnerhofe.«

»Ganz meine Meinung«, sage ich; »so mache, daß du fortkommst, denn diese Henne ist mein.«

»Dein, das lügst du!« schrie er, »du Bauer, du Mistvieh, du Milchsaufer! Mir gehört sie, ich halte sie fest, kein anderer soll mir davon kosten.«

»Mein armer Junge«, erwiderte ich, »hast du dich denn niemalen selbst beschaut? Du Plumpsack, du Kohlrübenfresser, jedweder kriegt den Brei, der vor ihn taugt. Dieser feine Burgunderkuchen gehört uns. Er gefällt mir, ich bin darauf begierig. Da bleibt für dich nichts übrig. Geh deine Rüben stechen.«

Nach etlichen Drohungen kam es zu Schlägen ... Ohngeachtet es uns leid war, denn wir liebten einand.

»Höre«, sagte er zu mir, »laß sie mir, Breugnon: ich bin es, dem sie den Vorzug gibt.«

»Mitnichten«, sagte ich, »das bin ich.«

»Wohlan, fragen wir sie selbst. Der Verschmähte wird dann gehen.«

»Einverstanden! Sie mag eigens wählen.«

Ja, aber geh mal einer und sage so einem Mädchen, sie soll wählen. Es macht ihr allzuviel Vergnügen, die Wartezeit hinzudehnen, die ihr erlaubt, in Gedanken einen und darnach den andern oder gar keinen zu nehmen und ihre Liebhaber ob dem Rost hin und wider zu drehen ... Unmöglich, sie zu fassen! Wann wir ihr davon sprachen, antwortete Belette uns mit hellem Gelächter.

Wir kehrten also in die Werkstatt zurück und zogen unsere Jacken aus.

»Da ist kein ander Mittel fürderhin, einer von uns muß ins Gras beißen!«

Im Begriff, loszuschlagen, sagte Pinon zu mir: »Küsse mich!«

Wir küßten uns zweemalen.

»Und nun los!«

Der Tanz begann. Wir gingen beide aufs Ganze. Die Schläge, so Pinon mir versetzte, waren solcherart, als wollte er mir den Schädel zerschmettern, und ich stieß ihm mit den Knien schier den Bauch ein. Nur Freunde vermögen solche Feinde zu werden. Nach wenigen Minuten waren wir beide mit Blut schier übergossen, und rote Rinnen, gleichwie vom alten Burgunder, rieselten aus unseren Nasen ... Meiner Treu, ich weiß nicht, wie die Geschichte geendet wär, aber gewißlich hätte einer von uns den andern kaltgemacht, wenn nicht zum Glück die Nachbarn, so zusammenliefen, und Meister Medardus Lagneau, der just nach Hause kam, uns getrennt hätten. Das war mitnichten leichtlich. Wir hatten uns gleich Bulldoggen ineinander verbissen. Man mußte uns mit Hieben traktieren, bis wir voneinander ließen. Meister Medardus griff zur Peitsche. Er bleute uns ordentlich durch, ohrfeigte uns und redete uns schließlich gut zu. Prügel machen den rechten Burgunder weise. Hat man sich erst trefflich zerkratzt, wird man Philosoph, und alsdann ist es auch leicht, wieder Vernunft anzunehmen. Als wir einander betrachteten, waren wir beide nicht sonderlich stolz. Und just in diesem Augenblick erschien der dritte Räuber auf dem Platze.

Jean Gifflard, ein dicker Müller, kurz geschoren und rothaarig, mit rundem Schweinskopf, geschwollenen Backen, kleinen, tiefliegenden Augen, sah er aus, als bliese er allweil die Trompete.

»Das sind zwei gar schöne Kampfhähne«, sagte er mit lautem Gelächter. »Wird euch viel helfen, wann ihr euch um dieser Henne willen Kamm und Geilen zerfleischt. Dummköpfe! Seht ihr denn nicht, wie sie sich vor Behagen in die Brust wirft, so ihr einand beschimpft! Solchem Weibsbild ist's, weiß Gott, pläsierlich, dafern ein ganzes Rudel Liebhaber an ihren Röcken hanget, die allesamt nach ihr rören ... Wollt ihr einen guten Rat: ich gebe ihn euch für nichts. Vertragt euch wieder, macht euch über sie lustig, denn, Kinder, sie macht sich lustig über euch. Dreht ihr den Rücken und macht euch beide auf und davon. Dann wird's ihr wohl leid tun. Alsdann muß sie, ob sie will oder nicht, am End ihre Wahl treffen, und wir werden sehen, welchen von beiden sie will. Also, los, hopp! Macht euch schnell davon! Wartet nicht lange! Macht einen raschen Schnitt. Mut! Hört auf mich, wackere Leute. Indes ihr eure staubigen Schlappen auf Frankreichs Straßen spazierenführt, bleibe ich da, Kameraden, bleibe, um für euch zu arbeiten. Unter Brüdern muß man einand helfen. Ich werde die Jungfer aushorchen. Ich werde euch betreffs ihres Gejammers auf dem laufenden halten. Alsobald sie wählen tat, da werde ich es dem Sieger mitteilen, der andere kann sich alsdann aufhängen ... Und jetzo laßt uns darauf einen Schoppen trinken. Trinken und nochmalen trinken, das ersäuft den Durst, die Liebe und die Erinnerung.«

Wir haben sie also gut ersäuft (wir tranken wie ein Loch), daß wir noch am selbigen Abend, da wir aus dem Wirtshaus kamen, unsern Ranzen schnürten und unsern Stock zur Hand nahmen; und so sind wir denn, ich und der andere Tropf, in einer mondlosen Nacht auf und davon gangen, stolz als zween Gärtnerfurze und voll Dankbarkeit wider den guten Gifflard, der vor Behagen schier anschwoll und des kleine Augen unter den dicken Lidern in dem fettglänzenden Gesicht lachten.

