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Aschenweg und Ewiges Licht

Als sie zwanzig Jahre früher, nach jenem Blutsturze in Rom, wieder zum Leben erwacht war, von dem sie schon Abschied genommen hatte, war der erste Gedanke, der sich der Genesungsschwermut, dem Heimweh nach dem Tode, in dem sie schon so gut geborgen gewesen war, entgegenwarf, der Wille zur Arbeit gewesen. Freilich war sie damals jung gewesen und hatte Ziele vor sich gesehen. Und da sie jetzt, aus der schauerlichen, toderwartenden Lethargie sich aufrichtend, sich dennoch im Leben fand, sagte eine klanglose Stimme in ihr: wie dieses Leben nunmehr auch sei, dieser elende Rest in dem ausgebluteten Körper und der leeren Seele, es sei doch noch nicht Tod. Sie könne noch gehen, ein wenig atmen, sprechen, so sei ihr denn doch noch nicht die große Ruhe gegönnt, und sie müsse sich mit all ihrer Last, ihrer Müdigkeit, ohne Glauben und ohne Hoffnung, nun wieder aufmachen aus der guten Gruft, wieder die vielen Straßen gehen, durch die Länder ziehen und das einzige tun, das sie zu tun verstand, wieder Theater spielen. Ein schauriges Staunen war in ihr, daß sie wirklich noch alle diese lebendigen Dinge sollte tun können wie eine Lebendige – aber sie konnte ja noch, und so gab es kein Zögern. Zur Ruhe darf man sich in seinen Sarg legen wie jene Mönche, dachte sie, aber Ruhe ist Lohn, der verdient sein will. Es war also auch das noch nicht genug ...

Und sie macht sich auf, noch blicklos, wie blind, um wieder Theater zu spielen. Freilich, seine Stücke kann sie jetzt nicht spielen, vielleicht ein wenig später, jetzt noch nicht. Was denn also? Die alten Stücke etwa? Ja, wenn sie überhaupt noch spielen kann, muß sie es wieder mit diesen versuchen. Dann würden sich auch ein paar neue finden, ganz innerliche prunklose Stücke, wie sie jetzt zu ihr paßten. Und so erscheint sie wieder auf den Bühnen der fremden Städte und spielt die Magda und die Kameliendame und ein paar andere dieser Rollen, als ob sie sie nie gespielt hätte, fast schon ohne alle äußeren Mittel, gedämpft wie die Stimmen derer, die zu vieles wissen. Und die Menschen erschauern in alle Tiefen hinein. »Muß sie dann den gemeinen Text ihrer Rollen hersagen, so ist es manchmal, als ob sie davor erschrecken würde, sie scheint nach Worten ihrer Seele zu suchen, die frierend verstummt ist, und während ihr die Menge zujauchzt, hat sie den müden Schritt einer Gefangenen, und man glaubt leise, schwere Ketten klirren zu hören.« Hermann Bahr, 1904

»Ich gehe im Winde wie einer, der seine Straße weiß; indessen tue ich im Grunde nichts, als daß ich einem inneren Rhythmus gehorche, der mich immer vorwärts trägt. Was werde ich am Ende einer so langen Fahrt finden? Vielleicht ... die geheime Süße, meinem Geschicke gehorcht zu haben – vielleicht! Das hoffe ich – und was ich gelitten habe – vergesse ich.« Brief an die Florentiner Freundin Emma Garzes, aus Budapest, Oktober 1904.

Und sie spielt die Wasilissa im Gorkijschen »Nachtasyl« so, daß alle Leiden der Welt aus ihr sprechen, und die Monna Vanna, die sie zu einem schimmernden Gefäß aller Einsamkeit einer Frauenseele macht. Und dann besinnt sie sich Ibsens, und ihr ist, als habe sie ihn noch gar nicht gekannt. Eine reine kleine Flamme schlägt aus der Asche empor: sie fühlt das Theater, das jetzt noch das ihrige sein kann, das Theater der Seele, der wenigen vorsichtigen Worte, unter denen die verschwiegenen Dämonen der großen Gefühle die Schicksale schmieden. Ja, so muß es sein, wenn es überhaupt noch Theater für sie geben soll: stiller, ungeheurer Ernst, einfachstes Gleichnis des Geheimnisses zwischen den Menschen und zwischen Leben und Tod.

»... Si je puis travailler comme je veux, je suis sauvée. Travailler, c'est le seul remède: il faut aller, aller jusqu'à n'en plus pouvoir ... Et après! ...« Brief an die Florentiner Freundin Emma Garzes, aus Budapest, Oktober 1904.

Und sie fuhr von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, durch Europa, kreuz und quer, und während die Züge die Einsame durch die Gebirge und Ebenen, durch blühendes oder kahles Land trugen, wanderte sie durch die Lavastätten ihres Lebens, grub in der Asche, suchte, suchte. Sie fuhr wieder über das Meer, nach Südamerika, und die Asche war auf ihren Augen, und sie sah das Meer nicht, den Himmel nicht, sie kreiste um das Eine, die Einsamkeit, die furchtbare Scham. In Züge, Schiffskabinen und Hotelzimmer eingeschlossen, durchwanderte ihre Seele immer neue größere Kreise des Leidens, eroberte und durchdrang ihre Qual immer weitere Regionen der Menschenwelt, bis alles Erfahrene, Besessene, Gewußte im Leiden wieder erworben war, bis das Leiden ihr die Welt wiedergegeben hatte, eine verwandelte tiefere Welt. »Weißt Du nicht, daß tausend Frauen in mir sind und daß jede von ihnen mich auf ihre Art leiden macht?« hatte sie einer Freundin geschrieben. Nun litten die alle die ganze große Welt der Leiden, und manche verging in ihr. Aber andere verlangten nach Rettung, und sie suchte nach der Rettung, indem sie arbeitete, arbeitete.

Vier Jahre lang spielte sie noch Theater, vor allem Ibsen (den sie ihren Retter nannte). Vier Jahre lang kämpfte sie mit ihrer Arbeit um einen Sinn, kämpfte sie gegen die Asche. Neuer Ruhm wuchs um sie, tieferer, verklärter, durchleuchtet von der Legende ihrer Liebe und ihres Leidens. Ehrungen wurden ihr zuteil wie keiner anderen Schauspielerin je – und sie lebte endlich in diesen Jahren beinahe so, wie sie gelebt hatte, ehe die Feuerflut ihrer Liebesjahre über ihr Leben gegangen war. Beinahe, nur daß sie scheuer und noch verschlossener geworden war, daß Worte und kleine Dinge von Menschen sie sonderbar erregen konnten, so daß die Ferneren unter ihren Freunden sie immer weniger verstanden. Sie hatte nun auch die Landschaften wiedergefunden, sie von Worten und Asche erlöst und in ihnen auch wieder die reine Einsamkeit, in die selbst ihr Leiden nicht dringen durfte, neu zu empfinden gelernt. Auch Menschen durften wieder zu ihr kommen, und sie suchte die Freunde wieder zu Gespräch und Horchen. Nur sah sie sie jetzt so sehr anders. Immer wieder schaute sie sie prüfend an, ließ sich ihr Leben erzählen und horchte, wieviel Einsamkeit darinnen sei, wie sehr ein jeder all seine wesentlichen Dinge vor dieser Einsamkeit und nicht angesichts der Welt tue, wie sehr ihm dieses Tun in sich selber seinen Sinn trage. Sie war ungeheuer hellhörig für alles Eitle, Prahlerische, Selbstgefällige, für jede Pose und jedes Wirkenwollen geworden. Und wo ihr davon etwas begegnete, mußte sie schnell, schnell fort, Bäume sehen, den Himmel oder in ein lauteres edles Buch blicken, aus dem geheiligt kunstgeworden eine leidensschöne Menschenseele zu ihr sprach. Nur quälte sie jetzt ihre Unduldsamkeit schon, sie wollte auch nicht mit Abkehr und Vorübergehen richten. Aber noch konnte sie nicht anders. Sie sah in Gesichter und Hände, in Mienen und Bewegungen so schauerlich klar hinein, jede Spur von Zuviel in einem Blick, einem Lächeln wurde ihr zur grausigen Grimasse, jeder undurchfühlte Satz wie eine Unflätigkeit. Mochten die Anderen ihre Scheu und Verletzlichkeit Hochmut, Schrulle, ja selbst Pose nennen, sie konnte nicht anders, noch nicht anders. Jetzt verstand sie Boito wieder, der diese Jahre so fern gewesen war, sie verstand sein Sichabschließen, seine stille Strenge, sie fühlte ihn wieder, und sie dachte viel an ihn. Würde sie auch ihn wiederfinden können?

Vier Jahre: die altbekannten Städte und Länder, dann Belgien, die Schweiz, die skandinavischen Hauptstädte, wieder Paris, London, in Wien das höchste Geschenk, das diese Stadt ihr geben konnte: ein Festabend für sie im Burgtheater, dann wieder Deutschland; kurze Rasten nur in Italien, als ob sie in der Heimat nun die Heimatlosigkeit noch weher fühlte. Vier Jahre unterwegs, immer schwererer Kampf gegen die Müdigkeit des Körpers und der Seele, immer wieder noch einmal Aufbrechen. Einmal an der Riviera fühlt sie sich in flüchtiger Rast einem großen Menschenschmerz nahe: die Mutter Guy de Maupassants, die täglich an das Grab des einzigen Sohnes geht, um zu den Gräsern und Blättern, in denen nun schon sein Erdenstoff aufgegangen ist, von allem zu reden, das sie gemeinsam gehabt hatten. Sie ging zu der Alten, und sie sprachen miteinander wie zwei Frauen an nachbarlichen Gräbern. Und als sie sich dann wieder zum Gehen erhob, sagte die, die an ihrem Grabe bleiben durfte, zum Lebewohl: »Was soll ich Ihnen wünschen, Ihnen, die Sie in der großen Sonne des Ruhmes sind?« Da antwortete Eleonora: »Den Frieden!«

Dann geschah ihr in Turin, in demselben Theater, in dem sie in einem fernen, fernen Leben nach Sarah Bernhardt spielend das erste große Zujubeln vieler Menschen erlebt hatte, die erste Botschaft, daß sie auch von diesem, das all ihre Hilfe war, werde Abschied nehmen müssen: »Als ich eines Abends in Turin, ›Rosmersholm‹ spielend, gesagt hatte: ›Die Rosmerschen Geister veredeln die Seele, aber sie zerstören das Glück‹, und es so gesagt hatte, daß mir schien, ich würde es nie wieder so sagen können, da habe ich davon zu keinem Menschen gesprochen, aber in meinem Innern habe ich der Bühne Lebewohl gesagt ...«

Und das Gefühl der Nähe auch noch dieses Abschiedes durchleuchtete das letzte Jahr ihres Theaterspielens und gab ihm die große, stille, weise Schönheit, den Glanz einer hohen Seele, die endlich auch noch zu ihrem Leiden Jasagen gelernt hat. Doch dieses größte Theater der Menschenseele, das nun nach einem Menschenalter schon wie ein heiliger Mythos zwischen den Worten der Berichte von damals sich ausbreitet, diese immer selteneren, oft abgesagten, oft verschobenen Abende wurden mit übermenschlichem Willen der furchtbarsten Erschöpfung abgerungen. Nun verstand sie selber nicht mehr, wie sie für Stunden noch hatte Atem und Stimme finden können, wie ihr flackerndes und versagendes Herz noch einem solchen Abend hatte standhalten können. Noch einen Abend, noch einen ... aber dann sagten die Ärzte, die in den Stunden, da das Herz raste, als wolle es aus der nicht mehr zu ertragenden Fron flüchten, und die kranken Lungen keinen Atem mehr finden konnten, zu ihr kamen, daß weiter Theater zu spielen Selbstmord wäre. Das Wort erschreckte sie: nein, das nicht, das hätte sie ja sonst damals tun müssen, als Leib und Seele darum gebettelt hatten ... nein, nein, den Weg zu Ende gehen! Wenn sie nun wahrhaftig nicht mehr konnte, dann mußte sie auch nicht mehr. Aber noch einmal, und noch einmal. Doch jetzt gebot eine neue Qual und eine andere grausige Drohung Einhalt: ihre Augen, die zuviel geschaut, zuviel geweint und in diesen letzten Jahren in all den schlaflosen Nächten zuviel in Büchern gelesen hatten, schmerzten täglich stärker, scheuten alles Licht und gaben ihr nur mehr wehe und entstellte Bilder alles Sichtbaren. Die große Finsternis drohe ihr, sagte der Arzt, wenn sie nicht sogleich sich zu langer Rast bereit mache, nicht nur für Wochen oder Monate, denn dann würde diese zerstörerische Spannung in ihrem ganzen Körper nicht nachlassen, sie müsse sich zu völligem Ausruhen entschließen. Ausruhen? Er verstand die verzweifelte Frage in ihrem Gesicht und beeilte sich zu sagen, es sei besser zu wollen als dann in dem undurchdringlichen Dunkel, in dem es keine Landschaft, nicht Menschengesichter, noch Bilder, noch das geliebte Lesen mehr gäbe, ruhen zu müssen.

Als sie den Ihrigen, den Gefährten ihrer Wanderschaft, die die Einsamkeit ihrer »Signora« so fromm geachtet hatten, dann Lebewohl sagte und sie ihr weinend die Hände küßten und sie beschworen, sie zu rufen, wenn sie ausgeruht sei und wieder zu »arbeiten« beginnen werde (denn daß sie nicht doch bald wieder zum Theater zurückverlange, das könne, das dürfe nicht sein!), da waren brennende Tränen auch in ihren Augen. Es war in Berlin, im Jahre 1909, in »Frau vom Meere«, daß sie vom Theater Abschied genommen hatte. Und als sie sie verlassen hatte, war eine schaurige Öde um sie, in ihr. Ausruhen? Ja, ein wenig wohl, denn sie konnte ja nicht weiter. Aber dann, wenn sie noch immer und trotz allem weiterleben würde, was dann?

