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Montag, den 7. November 1919, begann also, von ganz Paris erwartet, die Verhandlung gegen Landru. Schauplatz: der Gerichtssaal zu Versailles. –
Präsident: Rat Gilbert, Staatsanwalt: Rat Godefroy. Landru wird von M. de Moro-Giafferi und M. Navières du Tréuil verteidigt. Durch das Los wurden als Geschworene bestimmt:
Hauptgeschworene: Die Herren Jacques Martin, Landwirt zu Orcemont als Präsident; Louis Malléville, Angestellter der Stadt Paris, wohnhaft zu Pierrelaye; César Berlin, Rentier in Asnières-sur-Oise; Gaston Pommerel des Varennes, Grundbesitzer in Boissy-le-Sec; Clément Chapron, Landwirt zu Ableiges; Achille Delaroche, Adjunkt des Bürgermeisters in Epinay-Sous-Senart; Louis Chatelard, Unternehmer in Chaville; Fernand Chartier, Landwirt im Plessis; Louis Guérin und Albert Alline, beide Rentiers in Argenteuil; Sebastian Archdeacon, Hausbesitzer in Menucourt; Alfons Pécard, Hausbesitzer in Gif. Ersatzgeschworene: Die Herren Felix Charpentier, Hausbesitzer in Saclais und Victor Taburel, Hausbesitzer in Rueil.
Der Saal ist zu klein, um all die Platzsuchenden zu fassen. Schon lange vor Beginn der Verhandlung wartet vor dem Tor des Gebäudes eine geduldige Menge, die voraussichtlich nur zum Teil in den Saale gelangen werden. Man vertreibt sich die Zeit, indem man den kurbelnden Filmoperateuren zusieht oder etwa dem Bänkelsänger lauscht, der das aktuelle Lied »Die Köchin Landrus« zum Besten gibt.
Zu Mittag endlich öffnen sich die Pforten des Gerichtsgebäudes.
Die Vertreter der französischen wie der ausländischen Presse von Namen sind vollzählig versammelt. Um 12 Uhr 45 tritt der Gerichtshof ein. Ein Heer von Photographen und Zeichnern läßt sich am Fuß der Pulte des Präsidenten und des Staatsanwaltes nieder, um die Miene, die Gebärden Landrus festhalten zu können.
Die Geschworenen werden ernannt. Dann wird die Sitzung bis drei Uhr unterbrochen. – – –
Der heutige Tag soll außer der Aufrufung der 140 Zeugen und der Verlesung des Anklageaktes nichts bringen.
Doch Landru soll endlich vor der Öffentlichkeit erscheinen, diese mythisch gewordene Persönlichkeit, sattsam bekannt aus Karikaturen und Photos, aus den Beschreibungen der Zeitungen – und doch noch nie öffentlich gesehen. Wird er den Beschreibungen gleichen? Wie wird der Eindruck sein, den er bietet?
Das Publikum ist ungeduldig – es wartet auf diese Sensation des ersten Tages. –
Und dann, ein stillschweigender Ausruf, ein Atmen durch den Saal: »Also das ist Landru!« Landru ist eingetreten. Er trägt einen kleinen drapfarbenen Überzieher. Sein langer schwarzer Bart ist sorgfältig geschnitten. Die Augen von den dichten Wimpern beschattet, blicken lebhaft. Er ist blaß, wie es heißt übernächtig durch ein übrigens belangloses Unwohlsein. –
Colette schildert im »Matin« lebendig den Eindruck vom Erscheinen Landrus:
»Sein Eintritt ist es und nicht der der roten und schwarzen Roben, der Ernst in diesen kleinen, jeder Majestät entbehrenden Saal bringt, in dem man sich laut unterhält und sich in Erwartung des zögernden Gerichthofes langweilt. Er ist es, der alle Blicke auf sich zieht und sie festhält, er, der hundertmal Photographierte, Karikierte, von allen gekannt, und doch so verschieden von allem, was man von ihm wußte.