Des folgenden Morgens waren wir bereits minder großartig. Wir ließen uns aber voreinand nichts nicht merken und spielten den fröhlichen Kumpan. Indes grübelte ein jeder, grübelte und begriff nimmer die absonderliche Taktik, nach der man, um eine Festung zu erobern, vorerst mußte ausrücken. Je länger die Sonne längs der Himmelskuppel rollte, um so mehr fanden wir, daß wir rechte Einfaltspinsel waren. Und wann der Abend hereinbrach, beobachteten wir einer den andern, sprachen so obenhin vom Regen und vom schönen Wetter und dachten dabei: Wie fein du zu reden verstehst, Freundlein! Und dennoch möchtest du mich am liebsten im Stiche lassen. Aber solches wird dir mitnichten gelingen. Ich liebe dich allzusehr, Bruderherz, um dich allein zu lassen. Wohin du auch gehen magst (du Heuchler, ich weiß wohl, wohin dich's gelüstet), ich folge deinen Spuren.

Nach mancherlei Listen, so wir anwandten, um uns auf falsche Fährte zu locken (wir ließen uns nimmer aus den Augen, nicht einmal zu den natürlichsten Verrichtungen), da mitten in der Nacht, wann wir, von Liebe und Flöhen gebissen, täten, als ob wir schnarchten, sprang Pinon aus dem Bette und rief:

»Alle guten Götter! ich schwitze, ich koche, ich ersticke. Und kann nimmer! Ich will zurück!«

Und ich, ich sagte:

»Kehren wir um.«

Wir benötigten schier einen Tag, nach Hause zu kommen. Die Sonne ging just unter. Bis zum Anbruch der Nacht hielten wir uns in den Wäldern von Marché verborgen. Es lag uns nicht sonderlich an, daß man unser Heimkommen bemerkte. Man hätte uns ordentlich gefoppt, und überdies wollten wir die Belette, die Reuige, Einsame, Weinende, überraschen, dieweil sie sich Selbsten anklagte: »O je, mein Freund, mein lieber Freund, warumb bist du davongegangen?« Daß sie bereute und seufzte, darob bestund keinerlei Zweifel. Wer aber war der Freund? Ein jeder antwortete darauf:

»Ich!«

Und nun, da wir sonder Geräusch an ihrem Garten entlang kommen waren (ein dumpf Gefühl der Unruh nagte an unserm Busen), da sahen wir unter ihrem geöffneten, vom Mondlicht gebadeten Fenster am Zweig eines Apfelbaums etwas hängen ... Was bedünket euch wohl, das es war? Ein Apfel? ... Ein Müllerhut! Wollt ihr den Schluß noch hören? Das würde euch allzuviel Spaß machen, liebe Leute. Ich sehe euch schon, ihr Schelme, wie ihr strahlt. Das Unglück des Nächsten ist nur zu eurem Ergötzen da. Jedweder Hahnrei freut sich, wann die Gemeinde sich vergrößert ...

Quiriace nahm einen Anlauf und sprang gleich einem Hirsch (die Hörner hatte er schon) auf den Apfelbaum mit der bemehlten Frucht los, erkletterte die Mauer, stürzte in das Zimmer, aus dem alsobald laut Geschrei, Gekreisch, Gebrüll, Gefluche heraußen drang.

»Teufel, Taugenichts, Himmel und Hölle, Hilfe, Hahnrei, Hure, Schurke, Schelm, Scheißkerl, Scheinheiliger, Schandpfahl, ich reiße dir die Ohren ab, ich winde dir alle Gedärme aus dem Leib, du sollst die Engel im Himmel pfeifen hören, ich verhau dir den Hintern, da friß, du Fratze!« Was Hiebe, was Heulen ...

Hopp, ha, piff, paff, plumps, krach – zerbrochene Fensterscheiben, zerschmissenes Geschirr, Möbel, die fallen, schwere Körper, die sich auf der Erde wälzen, ein Mädchen kreischt, Hunde bellen ... Ihr könnt euch vorstellen, wie bei solchem Höllenlärm das ganze Dorf zusammenlief.

Ich wartete des Endes nicht ab. Ich hatte genugsam gesehen. Ich kehrte zurück auf dem Wege, den ich gekommen war, mit einem lachenden und einem weinenden Auge, ließ die Ohren hängen, aber trug die Nase hoch.

»Wohl, mein Colas, sagte ich, »da bist du noch diesmalen mit einem blauen Auge davongekommen.«

Aber ganz im Innern war der gute Colas ein weniges beschämt, daß er Selbsten nicht in der Falle geblieben war. Ich spielte den Hanswurst. Ich rief mir die ganze Katzenmusik ins Gedächtnis. Ich mimte erst den einen, alsdann den andern, den Müller, das Mädchen und den Esel. Ich seufzte, als wollte sich meine Seel schier aus dem Leibe reißen: Ach Gott, ach Gott! Das ist wahrlich ein Spaß! Wie tut das Herz mir weh! Ach, ich sterbe noch vor Lachen ... nein, vor Schmerz. Was weniges fehlte, und diese kleine Spitzbübin hätte mich gar jämmerlich ins Ehejoch gespannt. Ach, warumb ist es nicht so weit gekommen, warumb hat sie mir keine Hörner aufgesetzt? Dann hätte ich sie wenigstens gehabt! Es ist schon ein gut Ding, von dem geliebten Gegenstand ins Joch gespannt zu werden! ... Dalila, dalila! Ei tralleritrallera! ...