*

Die Tochter, Enrichetta, die nun in fremdem Lande und in fernem Leben ein geborgenes Zuhause finden sollte, rief sie, als ob sie mit Sehnsucht auf den Augenblick gewartet hätte, daß die Mutter, nachdem sie den Kreuzweg ihrer letzten Liebe gegangen war, nun endlich auch der furchtbaren verzehrenden Leidenschaft zum Theater entsage. Konnte sie, die Einsame, die Kranke, trotz aller mütterlichen Zärtlichkeit und trotz der Liebe, die sie in ihrem einzigen Kinde fühlte, sich in dieses andersgeartete Leben mit seiner strengen geistigen Zucht und seiner tiefen scheuen Verschlossenheit, das in den Jahren ihrer Erniedrigung so sehr hatte um sie leiden müssen, eindrängen? Und sie gedachte dessen, was sie vom Leben der Tochter wußte Worte Matilde Seraos.: wie sie damals nach Dresden gerufen worden war und man ihr mitgeteilt hatte, daß das Kind nun auch von der Krankheit befallen sei, die sie selber seit ihrer Jugend unablässig begleitet hatte und an der ihre Mutter nach Jahren des Siechtums einsam im Spitalbette gestorben war. Und wie sie sie dann irr vor Schmerz, Angst und Selbstanklage nach Davos gebracht hatte und mit ihr Wochen und Wochen dageblieben war, da das Mädchen immer wieder fortgewollt und sie angefleht hatte: »Maman, Maman, emporte-moi, je veux mourir près de toi!«, und wie die geliebte Kranke dann in der Unrast des Fiebers auch den Davoser Friedhof gefunden und alle die Gräber gesehen hatte, in denen die hochaufgeschossenen ruhelosen Vierzehnjährigen, wie sie selber eine war, die frühe Ruhe gefunden hatten. Zwei Jahre war Enrichetta dann doch in Davos geblieben und war endlich, früh genug, geheilt den Zauberberg hinabgestiegen. »Zu hoch gewachsen, zu schlank, mit etwas gebeugten Schultern, mit ein wenig eingezogener Brust, doch geheilt: mit einem lieben, feinen Gesicht, mit lebendigen und sanften Augen, einer klaren, hellen Stimme; auserlesen für die Welt erzogen, drei fremde Sprachen, von deren einer sie in die andere hinüberglitt, Knickse, Lächeln, vollendeter Gruß, kaum oder gar kein Italienisch, kein Zeichen der italienischen Herkunft, nichts von der Mutter, der ›Italianissima‹, nichts von Eleonora Duse ... Und nach dem sechzehnten Jahre war Enrichetta dann eine von jenen zähen internationalen Nomadinnen geworden, wie man ihrer in den fernsten Ländern der Welt begegnet: erst mit einer Erzieherin, dann mit irgendwelchen Freundinnen und endlich allein, hatte sie in allen Ländern Europas, von Deutschland bis Holland, Dänemark bis England, von Österreich bis Belgien, gelebt und hatte an den bedeutendsten Universitäten studiert und die namhaftesten Hochschulen besucht und endlich sogar einige Zeit in einem englischen College verbracht, wo vom Frühling bis zum Herbst Rosenpflege gelehrt wurde ... Außer den kurzen Begegnungen fanden sich Mutter und Tochter jedes Jahr für einen ganzen Monat zusammen, den sie, als Unbekannte, in einer Hauptstadt oder an irgendeiner versteckten Stätte am Meere oder im Gebirge verlebten. Und sicherlich war das ein liebes Ausruhen für den Geist der Mutter, diese Zeit, die diese Mutter, welche von ferne wachte, schützte, betreute, an der Seite ihres einzigen Kindes verbrachte. Freilich, ihrer beider Geistesrichtungen waren tief verschieden, sie waren die beiden Seelen einer einzigartigen Wesenheit, gezeichnet von der Einzigartigkeit und doch so sehr, so sehr unähnlich. Ihr starkes Gefühl suchte angstvoll nach der Übereinstimmung, glaubte sie zu finden, und doch floh sie sie: sie waren Herzen, die ineinander aufgehen wollten, in einem Überströmen der Liebe, und die doch mit einem Male das Geheimnis fühlten, das sie voneinander schied. Jede von diesen beiden Frauen, die beide außergewöhnlich waren, hatte ihr eigenes Gesetz und konnte dieses nicht zum Schweigen bringen. Dann hatte sich qualvoller Unfrieden zwischen sie gedrängt. Das war in dem Augenblicke gewesen, in dem anläßlich der Veröffentlichung des ›Fuoco‹ von Gabriele d'Annunzio sich der dröhnende Lärm zweier Welten erhoben hatte. Enrichetta in ihrer scheuen Feinfühligkeit war davon bis ins Herz getroffen gewesen. Die grenzenloseste Erregung um ihrer Mutter willen hatte von ihr Besitz ergriffen, und sie fand keinen Frieden mehr. Sie las alle die bissigen und zynischen Zeitungen, die jeglichen Schleier vom intimen Leben ihrer Mutter fortzogen, und sie zerrissen ihr das Herz. Sie lebte damals in Berlin bei vertrauten Freunden. Eleonora Duse war benachrichtigt worden. Und sie mußte zu ihr: einzig ihre Gegenwart hätte ja der fassungslosen Verwirrung der Tochter Herr werden können. Sie fuhr zu ihr. Es war ein bitterer Tag, wie kaum einer, einer der bittersten Tage des Lebens. Es sind ihre eigenen Worte, mit denen sie mir davon erzählte. Sie trat vor ihre Tochter hin: das ist das Wort, sie trat vor ihre Richterin, die sie liebte und von der sie geliebt wurde und die sich in Qualen um sie verzehrte. Sie sagte ihr: ›Enrichetta, ich habe zwei Arme, um leben zu können, der eine von ihnen heißt Enrichetta, der andere heißt Gabriele d'Annunzio. Soll ich den einen abschneiden, ihn dem anderen aufopfern? Wenn ich ihn abschneide, sterbe ich ... Und ich kann nicht wählen, ich kann nur sterben ...‹ Und sie verstanden einander wie in einem Blitze, wie niemals sonst, sie umschlangen einander ganz, und sie weinten zusammen. Enrichetta bezwang und rang vielleicht ihre tödliche Traurigkeit nieder, mit der Macht ihres Willens. Eine lange Zeit hindurch haßte sie Gabriele d'Annunzio, eine lange Zeit hindurch floh sie ihn. Es war ein allzu natürliches töchterliches Gefühl, ein allzu natürlicher Tochterinstinkt. Dann tat die Zeit ihr Werk: die Tochter begegnete bleich und scheu dem Manne, den die Mutter so sehr geliebt und um den sie so sehr gelitten hatte. Nichts weiter, nichts anderes.«

Enrichetta hatte dann an der Berliner Universität einen englischen Studenten kennengelernt, gemeinsame Interessen hatten eine immer vertrautere Freundschaft geschaffen, und als dieser endlich, Professor in Cambridge geworden und einen bescheidenen Lebensunterhalt gesichert sehend, dem ernsten, rastlos lernenden und an sich arbeitenden Mädchen die Gefährtenschaft fürs Leben geboten hatte, hatte Enrichetta ihr Ja gesagt, und die Mutter, die den Bräutigam kannte, »betrachtete es als eine Gnade des Schicksals, die Tochter der hingebenden Hut dieses klugen, ehrenhaften, gütigen und feinfühligen Mannes anvertrauen zu können«.

Aber jetzt hatte ihr Kind so sehr ihr eigenes Leben, wie sie selber das ihrige gehabt hatte, als ihr Vater damals das Theater verlassen hatte und nach Venedig und zu seiner Malerei gegangen war. Ja, sie hatte ihn besucht, sie hatten aneinander von ferne gedacht –, aber in diesen Generationen, in denen alle zu einem, wirklichen Ich Strebenden sich in den bangsten Werdezeiten, da ihnen Hilfe am meisten not täte, so sehr aus allem Gestern verstoßen fühlen, in dieser Welt des Nichtmehr und des Nochnicht gibt es ja die selbstverständliche Verbundenheit der Aufeinanderfolgenden nicht mehr. Die Eltern sind um den Zeitpunkt, an dem sie erdesicher und seelenreif in sich ruhen sollten, noch in verwirrtem Suchen und vermögen dieses mit dem Suchen der herangewachsenen Kinder nicht zu vereinigen. Und so ist es, wenn sie vornehmer Art sind, das meiste, daß sie aus den mißglückten Versuchen des Dahin- und Dorthinziehens lernen, einander nach ihrem unvermeidlichen Müssen gelten zu lassen.

Das fühlte die Mutter stärker denn je um diese Zeit, da sie, aus ihrem Frauentum verstoßen, nun auch noch dem großen Tun ihres Lebens entsagend dieses »Was nun?« in sich immer entschiedener fragen hörte.

*

Wohin vor allem? Sie überblickte ihr Besitztum: den fürstlichen Reichtümern, die vertan waren, trauerte sie nicht nach. Sie hatte in den letzten Jahren doch noch so viel erwerben können, daß ein Leben nach ihren Bedürfnissen dadurch gesichert schien und ihr noch jenes ihr unerläßliche Mehr, von dem sie schenken konnte, blieb, wenngleich die Erträge ihrer Arbeit in diesen Marterjahren sich durch die Strafsummen, die sie willig bezahlt hatte, wenn ein jähes Zusammenbrechen ihr ein vereinbartes Gastspiel unmöglich gemacht hatte, beträchtlich verringert hatten. Den größten Teil ihres Vermögens übergab sie ihrem Berliner Freunde Robert von Mendelssohn zur Verwaltung, von dem ihr Verbleibenden erwarb sie in Florenz ein kleines Haus mit einem Gärtchen, schaffte ihre Habe dahin und richtete sich mit ihren vielen, vielen Büchern zur Rast ein. Ihre Augen besserten sich in sorgsamer Kur bald, und dann konnte sie wieder lesen. Und jedes Buch führte auf ein neues, und leise zitterte die alte Unrast wieder in ihr, wenn sie dachte, wie vieles sie nun lernen müsse. Zuweilen kam eine Freundin, ein Freund. Angelo Conti kam, wenn er in Florenz war, um ihr von seinen Ideen über bildende Kunst zu erzählen; er fand sie am Schreibtische, zusammengebückt, die wunderbaren Hände im grauen Haar, eine Brille über den großen, dunklen Augen, eine müde alte Frau. Aber dann blickte sie auf, sah ihn, und da sie aufstand, waren Müdigkeit und Alter fort, die große Anmut der Natur war in Gang und Bewegungen des edlen Körpers. Und im Gespräch glätteten sich die Falten aus den vielen Grauennächten auf ihrem Gesicht. Auch die anderen alten Freunde sah sie wieder, selten, denn sie mußte sich mit viel Alleinsein auf jede Begegnung mit Menschen vorbereiten. Sie las, las, dachte, bis dann doch immer wieder das Unbegreifliche mit brennender Scham in ihr aufbrach und ihre furchtbare Vertraute, die Qual, sie in ihre Harpyienfänge nahm. Da ihr Körper sich ein wenig zu erholen begann, wuchs auch ihrem inneren Leiden wieder die Kraft, bis es dann mächtig genug war, sie aus der Zuflucht der Bücher und ihres stillen Hauses fortzutreiben. Jäh brach sie dann auf, fuhr die Nächte durch, war ein paar Tage in Paris, in anderen großen Städten, ging allein durch die Straßen, sah in Tausende von Menschengesichtern, und allmählich wurde vor der Summe der Leiden, deren sie gewahr wurde, das Rasen in ihr stiller. Sie kehrte heim, floh wieder; ein böses Glimmen war jetzt in der Asche, unbekanntes, erddumpfes Pochen durchzitterte sie. Nichts band, nichts versprach ... Oh, noch nicht ausgebrannt? Sie barg sich wieder in den Eisenbahnzügen, sie tauchte in Geheimnis unter, verbarg ihr Leiden und dies böse Glimmen den Freunden, die nun für eine Weile nichts von ihr wußten als Gerüchte, als den Namen einer Frau, Isadora Duncan, die doch nicht Eleonoras Freundin sein konnte, wie es die wirklichen Freundinnen waren. Aber sie kam wieder, älter, stiller noch, aus neuer Leidenstiefe aufsteigend. Sie kam zu ihren Büchern und zu der Frage zurück, die in ihr gewachsen und gewachsen war, seit ihr die sinnverheißende Zuflucht des Theaters genommen war, diesem immer drängenderen: »Was nun?«

Sie hatte ein Leben in rastloser Arbeit, im Kampfe mit immer neuen Widerständen aller Art, ein Leben des Schaffens, der Leidenschaft, der höchsten Glorie und der tiefsten Demütigung gehabt – und hatte erleben müssen, daß das alles vorbeigegangen war und daß sie, erfüllt von all dem Vergangenen, dennoch dageblieben war. Sie war fünfzig Jahre alt und schon Legende. Zuweilen brachte ihr ein Freund Kritiken über neu heraufkommende Schauspielerinnen, die ihre alten Rollen spielten, und ihr Name wurde zu der neuen Leistung wie ein großer endgültiger Kanon genannt. Und sie war noch da, noch immer unterwegs, voll lebendigen Leidens und noch immer ohne Endgültigkeit. Denn das war wie ehedem in ihr: daß gewesene Leistung, überstandene Qual, erreichtes Ziel nichts hinterließen, was Stütze und Zuversicht hätte sein können, höchstens daß aus schaffendem Lieben und Geben die Angst geblieben war, dennoch nicht genug gegeben zu haben. Seit sie zur Besinnung ihrer Arbeit gekommen war, hatte sie eine Aufgabe gehabt, die ihr den Weg vorgezeichnet hatte, ein Tun und einen Traum von größerem Tun. Nun war Tun und Traum dahin, und sie war dageblieben und sollte weitergehen, und nichts wies ihr mehr den Weg. In ihrem alten Erdglauben war die Sicherheit gewesen, daß alles Lebendige seinen Sinn in sich selber trage, daß Leben Aufgabe und Erfüllung zugleich sei. Sie sah, was jetzt vor ihr liegen konnte, und wußte, daß das noch zu durchleben nicht Erfüllung noch Sinn sein könne. Und sie wußte auch, daß all ihr Lesen, so sehr es ihre Gedanken läuterte, ihr den Sinn, nach dem sie verlangte, nicht bringen könne, daß dieser, wenn es ihn überhaupt gäbe, aus ihr selber wachsen müsse. Und in den Stunden ihrer Unruhe, da ihr noch immer schlagendes Herz nach dem tiefen Sinnesworte begehrte, das den Gespenstern, den Vampiren des Vergangenen den Frieden geben sollte, wütete sie gegen sich selber, klagte sich der Trägheit, des Gewährenlassens an, und all ihr ungeheurer Wille, der nun kein Theater mehr von ihr zu erzwingen hatte, wandte sich gegen ihr eigenes Herz und forderte, rüttelte, schlug. Und sie wußte, wie sehr sie sich auch in sich hineinwühlte, nichts zur Antwort zu finden, als daß sie warten mußte, daß sie, die nie warten gekonnt hatte, nun warten müsse, bis das, dem sie auch noch keinen Namen zu geben wußte, aus ihr geschehe. Aber ihr Wille beschied sich nicht, und wie er früher an den Gebilden ihrer Kunst gearbeitet hatte, arbeitete er nun an ihr selber und gönnte ihr kein feierabendliches Gewährenlassen. Sie sei unduldsam, sagte es in ihr – und ihr Wille lauerte auf jede Regung der Unduldsamkeit und erwürgte sie. Sie sei eigensüchtig in ihrem Leiden und in ihrer Einsamkeit – und der Wille trieb sie zu den Menschen, zwang sie teilzunehmen, zu helfen bis an die letzte Grenze ihrer Kraft. Aber all diese wachsame Strenge und Zucht schienen dem Fragen doch nur eine Ausfüllung der Wartezeit. Das konnte nicht alles sein, es war, als ob sie ehedem nur mit Willen und mit Zucht Theater gespielt hätte und nicht auch dieses andere, der Traum, die Aufgabe und das Geheimnis, das Kunst heißt, darin gewesen wäre. Nun war die Kunst fort, und kein anderes tieferes Geheimnis war an ihre Stelle getreten, das all das durchleuchtet hätte.