Das ist der bereits populär gewordene Bart und die Glatze, die buschigen Augenbrauen, wie falsche, aufgeklebte aussehend. Aber dieser magere Mensch trägt in seinem Gesichte etwas Undefinierbares, das uns alle aufmerksam macht – ich möchte fast sagen, ehrerbietig!
Hinter mir flüstert eine Frau ohne Hut: »Er sieht wirklich aus wie ein Herr!«
Welches Lob! Ein Journalist versichert, daß Landru einen Bart habe »wie ein Apotheker-Präparator«.
Ein Zeichner sagt: »Er sieht sehr anständig aus, man möchte glauben, ein Abteilungsvorstand in einem Seidengeschäft!«
Über Landru wird die Menge nie ein einstimmiges Urteil abgeben. Der Mann mit den 50 Namen, der Mann der 283 Abenteuer mit Frauen, ist ohne sich zu rühren und bevor er gesprochen hat, ein Proteus.
Verführerisch, dieser Verführer? Korrekt, sicher. Faunisch, Verlainisch, wie man ihn beschrieben? Nein, das nicht, weder genial, noch entstellt. Über den mageren Sehnen des Halses ist der Schädel schön und kann Intelligenz ausbrüten, wer weiß, vielleicht sogar Liebe . . .
Was das Gesicht anbelangt, so frappiert seine offenbare Ähnlichkeit mit dem ehemaligen Deputierten Ceccaldi, dem Ceccaldi von Caillaux, diese Ähnlichkeit geniert für einen Augenblick, dann vergißt man sie. Man vergißt sie, sowie man Landrus Auge gesehen hat.
Umsonst suche ich in diesem, tief in der Höhle liegenden Auge menschliche Grausamkeit, denn es ist kein menschliches Auge. Es ist das Auge eines Vogels, der ihm eigentümliche Glanz, seine langdauernde Stetigkeit, wenn Landru gerade vor sich hinsieht. Wenn er aber die Lider zur Hälfte sinken läßt, dann nimmt sein Blick dieselbe Öde, diese unsondierbare Verachtung an, die man im Auge eines eingesperrten Raubtieres sieht.
Ich suche noch in den Zügen dieses regelmäßigen Kopfes das Ungeheuer, und finde es nicht.
Daß dieses Gesicht erschreckt, kommt daher, daß es, obschon knochig, doch normal, die Menschlichkeit vollkommen nachzuahmen scheint, wie die unbeweglichen Puppen, die in den Auslagen Kleidungsstücke zur Schau stellen.
Hat er getötet? Hat er nicht getötet? Wir sind noch nicht nahe daran, es zu wissen. Er hört zu, er scheint wenigstens dem endlosen Anklageakt zuzuhören, der im Ton einer tristen Messe vorgetragen wird.
Ich beobachte seinen Atem. Er ist langsam und regelmäßig. Er zieht aus seinem haselnußfarbenen Überzieher Papiere, die er liest und anmerkt und deren Blätter in seiner Hand nicht zittern.
»Unheilvoller Bräutigam – beraubt und ermordet – der Mörder der Madame Guillin . . .«
Landru macht Notizen, aufmerksam und abwesend zugleich, oder läßt ohne Herausforderung seinen Blick über den Saal gehen, diesen Blick, der so viele Opfer verliebt machte. Er läßt merken, daß ihn der Lärm belästigt. Er schneuzt sich gesetzt, faltet sein Taschentuch viereckig, schlägt die Klappe seiner äußeren Tasche zurück. Wie sorgfältig er vorgeht!
Hat er getötet? Wenn er getötet hat, so würde ich darauf schwören, daß er es mit der gleichen skribblerischen, ein wenig manieartigen, wunderbaren Sorgfalt gemacht hat, die er auf die Redaktion seiner Akten verwendet. Hat er getötet? Wenn ja, dann hat er es getan, indem er sich ein Liedchen gepfiffen und mit einer Schürze versehen, um Flecken zu vermeiden. Ein sadistischer Herr? Landru? Aber nein, er ist viel undurchdringlicher, wenigstens für uns. Wir können uns wohl zur Not vorstellen, was geile Wut ist, aber wir bleiben stupid vor diesem ruhigen und sanften Mörder, der ein Verzeichnis seiner Opfer führt und sich vielleicht ausgeruht hat, indem er am Fenster lehnte und die Vögel fütterte.