Vierzehn Tage lang wurde ich solcherart zwischen dem Verlangen, zu lachen, und dem, zu jammern, hin und wider gezerrt. In meinem einen schiefen Gesicht umfaßte ich gänzlich alleinig die gesamte Weisheit der Antike, den weinenden Heraklit und den lachenden Demokrit. Aber die mitleidlose Welt lachte mich aus. Zu mancher Stunde, wann ich meines Liebchens dachte, da hätte ich sterben mögen. Aber diese Stunden dauerten nicht allzulange. Glücklicherweis! ... Lieben ist ein gar schön Ding, aber bei Gott, Freunde, also schrecklich lieben, daß man daran stirbt, das ist zu viel. Das ist gut vor Amadis und Galaor! Aber wir in Burgund taugen nicht zu Romanhelden. Wir leben, also leben wir! Wann man uns ins Leben setzte, hat man uns mitnichten gefragt, ob uns das genehm sei. Niemands hat sich erkundigt, ob wir das Leben begehreten. Aber dieweil wir nun einmal darinnen sind, Potz Kerlchen, so will ich auch drin bleiben. Die Welt benötigt uns, dafern nicht wir es sind, die der Welt benötigen. Mag sie nun gut oder schlecht sein, so wir sie verlassen sollen, muß man uns vor die Tür setzen. Gezapften Wein muß man trinken. Ist er ausgetrunken, da müssen unsere fruchtbaren Hügel neuen hergeben! Wir Leute von Burgund haben keine Zeit zu sterben. Was indes das Herzeleid betrifft, so werden auch wir so gut wie ihr andern – ihr braucht gar nicht so stolz darauf zu sein – damit fertig werden. – Vier bis fünf Monate habe ich gelitten gleichwie ein Hund. Und dann geht die Zeit darüber hin und läßt unsern Kummer, der uns allzu schwer worden ist, am jenseitigen Ufer. Heutigentags sage ich mir:

»Es ist gerad so gut, als hätte ich sie gehabt.«

Ach, Belette, Belette! Trotz allem habe ich sie gleichwohl nicht gehabt. Und diese Dickwurst Gifflard, dieser Mehlsack, dieser Wasserkopf, der hat sie, verprügelt sie, verhätschelt sie, sie, die Belette, seit mehr denn dreißig Jahren! Dreißig Jahre! ... Nun wird er wohl genug von ihr haben. Wie man mir erzählte, soll dieses übrigens schon am Tage nach der Hochzeit der Fall gewesen sein. Für solchen Giermund, solchen Nimmersatt ist ein verschluckter Bissen nichts mehr wert. Ohn den Höllenlärm, mit dem man Meister Kuckuck beim Fest im Nest aufgestöbert hatte (das war dein Werk, Pinon, du Schreihals), hätte der Schmarotzer nun und nimmer seine dicken Finger in den zu engen Ring hineinzwängen lassen. O Hymen! Gott der Ehefreuden! Meiner Seel, gut reingefallen! Aber noch mehr reingefallen die Belette: denn ein unzufriedener Müller läßt es sein Tier entgelten. Und der am meisten Reingefallene von uns dreien bin letztlich doch wieder nur ich. Also, Breugnon, lachen wir, Grund genug ist wahrlich da, über ihn, über sie und mich Selbsten.

Und siehe da, indes ich noch lache, sehe ich zwanzig Schritte vor mir an der Biegung der Landstraße (großer Gott, habe ich wahrhaftig zween Stunden hintereinander geschwätzt) das Haus mit dem roten Dach, den grünen Fensterläden, des weißer Leib (gleichwie von einer Schlange) von einem knorrigen Rebstock schamhaft mit Blättern umkleidet ist. Und vor der offnen Tür im Schatten eines Nußbaumes, gebückt über einen Steintrog voll frischen, klaren, sprudelnden Wassers, da sehe ich eine Frau, die ich gar wohl erkenne (wenngleich ich sie seit Jahren nicht sah). Und die Beine versagen mir den Dienst ...

Nicht viel, da hätte ich mich aus dem Staube gemacht. Aber sie hatte mich erblickt und sah mich an, indes sie fortfuhr, Wasser aus dem Brunnen zu schöpfen. Und siehe da, plötzlich erkannte auch sie mich, das sah ich ... O, sie ließ sich nichts merken, dazu war sie allzu stolz; aber der Eimer, den sie in der Hand hielt, glitt aus ihren Händen in den Trog.

Dann sagte sie:

»Kommst du heut nicht, kommst du morgen ... Sei doch nicht so hitzig.«

Ich antworte:

»Hast du mich etwan erwartet?«

»Ich«, sagt sie, »ich denke nicht daran! Ich kümmere mich wahrlich nicht um dich!«

»Meiner Treu«, sage ich, »ganz wie bei mir. Desohngeachtet bin ich recht erfreut.«

»Und du störst mich nicht sonderlich.«

Da stunden wir nun selbander uns genüber. Sie mit ihren nassen Armen, ich in Hemdsärmeln, beide gar linkisch und verlegen. Wir schauten uns an und hatten nicht einmal den Mut, uns wirklich zu betrachten. Auf dem Grunde des Brunnens schluckte der Eimer noch immer Wasser.