Jahre gehen ihr so in diesem Warten, in Versenkung in sich selber, in Flüchtenwollen vor ihrer Strenge und in Rückkehr zu unerbittlicherer Forderung hin, Jahre der Überwindungen, der leidensreichen Siege und der unnachsichtlichen Prüfung aller Worte und Gedanken auf ihre Beständigkeit und Wahrheit. Vieles fällt von ihr ab, und viel Vergangengewesenes sammelt sich zu neuverstandener Ordnung. Wie Asche Gold und Silber von den trüben Schichten, die die Zeit darüber legt, zu reinigen vermag, mag unter ihren Lagen wohl auch das Allzuzeitliche sich zersetzen und darunter der gehaltvolle Dauerkern rein werden. Wenn sie nun forschte, tauchten fernher Gefühle als ruhige Wirklichkeit empor, kamen aus den brennenden Jahren Dinge hervor, die nichtig geschienen hatten und nun sich als unzerstörbar auf der Brandstätte fanden. Mancher alte Ernst war im Rauche aufgegangen, und anderes, was Spiel geschienen hatte, erwies nun, daß es Gleichnis gewesen war, in dem sich alther Dauerndes geborgen hatte. Mählich, mählich wurde durch Licht und Ruhm und Rauch und Schutt die zarte Brücke wieder sichtbar, auf der die Seele von der Kindheit her suchend über ungeheure Welt geschritten war bis in die Gegenwart der abendlichen Frau. Uralte Worte der Mutter, duftend von Kindheitstraurigkeit, Feierlichkeit der ersten Kommunion mit Kerzen und Weihrauch und erschütternd wie die Orgel der kleinen Kirche, in deren Klange die vergilbenden Hände der geliebten Betenden ein weniges gezittert hatten, waren voll Sonntag wieder da. Nie mehr gewagte Worte, schwer von reingebliebener Anfangsbedeutung, traten aus dem verbleichenden Reihen der allzuvielen Worte eines langen Lebens hervor und taten sich auf wie plumpe dörfliche Altarschreine, hinter denen ein großes Gnadenbild bewahrt ist. Und indem sie an diese Gnadenworte im schlichten Leidensalltage ihrer Mutter dachte, an das, was Rosenkranz, Ave Maria, Kreuz, heiliges Sakrament oder Andacht geheißen hatte und auch ganz und vollkommen das gewesen war, was die Namen in ihrer Tiefe voll Todesangst und Erlösungshoffen umschlossen hatten, wurden jene anderen um der Leidenschaft willen bedeutsam gewesenen Worte, in denen nichts als Glück und Qual des Verlangens nach dem einen Menschen ihr flüchtiges Blühen gehabt hatte, frevelhaft, wenn sie sich zu jenen anderen vermessen hatten – und der Wind des Abends trug sie fort wie taube Schoten. Und nicht aus Frömmigkeit, nur aus dem prüferischen Gewahrwerden dessen, daß es Frömmigkeit gegeben hatte und auch noch weiter geben mochte, geschah es ihr, daß sie sich schämte, wenn sie an den Namen ihres kleinen Hauses in Settignano und daran dachte, wie sie beide den demutseligen großen Verwirklicher San Francesco unter all die anderen eingereiht hatten, von denen tönende Worte und dazu das Bild irgendeines gierigen Lebens übriggeblieben waren. Noch wußte sie nicht, was Heiligung sei, aber sie sah nun das Erdenschicksal dieses Francesco d'Assisi, dessen Cantico al Sole sie dereinst mit ihrer Art von Inbrunst zuweilen Freunden vorgesagt hatte. Sie ahnte die ungeheuerliche genießerische Gier seiner Jugend, die Begierde nach tieferer Entzückung in seiner Abkehr, sein schmerzensreiches Unterwegssein und die immer tiefere Zärtlichkeit seines Lächelns, seine Inbrunst zu allem Lebendigen, sein Predigen und Bauen an einer Welt der Güte, an einer unendlichen Bruderschaft, die in der Gnade des Lebendürfens den Helden mit der kleinen Blume, den Büßer mit der sonnenseligen Eidechse, den Krüppel mit aller Herrlichkeit, auf die die Sonne schien und die gestirnte Nacht taute, die Kreatur mit Kreatur um des Daseins willen vereinte. Und sie, die in Sehnsucht und Leidenschaft nicht nachgelassen hatte, fühlend und gestaltend die Wege irdischen Verlangens und all seiner Tragik nachzugehen, verstand erschüttert die tiefe einsamste und wahrhaft übermenschliche Tragik dieses Lebens: wie der Alternde, Schwerkranke, nun von ungewollter irdischer Anerkennung beschwert, sich zur letzten seiner vielen Wanderungen aufmacht, an deren Ende er den Tod in der Heimat und unter den Brüdern erhofft, und wie bei jedem Nachlassen seiner Kräfte die Kleriker des unfreiwilligen Rastortes ihn umringen, ihn festhalten wollen bis zum Tode, um sich seinen gnadevollen Leichnam zu sichern. Wie er sich losreißt, sich weiterschleppt, um zu den Gefährten und zu gütigem Tode heimzukehren – und wie er in letzter Ermattung anlangend auch noch die Vergänglichkeit all seines Tuns erfahren muß, da er seinen demütigen Orden zu Macht und Prunk sich reckend sieht und der Bruder Elias nichts mehr von der leidenden und streitenden und nur mehr von der schon auf Erden triumphierenden Kirche weiß. Und wie er doch kein Wort der Klage oder Anklage ausspricht und sich auch noch mit seinem Sterbelächeln in das zu finden weiß, mit einem so furchtbar heiteren Lächeln, als ob er auch schon zu allem diesen die letzte gräßliche Komödie vom Verbergen seines Leichnams mit wüßte.

In Büchern gelesene Worte wie das: Bekennertum, waren nun, da so viele groß und süß und feierlich gewesene Worte in nichts vergingen, voll einer Bedeutung, an die sie alle noch geltenden Bedeutungen ihres Wartens und Suchens heranbringen mußte und in denen sie andere menschliche Größe, als sie bisher ersehnt und verstanden hatte, findbar ahnte. Und mit alledem war nun wieder Geschehen in ihrem Leben und wachsende Unruhe nach neuem größeren Geschehen, das sich anzukündigen schien. Fremde, wehvoll beglückende Inbrunst trieb sie, allen Armen und Leidenden zu geben und zu helfen, und Müssen schien wieder an Stelle des Willens ihr Tun führen zu wollen. Kam nun das zu ihr, was ihrer Mutter die heitere Kraft in Leiden und Sterben gegeben hatte, was ihre eigene Kindheit erfüllt hatte, was über die Tochter, das verstandessichere Weltkind, gekommen war? Zu ihr, die davon nichts mehr gewußt hatte, seit sie dem Dienste ihres Schaffens, ihren Träumen und ihrer Leidenschaft hörig geworden war? Zu ihr, die der von großer Bangnis erfüllten Achtzehnjährigen auf ihre Frage: »Maman, maman, qu'est-ce que je dois croire? Je veux croire ce que tu crois ...« So erzählt Matilde Serao. geantwortet hatte: »Meine Liebe, der Glaube an einen Gott, das, was Religion heißt, ist ein Bedürfnis des Geistes ... viele fühlen es, viele fühlen es nicht ... ich habe niemals dieses Bedürfnis empfunden: aber da du diese Notwendigkeit in dir fühlst, such' dir eine Religion ...« Sollte ihr, die über den »Köhlerglauben« ihrer Freundin Gemma Ferruggia und die spät erwachte Religiosität ihrer Lebensfreundin Matilde Serao gelächelt hatte, ihr, dem Kinde dieser Zeit, der Glauben Pfaffentum und Obskurantismus geheißen hatte, nun das widerfahren, daß sie im Menschengeiste, der ihr Glaube und ihre Zuversicht gewesen war, noch diese letzte tiefste Kraft entdecken dürfe?

Sie wußte jetzt, daß all ihr Dienen und ihr Suchen um die Wahrheit gegangen war, daß ihr Niezufriedensein, ihr unstillbares Verlangen danach, ihr Tun besser zu tun, ihre Liebe tiefer zu lieben und ihr Leiden noch mehr und mehr zu leiden, nach diesem Einssein, diesem Aufgehen des Ich in der Schöpfung, im Erlebnisse, im Gefühle verlangt hatte, als welches sich damals die Wahrheit ihr dargestellt hatte. Und nachher schien ihr Wahrsein zu heißen, daß man klar und scharf denken müsse, daß man nichts Verschwommenes, nichts Halbes in sich dulden dürfe und daß man allen Dingen des Daseins unerbittlich die Namen geben müsse, die ihnen nach aller Prüfung zukämen. So hatte sie es dann in all den Leidensjahren mit sich gehalten, unablässig an sich arbeitend, streng gegen sich selber, immer gütiger gegen die Menschen – aber jenes, was sie den Sinn genannt hatte und was sie jetzt wieder mit dem alten Namen Wahrheit bezeichnen wollte, war nicht darin gewesen: dieses Aufgehen des Tuenden in seiner Tat, des Gedachten im Lebendigen. Und nun wollte ihr geschehen, was alle Zucht und aller Wille nicht erreicht hatten, so einfach geschehen, wie ehedem das in ihr hervorgetreten war, aus dem sie Theater gespielt hatte. Lange wagte sie den Namen nicht zu denken, der so oft von ihrem Theaterspielen gesagt worden war und den sie jetzt in seinem einfachsten und gewaltigsten Sinn erfassen sollte: die Gnade.

Ein Fordern nach einer menschengemäßen Weltvernunft hatte ihr lange noch verwehrt, das als wirklich zu begreifen, daß außer der Gnade alle Wahrheit hinfällig sei. Die Auserwählte des Genius und des großen Schicksals hatte ihren Stolz darein setzen wollen, aus ihren Kräften und mit ihrem Wollen arbeitend und irdisch strebend zu einem Menschenziele zu gelangen. Aber da alle Fernen der Erde durchschritten waren und die aus der tiefsten Nacht der Verzweiflung Aufsteigende ihrem ihr dennoch gebliebenen strebenden Bemühen kein Ziel mehr fand, das groß genug gewesen wäre, war auch dieser letzte Menschenhochmut des Geschaffen- und Gelittenhabens von ihr abgefallen, und so hatte sie unvermerkt die Schwelle überschritten und die andere Erde betreten. Und da sie in die Dämmerung hinausschritt, die nun wie Abend- und Morgendämmerung zugleich war, hatte sich ein schweigender Führer zu ihr gesellt, der sanfte abendliche Bruder dessen, der an der Schwelle des Menschheitsmorgens mit dem flammenden Schwerte gestanden hat.

Dem, dem es gesetzt ist zu dienen und zu wandern, kommt endlich auch noch die Gnade aus Dienst und Wanderschaft. Und so war Eleonora Duse, die hatte ruhen wollen, dennoch unterwegs, aber jetzt sah sie die Wegkreuze, an denen sie wie die Mutter und wie die Frauen aus ihrem Volke sich bekreuzigen konnte und kurze stärkende Rast halten durfte. Und sie sah die kleinen stillen Kirchen, in die sie eintreten durfte, noch nicht um zu beten, nur um in ihr verwandeltes Herz hineinzulauschen.

Einer, dem geschehen war, was ihr nun geschah, der Dichter Paul Claudel, hatte ihr, da er die tiefe Ratlosigkeit in ihrer Traurigkeit gefühlt hatte, gesagt: »Beten Sie!« Und sie hatte erwidert: »Man muß sehr tief glauben, um mir so einfach ›Beten Sie!‹ zu sagen.« Sie verstand auch jetzt noch nicht zu beten. Sie wußte nur, daß es etwas sehr Großes sein müsse, recht beten zu können. Aber dieses rechte Können mußte auch erworben werden. Wie hätte sie, die allen Dingen ihres Lebens gegenüber so leidenschaftlich rechtlich gewesen war, die nichts halb oder schlecht hatte tun können, es wagen können, dieses Gewaltige zu unternehmen, ehe sie es durfte, weil sie es mußte? Sie wagte ja noch nicht einmal, den Namen Gottes zu denken oder ihn in den Redensarten, deren sich auch die Ungläubigen bedienen, auszusprechen. Es war noch ein langer Weg vor ihr. Aber wenn die alte Ungeduld sich regte, gab es nun hohe mahnende Stimmen, die sie beschwichtigten.

Eine große Freundin war ihr erstanden: die Färberstochter Caterina Benincasa aus Siena, die Heilige aus mächtiger, eifervoller, rastlos tätiger Liebe. Sie liest ihre Briefe und ist gestärkt. »Sie liest von neuem die Evangelien, ›in denen alles enthalten ist‹. Mächtiger als bisher vernimmt sie darin das Brausen der unsichtbaren Welt. Sie war gewohnt, ›nicht auf das geschriebene Wort zu achten, sondern auf das, was dahinter liegt‹, und so offenbart ihr nun die Heilige Schrift den eigentlichen Sinn und Wert aller Erfahrung ... Sie liest Augustinus ... die Konfessionen packen sie bis ins Innerste. ›Unser Herz ist unruhig, bis es ruht in Dir‹ ... Da verstand sie das Wort der heiligen Therese: ›Ich liebe den heiligen Augustinus vornehmlich, ... weil er ein Sünder gewesen ist. In der Tat habe ich immer einen ganz eigenen Trost bei den Heiligen gefunden, die Gott aus der Sünde emporgezogen hat. Es war, als könnten sie mir helfen: wenn Gott ihnen vergeben hatte, konnte er auch mir vergeben‹ ...« Aus dem Buche von Edouard Schneider (siehe Bibliographie). Auf dieses Buch seien alle diejenigen, die den letzten Lebensabschnitt Eleonora Duses genauer kennenlernen wollen, ganz besonders hingewiesen. Schneider ist nicht frei von Einseitigkeiten, aber er war in den letzten Jahren der Vertraute und Freund der Duse, und er besitzt zudem die Gabe einer innigen und schönen Darstellung alles dessen, was er selbst mit Eleonora Duse erlebt hat.

Sie hatte den Tod nie gefürchtet; jetzt erst, da ihr die Größe ihrer letzten Aufgabe bewußt wurde, erfüllte sie oft und oft die furchtbare Angst, der Tod könne zu früh kommen, ehe sie erfüllt hätte, was der tiefste Sinn ihres Lebens sein sollte.

Aber noch fielen die Schatten des Todes, in denen sie ging, von fern her auf ihren Weg, und die Gnade, die sie auf diesen Weg gerufen und sie zu solcher höchsten Prüfung erwählt hatte, gab ihr auch die Kraft, sie bis zum Letzten zu bestehen. Ihr ahnte, daß ihre läuternde Einsamkeit voll Betrachtung und Versenkung in die strenge Güte der göttlichen Geheimnisse, denen sie sich nun hingab wie ehedem den Landschaften und dem Meere, noch nicht das Ganze dieses neuen Geheißes sein könnte. Sie hatte ihr Leben lang jeden Gewinn ihrer Seele den Menschen hingeben müssen – würde sie nun, wenn dieses Große sie ganz durchdrungen hatte, nicht wieder aus der Zelle hinaus müssen, zu den Menschen? Nicht mehr als Schauspielerin, sondern zu irgendeinem Dienste, den sie noch tun könnte? Jede Stimme, die um Hilfe rief, schien ihr zu gelten – ein Brennen ungeheuren Mitleids wuchs in ihr und erfüllte die alten Glutstätten. Und wenn sie aus den Stunden ihrer Andacht getröstet wiederkehrend von neuem der Leidenswelt aller Kreatur gewahr wurde, erfüllte eine so sehnsüchtige Liebe ihr ganzes Herz, daß darob alle Unrast von ehedem sie aufrüttelte und ein letztes Liebesopfer von ihr forderte.

