Alexander Roda Roda
Von Bienen, Drohnen und Baronen
Alexander Roda Roda

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Die kleine Deutsche

War da um das Jahr neunzig ein Kaufmann Kolaratz an der Ecke der Fürst-Michael-Straße. Er handelte mit Krawatten, Knöpfen, Spazierstöcken und dergleichen – was man so aus Wien auf Borg bekommt und schuldig bleibt. Im Laden hatte er seine Schwester Wela stehen. Sie streifte mir die Handschuhe auf, wenn ich um Handschuhe kam, band mir die Krawatten mit ihren fügsamen Fingerchen und lachte in den Spiegel, sooft ich mich darin besah. Ich war fünfundzwanzig Jahre alt, sie achtzehn. Zuerst kaufte ich einen Monat unmenschliche Mengen von unnützem Tand – dann wartete ich, wieder einen Monat, allabendlich vor dem Laden, bis sie die Rollbalken herabzog – endlich durfte ich mit ihr hinter dem großen Schrank sitzen und, wenn eine Kundschaft gegangen war, fragen: »Liebst du mich, Wela?«

Das war süß und herrlich. Sorgen hatte ich keine. Mein Onkel Milutin schickte mir pünktlich jeden Ersten dreihundert Dinar. Wenn ich ein wenig mehr brauchte, zum Beispiel für Blumen, mußte ichs Onkel Milutin nur schreiben. Der Onkel war auch schon in unsre Pläne eingeweiht: noch zwei Jahre werde ich studieren – dann gibts Verlobung und gleich darauf Hochzeit. Mein Onkel wird für alles sorgen.

53 Doch es sollte anders kommen. Onkel Milutin ließ draußen auf seinem Landgut – zwei Meilen hinter Waljewo – Pflaumenmus kochen. Das Mus war heiß – und als sich Onkel Milutin über die große Kupferpfanne beugte, um zu sehen, ob das Mus wirklich heiß wäre, kriegte er das Übergewicht, fiel in die Pfanne und brannte sich so elend, daß er bald darauf starb.

Ich bekam die Nachricht davon erst am dritten Tag, als ich eben im Kaffeehaus saß. Spornstreichs lief ich zu Kolaratz, um Wela das Entsetzliche zu melden.

Wela war nicht da.

»Wo ist sie?«

Kolaratz zuckte die Achseln.

»Um Himmels willen, ich muß dringend mit ihr sprechen,« sagte ich.

Kolaratz zuckte die Achseln.

»Herr,« rief ich noch erregter, »ich frage Sie . . . und Sie antworten mir nicht. Was bedeutet das? Wissen Sie nicht, wer ich bin?«

»Gewiß weiß ichs,« sprach Herr Kolaratz gleichmütig. »Sie sind vorgestern der Neffe eines reichen Mannes gewesen. Heute sind Sie niemand. Meine Schwester kann Sie nicht heiraten. Um dem Gerede der Leute auszuweichen, habe ich Wela weggeschickt.«

»Und sie ist damit einverstanden gewesen?«

»Natürlich ist sie einverstanden gewesen. Wie sollte sie nicht? Ihr Onkel ist ohne letzten Willen 54 gestorben, das Erbe fällt der Tante zu, Ihnen bleibt nichts. Natürlich ist Wela einverstanden.«

So stand ich da: nach einer sorgenlosen Jugend mit einemmal verarmt, nach einem Jahre tiefer, stürmischer Liebe mit einemmal betrogen, vor einer Berufswahl und ohne Fähigkeiten, hungrig und ohne Brot, einsam und ohne Tröstung.

Verliebte haben sonderbare Brillen, sie sehen alles um sich riesengroß. Ich hatte mich in mancher Nichtigkeit ein wenig fest gezeigt, und Wela liebte meine Willenskraft, die angeblich zum bösartigen Trotz werden konnte. Schade, daß Wela sich nicht umblickte, als sie ging. Sie hätte sich krumm lachen können: hilflos wie ein Schuljunge war ich geworden.

Ich sollte den Zuschnitt meines Lebens plötzlich ändern – und fand nicht einmal den Mut, meiner Hauswirtin zu gestehen, daß ich ihr die Miete schuldig bleiben müsse.

Als sechsunddreißig Stunden seit der letzten Mahlzeit vergangen waren und ich immer noch nicht wußte, was anfangen – da beschloß ich zu sterben. Ich hatte die verschiedensten Todesarten vor mir. Zum Beispiel: im Park von Toptschider war ein Baum, an den sich die Gärtnerskinder eine Schaukel gehängt hatten; man braucht nur am Abend hinzugehen und in die Schlinge des Seils zu schlüpfen; – oder: aus der Äußern Festung gehts sehr steil zur Sawe hinab; wenn 55 man sich ein wenig vorneigt – wie Onkel Milutin – ist man fertig.