Sie sagt zu mir:

»Komm herein, einen Augenblick wirst du wohl Zeit haben!«

»Ein oder zwei Minuten. Ich bin ein weniges eilig.«

»Das sollte man schier nicht vermeinen. Was führt dich denn hierher?«

»Mich? Nichts«, sage ich mit Nachdruck. »Nichts, ich gehe spazieren.«

»Dann mußt du ja sehr reich sein.«

»Reich an barem Golde, nein, aber reich an Einfällen.«

»Du hast dich nicht verändert«, meint sie, »du bist noch immer derselbe Narr.«

»Wer närrisch geboren, ist für sein Leben verloren.«

Wir betraten den Hof. Sie schloß das Tor. Wir waren alleinig inmitten gackernder Hühner. Alle Gutsleute waren auf den Feldern. Um sich Haltung zu geben, wohl auch aus Gewohnheit, hielt sie es für gut, hinzugehen und das Scheunentor zu schließen oder aufzutun (so genau weiß ich das nimmer). Und ich wollt unbefangen scheinen und sprach von dem Haus, den Hühnern, den Tauben, dem Hahn, dem Hund, der Katze, den Enten, dem Schwein. Wenn sie's zugelassen hätte, würde ich die ganze Arche Noah aufgezählt haben. Plötzlich sagte sie:

»Breugnon!«

Mir blieb der Atem fort. Sie wiederholte:

»Breugnon!«

Und wir sahen einander an.

»Küsse mich«, sagte sie.

Ich ließ mich nicht groß bitten. Wann man alt ist, tut man niemands ein Leid damit an, macht es auch nimmer viel Freude. (Es tut dennoch wohl.) Als ich ihre alte, welke Wange an meinen Wangen, meinen alten, stoppligen Wangen fühlte, da war's meinen Augen, als müßten sie weinen. Aber ich weinte nicht. Nein, so töricht bin ich nicht. Sie sagte zu mir:

»Du stichst ja.«

»Meiner Treu«, sagte ich, »so man mir heutigen Morgens gesagt hätt, ich würde dir einen Kuß geben, da hätte ich mich rasiert. Vor fünfunddreißig Jahren, als ich wollte, aber du nicht, als ich mein Kinn wollt schnurr, schnurr, schnurr, lieb Schäferin, wohl reiben wollt an deinem Kinn, da war es weicher.«

»Du denkst also immer noch daran?« sagte sie.

»Beileibe nicht, ich denke niemalen mehr daran.«

Wir fixierten uns lachend; wollten sehen, wer von uns beiden des andern Augen zuerst besiegen würde.

»Du Hochmütiger, Eigensinniger, du dickköpfiger Maulesel. Wie du mir glichest, wie ähnlich wir einand waren!« sagte sie. »Aber willst du denn gar nicht älter werden, du Graukopf? Zwar, Breugnon, mein Freund, schöner bist du nicht worden. Du hast Krähenfüße, und deine Nase ist noch dicker als derzeit. Aber dieweil du niemalen in deinem Leben schön warst, hattest du nichts zu verlieren und hast nichts verloren. Ich möchte schwören, nicht einmal eins deiner Haare, du Eigennutz. Kaum ist dein Schopf hie und da ein weniges grau.«

Ich sagte:

»Du weißt ja, ein Narrenkopf wird nicht leicht weiß.«

»Ach, ihr Taugenichtse von Männern, ihr! Ihr laßt euch halt keine grauen Haare wachsen. Ihr genießt eures Lebens. Aber wir, wir altern, wir altern um so schneller. Sieh, was für eine Ruine ich bin. Ach ja! Ach ja! Wie fest war mein Körper; es war wonnig, ihn anzusehn, noch wonnesamer, ihn zu kosen. Dieser Hals, dieser Busen, diese Hüften, diese Haut, dies köstliche Fleisch, das strotzend und fest war gleich einer eben gereiften Frucht ... Wo sind sie hin? und wo bin ich hin? Wohin habe ich mich verloren? Hättest du mich auch nur erkannt, so du mir auf dem Markt begegnet wärst?«

»Unter allen Frauen, mit geschlossenen Augen hätte ich dich erkannt«, sagte ich.

»Mit geschlossenen Augen, wohl, aber mit offenen? Sieh, diese hohlen Wangen, diesen zahnlosen Mund, diese lange, dünne, wie ein Messerrücken gewordene Nase, diese roten Augen, diesen welken Hals, diese schlaffe Brust, diesen verunstalteten Leib ...«

Ich sagte (hatte ich auch alles, was sie mir da erzählte, wohl bemerkt):

»Ein kleines Schäfelein scheint immer jung zu sein.«

»Ja, siehst du denn nichts nicht?«

»Ich habe gar gute Augen, Belette.«

»Ach Gott, wo ist sie hin, deine Belette, deine Belette?«

Ich sagte:

»Hier war's eben, hier macht's halt,
Wieselchen vom schönen Wald.« Kinderspiel, das unserm »Taler, Taler, du sollst wandern« entspricht. D. Ü.

»Es verbirgt sich, flieht, hat sich zurückgezogen, aber ich sehe es immer noch. Ich sehe sein niedlich Schnäuzlein, seine spottlustigen Augen, die mich erspähen und in seinen Bau hineinlocken.«

»Keine Gefahr, daß du Fuchs da hineingehst«, sagte sie.