Jahre waren hingegangen; sie hatte mit allem, was fordernd sich aus der Vergangenheit her reckte, immer wieder Zwiesprache gehalten, bis auch nicht die verborgenste Anklage mehr daraus redete und bis sie auf sich genommen hatte, was an Schuld in dem Gelebten gewesen sein konnte. Und sie hatte in schonungslosem Wissen, im Immerwiederemporrufen aller Qualen, in jeder harten hellen Schmerzenswirklichkeit so lange Sühne gesucht, bis sie zur Schuld auch noch gelernt hatte, daß diese wieder nur durch die Gnade, die nun Vergebung hieß, entsühnt werden könne. Und da sie ihr Leben lang keine säumige Schuldnerin gewesen war und das Verbum Schulden stets im Sinne ihrer Sprache, in dem es gleichbedeutend mit Müssen ist, verstanden hatte, war sie auch diese Zeit immer begieriger gewesen, die verbleibende Schuld ihres Seins zu tilgen – doch Vergebung kann kein Wille erzwingen, und so hatte sie als Gottesschuldnerin endlich sogar wagen müssen, was sie in ihrer sinnheischenden Andacht noch nicht gewagt hatte: sie hatte bitten müssen, und wenn ein stolzes und leidenschaftliches Herz bitten lernt, hat es eine Inbrunst der Demut, wie sie die zehn Gerechten, die eine lange Übung im Bitten haben, niemals erreichen. Nun brannte oft, ja immer eine kleine Kerze vor dem Madonnenbilde, und die Hohe, Stolze, die Gekrönte des Ruhmes und des Leidens, die vordem oft wortlos und nur weltabgewandt davor gestanden war, kniete nun immer öfter nieder und sagte die einfachen und ungeheuren Worte, die, wenn sie recht gesagt sind, das Hier mit dem Dort zu verbinden vermögen und die, wenn sie »aus ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit allen Kräften« gesagt sind, den Balsam des Heils und der Vergebung aus ihrem Aufstiege zurückbringen in die flehende Seele, die endlich im Gebete erlernt hatte, mit dem heiligen Namen in den ihr noch verhängten Wettern der Erde den Bogen des Bundes aufzurufen.

*

Seit sie diese Religio, diese Verbindung, die zu erreichen die Aufgabe der Jahre ihres Sichselberbedrängens, ihres Forschens und ihres Sichversenkens gewesen war, gefunden hatte, hielt es sie nicht mehr in der nur dem Ichschicksale dienenden Abgeschlossenheit. Sie mußte zu den Menschen zurück, nicht nur zu den Freunden, den immer wenigeren, die sich in diesen Jahren ihre Nähe zu behaupten verstanden hatten, nein, zu den Menschen überhaupt, der Menschheit, soweit sie sie zu erfassen und ihr zu dienen vermögen würde. Sie war in Rom, in ihrem Hause, das sie sich hier begründet hatte, als Florenz aufgebraucht geschienen hatte: es war eine sonnenhelle, kleine Villa, in die durch die vielen Gärten der Nachbarschaft mit ihrem Dufte von Eukalyptus und Pinien Luft der Campagna wehte, eines von den Häusern, in denen die große Stadt sich in den nachbarlichen ländlichen Siedlungen verliert, außerhalb der Porta Pia, in der Via Nomentana, die zwischen Parks und altvornehmen Villen der römischen großen Herren und neuen schüchternen Gärten gegen Sant' Agnese und den Monte Sacro führt. Daß sie im Einzelnen gab und diente und ihre Kräfte wie ihr Besitztum bedenkenlos hingab, war nicht genug. Sie verlangte danach, wenigstens einer ganzen Art von Menschen, deren Bedürfnisse und Leiden sie kannte, zu dienen. In diesen Jahren, in denen ihre ganze Vergangenheit vor ihrem prüfenden Gewissen wieder und wieder vorbeigezogen war, hatte sie sich jener Zeiten ihres Lebens besonnen, in denen sie eine arme unbekannte kleine Schauspielerin gewesen war, voll von Sehnsucht nach Lernen, nach Wissen, nach Nahrung der Seele und des Verstandes, die ihrem Schaffen dienen und ihren Träumen edlere Speise hätte reichen sollen, als das Theater selber mit seiner beruflichen Enge und seiner kleinmenschlichen Entstellung der Welt zu geben vermochte. Jetzt war sie wieder zuweilen im Theater gewesen, junge Schauspielerinnen waren zu ihr gekommen, wie man zu einem Gnadenbild wallfahrtet –, und sie fühlte das Leben dieser Mädchen und jungen Frauen, die zwischen Schwärmerei, Gestaltungssehnsucht ihres dunklen Frauentums und den anderen weiblichen Begierden schwankend keinen Halt außer dem Theater und der Liebe haben. Und sie sehnte sich danach, allen diesen im Schicksale ihres Berufes und ihrer Weiblichkeit Flackernden ein Zuhause zu schaffen, in dem sie nicht Schauspielerinnen noch bedrängte Frauen, sondern einfach Ausruhende oder vom höchsten Menschengeiste geführte lernende Menschen wären. Sie wußte, daß es für all die noch nicht an der Zeit wäre, ihnen mitzuteilen, was sie jetzt so groß erfüllte: sie sollten erst überhaupt aus Zeitvergeudung, Verspieltheit, unwissender Sehnsucht oder zufälligen geistigen Abhängigkeiten auf einen Weg gebracht werden, auf dem sie denken und die Begierde nach Erkennen lernten, die sie aus Geschöpfen ihrer Träume und Begierden und aus Werkzeugen der Direktoren und Autoren zu Trägerinnen des gottgewollten Planes machte, in dem jedes Erdenschicksal das Schicksal Gottes in der Menschenwelt ist. Da sie die armen getriebenen Kreaturen sah, schwebte ihr etwas vor, wie es die Legende des auserwählten Volkes im gehetzten Elend der Diaspora ausspricht: daß Gott selber sündig geworden sei, da seine beseelten Geschöpfe ihre Sünde begangen hatten, und daß im Augenblicke der Gottessünde die goldene Glorie, in der er von Ewigkeit her geborgen gethront hatte, zerrissen und in das unendliche All hinausgeschleudert worden sei. Und daß es Gottes Sühne sei, nur allmählich im Laufe der Erdendauer seine strahlende Herrlichkeit wieder einzusammeln, indem, sooft eine neue Menschenseele sich bilde, ein Funken seiner verstreuten Glorie darein falle – und daß es mit zum göttlichen Dienste jeder Seele gehöre, diesen Funken zu wahren und ihn dereinst rein leuchtend zu Gott zurückzubringen, auf daß, wenn die Tage der Menschen zu Ende wären, Gottes ganze Glorie wieder heimgebracht ihn umgebe und er in seiner eigenen Gnade ruhend des Richteramtes ledig sei.

So meinte sie, mithelfen zu können, den Funken in den leicht verführbaren und gefährdeten Seelen zu bewahren, indem sie ihnen alle die Nahrung zuführte, nach der ihr selber, da sie gewesen war, wie diese nun schienen, so sehr verlangt hatte.

Die Freunde rieten davon ab, als sie von dem geplanten Unternehmen erzählte. Sie ließ sich nicht beirren. Ihre Villa in der Via Nomentana wurde nach ihren Angaben und unter ihrer Überwachung zu dieser »Casa delle Attrice«, dem Heim der Schauspielerinnen, umgestaltet. Zwar hatte sie das Versprechen der Königin und mehrerer Damen der römischen Aristokratie, daß ihr Versuch Förderung finden würde. Aber die ersten beträchtlichen Mittel gab sie aus Eigenem dazu her, und sie sparte nicht, damit nur alles auf das beste vorbereitet werde. Die Räume sollten so sein, daß jede, die hierherkam, sich zu Hause fühlte, daß sie in der freundlichen Helle die vielen armseligen Chambres garnies, durch die der Weg der jungen Schauspielerinnen hindurchführt, vergäßen und hier ein gutes Gespräch, Zeitungen und Zeitschriften und endlich all die Bücher, von denen sie vielleicht gar nicht wußten oder die sie doch nicht erwerben konnten, die schönen, die tröstlichen, die führerlichen Bücher, für sich bereit fänden.

Literaten und Leute aus der Gesellschaft priesen dieses Unternehmen als eine »Tat«, die Schauspielerinnen selber jedoch waren scheu, mißtrauisch, ja manche äußerten, es wäre besser, wenn man ihnen die Möglichkeit schüfe, sich die Kleider, die sie brauchten, zu beschaffen, als ihnen Bücher zu bieten, die sie nicht brauchten. Eleonora Duse aber sagte voll Zuversicht, daß es ihr doch gelingen werde, die Scheuen zu locken und die Mißtrauischen zu überzeugen, und daß die alle hier endlich lernen würden, ihre Muße sinnvoll zu verbringen, womit ein wichtiger Anfang gemacht sei.

Dann drängte sich, was Rang und Namen hatte, zu der Eröffnung dieses »Hauses der Schauspielerinnen«, und die meisten kamen wohl mehr darum, die verschollen gewesene Große zu sehen, als um ihres Werkes tätiger Menschenliebe willen. Das war im Mai des Jahres 1914. Als dann ein paar Monate später jenes grausige Beben der ganzen Menschenwelt anhob, begann auch dieser kleine Bau schnell zu bröckeln – und wie sehr sich auch seine Baumeisterin dagegen stemmte, ihr Unternehmen, das gerade jetzt so sinnvoll hätte werden können, war vergessen und verfiel. Und so hatte sie in dem Furchtbaren, das jetzt über sie hereinbrach, nicht einmal die Zuflucht, für diese heimatlosen Frauenwesen sorgen zu dürfen.

War nicht schon Leiden genug auf Erden gewesen, hatten die Menschen auf ihrem von den Elementen umdrohten Wege zum Tode einander in der Fülle ihrer Verblendung durch Leidenschaften, in ihrer Selbstsucht, Torheit und Bosheit nicht genug weh getan? Hatte auch das noch kommen müssen, das die letzten Bollwerke, mit denen ordnende Vernunft den Menschen gegen den Menschen schützte, einriß? Es war eine furchtbare Prüfung für ihren noch so jungen Glauben an die göttliche Liebe, dieses Begreifenlernen, daß der Allliebende seinem Geschöpfe ja als die größte und schwerst zu tragende seiner Gaben die Freiheit, zu wollen und sich zu entscheiden, auf seinen Erdenweg mitgegeben hatte. Und oft mußte ihre Erkenntnis ihr liebendes und gequältes Herz beschwichtigen, daß es den Schöpfer nicht anklage um des Hasses und der Raserei in seinen Geschöpfen willen.

Und dann ergriff der todsäende Wahnsinn auch ihr eigenes Land. Ja, sie liebte Italien mit all ihrem Irdischen, sie wünschte ihm den Sieg und die Größe, sie fieberte und litt mit seiner schönen Jugend, die nun aufgebrochen war zu dem blutigen Feste, das der, den sie geliebt hatte, so sehr herbeigesehnt hatte. Sie bangte um die entflammten Jünglinge, die Kinder der Freunde, die sie aufwachsen gesehen und zu anderem Glühen bestimmt geglaubt hatte. Sie sah die Mütter, die Frauen, die Geliebten in allen Bahnhöfen mit den flehenden, nichtverstehenden Augen und ihr Verfallen, wenn die Züge dann die jungen wie die gereiften Männer davongetragen hatten, dorthin, wo geschäftig der Tod bereitet wurde. Aber sie mußte denken, daß das nun auch unter den anderen Menschen, die jetzt Feinde hießen, so sei, daß die, die sie jetzt hassen sollte, litten wie die Ihrigen. Sie war ja eine Frau, und sie glaubte an die Liebe – so konnte sie die Ihrigen nur aus ihrer Liebe und ihrem Mitleiden segnen und sich bemühen, an die anderen nicht zu denken.

Sie half, wirkte, gab, soviel sie es mit ihren durch den Krieg sich vermindernden Mitteln vermochte. Sie irrte umher, hatte da eine Wohnung, dort eine, doch nirgends einen Ruheplatz, bangte vor den Städten mit ihren Gerüchten und dem Weitergehen des »Lebens«, als ob nicht jede Stunde Züge voll zerrissener Leiber in ihre Bahnhöfe einführen und als ob nicht in tausend Häusern beraubte, verzweifelte Herzen furchtbar vernehmlich Qual und Anklage pochten. Sie sah, wie Hunderttausende den Krieg in ihr Leben einzubeziehen begannen, wie sie sich das Entsetzliche zur Phrase umlogen, mit der es sich endlich bequemlich und sogar gewinnbringend leben ließ; die Phrasenworte stierten sie mit gräßlichen Grimassen an –, und sie floh. Wäre sie ein Mann gewesen, sie wäre hinausgegangen, nicht um zu töten, sondern um teilzuhaben an Leiden und Sterben. Aber sie war eine kranke Frau, die sich oft nur mehr mit aller Mühe aufrecht hielt. Was konnte sie tun? Sie wollte wahrhaftig ihr bißchen Kraft nicht schonen, sie brannte danach, mitzuleben und mitzuleiden bis in alle Tiefe, was nun über die Menschheit verhängt war, aber wie konnte sie sinnvoll hingeben, was ihr noch an Leben und Habe geblieben war? Sie begehrte danach, dem großen Schauplatze der Menschenmarterung näher zu sein. Da bot sich ihr ein Asyl in dem Lande ihrer Liebe, in Venetien, an dessen Grenzen nun der Tod sein aus aller bösen Wissenschaft des Menschen gezeugtes Handwerkszeug erprobte.

In dem uralten Städtchen Asolo, das nahe von Treviso in den Ausläufern der Alpen liegt, war sie Jahre zuvor zum ersten Male gewesen. Sie hatte eine Freundin hier, die ihr die Erinnerung an diesen Ort, der sie entzückt hatte, lebendig erhielt –, und nun kehrte sie wieder in diese Stadt mit den engen, steilen Gassen und den jähen Ausblicken auf die Ebene Venetiens und das Bergland, aus dem Kuppen emporragen, deren Name dem italienischen Herzen nun immer erschütternderen Klang gewann. Einem Frager, warum sie gerade hier Zuflucht suchte, hatte sie geantwortet Zu Marco Praga: »Weil Asolo schön still ist, ein Städtchen voll Mauerzinnen und Poesie, weil es nicht weit von Venedig ist, das ich liebe, weil hier gute Freunde wohnen, die ich gern habe, und weil es zwischen dem Monte Grappa und dem Montello liegt ... das soll die Zuflucht meines letzten Alters sein, und hier möchte ich begraben sein. Erinnern Sie sich dessen, und wenn es soweit ist, sagen Sie es ...«

Noch hatte sie ihr Haus in Asolo nicht, die letzte Heimat ihres Lebens; noch war die kleine Stadt, die nun das Surren der Flugzeuge, das häufige Aufdonnern der Bomben und das unablässige Dröhnen der Kanonen aus seinem Traum in Landschaft verwachsener Geschichte aufrüttelten, erst mehr Heimat in der Sehnsucht als im Bleiben, erst noch der Ort, nach dem sie die heimwehvollen Briefe schrieb, wenn ihr Verlangen nach Helfenkönnen sie immer wieder forttrieb. Sie ging in die Spitäler nahe der Front und redete mit den Wunden und Siechen, mit den schlichtesten Worten, wie ihre Mutter sie hätte sagen können, aber aller Leidensglanz ihrer Liebe erfüllte diese Worte mit solcher Macht, daß die Gesichter der eben aus dem großen Grauen Zurückgekehrten sich glätteten und verkrampfte Hände sich lösten und nach der elfenbeinernen Hand suchten, die über ihre Stirn gestrichen hatte.