Doch es kommt immer anders.

Ich gehe trübsinnig auf dem Kalimegdan auf und ab, wo die Kastanien so traulich rauschen, denke an Wela und meine, das Herz muß mir zerspringen. Da läuft mir ein Mädchen zwei-, dreimal in den Weg und sieht mich eigens an – so wehmütig, daß ich mir denke: die ist sicherlich noch trauriger als du. Als sie zum viertenmal vorbeigeht, beschließe ich, sie anzusprechen. Ich will sehen, ob . . . nun, ob sie wirklich noch trauriger ist. Sie heißt Charlotte Dietze und ist die Tochter eines Klavierlehrers. Sie ist ebenso alt wie ich, hat nicht die Spur von Witz oder Feuer (eine Deutsche, weißt du), ist ungraziös und kurzsichtig (eine Deutsche, eine kleine Deutsche aus Stettin), eckig, wortkarg und arm – arm wie ein Zigeuneresel.

Aber: sie hat zwei Ohren – und Geduld, meine Geschichte anzuhören. Ich erzähle ihr und weine dabei – sie erzählt und weint ebenfalls. Was sie zu berichten hat, ist so albern, daß mir keine Silbe davon im Gedächtnis bleibt. Für mich war damals jeder Laternpfahl Wela Kolaratz. Die Küsse, die ich Wela vermeinte, gab ich Charlotten, nannte sie, wie ich Wela genannt hatte: Zuckerherz – und Charlotte schmiegte sich an mich und küßte mich so lang, bis ich die Verwechslung 56 bemerkte. Da war ich aber auch schon ihr ›lieber Freund‹.

Gott, sie war ja so unschuldig – daran und im allgemeinen. Ich hätte sie nicht um die Schätze Zar Radowans aus ihrer kleinen Glückseligkeit reißen mögen.

Ich kam also am nächsten Tag wieder.

Wir sprachen, weinten, küßten uns und schieden – nicht ohne vorher eine neue Zusammenkunft verabredet zu haben. Nach vierzehn Tagen war ich ganz und gar eingesponnen. Ich schrieb ihr sogar Briefe – das hatte nicht einmal Wela bei mir durchsetzen können. Ja, und die Briefe waren freundlich, so viel ich mich auch dazu zwingen mußte. Ich durfte doch den ahnungslosen Wurm nicht kränken?

So oft ich mit mir allein war, sagte ich mir: ›Mensch, die Sache muß ein Ende nehmen. Sie hat nichts, du hast nichts – das ginge noch hin. Doch sie ist dir im Grund der Seele zuwider, sie ist langweilig, sie geht dir auf die Nerven. Wie willst du auch nur einen Tag mit ihr sein, ohne aus der Haut zu fahren?‹

Kam dann unser Stelldichein, da war ich mit den blutigsten Entschlüssen geladen: heute wird gebrochen.

Nun bin ich also da, und sie auch. Ich will . . . na, mindestens kalt sein. Da streichelt sie mir mit ihrer knochigen Hand über die Wange und fragt: 57 »Was ist dir heute, Liebster? Du bist nicht wie sonst.« Ihre Stimme klingt so grell, so heiser . . . Wenn nur die Augen nicht wären, diese garstigen, treuen Hundeaugen!

Ich kann nicht anders, ich muß gut sein. Ich möchte mich ihr irgendwie verekeln; ich weiß, daß ich sie nicht ertragen kann, und fable ihr, nur um überhaupt etwas zu sprechen, von unserm künftigen Heim vor, das so schön sein wird . . . Hundert Waggons Apostel – bin ich denn ganz ohne Rückgrat?

So gehts also nicht. Ich versuche es anders – mit Gewalt. Sie hat unsre Zusammenkünfte den Eltern ängstlich verheimlicht. Eines Tages gehe ich, wie ich eben bin, zu ihrem Vater und . . . halte um ihre Hand an. Ich denke mir, der Mann wird mich an die Luft setzen. Denn ich sehe aus wie ein Strolch.