»Was dicken Wanst hast du dir angeschafft! Das ist gewiß, dein Liebeskummer hat dich nicht magerer gemacht.«

»Das würde mir viel helfen«, sagte ich. »Man muß seinen Kummer gut füttern.«

»Wohl, so komm und laß das Kind trinken.«

Wir traten ins Haus und setzten uns an den Tisch. Mir ist nimmer recht erinnerlich, was ich gegessen und getrunken habe. Mein Herz war allzu beschäftigt. Desohngeachtet ließ ich mir keinen Schluck und keinen Bissen entgehen. Die Ellbogen auf den Tisch gestützt, sah sie mir zu.

Dann sagte sie spottend:

»Bist du jetzo etwas weniger bekümmert?«

»Just wie es in dem Liede heißt«, sagte ich:

»Mit leerem Leib ein traurig Herz;
nach gutem Mahl verfliegt der Schmerz.«

Ihr großer, schmaler und spöttischer Mund schwieg; und indes ich den Schwerenöter spielte und etwelche Albernheiten vorbrachte, da sahen unsere Augen sich an und dachten an die Vergangenheit. Dann plötzlich sagte sie: »Breugnon, weißt du es denn? Ich hab es niemalen gesagt. Jetzo, da es zu nichts mehr gut ist, kann ich es geruhig tun: Du warst es, den ich liebte!«

Ich erwiderte: »Das wußte ich wohl.«

»Du wußtest es, Taugenichts. Und warumb sagtest du mir's nicht?«

»Hätt ich dir's, du Widerspruchsgeist, gesagt, so wär's genug gewesen, dich Nein antworten zu lassen.«

»Was hätte dir das ausmachen können, dafern ich das Gegenteil dachte? Küßt man den Mund oder das, was er spricht?«

»Je nun, der deine tat sich am Sprechen, weiß Gott, nicht genügen. Solches habe ich in der Nacht, wann wir den Müller in deinem Ofen fanden, gemerkt.«

»Das ist deine Schuld«, sagte sie. »Der Ofen war nicht für ihn geheizt. Freilich war es auch meine Schuld. Aber ich bin genugsam bestraft worden. Du, Colas, der du alles weißt, kannst doch nicht wissen, daß ich ihn nur aus Zorn genommen habe, dieweil du fortgegangen warst. Ach, wie böse war ich auf dich! Ich war es schon an jenem Abend (erinnerst du dich), als du mich verschmähtest.«

»Ich!« meinte ich,

»Du, du Galgenstrick. Als du eines Abends, dieweil ich eingeschlafen war, in meinen Garten kamst, mich zu pflücken, und mich dann mit Verachtung am Baume hangen ließest.«

Nun erhob ich groß Geschrei und erklärte ihr alles. Sie sagte zu mir:

»Ich hab's wohl verstanden. Gib dir keine solche Mühe, du Dummkopf. Ich bin gewiß, wenn es noch einmalen so kommen würde ...«

»Alsdann würde ich's ebenso machen.«

»Tropf du!« meinte sie. »Und doch liebte ich dich eben darum. Alsdann wollte ich dir zur Strafe und mir zum Ergötzen dich quälen. Aber ich vermeinte nicht, daß du also dumm sein würdest und dem Angelhaken, anstatt ihn zu verschlucken, aus dem Wege gingest. Ach, was feige die Männer doch sind!«

»Schönsten Dank«, sagte ich. »Der Fisch schätzt den Köder, aber seine Eingeweide liegen ihm mehr an.«

In ihren geschlossenen Mundwinkeln saß ein Lächeln; ohn die Augen niederzuschlagen, fuhr sie fort: »Wann ich von deiner Schlägerei mit dem andern hörte, jenem andern Kerl, des Name ich nicht einmal mehr weiß (ich war just dabei, meine Wäsche im Fluß zu waschen, als man mir sagte, er erwürge dich), da ließ ich mein Waschbrett (ei, schwimme Schifflein, nur zu!) aus den Händen fallen, so daß es flugs mit dem Strom davonschwamm, und lief, über meine Wäsche fortstampfend, meine Gefährtinnen zur Seite puffend, ohn meine Holzschuhe davon, lief bis ich schier außer Atem war, um dir zuzurufen: ›Breugnon, bist du gar toll? Siehst du denn nicht, daß ich dich liebe? Was soll's dir frommen, so du dir ein Stück von dir, wohl gar das beste, vom Maul dieses Wolfes abschnappen läßt! Ich will keinen verstümmelten, kreuzlahmen Mann. Ich will dich heil und ganz.‹ – Ja, heidideldi, zum Teufel, – lirumlarum Löffelstiel, dieweil ich solcherart dumm Gewäsch herunterschwatzte, zechte Meister Windbeutel im Wirtshaus, wußte wohl gar nimmer, zu welchem End er sich geschlagen hätt, und machte sich Arm in Arm mit dem Wolf davon, floh (o, der Feigling, der Feigling!), floh vor dem Schäflein ... Breugnon, wie habe ich dich gehaßt! ... Mein guter Junge, wenn ich dich jetzo sehe, wenn ich uns heute sehe, da scheint mir das alles zum Lachen. Aber dazumal, mein Freund, da hätte ich dir mit Wonnen die Haut abgezogen, hätte dich lebendig am Rost braten mögen. Doch dieweil ich nicht vermochte, dich zu strafen, bestrafte ich mich selbsten (ich liebte dich ja). Der Mann mit der Mühle bot sich mir. In meiner Wut nahm ich ihn. Wär's nicht dieser Esel gewesen, hätt ich einen anderen genommen. Ach, wie habe ich mich gerächt! Ich dachte nur an dich, während er ...«

»Ich verstehe schon!« ...