Dann wurde das »Fronttheater« geschaffen, und eine Weile meinte sie, hier hätte die Kunst, der sie so viel von ihrem Glauben und ihrem Leben gegeben hatte, eine neue seelentiefere Aufgabe: die Verstörten mit der Mahnung an die Ewigkeit des Menschen zu trösten, die aus dem Grauen des Tötens und Sterbens Wiederkehrenden durch die edelsten Abbilder hohen Tuns und Duldens der Menschenseele von neuem dem Leben zu verbinden. Aber dann sah sie, was und wie gespielt wurde, und etwas wie schauerlichen Hohn in den Gesichtern derer, die aus der Hölle kamen oder in sie zurückkehren sollten – und sie verstand, daß es die Schauspielkunst, die hier so heiliges Amt zu verrichten hätte, nicht gäbe, daß diese Männer und Frauen da weiter Theater spielten, so gut sie es eben verstanden, anstatt aus der letzten Tiefe ihrer Seelen trostreich lebendige Traurigkeit und Heiterkeit des erdewigen Menschendaseins hervorzuholen; und sie gab die Hoffnung auf diesen Versuch, der doch vor allem eine Vergnügungsstätte für die wurde, die sich klüglich der Gefahr zu entziehen wußten, auf. In einer dieser Vorstellungen des Fronttheaters widerfuhr ihr etwas, was sie wie eine Mahnung empfinden mußte. Sie erzählte davon Diese Begebenheit hat Eleonora Duse Silvio d'Amico, einem der bedeutendsten Theaterkritiker des jetzigen Italiens, erzählt.: »Als in ›Romanticismo‹ Alfredo de Sanctis ... den Schwur Mazzinis sprach, begleitete ein Soldat in meiner Nähe ihn mit gemeinen Worten. Ich konnte nicht umhin, ihn anzuschauen; er blickte mich an, verstand und sagte mir in seinem Mailänder Dialekte:

›Sie fahren morgen nach Mailand zurück, nicht wahr?‹

Ich versuchte sogleich, den Satz in einem anderen Sinne zu verstehen, indem ich antwortete: ›Wenn Sie mir vielleicht irgendeinen Auftrag für Ihre Familie zu geben haben?‹

Es war nicht wahr, daß ich abreisen wollte; ich sollte vielmehr noch etliche Tage in Udine bleiben. Der Soldat sah mich mißtrauisch an und sagte: ›Es wäre unnötig, in drei Tagen gehe ich in den Schützengraben zurück.‹ Ich antwortete ihm: ›Ich verpflichte mich, innerhalb von drei Tagen zu Ihnen zurückzukommen.‹ Da schrieb er dann, noch immer voll des äußersten Mißtrauens, ein Billett und setzte die Adresse seiner Mutter darauf, der es zu überbringen wäre, dann verließ er mich, kühl und abweisend. Ich nahm den nächsten Zug, fuhr nach Mailand, suchte das Haus, fand es ... ich sah die Mutter und übermittelte meinen Auftrag. Tags darauf kehrte ich nach Udine zurück, und es gelang mir, den Soldaten wiederzusehen. Ich berichtete ihm von der Aufnahme, die ich bei ihm zu Hause gefunden hatte, ich übermittelte ihm, was seine Mutter mir für ihn gesagt hatte. Anfangs sah er aus, als ob er mir nicht glaube. Kühl fragte er mich, um sich zu vergewissern: ›Wie war meine Mutter? Wie war sie angezogen? Wie hatte die Wohnung ausgesehen?‹

Erst als ich ihm alles beschrieb, wie ich es gesehen hatte, ergab er sich, war bewegt und sprach endlich wie ein Freund zu mir. Ich nahm Abschied von ihm, und ich habe ihn nicht wiedergesehen. Ich habe seiner Familie bescheidene Unterstützungen zukommen lassen. Ein paar Wochen nachher kam Caporetto So nennen die Italiener den Ort, an dem ihre Armee ihre furchtbarste Niederlage erlitten hatte, Karfreit., und ich habe nie wieder von ihm gehört.«

Furchtbares durchlebte sie in diesen Jahren voll von Sterbestunden, da die Wirklichkeit des Krieges Tag und Nacht an ihr Herz schlug und die Grauenbilder ohne Unterlaß um sie aufstanden und gegen den Menschen Zeugnis ablegen wollten: alle die Elendsten unter den Hingegangenen, die zerrissenen Klumpen von Leibern, Erfrorene, Ertrunkene vom Grunde der Meere, der Zunder von Skeletten, die die Flammenwerfer verkohlten, die mit den blutigen Augenhöhlen und die wie Metall gebogenen Leiber der vom Tetanus Erwürgten kamen fordernd und anklagend, und sie hatte ihnen nichts entgegenzuhalten als ihr liebendes und leidendes Herz und ihren Glauben an Gott, der endlich auch noch diesem einen Sinn würde geben müssen. Sie ging in Udine hinter dem Sarge eines getöteten Fliegers her, den sie nicht gekannt hatte, und in ihrer wortlosen Klage um dies zerstörte Leben war sie die vereinsamte Mutter, die sinnlos gewordene Liebende aller der Hingemordeten. Sie fuhr durch die Landschaften Italiens, und wenn dann in den Stationen die vielen Züge voll singender Soldaten, voll Pferden und Kanonen kamen, senkte sich ein grausiger Schleier über das silberne Grün der Felder, die Weinhügel und die Ölbaumgärten, und sie sah nur noch die schöne Erde verstört von den tiefen Furchen, den Gräben und den Trichtern, die zerbrochenen Wälder, die Wiesen ohne Halm, die Grabdörfer und die Trümmer edler Städte, darüber Qualm hing und stickige Gase sich mit den Schwaden der Verwesung mengten. Und sie floh, als sei sie um aller ungeliebten Liebe zum Menschen und um aller ungetanen Güte am Menschen willen mitschuldig. Sie kehrte in ihr Asolo zurück, suchte Ruhe für den gequälten Körper, Friede des Gebetes. Aber das tödliche Dröhnen rüttelte sie immer wieder auf. Da floh sie auch diese Zuflucht, suchte die Freunde, kam in die Städte, in denen sie wohnten, und ihre gespannten Nerven erbebten, sooft ein Einzelleiden an ihren Kreis rührte. Und sie half, half.

Eine Freundin der letzten Jahre Olga Resnevic, die seit vielen Jahren in Italien lebende russische Ärztin, deren im Nachwort zu diesem Buche noch Erwähnung getan wird. erzählt: »Eines Tages kam ein junger Alpini-Offizier zu mir, von dem ich wußte, daß er sich auf Erholungsurlaub in Rom befinde, und den wir ein paar Tage früher im Hause gemeinsamer Freunde kennengelernt hatten. Der junge Mensch war bleich und sah verstört aus, er brachte einen Brief von Eleonora Duse. ›Lassen Sie ihn nicht einen Augenblick allein,‹ schrieb sie mir, ›sein Leben ist in diesem Augenblicke wie ein fahrender Zug ohne Bremse: ein Nichts kann ihn retten oder in den Abgrund stürzen ... Hören Sie ihn an, helfen Sie ihm, wenn Sie es können, und kommen Sie später mit ihm zu mir.‹

Der junge Mensch erzählte mir, daß er den Befehl erhalten habe, binnen vierundzwanzig Stunden an die Front zurückzukehren, daß dieser Befehl ihm als eine Bestrafung erschienen sei, weil er ihm nicht einmal die Zeit ließ, sich von seinen Freunden zu verabschieden, und wie diese Idee einer Bestrafung ihn verstört habe; denn er sei ein Kriegsfreiwilliger bei den Alpini und habe eine schwere Verwundung am Ohre gehabt ... Er hatte zwei Tage vorher im Zustande der Verstörtheit das Spital verlassen und war nicht abgefahren, und als er aus seiner Sinnesverwirrung erwachte, erkannte er das schwere Vergehen, das er begangen hatte, und ahnte die möglichen Folgen ... Da hatte er sich erinnert, daß er ein paar Tage zuvor Eleonora Duse begegnet war, und es hatte ihm geschienen, daß einzig sie imstande sein könne, ihn zu begreifen, und er hatte sich an sie gewandt.

Er hatte sie fiebernd im Bette gefunden. Nachdem sie ihn angehört hatte, hatte sie Auftrag gegeben, ein Automobil holen zu lassen.

›Wie, Sie haben doch nicht die Absicht, trotz Ihrer Krankheit auszugehen?‹ hatte er sie erschreckt gefragt.

›Für einen italienischen Soldaten ginge ich auch mit bloßen Füßen‹, hatte sie geantwortet, und sie war aufgebrochen, um bei einem ihr bekannten Minister sich seiner Angelegenheit anzunehmen. Natürlich wurde diese in Ordnung gebracht, und der Offizier fuhr ohne Bestrafung ab.

Als er sich verabschiedete, bot ihm Eleonora Duse ihr Fernglas: ›Nehmen Sie es,‹ sagte sie, ›es wird Ihnen dienen können, es ist ein gutes Fernglas, und es hat mich mein ganzes Leben begleitet.‹

›Aber wieso? ... Auf keinen Fall kann ich eine derartige Gabe annehmen‹, entgegnete der Offizier verwirrt.

›Aber ich denke ja gar nicht daran, es zu verschenken: es ist ein Fernglas, an dem mir sehr viel liegt, es ist ein lebenslanger Freund, ich leihe es Ihnen nur, und Sie werden es mir wiederbringen; darauf bestehe ich.‹ ...«

Und als ob der Krieg zu allen ihren Leiden noch ein tiefstes, persönlichstes Opfer von ihr begehrte, erlosch ihr, ehe seine tödliche Macht endete, das Gütelicht, das jahrzehntelang oft ferne, doch beständig auf alle ihre Wege geschienen hatte. Im Juni 1918 starb Arrigo Boito. In Florenz erreichte sie die Nachricht. Sie blieb drei Tage zu Bett, nahm keine Speise zu sich, und niemand durfte zu ihr. Und als sie unter die Menschen wiederkehrte, war ein solcher Bannkreis von Einsamkeit und Trauer um sie, daß keiner der Freunde ihr mit einem Worte des Trostes zu nahen wagte.

In tiefer, wortloser Klage um den Verlorenen und in noch bebenderem Mitleiden ging ihr diese Prüfung zu Ende: der Kanonendonner grollte nicht mehr voll grausiger Mahnung nach Asolo herüber. Ein kleiner scheuer Glanz vom heiligen »Freudenlicht der Welt« war auf den wie nach furchtbarer Krankheit sich entspannenden Gesichtern und über der herbstlichen Erde. »Sieg«, sagten die Glocken und Lobgesänge und »Friede« das Aufseufzen nach aller Qual.

Da endlich die Visionen dieses Entsetzlichen von ihr genommen sind, ist sie in das sechzigste Jahr ihres Lebens eingetreten; oh, was für eines Lebens! Wird nun endlich dem müden, verbrauchten Körper Rast und der Seele die große Stille vor dem Abscheiden gegönnt sein? Sie meinte nichts anderes mehr zu wünschen, als hier in ihrem Hause mit ihren Büchern und Gedanken, mit dem Blicke auf die Jahreszeiten und die Tage und Abende ihrer Landschaft die große Abendandacht ihres Lebens zu verrichten. Zuweilen sollte noch ein Freund kommen. Die Nachrichten von dem fernen, arbeitsreichen Leben ihres Kindes sollten so gut bleiben, wie sie waren, und ihr Asolo sollte halten, was es versprach ... War ihr Haus nicht schön, nicht ihrer Liebe wert, fragte sie eifrig die seltenen Besucher, und alle empfanden tief, daß das ihr Ort und ihr Haus sei, wie der Freund, der die Erinnerung eines solchen Besuches aufgeschrieben hatte Edouard Schneider in »Comoedia«, Oktober 1922.: »... Enge, steile, gewundene Gäßchen, die man nacheinander erklimmen oder hinabklettern muß, Giebelhäuser, Loggien, in denen der die freie Luft Liebende doch Schutz gegen das Übermaß der Sonne und des Regens finden kann ... und es ist, als ob eine bekannte Stimme riefe, als ob Freundesnähe ein Zeichen gäbe ... Ein schmaler, absteigender Weg, längs dessen alle Türen und Fensterläden geschlossen sind, ein schläfriges Schweigen, das kein Geräusch aufstört, ein Portikus aus rissigen Ziegeln, der sich auf den freien Horizont der Berge hinaus auftut – und wir sind vor einer grünen, zweiflügeligen Tür: hier ist es. Ein altes, ländliches Haus, in dem einen der entspannte Frieden vertrauter Ruhesitze und jene Frische empfängt, wie sie dem Innern fest gegen alle Unbilden von draußen gefügter Häuser eigen ist, ein geräumiges und bescheidenes Wohnhaus, auf dem kein eitler Schmuck lastet, doch das in seiner fast völligen Kahlheit Herz und Seele sich zu ganzer Offenheit entfalten läßt ... ich trete ... in ein weites Arbeitszimmer ein, dessen Schlichtheit vom Geiste durchwärmt ist. Und da ich ... die längs der Wände aufgereihten Bücher und die mich umgebenden Dinge zu betrachten beginne, öffnet sich eine Tür: mit ausgestreckten Händen und ihrem gerührten, ihrem unvergleichlichen Lächeln in den Augen und auf den Lippen bietet mir Eleonora Duse den Willkommgruß.

Ich habe lange die liebe Wohnung betrachtet, diese beiden aneinanderstoßenden Zimmer des Stockwerks, das Studio, wo die Bücher herrschen, mit seinen paar Bildnissen, den ihr liebsten Stichen und den mannigfachen Erinnerungen, die die Etappen dieses so reichen Lebens bezeichnen ... und das intimere Zimmer, das sich daran anschließt ... Durch die breiten und niedrigen Fenster des Zimmers, die man für die eines himmlischen Schiffes hätte halten können, habe ich den Gipfel des Monte Grappa, die nahen Hügel betrachtet, die Abhänge, die in einer jähen Bewegung bis in die Ebene hinabgleiten, die dargebotene Erde des fruchtbaren und reichen Venetiens, und meine Augen haben den gewaltigen Raum durchspäht, dem anvertraut das Haus zu schwimmen scheint, diesen großaufgetanen Azur, in den das Farbenspiel des Adriatischen Meeres ausstrahlt und durch den das Meer, das kaum fünfzig Kilometer entfernt ist, seinen Hauch schickt ...«

Den Frieden in ihrem Hause ... o schnell hinwehender Traum! War es noch nicht Zeit, noch immer nicht? Ehe die bösen Briefe kamen und von draußen die Gewißheit brachten, daß Heimat und Frieden nur kurze Rast sein durften, ihr die Kräfte für den letzten Weg zu geben, hatten in ihr schon die schlimmvertrauten Zeichen, die wie die Vögel vor dem Sturme kamen, sich geregt. Was war es, das sie vom Lesen aufriß, sich in Gebet und Versenkung drängte, das sie Fenster öffnen und schließen und mit aufflatterndem Herzen durch die Zimmer gehen hieß? Das ihr eingab, die Möbel, die doch an ihrem Platze gestanden hatten wie Bäume, dahin und dorthin rücken zu lassen? Im Winde war das Unnennbare von Frühling, von Wachsen und Schaffen: die Betäubung war von den Menschen gewichen, und die alte Erde pochte voll März und Werdefieber. Alte Frau, alte Frau! sagte sie sich selber – aber sie stand am Fenster, mit zitternden Nüstern, und ihr war wie dem Verschwender zumute, der in Armut und Elend wieder einen Schatz aufgespeichert hat, um von ihm nun weise bis zu Ende zu zehren, und der in der Nacht plötzlich die alten süßen Stimmen seines vergeuderischen Blutes hört und weiß, daß er nicht bewahren kann, nicht sich noch sein in Schmerzen Erworbenes.