Der Mann hört mich an, macht tellergroße Augen – auf einmal perlen ihm zwei Tränen hervor – er reicht mir die Hand und beginnt zu sprechen, just so gut und wehmütig, wies Charlotte pflegt. Er wär auch einmal verzweifelt gewesen – vor dreißig Jahren, zu Stettin in Preußen – bei zwei Klavierstunden dreimal die Woche zu fünfzig Pfennig –und da habe er an Lottes Mutter, Trude, eine Stütze gefunden, und alles sei doch ins rechte Gleis gekommen.

Da hatte ichs nun: eine liebende Braut, den väterlichen Segen – was brauchte ich mehr? – 58 O, ich war viel bescheidener. Ich hätte auf all das gern verzichtet. Sieben Para waren mein eigen, eine Para gleich neun Zehntel Heller. Die hätte ich für meine Freiheit geopfert.

Wie ich so gehe und meine Schwäche verfluche, kommt ein eleganter Herr, der Staatssekretär Patschu, und verlangt Feuer von mir. Ich geb ihms – er schenkt mir eine Zigarette. Ich sehe mir sie an und seufze. Die fünf Para, die das Geschenk gekostet hat, wären mir lieber gewesen. Er fragt mich – ich antworte. Da ruft er:

»Ah – bist du am Ende der Neffe Milutins, der in die Pflaumenpfanne gefallen ist?«

»Ja.«

Er lädt mich ein, ihn zu besuchen – er werde nachdenken, wie mir zu helfen wäre.

Tags darauf war der Mann Minister. Er wollte mir gern, sicher und gründlich helfen. Aber kann ich mir denn helfen lassen? Sowie ich versorgt bin, habe ich die kleine Deutsche auf dem Hals.

Ich gehe also nicht zu ihm. Ich gehe zu Lotte, die mich selig empfängt, und mache ihr einen – für ihre Begriffe – ungeheuerlichen Antrag. Sie blickt mich an wie ein verfolgtes Lamm, kämpft sichtlich den härtesten Strauß mit ihren Anschauungen, dann haucht sie:

»Für dich, Geliebter, alles!«

Kein Wort mehr. Und ich? Ich bin zuerst starr. Ich weiß, ich habe den Bogen ihrer 59 Nachgiebigkeit bis zum Brechen gespannt – er hat die Probe bestanden. Mir bleibt nichts übrig, als mich mit der dummen Ausrede zurückzuziehen: es sei eben nur eine Probe gewesen.

Diese Lotte! Wenn ich ihr sage: »Geh in den Tod um meiner Laune willen« – sie wirds tun. Was kann ich gegen ein solches Weib?

Doch dieses Weib ist mir ein Greuel. Ihre Anhänglichkeit eine Marter. Wenn ich ihr das sage? Dann wird sie mich mit ihren hündischen Augen ansehen. Ansehen und mich umbringen mit ihrer Güte.

Indessen hat die Polizei wieder einmal eine Verschwörung entdeckt. Ich schreibe einen sehr netten Brief mit verstellter Hand an den Präfekten von Belgrad und gebe mich darin als Mitwisser an. In derselben Nacht noch bringt man mich auf die Präfektur. Man verhört mich, ich gestehe alles mögliche ein. Sie freuen sich sehr – denn ich bin der einzige, der zugibt, dem König ans Leben gewollt zu haben. Man behandelt mich wie eine Standesperson. Der Schwindel dauert ganze vierzehn Tage. Dann steigen ihnen Zweifel auf. Zwei Heiducken treten in die Zelle, knuffen mich mit den Kolben und werfen mich aufs Pflaster. Gut – aber Lotte und Lottes Vater werden doch nun nichts mehr von mir wissen wollen?

Weit gefehlt. Lotte liebt mich mehr als je. Wir werden Hochzeit machen. Ich habe nichts? Um 60 Himmels willen – weniger als nichts werden wir nachher zusammen auch nicht haben, sagt Lotte.

Wirklich, wir heiraten. Ich bekomme – als Nationalmärtyrer – eine Stelle beim Radikalni Journal. Es geht uns prächtig. Lotte kostet alle Wonnen der Erde durch. Lotte dünkt sich reich, Lotte hat einen Mann, den sie mit all ihrer armseligen Glut liebt, zu dem sie aufblickt . . .

Lotte ist zärtlich.

O, ich könnte diese Person in Onkel Milutins Kupferpfanne ersäufen, wenn . . . wenn sie nur nicht eine gar so gute, kleine, widerwärtige Deutsche wäre.

Bis heut habe ichs nicht übers Herz gebracht, sie aus ihrem Himmel zu stürzen.

Morgen sage ich ihr doch klar heraus, daß sie mir unausstehlich ist.

Oder warte ich damit noch eine Woche? 61

 


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