»... Während er mich rächte. Ich dachte: ›Jetzt soll er nur kommen! Jetzt sollst du's abkriegen! Breugnon, bist du nun zufrieden? Wenn er nur käme! Wenn er jetzo nur käme! ...‹

Ach, leider kamst du zurück, und früher, als mir lieb war ... Das weitere weißt du. Fürs Leben war ich nun an den Tropf gebunden, und der Esel (ist er's oder bin ich's) muß es aus baden.«

Sie schwieg. Ich sagte:

»Geht es dir hier zumindest gut?«

Sie zuckte mit den Achseln und sagte:

»So gut wie ihm.«

»Alle Teufel«, meinte ich, »dies Haus muß ein Paradies sein.«

Sie lachte.

»Du sagest es, mein Freund.«

Wir sprachen von anderen Dingen, von unsern Feldern, unserm Gesinde, unserm Vieh und unsern Kindern. Aber was wir auch begannen, flugs kehrten wir im Galopp zu unserm Gegenstand zurück. Ich dachte, es würde ihr genehm sein, etliches Nähere über mein Leben, meine Familie, mein Haus zu erfahren; aber ich merkte in Bälde (o ihr neugierigen Weiber!), daß sie schier soviel davon wußte als ich Selbsten. Schließlich, wann das Rad im Rollen ist, da kommt man vom Hundertsten ins Tausendste, zu diesem und jenem, nach rechts, nach links, bergan, bergab, aus Lust am Schwätzen, ohn zu wissen, wohin man gerät. Alle beide, einer nur besser als der andere, verstanden wir uns aufs Possenreißen: das ging gleich wie ein Schnellfeuer, man kam schier außer Atem dabei. Und da tat nicht not, die Worte lange zu drehen und zu wenden: noch ehe sie im Ofen fertig gebacken waren, da wurden sie schon, heiß, als sie waren, verschlungen. Als ich genugsam gelacht hatte und mir die Augen wischte, da hörte ich's am Kirchturm sechs schlagen.

»Guter Gott«, sagte ich, »ich muß gehen.«

»Du hast noch Zeit«, sagte sie.

»Dein Mann wird heimkehren. Mir liegt mitnichten an, ihn zu sehen.«

»Und mir etwan!« antwortete sie.

Aus dem Küchenfenster sah man die Wiesen, die schon ihr Abendkleid angezogen. Die Strahlen der untergehenden Sonne bestreuten die zitternden Näslein der tausendfachen Grashalme mit ihrem Goldstaub. Ein Bächlein sprang über blanke Kieselsteine. Eine Kuh kaute an einem Weidenzweig. Zween reglose Pferde, ein schwarzes mit weißem Fleck auf der Stirn und ein Apfelschimmel, das eine den Kopf auf das Kreuz des anderen gelegt, träumten, nun, da sie genugsam gefressen hatten, in den Frieden des Tages hinein. In das kühle Haus drang ein Duft von Sonne, von Holunder, von warmem Gras und goldgelbem Mist. Und in das tiefe, weiche Dunkel des Zimmers, darein es ein weniges feucht roch, stieg aus der Steinguttasse, so ich umfaßt hielt, der schmeichelnde Duft des Burgunder Johannisbeersprits. Ich sagte:

»Was fühlt man sich hier so wohl!«

Sie ergriff meine Hand:

»Und also hätte es das ganze Leben sein können, tagein, tagaus.«

Ich sagte (es war mir leid, daß mein Kommen ihr ein Wehgefühl zufügte): »Ei, weißt du, meine Belette, wann man alles bedenkt, so ist's vielleicht besser, also wie es ist! Du hast dabei nichts nicht verloren. Für einen Tag, da geht es wohl. Aber für das ganze Leben, da hättest du – ich kenne dich, ich kenne mich – in Bälde genug gehabt. Du weißt nicht, was ich vor ein schlimmer Kerl bin: ein Strauchdieb, Faulpelz, Trunkenbold und Wüstling, schwatzhaft, unbesonnen, eigenwillig, schlemmerhaft, boshaft, zänkisch, nachdenklich, zornmütig, wunderlich, von mancherlei Hirngespinsten voll. Du wärst todunglücklich geworden, mein Mädchen, und du hättest dich davor gerächt. So ich nur daran denke, stehen mir die Haare nach allen Seiten zu Berge. Lob sei dem Herrn, dem Allwissenden! Alles ist gut, also wie es ist.«

Mit ernstem, glücklichem Blick hörte sie mir zu. Sie schüttelte den Kopf und sagte:

»Wahr gesprochen, Jaköble; ich weiß, ich weiß wohl, du bist ein großer Taugenichts (sie meinte es mitnichten so). Zweifelsohne, du hättest mich geschlagen. Ich hätte dir Hörner aufgesetzt. Aber was macht das? Dieweil man in diesem Leben muß sowohl das eine wie das andere durchmachen (also steht es in den Sternen geschrieben), wär's da nicht besser gewesen, uns wäre es einem durch den andern geschehen?«

»Gewißlich«, nickte ich, »gewißlich ...«

»Du machst kein überzeugt Gesicht.«

»Doch, ich bin überzeugt«, sagte ich. »Indes, man muß es fertigbringen, auf solches doppelte Glück zu verzichten.«

Und mich erhebend, schloß ich:

»Laß es dir nicht leid tun, Belette! So oder so, jetzo wäre es doch, wie's ist. Ob man sich liebt oder nicht liebt, wann man gleich uns am Ende seines Wegs ist ankommen, da ist alles vorüber. Es ist, als war nie nichts gewesen.«

Sie sagte zu mir:

»Das lügst du.«

(Und wie recht hatte sie!)