Nachts aus dem Bette aufgetrieben, tags Zimmer auf, Zimmer ab bis zur Erschöpfung, dann plötzlich aufbrechen, in eine Stadt fahren, wiederkehren, aufgerissen werden aus neuer Versenkung, bis keine Müdigkeit ihr mehr verhehlen kann, was das bedeutet, bis in der späten Sehnsucht und Unrast die alte Melodie gebieterisch aufklingt: Arbeit, etwas tun, sich noch einmal bewähren. Und sie träumt von einem anderen Schaffen, hinter dem Namen und Person verschwindet, die Werkfreudigkeit derer, die unbekannt an den großen Kathedralen mitschufen, erfüllt sie. Aber was konnte sie tun, was, um noch einmal den Menschen zu dienen und sich zu rechtfertigen dafür, daß sie noch immer im Leben war?

Und in ihr Sichquälen und Sichdurchforschen hinein kam die Nachricht, die noch einmal beweisen zu wollen schien, daß ihr Innen und ihr Außen schon völlig in demselben Gesetze geschahen. Sie erfuhr, daß die Geldsumme, die sie dem treuen Freunde in Deutschland anvertraut hatte und die er sorgsamer als sein Eigen verwaltet hatte, nun nach seinem Tode durch die Entwertung der deutschen Währung eine leere Ziffer geworden sei. Ihren Schmuck und ihre andere Habe hatte sie längst verkauft und hingegeben: so war sie wieder arm wie vor vierzig Jahren. Und das war jetzt doch schwerer zu tragen, weil sie alt und krank war und nicht mehr in einer Dachkammer leben konnte und weil sie die Sorge für Andere übernommen hatte. Aber Gott mochte es schon recht gefügt haben, denn jetzt mußte sie arbeiten. Und schnell kam auch ein Anerbieten: ein wunderliches freilich, sie sollte für den Kinematographen spielen; die Schriftstellerin Grazia Deledda hatte eine Handlung erfunden, der sie den Titel »Asche« gegeben hatte. Und Eleonora Duse zögerte nicht lange. Sie spielte, doch sie wurde alsbald dessen gewahr, daß dieses Spielen einer anderen Vorbereitung und einer anderen Art von Mitteln bedürfe. Sie mühte sich darum und mußte trotz der Lobpreisungen der Anderen zuletzt erkennen, daß der Versuch mißglückte – und sie ließ es sich dann unter vielen Opfern angelegen sein, dieses mißlungene Werk zunichte zu machen. Aber ihr Interesse für diese neue Kunstart, in der sie vor allem die Möglichkeit ahnte, mit größter Unmittelbarkeit auf jede Art von Menschen einzuwirken, blieb wach. Einer ihrer alten Bekannten begegnete ihr bald nach ihrem eigenen mißlungenen Versuch in einem Kinematographentheater in Florenz Der Schriftsteller Diego Angeli, der diese Begegnung dem Verfasser erzählt hat., und als er seine Verwunderung äußerte, sie hier zu sehen, sagte sie ihm: sie sei begeistert von dieser neuen Kunstart des Films. Das sei vielleicht ein wesentliches Ausdrucksmittel der anders gewordenen Zeit, nur dürften weder der Film noch seine Darsteller mehr etwas mit dem Theater zu tun haben. Sie fühle erregend darin die großen Möglichkeiten eindringlichsten mimischen Ausdrucks: sie denke zum Beispiel daran, wie ein versteckter Händedruck, der für ein Schicksal entscheidender sein kann als die großen üblichen Szenen, auf dem Theater unbemerkt bleiben würde, während der Film ihm seine Bedeutung zu geben vermöge. Sie sagte noch: »Wenn ich zwanzig Jahre jünger wäre, würde ich hier ganz neu anfangen, und ich bin sicher, daß ich dabei ungeheuer viel erreichen könnte, daß ich vielleicht zu etwas wie einer vollkommen neuen Kunst gelangen könnte. Freilich müßte ich mir dazu alle Mittel von Grund auf neu erschaffen, müßte das Theater völlig vergessen können und mich eben in der noch ungeschaffenen Kunstsprache des Films ausdrücken lernen. Ich habe den Fehler begangen, wie fast alle anderen auch, daß ich trotz meines Bemühens doch Theater gespielt habe. Es müßte aber etwas ganz, ganz anderes kommen, eine neue, eindringlichste Art von Poesie, ein neuer Ausdruck der menschlichen Seele ... Ich bin zu alt dazu, schade!«

Sie hatte das Theater doch nicht vergessen können; und da aus Leiden und Läuterung noch einmal die Leidenschaft des Schaffens emporschlug, war auch wieder die von der Natur ihr vorgezeichnete Form da. Und wenn die Scham der Schauspielerin vor ihren Jahren, die Müdigkeit ihres Körpers und ihre Frömmigkeit sich gegen den immer sicherer sich gebärdenden Entschluß, noch einmal Theater zu spielen, auflehnen wollten, hatte sie ja nun ein unwiderlegliches Argument: die Armut, die sie zwinge, etwas zu tun. Und da sie doch kein anderes Tun gelernt habe ...

Wenn sie ein Theater leiten könnte und zuweilen in den rechten Stücken die rechten Rollen, mochten es auch kleine sein, spielen dürfte! Vergebens suchten sie und ihre Freunde nach dieser Möglichkeit. Dann dachte sie an ein Theater, das nur die Dramen ihrer jungen Landsleute, der neuen Dichter Italiens, die nach der ungeheuren Erschütterung dieser Jahre ja zu tieferen, reineren Werken gereift sein müßten, aufführen sollte. Aber sie fand die Dramen nicht. Sie fragte, suchte Rat, aber da es um ihre Arbeit ging, war sie so unfähig zu paktieren wie ehedem, und Versuch nach Versuch scheiterte. Mit der alten stürmischen Ungeduld rief sie den theatervertrautesten unter ihren Freunden, den Dramatiker Marco Praga, nach Asolo, um mit ihm über die Verwirklichung zu beraten, die schwere Frage zu lösen, was sie denn noch für Rollen spielen könne, ohne ihr Alter verleugnen zu müssen. Aber sie wußte selber schon, in welchen Gestalten sie ihren aufgespeicherten Schatz noch hingeben konnte. Sie brauchte nur noch ein Ensemble. Und als weitere Versuche, aus jungen »reinen« wie aus erprobten Schauspielern ein solches zu bilden, mißglückt waren, kam ihr von unerwarteter Seite Hilfe: der alte schrullige Gefährte aus den Jahren ihres Kampfes um die Dramen des geliebten Dichters, der noch immer jugendlich pathetisch in das Theater verliebte alte Zacconi, hatte von ihrer Absicht, wieder zu spielen, gehört und stellte ihr sogleich seine Compagnia zur Verfügung, »brüderlichen Herzens, ungebeten, bietend, was ein Kamerad zu bieten hat«.

Doch ehe sie ihren Opfergang antreten konnte, wartete ihrer noch eine neue Qual: ihr Haus, ihre Heimat, ihr Stückchen Geborgenheit, dessen Bestand ihr die Kraft zu diesem Gange geben sollte, sollte ihr genommen werden. Das Haus war ja nur durch ihre Liebe ihr eigen, im »praktischen Leben« war es ihr durch Freundlichkeit zur Miete überlassen worden. Und nun sollte eben über dieses Besitztum Anderer anders verfügt werden. Doch nach einer Zeit bitterer Bangnis wurde dies von ihr abgewandt, und sie durfte sich, getröstet von dem Gedanken, daß sie in ihr Asolo zurückkehren könne, aufmachen.

Freunde versuchten, sie davor zu bewahren. Sie bewahren? Da sie in letztem Gehorsam aufgebrochen war, hätten Andere nur eines noch für sie tun können: ihr ein Theater geben. Das war nicht geschehen. Wohltaten brauchte sie nicht. Nicht von den reichen Menschen, hinter deren ihr angebotener Großmut sich schlecht die Gier nach dem großen Geschäfte verbarg, noch vom Staate, der seine bescheidenen Gaben besser denen zuwenden sollte, die nicht mehr arbeiten konnten. Sie konnte noch, so mußte sie. Und wie hätte sie, die durch alle gottlose Bitternis ihren Weg gefunden hatte, sich jetzt dem Geheiß versagen sollen, da ihr das unauslöschliche Licht gegeben worden war, wie hätte sie Menschengnade annehmen sollen, da sie, die irdisch wieder besitzlos Gewordene, doch im Besitze der wahrhaftigen Gnade war? Müssen die zum Geben Entsandten nicht bis zum Ende geben? Was gelten die weißen Haare und der elend sieche Leib, wenn das noch in der Seele leuchtet und hingegeben werden kann!

*

In Turin, wo ein ganzes, langes, volles Menschenleben zuvor die erste jugendsüße Glorie um sie aufgeleuchtet hatte, in derselben Stadt, wo ihr dann auch zur Gewißheit geworden war, daß sie werde dem Theater entsagen müssen, geschah es, daß sie nach mehr als einem Jahrzehnt der Leiden, der Einsamkeit und der Verwandlung die Bühne wieder betrat, »... Nicht aus Verlangen nach neuem Ruhme, sondern aus Liebe zu denen, die arbeiten, um ihr Brot mit ihnen zu teilen, um mit ihnen zu leiden und sich zu freuen und weil nichts unversucht bleiben darf, damit das Morgen vielleicht ein besseres sei. Es konnte nicht leicht für sie sein. Es galt, mit verwandeltem Wesen die alte Straße wieder zu beschreiten. Nachdem sie die kleinen, lästigen Nadelstiche und Verdruß und Bitterkeiten der Ausübung ihrer Kunst hinter sich gelassen hatte, galt es, deren Wirklichkeit und alle die Beschränkungen, die sie gebietet, wieder auf sich zu nehmen. Es hieß, sich wieder aufzumachen und das trübe Halblicht hinter der Bühne zu durchschreiten, um in die Helle des Rampenlichtes zu gelangen, wieder in die winzigen Wahrheiten einzutreten, um durch sie hindurch der großen gewahr zu werden, wieder als eine Pflicht den Ruhm auf sich zu nehmen, der an einem bestimmten Punkte des Lebens zu einer kalten Last wird, von neuem der Neugier sich preiszugeben, nicht mehr Herrin seiner selbst zu sein, sich erheben und kämpfen zu müssen, wenn man müde ist, die zarte und leidende Seele durch das rohe Lärmen zu tragen und alle glauben zu machen, daß sie noch die Duse sei, indessen sie nunmehr schon etwas viel Größeres, viel Geheimnisvolleres und viel Erschütternderes war ...« Renato Simoni, der bedeutende Kritiker, im ›Corriere della Sera‹ vom 5. Juni 1921.

Sie hatte für dieses erste Wiederauftreten »Die Frau vom Meere« von Ibsen und »Das geschlossene Tor« von ihrem Freunde Marco Praga, das Drama der nach allen Opfern der Einsamkeit preisgegebenen Mutter, gewählt. Und dann spielte sie, es war der 5. Mai 1921, zum ersten Male wieder, mit ihren weißen Haaren und ohne Schminke auf dem schimmernd weißen Gesicht. Die ersten Szenen der »Frau vom Meere«, in denen sie noch nicht auf der Bühne war, flüchteten an der aus ganz Italien zusammengeströmten Menge, die wie ein in Erregung zitterndes Herz war, gehastet vorbei. Dann erscholl eine Stimme, die auch die kannten, die sie nie gehört hatten, das Theater dröhnte wie eine ungeheure Orgel hingerissensten Jubels auf, und in dieser gegen sie schlagenden Brandung lief Eleonora Duse, aus Scheu großer Einsamkeit sich aufreißend, auf die Bühne und »klammerte sich an Zacconi an, damit ihre Knie nicht unter dem Anprall des Tosens einknickten«.

»Als das Publikum verstummte, war sie wieder die Duse von vor zehn Jahren, von Akt zu Akt sahen wir sie zu immer größeren Höhen aufsteigen, doch die Größe dessen, was sie uns gab, schien sich unter der schmucklosen Schlichtheit ihrer Sprache zu verbergen. Es schien, als ob sie spräche, wie alle sprechen, ganz gewöhnlich, ohne Anstrengung, ohne Suchen nach einer Wirkung. Aber allgemach wurden wir emporgetragen von einem Geiste und einer Musik, die uns die Tränen in die Augen drängten. Da war kein Wort gewesen, das nicht flüchtig und klar wie Wasser dahinzueilen geschienen hatte – und dennoch hatte uns ein jedes Wort ein Geheimnis enthüllt. All das, was wir gehört und gesehen haben, ist weit, weit von dem entfernt, was gemeinhin Schauspielkunst heißt ...« Desgleichen Renato Simoni.

Dann die Bühne voll Blumen, Jubelrufe ohne Ende und endlich wahrhaftig ein Trupp junger Leute, der die Pferde ihres Wagens ausspannt. Sie selber aber sagte ihrem Freunde Edouard Schneider: »Der große Erfolg des ersten Abends in Turin, der Stunde meines Wiederauftretens? Ja, alle waren erschüttert, ich allein war es nicht. Dieser Erfolg galt irgendeinem, das viel größer war als ich, er ging über mich hinaus, er richtete sich an eine Kraft, die ich vertrat, doch die ich nicht war ...«

Dann kaum einen Monat später in Mailand derselbe Jubel, das gleiche Fest der Huldigung. Und während die Stimmen nicht mehr verstummten, daß nun »die Unvergleichliche« Italien wiedergegeben war und von neuem ihren Siegeszug durch die ihr zujubelnden Städte ihres Vaterlandes antreten werde, berauschten sich viele bang gewesene Gewissen an dem Triumphe, den sie ihr bereitet hatten, und meinten, daß der, die dieses Wunder gewirkt hatte, nun Armut und Alter nichts mehr anhaben könnten, und rückten sie mit Vergötterung im Worte so weit von sich ab, daß sie jeder Verantwortung für sie entbunden waren. Sie selber aber kehrte von der Last dieses Gelingens beschwert in ihr Asolo zurück, wie ein greiser großer Priester aus Prunk und Herrlichkeit der Predigt und des Gottesdienstes in seine weiße Zelle zurückkehrt und auf den Betschemel niedersinkend nur noch ein um Frieden flehender alter Mensch ist.