Ich glaube, wir werden Landru niemals verstehen, selbst wenn er nicht getötet haben sollte.
Seine Gleichmütigkeit gehört wenig dem menschlichen Geschlecht an. Während des Kreuzens der Waffen, des raschen und drohenden Ganges zwischen Meister Moro-Giafferi, der Tigerkatze, deren Klaue glänzt, verletzt und sich dann zurückzieht und dem Generaladvokaten Godefroy, ganz in bärenhafte Schlauheit eingehüllt, schien Landru über ihnen zu träumen, von uns zurückgezogen, vielleicht in eine sehr alte Welt zurückgezogen, in eine Zeit, wo das Blut weder heiliger noch schrecklicher war als Wein oder Milch, eine Zeit, wo der Opferbringende, auf einem rieselnden lauen Steine sitzend, sich vielleicht vergaß und an einer Blume roch . . .
Würde Landru, wenn er schuldig sein sollte, diesen asiatischen sanften Henkern gleichen? Ich vergaß die »Geldfrage«. Und Meister Moro-Giafferi ist nicht meiner Ansicht. Die Klarheit, das Klassifikations- und Vorgangsgedächtnis seines Klienten entzücken ihn.
Gestern rief er im Vestibül aus: »Wenn man ihn freispricht, nehme ich ihn als Sekretär an!«
»Angeklagter, stehen Sie auf!«
Landru, sehr gerade, mustert den Gerichtshof. Er antwortet kaum, neigt nur ein wenig das Haupt.
»Angeklagter passen Sie auf das auf, was Sie hören werden!« Nun beginnt die Vorlesung des langen Anklageaktes. Landru zeigt sich ebenso aufmerksam, als er zu sein versprochen hat. Ruhig, ernsthaft, posiert er wunderbar, ohne einen Blick für die Zeichner, deren Bleistifte auf den Albums knirschen. Er hört dem Gerichtsschreiber zu, der sehr langsam den Anklageakt vorliest.
Als es im Anklageakt heißt: »Das war ein gefährlicher rückfälliger Verbrecher, ein Gauner, ein Deportationswürdiger«, richtet Landru einen direkteren Blick auf den Gerichtsaktuar, welcher fortfährt: »Die Untersuchung hat festgestellt, daß Landru mit 283 Frauen in Verbindung gestanden hat.« Lachen im Auditorium. Landru scheint weder empört, noch geschmeichelt.
Endlich blättert man, sozusagen, im Taschenbuch Landrus. »Das Anklage-Tagebuch«, »unheilbringende Buchhaltung«, wie mit einem größeren Überfluß an düsteren Bildern der Anklageakt sagt.
Landru ist unbeweglich. Nichts bringt ihn dazu, irgendetwas auf seinem blassen Gesichte lesen zu lassen, nicht einmal Sätze wie dieser: »Dies ist die von Landru gewählte Stunde, um sein Opfer verschwinden zu lassen.«
Die Anklage betont die eingehenden, von Landru getroffenen Vorsichtsmaßregeln nach jedem vorausgesetzten Verbrechen »um gefährlichen Nachforschungen vorzubeugen«.
Während man nun die Angelegenheit André Babeley berührt, hat Landru seine Brille aufgesetzt, seine spezielle Brille, die er verlangte, und studiert mit Beharrlichkeit die Zeugenliste.
Ein leichtes Gemurmel folgt der Verlesung eines Briefes der Mme. Buisson an Landru: »Ich liebe wohl meinen Sohn, aber Dich noch viel mehr.«
Der letzte Name, der sich in den Notizen Landrus vorfindet, ist »Marchadier«, »Inhaberin möblierter Zimmer, sehnte sie sich vielleicht nach dem Leben der Galanterie, welches sie in der Provinz geführt hatte«. Kurz, sie langweilte sich, als sie Louis Guillet, alias Landru, begegnete, »welcher es versteht, den Frauen Liebe einzuflößen«. Ein diskretes Lachen geht durch die Zuhörerschaft. Es wird aber lauter, als man hört: »Als Kunde in das Haus der rue Saint-Jacques eingetreten, verläßt es Landru als Verlobter«.