 

Ich umarmte sie und ging. Auf der Schwelle stehend, an den Türpfosten gestützt, folgte sie mir mit den Augen. Der Schatten des großen Nußbaums reckte sich vor uns hin. Ich wandte mich nicht um, ehe daß ich die Wegbiegung erreicht hatte und sicher war, ich würde nichts mehr sehen. Dann erst blieb ich stehen und schöpfte Atem. Die Luft war von Levkojenduft erfüllt. Und in der Ferne auf der Weide brüllten die weißen Rinder.

Ich setzte meinen Weg fort. Ich kürzte ihn ab, verließ die Straße, erklomm den Abhang, durchquerte Weinberge und drang tief in den Wald ein. Aber so tat ich mitnichten, um etwan eiliger heimzukehren. Denn eine halbe Stunde darnach befand ich mich immer noch am Rande des Waldes, stund reglos, aufrecht unter den Zweigen einer Eiche, Maulaffen feilhaltend. Ich wußte nicht, was ich tat. Ich dachte und dachte. Der rote Himmel erlosch. Ich sah seinen Widerschein auf den Rebstöcken mit den frischen, glänzenden, glasierten, nach Wein duftenden goldigen Blättchen ersterben. Eine Nachtigall sang ... Weit, weit in meiner Erinnerung, tief in meinem betrübten Herzen sang eine andere Nachtigall. Es war ein Abend, der glich dem heutigen. Ich und mein Liebchen waren beisammen. Wir erstiegen einen Hügel, der war mit Wein bewachsen. Wir waren jung, fröhlich, wir schwatzten und lachten gar viel. Plötzlich, ich weiß nicht, was die Luft durchdrang, war's der Hauch des Abendgeläuts, der Atem der Erde, der sich in den Abend hineindehnt und seufzt und uns sagt: »Komm zu mir«, oder die sanfte Wehmut, so vom Monde ausstrahlt ... Wir waren beide und plötzlich in Schweigen verfallen. Wir faßten uns bei den Händen und ohne ein Wort, ohn uns anzusehen, blieben wir reglos stehen. Da stieg aus den Weinbergen, darob die Frühlingsnacht lagerte, die Stimme der Nachtigall. Damit sie auf den Rebstöcken nicht einschlafe, deren verräterische Ranken länger und länger und länger wurden und sich um ihre Füßlein herumzuwickeln versuchten, damit sie nicht einschlafe, sang die Nachtigall, ohn Atem zu schöpfen, sang und sang ihr altes Liebeslied:

»Der Wein blüht, blüht, blüht ...
Ob Tag, ob Nacht, ich schlafe nie ...«

Und ich fühlte Belettes Hand, die sprach zu mir: »Blühe, Wein, blühe, binde uns zusammen. Du bist mein, ich bin dein.«

Wir stiegen den Hügel hinab. Unweit des Hauses lösten wir unsere Hände. Seit der Zeit hielten wir einander nimmer. Ach, Nachtigall, du singst noch immer. Wem gilt dein Lied? Noch blühst du, Wein. Und deine Bande, – Liebe, wozu, für wen?

Und die Nacht brach an. Da stund ich und schaute, die Nase zum Himmel erhoben, indes ich auf meinen rückwärts verschlungenen Händen saß, die den Stock hielten, gleichwie ein Specht auf seinem Schwanz. Immer schaute ich zu dem Wipfel des Baumes empor, ober dem der Mond erblühte. Ich versuchte, mich dem Zauber, so mich umfangen hielt, zu entreißen. Es gelang mir nicht. Gewißlich war es der Baum mit seinem zauberischen Schatten, der Weg und Wegwunsch verlieren läßt und auch mich gefangenhielt. Einmalen, zweemalen, dreimalen machte ich den Weg, machte ihn nochmals, und jedwedesmal fand ich mich wie in Ketten gelegt auf demselbigen Fleck wieder. Da fand ich mich letztlich darein, streckte mich ins Gras und blieb diese Nacht im Wirtshaus Zum Monde. Ich schlief nicht gar viel in diesem Gasthaus. Voll Wehmut überdachte ich mein Leben. Ich dachte, wie es hätte sein können, dachte, wie es einst gewesen war, dachte meiner in Trümmer gestürzten Träume. Mein Gott, wie so viele Bitternisse findet man auf dem Grunde seiner Vergangenheit, in solchen Nachtstunden, da die Seele geschwächt ist! Wie arm und nackt man sich erscheinet, wann vor dem enttäuschten Alter das Bild der hoffnungsüberschütteten Jugend emporsteigt! ... Ich überschlug mein Soll und Haben und die mageren Schätze, so ich in meinem Beutel trage: meine Frau, die mitnichten schön ist und gleicherweis wenig gut. Meine Söhne, die weit fort sind, in nichts gleichwie ich denken, nichts von mir haben denn das Blut. Die Treubrüche von Freunden und die Torheiten der Menschen. Die mörderischen Religionen und die Bürgerkriege. Mein zerfetztes Frankreich; meines Geistes Träume, meine Kunstwerke, die man geplündert hat. Mein Leben, das da ein Häuflein Asche ist, an das der Hauch des Todes heranweht ...