Sie hatte noch einmal gedient, so gut sie es vermocht hatte, hatte ihr Fühlen und Wissen den Menschen hingegeben. Ob das zählte, wußte Gott allein. Sie wußte nur, daß sie nun, da das noch einmal begonnen war, weiter mußte. Wie würde sie es können? Sie war krank – sie hatte immer gern über ihre ewige Krankheit gescherzt und sich oft noch im eben verklingenden Fieber eine »eingebildete Kranke« genannt. Sie versuchte es auch jetzt noch, wenn die Hustenanfälle sie zu zerreißen drohten und die Atemnot ihr auch nicht mehr den kleinen Frieden des Liegendürfens gönnen wollte; in den auf Stühlen verbrachten Nächten, da sie keuchend auf die Wirkung der Medikamente wartete, in den Stunden, da sie an ihr Bett angekrampft stehend nach der ihr dienenden Freundin zu rufen sich mühte und nur ein Pfeifen aus ihrer Kehle drang, versuchte sie noch immer, sich ein wenig zuzulächeln – aber der alte Feind erzwang sich immer mehr Glauben. In ihrem privaten Leben hätte sie es wohl verstanden, sich auch noch mit diesem bißchen Atem und der immer öfter klanglosen Stimme einzurichten. Aber Atem und Stimme waren ja jetzt wieder Werkzeuge ihrer Arbeit und mußten also gehorchen. So ließ sie denn ihr Asolo, um ärztlichem Gebote folgend ins Gebirge zu gehen, und brachte, ärmlich und mit vielen Beschränkungen, einen Teil dieses Ruhesommers in Cortina zu, bedrückt von den nahen Gipfeln, voll Heimweh nach dem großen Fluge des Blicks durch die venetische Weite.

Sie hatte mit dem Wiederbeginn ein weniges erworben, gerade genug, um im Augenblicke bestehen zu können. Jetzt galt es, weiter zu denken. Der gute, treue Zacconi hatte ihr anfangen geholfen. Aber er hatte seine eigenen Pflichten, so mußte sie mit alledem, was zum Theater gehörte, schon selber zurecht kommen, mußte ein Ensemble zusammenstellen, Abmachungen für ihre Gastspiele treffen – lieber Gott ... Eine Freude durchleuchtete diese Mühsal: sie hatte einen Dichter und ein Stück nach ihrem Herzen gefunden. Der lombardische Duca Gallarati-Scotti, ein von tiefster, reinster Frömmigkeit durchglühter Dichtermensch, hatte, von ihrer Sehnsucht nach einer Dichtung, in der sie den Sinn von Leiden und Entsagung gestalten könne, entzündet, ein Drama geschrieben, das sie jetzt spielen wollte. Dieses »Così sia« (So sei es) war wieder die Tragödie eines Mutterschicksals, aber innerlicher, frömmer, beinahe ohne Handlung, Flehen, Ringen und Qual einer Frauenseele, die erst, da sie das göttliche Wort mitklingen ahnt, aus dem immer verzweifelteren Monolog hinausfindet in den Dialog geheiligter Trauer.

Nachdem sie sich mit ihrem neuen Ensemble im Spätherbst dieses Jahres in Rom in den beiden schon in Turin und Mailand gespielten Dramen wieder eingeführt und auch hier, in ihrem alten Teatro Valle, von ungeheurer Lobpreisung empfangen worden war, die, von den Schatten fernen Glückes verdunkelt, schwermütig an ihr Herz gerührt hatte, spielte sie endlich dieses Drama, dieses Neue, dem sie mit herzzitternder Ungeduld entgegengegangen war. Sie hatte davon gesagt: »Um der geistigen Höhe willen, mit der hier eine Muttergestalt verherrlicht wird, hat mich dieses Drama so leidenschaftlich ergriffen und auch, weil es mir scheint, daß der fast religiöse Ton dieses Werkes mir die Möglichkeit gäbe, endlich das zu sein, was ich heute sein will, daß er mir in einem gewissen Sinne erlaube, einen meiner Träume zu verwirklichen. Dieser mein Traum ist, nicht mehr zum üblichen Theaterpublikum zu sprechen, sondern zu der großen namenlosen Menge, zu dem Volke, das in den letzten Jahren so sehr gelitten hat und nun ein Wort der Güte und des Friedens begehrt, angstvoll begehrt. Morgen werde ich in diesem Versuch eines jungen Menschen eine Mutter sein. Und ich möchte jetzt und immer die Mutter sein, die ihre unzähligen Söhne, die allzu nahe und allzu lange haben den Tod schauen müssen, lehrt, das Leben wieder zu lieben, die die Güte und die Schönheit des Lebens lobpreist und ihnen nicht ein Wort des Zweifels, sondern ein Wort des Glaubens bringt.« Zu dem Schriftsteller Fausto Maria Martini

Aber hier sah das Publikum von Rom zwar die große, unbegreiflich verklärte Frau, und es war von ihr hingerissen und erschüttert: doch es schien sich der Botschaft, die sie bringen wollte, zu verschließen, und aller Beifall galt ihr, nicht dem Werke, ja sie mußte endlich wie in fernen Tagen verstört das schrill aufgellende Nein vernehmen, das sich hier vielen dieser Menschen schauerlich gut mit der Verherrlichung der Schauspielerin zu vertragen schien. Daran hatte sie nicht gedacht, daß ihr auch das wieder geschehen könne, daß ihre Kunst verehrt und ihr Glaube an ein Werk verhöhnt würde wie in den Tagen der »Francesca da Rimini« ... Aber sie hatte ja eine Verpflichtung übernommen, sie mußte sie erfüllen. Nur nichts Neues mehr hier, das konnte sie doch nicht mehr ertragen. Ja, sie war bereit, jede Szene, jeden Akt mit diesen Qualen, denen nur noch Sauerstoffeinatmung Linderung bringen konnte, zu bezahlen, aber man sollte nicht versuchen, sie, begeistert für »ihre Schauspielerleistung«, von ihrem Werke fortzudrängen und dieses, dessen Werkzeug sie war, herabzusetzen. Denn eine Schauspielerin, wie die meinten, war sie nicht mehr, sie war ein alter, müder Mensch, den letztes Dienenwollen und letzte Not zu diesem Tun zwangen und der die von Mal zu Mal unwahrscheinlichere Kraft zu diesem schauerlich schweren Tun nur noch aus seinem Glauben schöpfte. Nein, das sollten sie ihr nicht antun, dafür entschädigten kein Beifallstoben und keine Lorbeerkränze. Doch Pflicht rief, mahnte, trieb, und im Gebete scheuchte sie Tränen und Empörung, in den Worten ihrer heiligen Führer fand sie Tröstung und Hilfe, wieder und wieder, sobald ihr Körper nur dienen wollte, sich in alle Leiden und deren schon an das Unendliche rührenden Glauben »ihrer Seele zu kleiden« und wieder zum Sinnbilde von Qual und Verklärung werdend vor die Menschen hinzutreten.

Daß sie trotz des Mißerfolges von »Così sia« dieses Drama, in dem sie am reinsten das, was noch ihre Aufgabe auf dem Theater sein konnte, ausdrücken zu können glaubte, nicht aufgeben durfte, war ihr selbstverständlich. Aber wie und wo es jetzt spielen? Nur allzu schnell hatten sich die schlimmen Folgen des Mißlingens fühlbar gemacht. Sie konnte ja jetzt nicht mehr jeden Tag spielen wie ehedem, oft mußte sie eine Woche und länger zwischen den einzelnen Vorstellungen ausruhen, ihr Ensemble aber mußte sie erhalten, als ob sie täglich spielte, und oft auch die Theatermieten so bezahlen. Jubel und Begeisterung von ganz Italien hatten sie verleitet, zu glauben, daß der materielle Erfolg der Aufnahme, die ihr Wiederauftreten gefunden hatte, entsprechen würde, und auf dieser Annahme waren die Bildung ihres Ensembles und die Abmachungen mit ihrem Impresario aufgebaut worden. Und jetzt, da noch kein Jahr seit ihrem Wiederauftreten vergangen war, hatte sie hunderttausend Lire Schulden, zitterte um ihre Schauspieler, die sich ihr anvertraut hatten, und besaß nichts mehr auf Erden als ihre ihrem Willen kaum mehr untertane Arbeitskraft. Jetzt hatte sie kaum noch die Wahl, über Städte und Gastspiele zu bestimmen. Sie mußte annehmen, soviel ihr geboten wurde, hoffend und betend, daß sie spielen könne, und während in den Zeitungen und Zeitschriften Italiens ungezählte Aufsätze das Wunder priesen, das den Menschen durch die gnadenvolle Wiederkehr Eleonora Duses widerfahren sei, fuhr diese wieder von Stadt zu Stadt, lag von Asthmaanfällen gewürgt, von Nervenschmerzen gemartert in Hotelbetten, umkrampfte die Stirn mit ihren Händen und fragte sich tagelang, nächtelang, wie sie diesen Wechsel, jene Schuld bezahlen solle, wie das weitergehen solle. Oft schleppte sie sich mit dem Gefühl, im nächsten Augenblicke zusammenbrechen zu müssen, auf die Bühne und spielte dennoch. Wie oft aber konnte sie nicht! Und während sie so das immer Unwahrscheinlichere sich abrang und spielte, immer gnadevoller und heiliger das Menschenweh und seinen läuternden Sinn den Menschen vorlebte, schlossen sich die Fänge der Not immer gieriger um sie, und all ihrem verzweifelten Ringen zum Trotz wuchsen die Schulden. Als dieses Jahr 1922, in dem sie gespielt hatte, sooft sie es nur vermocht hatte, in dem Turin, Triest, Bologna und Mailand sie gefeiert hatten wie nie eine Schauspielerin zuvor, zu Ende ging, sah sie keinen Ausweg mehr. Wie kläglich war ihre Hoffnung, ein Theater für sich zu haben und hier, aller Alltagssorgen enthoben, das zu verkünden, was ihre letzte Gabe an die Menschen sein sollte, gescheitert! Sie hatte Versprechungen über Versprechungen vernommen, doch keine war erfüllt worden. Sie wurde gefeiert und verherrlicht und war jeden Tag ärmer, immer mehr von ihrem einzigen, ach so unsicheren Besitztum, ihrer Arbeit, war schon verpfändet. Jeder Monat kostete über dreißigtausend Lire – und in diesem Dezember in Mailand war ihr auch das noch widerfahren, daß sie nur mit größter Mühe hatte ein Theater finden und endlich zweimal spielen können. Und jedes Absagenmüssen, das ihr versagender Körper erzwang, vergrößerte die Schuldenlast und machte sie durch Gewissensqualen noch elender. Wenn sie auch jetzt dem Ruheflehen ihrer Erschöpfungsstunden hätte Gehör geben und all das lassen wollen, sie hätte es ja nicht mehr gedurft.

Sie hatte auch d'Annunzio wiedergesehen, nicht als Bittstellerin, wahrhaftig nicht, sondern weil über eine Umarbeitung der »Città morta« zu sprechen gewesen war. In der hohen Würde ihres Alters, ihrer Leiden und ihrer makellosen Armut war sie ihm gegenübergetreten, den sie geliebt hatte – und der Mächtige, der größte Dichter des neuen Italiens, der heldische Condottiere, der dem Vaterlande Fiume erobert hatte, den nun zu allen Attributen seiner irdischen Verwirklichung auch noch der Fürstenrang erwarten sollte, war trotz all des Errungenen, trotzdem er so oft den Tod versucht und die Schrecken der Erblindung sein ihm gebliebenes Auge bedroht hatten und obgleich er nun zuweilen statt des Kriegerkleides die Kutte des dritten Ordens des heiligen Franziskus trug, der geblieben, den sie gekannt hatte, unverwandelbar in allen Wandlungen und Gewanden.

Ohne Groll hatte sie hernach ihrem Freunde Schneider gesagt: »Der Kommandant von Fiume hat einen sehr schönen Brief für mich in den Zeitungen veröffentlicht ... Er erklärte, ich hätte viel für mein Vaterland getan, und jetzt wäre es an Italien, etwas für mich zu tun. Sehr schön war der Brief, ergreifend schön, aber das war auch alles! So ist er, der Kommandant von Fiume, er hat einen Gedanken, den spricht er aus und schreibt ihn nieder. Und hat er ihm dann seine Form gegeben, hat er ihn literarisch zur Welt gebracht, so ist er auch mit ihm fertig ...«

Er hatte so wenig geholfen wie alle die anderen, obgleich die Hilfe, um die es ihr ging, ja nur die natürliche Folge all des Lobpreisens hätte sein müssen: daß man ihr ein Theater gab. Aber da all ihr Grübeln, Sichmühen und alle Versuche keinen Ausweg aus ihrer immer verzweifelteren Lage gebahnt hatten, kam ihr von unerwarteter Seite Hilfe: sie sollte unter sehr günstigen Bedingungen in London sechs Vorstellungen geben. Wie das gekommen war, erzählte sie selber Dsgl. zu Ed. Schneider: »Das ist mir durch eine Engländerin verschafft worden« (Miß Onslow hieß diese Hilfebringerin!), »die ich gar nicht kannte ... In einer der Dezembervorstellungen in Mailand hatte sie mich spielen sehen. Ich weiß nicht, was dabei in ihr vorgegangen ist. Wir wohnten im selben Hotel. Sie wußte von meiner unseligen Krankheit. Und sie besuchte mich und fragte, was ich zu tun gedenke. Ich war in einem Zustande jener kalten Wut, in der man nicht Scham noch Zurückhaltung hat. »Was ich tun will, mein Fräulein? Ich warte auf den Tod.« – »Man müßte doch noch einen Versuch unternehmen,« erwiderte sie, »man könnte Geld finden. Ich werde es für Sie finden.« Und sie fuhr nach England. Sie ist dort zu reichen Leuten gegangen. Schnell war sie dann wieder bei mir und brachte mir hunderttausend Franken, sie hatte für mich dieses Engagement zustande gebracht. Diese Frau ist keine Intellektuelle, sie ist sehr einfach, aber sie besitzt den Verstand des Herzens. Ich muß sagen, was diese Ausländerin für mich getan hat, es ist so schön. Während in meinem eigenen Lande niemand sich gefunden hatte, der mir zu Hilfe gekommen wäre! Nein, niemand, niemand. Sie sagen alle: nachdem sie nicht mehr spielen kann, lohnt es doch nicht mehr ...«

Ehe sie noch nach London gehen konnte, erwartete sie eine neue Heimsuchung: eine schwere Grippe warf sie nieder – und als sie sich dennoch abermals erhob, war sie kraftlos wie nie zuvor, »toute cassée«, wie sie schreibt, und wertvolle, aussichtsreiche Gastspiele im Auslande, die sich indessen angebahnt hatten, waren dahin. Monate kraftloser Untätigkeit, dabei das Ensemble erhalten zu müssen, und Briefe voll Mahnung und Forderung, die dieser erzwungenen Rast keinen Augenblick inneren Friedens gönnten. Dann endlich sich wieder erheben können, ein wenig Aufatmen der schmerzenden Lunge: wieder arbeiten können.