Im ganzen sollen die 11 Morde, deren man Landru beschuldigt, ihm einen Betrag von Frcs. 35.642.50 eingetragen haben. – – –
Wir werden neuerdings nach Gambais versetzt, wo zahlreiche Zeugen aus den Kaminen der Villa dichte Rauchwolken aufsteigen sahen. Ein Fleischer von Gambais sah des Nachts sich die Fenster der Küche röten. Dann sah man Landru ein unförmliches Paket in den Sumpf von Bruyères werfen. Endlich haben Versuche bewiesen, daß es möglich sei, in der Küche des Landru 50 Kilo Fleisch zu Asche zu machen.
Der Rat Gilbert wiederholt, ohne sich auf Einzelheiten einzulassen, die Liste der Landru vorgeworfenen Verbrechen und kleineren Delikte. Es sind 26 Anklagen, von welchen einige auf Kapitalverbrechen lauten. Landru setzt sich ruhig wieder nieder. Man schreitet zu dem Zeugenaufruf.
Er ergeht zunächst an Mme. Fauchet, die Schwester der verschwundenen Pascal. Sie tritt als Zivilpartei auf und wird durch M. Lagasse vertreten, der den Aufruf beantwortet. Der Verteidiger Landrus, Moro-Giafferi, äußert sein Erstaunen, Legasse erwidert lebhaft. Der Präsident beruhigt die beiden.
Der Zeugenaufruf wird fortgesetzt, man ruft Fernande Segrel auf, Landru wendet nicht einmal den Kopf seiner letzten lebenden Freundin halber. Eine kleine Blondine, ganz schwarz gekleidet, wobei die Seide der drapfarbenen Strümpfe sich von dem dunklen Samt der kleinen Schuhe abhebt. Aber Landru sieht sie nicht!
Der Präsident Gilbert gibt den Zeugen Urlaub für den 8. November und ladet für den 9. November die Zeugen in der Sache Cuchet, für den 10. diejenigen in der Sache Laborde-Line vor.
Staatsanwalt: Es liegt mir daran, ohne in so später Stunde einen Zwischenfall schaffen zu wollen, mich über ein außergerichtliches Vorkommnis auszusprechen.«
Nun erzählt M. Godefroy, daß der Verteidiger Landrus ihm eine Person von auffallender Ähnlichkeit mit einer der Verschwundenen angegeben habe.
Überdies habe diese Dame Aufregung gezeigt, als man vor ihr von der Affäre Landru sprach. Es handelt sich um eine Mme. Desirée Guillin. Guillin ist tatsächlich der Name einer der Bräute Landrus und Desiré Landrus Vorname.
Trotzdem ist festgestellt worden, daß sie mit der verschwundenen Frau Guillin nicht identisch ist.
Dabei hat sie dem Polizeikommissär gestanden, daß sie durch den kleinen Anzeiger mit Landru in Verbindung getreten war und mit ihm korrespondiert hatte. Trotz dieser Ähnlichkeit handelt es sich um eine der Sache ganz fernstehende Person.
Da es spät wird, hält es der Präsident für angezeigt, die Verhandlung zu verschieben, aber Landru verlangt das Wort: »Während der drei Jahre, die die Untersuchung gedauert hat, und während ich in der strengsten Verwahrung gehalten worden bin, ist es doch nicht gelungen, gegen mich tatsächliche Beweise zu sammeln. Auf alle meine Fragen hat man nur mit zweideutigen Worten geantwortet. Ich beteure meine Unschuld!«
Nachdem er die Brille in ihr Etui gesteckt und seine Akten unter den Arm genommen hat, verläßt Landru mit seinen Wächtern den Saal.
Der erste Verhandlungstag ist zu Ende.