Da weinete ich leise, preßte meine Lippen wider den Stamm des Baumes und vertraute ihm, an seine Wurzeln gleichwie in die Arme eines Vaters geschmiegt, mein Leid an. Und ich weiß, er hörte mir zu. Auch bin ich gewiß, daß er darauf selber zu mir sprach und mich tröstete. Denn, wann ich, etliche Stunden später, schnarchend und die Nase in die Erde gewühlt, erwachte, da war von meiner Melancholia nichts mehr übriggeblieben als eine Schwere im wehmütigen Herzen und ein Krampf in der Wade.

Die Sonne erwachte. Der Baum, darein gar viele Vögel saßen, sang. Der Gesang rann aus ihm nieder, gleichwie aus einer Weintraube, die man in der Hand zerdrückt. Der Fink, das Rotkehlchen sangen da, die graue Grasmücke, die geschwätzige Amsel und die Meise, meine Freundin, sie, die ich lieber mag denn alle, dieweil nichts ihr etwas anhaben kann, weder Kälte noch Wind noch Regen, dieweil sie allzeit lacht, immer guter Laune ist, die erste, so bei Sonnenaufgang singt, und die letzte am Abend, und weil sie gleich mir einen feuerroten Zinken hat ... Ach, die wackeren Bürschlein! Mit welcher Herzensfreude lärmten sie. Den Schrecknissen der Nacht waren sie just entgangen, der Nacht mit ihren vielen Fallstricken, die Abend für Abend sich gleich einem Netz über ihnen zusammenzieht.

Erstickendes Dunkel! ... Wem wird's heute das Leben kosten? Aber tirallerallera, alsobald der Vorhang der Nacht sich wieder hebt, alsobald das matte Lächeln der fernen Morgenröte beginnt, das erstarrte Antlitz und die erblaßten Lippen des Lebens wiederum zu beleben ... oühi, oühi, lalai, lalala, heidideldi, vallerivallera, mit welchem Geschrei, Freunde, mit welchem Liebesüberschwang feiern sie alsdann den Tag! Alles, was man gelitten, was man gefürchtet, das stumme Grausen und den starren Schlaf, die Nacht, alles, alles ... oühü ... alles frrrr ... t, ist vergessen. O Tag, o neuer Tag! Lehre mich, o Meise, das Geheimnis, bei jedweder neuen Morgenröte, mit dem gleichen unwandelbaren Glauben an sie, neu wieder aufzuerstehn.

Sie fuhr fort zu pfeifen. Ihre derbe Spottlust gab mir meinen Frohsinn wieder. Auf der Erde hockend, pfiff ich wie sie. Der Kuckuck ... »weißer Kuckuck, schwarzer Kuckuck, grauer Kuckuck aus Nevers ...« spielte im Innern des Waldes sein Versteckspiel. »Kuckuck, Kuckuck, ruft's aus dem Wald.« Beim Aufstehen schlug ich zuerst einen Purzelbaum. Ein vorbeilaufender Hase machte es mir nach: er lachte, seine Lippe war gewißlich vom vielen Lachen gespalten. Ich machte mich von neuem auf den Weg und sang aus voller Kehle:

»Wie es ist, so ist es gut, Freund, faß Mut.
Unsre Welt ist gut und rund,
wer nicht schwimmt, sinkt auf den Grund.
Dringe, Welt, tief in mich ein,
fließe mir ins Blut hinein,
durch die offnen Fenster rinne
meiner fünf gesunden Sinne.
Soll ich Tropf dem Leben schmollen,
weil's nicht ganz erfüllt mein Wollen?
Wenn man erst beginnt zu klagen:
›Hätt ich doch‹ ... und ›könnt ich haben!‹
Ei, da läßt man sich am besten
gleich begraben;
denn sonst wird man nimmer satt,
wünschet allzeit mehrer, denn man hat.«

Selbsten dem Herrn von Nevers, selbsten dem König, Gottvater selbsten sind Grenzen gesteckt, jeder bleibet in seinen Kreis gebannt. Soll ich mich erregen und jammern, derhalben, daß ich aus dem meinen nicht kann herauskommen? Würde ich's woanders besser haben? Ich bin in meinem Hause, da bleibe ich, und, zum Kuckuck, da werde ich bleiben, solange ich kann. Und worob hab ich mich beklagt? Schließlich schuldet mir niemand nichts. Ich könnt auch nicht im Leben sein ... Großer Gott! wenn ich dessen denk, rinnt's mir kalt den Rücken hinab. Dies köstlich Erdlein, dies schön Leben ohn Breugnon! Und Breugnon ohn das Leben! Was traurig Welt, o Freunde! ... Wie es ist, so ist es gut. Was nicht mein, wird nicht begehrt, doch ich halt, was mir gehört ...

Mit einem Tag Verspätung kehrete ich heim nach Clamecy. Ich überlaß es euch, euch auszudenken, wie ich dorten aufgenommen ward. Ich scherete mich nicht darumb; ich erkletterte den Dachboden und habe da – wie ihr sehet unter allerlei Grimassen und Tiraden all mein überstanden Leid und Freud, mein Freud und Leid aufs Papier gebracht ...

Was zu erleben weh uns tut,
erzählt sich nachher doppelt gut.


 << zurück weiter >>