Ende Mai kommt sie nach London, wird trotz der späten Nachtstunde am Bahnhof schon von englischen Schauspielerinnen und Verehrern mit Blumen und erschütternden Worten des Grußes empfangen. Dann spielte sie endlich, und es ist wie in den alten Tagen, nur noch inniger und beinahe frömmer, was nun der Schauspielerin huldigt und sich vor dem Menschen neigt. Dann spielt sie die neu in ihr Programm aufgenommenen »Gespenster« von Ibsen, die dank ihrer Darstellung ganz und gar zur Tragödie der bangenden Mutter werden, und endlich gelingt ihr das Erhoffte: das indessen vom Dichter überarbeitete Drama »Così sia« zu einem großen Erfolge zu bringen. Ein Kritiker drückt das Gefühl aller, die dieses Mysterium miterlebt haben, mit den Worten aus, daß sie jetzt in ihrer stillen innerlichen Größe ganz und gar zu einer Gestalt Giottos geworden sei. Sie ist seit langem zum ersten Male wieder froh: so hat ihr verzweifeltes Sichquälen doch noch einen Sinn gehabt!

Dankbaren Herzens verläßt sie England: die haben ihrem »Così sia« geglaubt und haben sie nicht nur bejubelt, sondern ihr auch geholfen. Sie kann jetzt die dringendsten Schulden bezahlen, endlich, und wieder weiterarbeiten. Geliebtes Italien, geliebtes Asolo, es blieb nichts übrig, sie mußte wieder in die fremden Länder gehen. Sollte ihr wirklich Gott das noch gewähren, daß sie sich ihre Unabhängigkeit erarbeitete und dann vielleicht noch für eine Zeit, o eine ganz kleine Zeit wenigstens, ihr Theater hätte, wo sie den Menschen sagen könnte, was sie wußte? Ein kleines Vielleicht glomm zaghaft in ihr auf. Sie war ja erst vierundsechzig Jahre alt, gab es nicht andere, die viel länger arbeiteten? Freilich war sie krank, aber war sie nicht den größten Teil ihres Lebens krank gewesen? Vielleicht gönnte Gott ihr doch noch ein paar Jahre all die Mühsal, damit sie dienen könne, solange sie noch dazu taugte.

Ja, es ging ihr besser in diesem Sommer, sie konnte wieder öfter spielen und mit ruhigerem Gewissen neue Verpflichtungen eingehen. Sie war unterwegs wie ehedem, spielte in Genf und Lausanne, in italienischen Städten – auch in ihrem Venedig wieder –, und lächelnd machte sie die Notwendigkeit, die sie trieb, zu ihrem eigenen Wollen. Sie hätte gern wieder in Paris gespielt. Vielerlei dahinzielende Versuche, die vor allem ihr Freund Schneider unternommen hatte, hatten zu keinem Ergebnis geführt. Jetzt plötzlich kam ein unerhört günstiges Anerbieten von einem neuen Theater. Sie war entschlossen, es anzunehmen, fragte jedoch nach dessen ganzem Programm und erfuhr jetzt, daß dieses Empiretheater ein Music-Hall allergrößten Stils sei und daß man sie zwischen dressierten Hunden und einem Hypnotiseur auftreten lassen wollte. »Sie konnte ihr Weinen nicht zurückdrängen. ›Die armen Leute!‹ sagte sie. Und trotz ihrer Armut wies sie die phantastischen Anerbietungen zurück.« Aux Ecoutes, Paris, April 1924

Nein, da gab es doch andere Wege, mochten sie auch mühselig sein und weithin führen. Sie hatte ein paarmal schon in diesen Bedrängnissen an Amerika gedacht, aber die italienischen Verpflichtungen und ihre Krankheit hatten sich der Verwirklichung entgegengestellt. Jetzt war ihr wieder ein Vertrag über eine Tournee durch die Vereinigten Staaten geboten worden, und sie unterschrieb und verpflichtete sich noch für diesen Herbst zu einem langen Gastspiele in Amerika. Ehe sie sich zu dieser Reise bereitmachen konnte, mußte sie noch in der Stadt spielen, von der drei Jahrzehnte vorher ihr Ruhmesweg seinen Ausgang genommen hatte. Nun sah sie auch Wien wieder, die Stadt, die seither durch alle Tiefen der Leiden gegangen war wie sie selber. Dreimal spielte sie dann in der »Neuen Wiener Bühne«, vor einem Publikum, in dem mancher von den Armgewordenen die größten Opfer gebracht hatte, um die wiederzusehen, deren Erinnerung er unter den schönsten Geschenken des Lebens bewahrt hatte. Sie selber hatte in letzter Stunde noch gefürchtet, nicht spielen zu können, und gebangt, daß ihr die neuen Mahnungen der Krankheit die paar Hoffnungen, die dieser gute Sommer ihr gegeben hatte, zunichte machen könnten. Und dennoch spielte sie, zuerst noch von Hustenanfällen geschüttelt, dann immer freier und größer, ihr »Così sia«, und die Menschen dankten ihr an diesem Abend wie an den beiden anderen, da sie die »Frau vom Meere« und die »Porta chiusa« gespielt hatte, mit einer so glühenden Innigkeit, wie sie ihr aus all dem Beifallsdröhnen und Jubeln der anderen Zeit nicht entgegengeleuchtet hatte. Und alle die die Bühne Umdrängenden – und wie viele waren unter ihnen in einfachen, ja ärmlichen Kleidern – ließen sie erst, nachdem sie das Versprechen gegeben hatte, wiederzukommen. Sie wollte es halten, wahrhaftig, wenn es an ihr lag, und dann hoffentlich noch ungehemmter und eindringlicher spielen, als sie es diesmal gekonnt hatte – wenn es an ihr lag. Und sie sagte, daß sie sich Vorwürfe mache, den verarmten Leuten da so viel Geld abgenommen zu haben und durch ihre Krankheit behindert gewesen zu sein, ihnen ihr Bestes zu geben.

Da aber nun das Licht dieses tröstlichen Sommers herbstlich blasser wurde und feuchte Abendkühle ihr in Schmerzen die Hinfälligkeit ihres Leibes wieder zu Bewußtsein brachte, besann sie sich ohne Selbstbedauern der Wirklichkeit ihres Lebens. Sie hatte mit all der Arbeit dieses Jahres eben genug erworben, um alle ihre Schulden tilgen zu können, aber auch nicht mehr. Jetzt hätte sie sich zurückziehen dürfen. Aber wohin, ohne Wohltaten annehmen zu müssen? O ihr Asolo! Die Mittel, dort zu leben, würden sich finden, sagten die Freunde, aber sie antwortete jedem, wie sie Gallarati-Scotti geantwortet hatte: »Ich kann noch arbeiten. So muß ich es. Die Meinigen sind arm gewesen und sind arm und arbeitend gestorben. Es ist gerecht, daß ich ende wie sie.«

Da die große Reise immer näher rückte, dachte sie immer öfter, daß sie unterwegs sterben könne. Sie sprach kaum davon, sie nahm nicht mit Worten Abschied, sie bestellte nur still und ordentlich alle ihre Dinge. Und die einzige Vergünstigung, die sie erbat, war die Zusicherung, daß, wenn sie in der Ferne sterben sollte, der Staat die Bürgschaft für die Rückreise ihrer Schauspieler übernehme.

Dann brach sie auf, in den dichten Schleier ihres Ernstes gehüllt, durch den jetzt kein Blick mehr dringen durfte. Noch eine kurze Rast in Paris, während welcher ihre Tür allen verschlossen blieb, dann ging sie in Cherbourg zu Schiff, furchtbar still geworden.

*

Ungeheure Ehrungen nach Art des neuen Landes erwarteten sie in New York; sie rührten kaum stärker an sie als das Brausen und Dröhnen der Stadt durch die dämpfenden Polstertüren ihres Zimmers. Aber wie aus den noch gewaltiger, grauer und unheimlicher gewordenen Riesengebilden hier wunderbar aufhorchende Menschen voll der Bereitschaft großer Kindheit in das Theater strömten und ihr und ihren Gaben ihr mächtiges Vertrauen entgegentrugen, so kam durch Rauch und Dünste so gütig milde und kräftige Herbstluft zu ihr, daß ihr dieses New York schnell ein klein wenig Geborgenheit zu schenken verhieß und sie so gern noch eine Weile wenigstens geblieben wäre. Es war jetzt, da sie sich noch einmal aufgemacht hatte, ja schon so viel, in einen Raum zurückkehren zu dürfen, den sie schon ein wenig kannte, um hier auszuruhen, ihre vielen Gedanken zu denken, die dann oft unversehens zum Gebete wurden, und Luft zu atmen, die nicht weh tat. Aber ihre kurze Zeit hier war allzubald um: New York hatte ihr seinen königlichen Tribut entrichtet, und der, der jetzt über sie gebieten durfte, seit sie sich auf jenem Stück Papier ihm verschrieben hatte, der »Sklavenhalter«, der Impresario, trieb sie weiter, in die anderen Städte, die nun nach dem Ereignisse ihres Wiedererscheinens in New York erregt ihrer warteten.

Wieder Eisenbahnen, fremde Zimmer, herbstliche große Städte, vor denen sie die Vorhänge der Wagen, der Fenster, die Lider schließt. Baltimore, Philadelphia, Washington – zuweilen will über die vielen Jahre hinweg Bekanntes an sie rühren. Aber sie versagt sich. Ihr Dienst hier hieß, so ernst, so rein, so seelenwirklich Theater zu spielen, daß von jedem in diesen namenlosen Massen Schutt und Schlacke seiner Täglichkeit abfalle und daß die alle, aus den engen Grenzen ihres Ich von ihr hinausgeführt, hinter Leiden und Verzweiflung das erahnten, das Unbenennbare, das nur gelebt werden konnte. Und danach wollte sie zu ihrem anderen Dienste zurückkehren dürfen, der, seit sie sich auf diesen Weg gemacht hatte, sie immer gebieterischer einforderte: in die langen Gespräche mit allem noch immer Unbeendeten ihres Lebens, in das noch immer Fragende, in das betende Sichhineinneigen in das große Geheimnis, das ihr schon hundert Namen getragen hatte und über das sie jetzt den Namen Gottes zu breiten suchte.

Aber ihre Stille, in die sie sich hatte tief, tief einhüllen wollen, um das bestehen zu können, zerriß. Die Schmerzen des Leibes kamen wieder, wieder schien mit dem versagenden Atem die Welt zu vergehen, wieder tauchte sie matt und ohne den tröstlichen Frieden sich stillenden Leidens aus dem schon zu oft Durchlittenen empor. Und wieder kamen die Ängste des sich noch immer wehrenden Lebens, und hinter ihnen drängte die Wirklichkeit dieser Fahrt furchtbar nach. Sie hatte vergessen, daß das alles ja auch um Geld ging: sie war ja nach Amerika gekommen, hatte so sehr »Erfolg« gehabt, ihr Vertrag war günstig, was wäre da also noch zu bedenken gewesen? Und jetzt stürzte sich mit einem Male das Wissen auf sie, daß diese ganze Mühsal sinnlos gewesen sei. Die in Italien ungeheuer anmutende Summe, die ihr der Impresario für jedes Auftreten bezahlt hatte, war in Amerika unzulänglich gewesen, und die Reisen und der Unterhalt der Ihrigen hatten aufgezehrt, was sie erarbeitet hatte. Als dann endlich jede Verpflichtung dieses Vertrags erfüllt war, war sie arm wie zuvor, ärmer noch in dem fremden Lande, in dem man nicht arm sein darf. So mußte sie es noch als Glück preisen, daß ihr ein zweiter, nun wirklich günstiger Vertrag geboten wurde und sie sich von neuem zu der Qual der langen Reisen durch den Wechsel der Klimate des Erdteils aufmachen durfte. Wieder peitschte ein fremder Wille sie aus jeder Rast, aus jeder Zuflucht auf und schrie ihr »Weiter!« in jedes Sichversenken. Noch galt es ja, Irdisches zu tun und zu vollbringen! Weiter denn! Und sie wanderte wie Caterina Benincasa, die auch so gern in der großen Müdigkeit ihres aufgebrauchten Leibes gerastet hätte und die, weil es für die großen Friedlosen Gottes, solange ihr Fuß noch weiterkann, keine Rast geben darf, dennoch nach Rom aufgebrochen war.

Aus den Gluten von Havanna und Cuba nach langer erschöpfender Fahrt wiederkehrend, hätte sie gern ein paar Wochen in dem frühlinglichen Kalifornien, das sie wie das blühende Küstenland Liguriens umfing, eine kleine Zeit geruht. Aber es wurde ihr nicht vergönnt. Sie mußte weiter, in die Länder, in denen ihr arger Feind, die Kälte, lauerte.

Verstört fuhr sie durch die schaurige Stauböde der endlosen Prärie, immer öfter das Gesicht in die Hände vergrabend, doch ohne Klagewort: zu dem, was sie auf sich genommen hatte, gehörte auch das noch mit. Sie fuhr nach Pennsylvanien. Es war der erste April. Schnee und Regen schlugen wie ein windgepeitschter, grauer Vorhang gegen die Fenster des Zuges. Jetzt waren in Asolo die Obstbäume schon abgeblüht. Viele Rosen müssen schon aufgegangen sein, und bald würden zwischen dem hellgrün gefiederten Laube die ersten kleinen blaßblauen Glyzinentrauben hängen. Und in Venedig fuhren jetzt im heraufkommenden Morgen die Barken voll der kleinen rosa Rosen und der ersten rötlichgelben zum Markte. In manchen lagen vielleicht schon tauige Fliedersträuße. Sie fuhren duftumhüllt durch den blaugolden aufglühenden Morgen wie damals – und jetzt läuteten die Glocken zum Frühgebete: oh, wie sie jede kannte! Und von Settignano und dem ganzen Hügellande polterten jetzt die Karren voll Blumen und der jungen Üppigkeit der neuen Gewächse nach Florenz hinein, scheuchten auf der Piazza della Signoria die Tauben auf, daß sie aufglänzend flatterten, bis sie sich in der Loggia dei Lanzi, auf dem Medici und seinem Pferde und auf den Statuen sammelten. Und oben glänzte der Turm im »süßen italischen Lichte« alle Morgen der Erde. Und der Monte Grappa vor ihrem Fenster hob sich jetzt wie ein blauer Kristall aus den verwehenden Dünsten, zwischen denen schon die silbergrünen Streifen der Ebene aufschimmerten. O Asolo! Und jetzt endlich hätte sie genug Geld verdient! Mein Gott, mein Gott, warum denn hier, warum?

Und dann war sie, die manche Stadt sehr geliebt und doch so oft voll Haß von den Städten gesprochen hatte, als ob sie ahnend immer diese »fürchterlichste Stadt der Welt« gemeint hätte, in dem Wirrsal von grau wuchernden Würfeln, in der Wolkenhöhle grausig aufgeschossenen, eckigen Gewächsen aus Eisen und künstlichem Stein, in diesem rauchverhangenen Pittsburg angekommen, das war, als ob keiner von den Hunderttausenden, die dies maschinendurchschütterte Chaos von Kuben und Schloten unter den rußschwarzen Wolken und dem eisengrauen Himmel bevölkerten, wüßte, daß es Blumen und durchsonnte Luft auf bäumefrohen Hügeln gibt, helle veilchenselige Luft, wie sie jetzt auf dem Meere vor Triest die aufblähenden Segel zur Heimfahrt nach Chioggia füllen mußte.

Oh, Heimkehren! Heimkehren! Oh, wenn sie doch schon in dem gütigeren New York das Schiff sehen dürfte, das sie nach Italien zurücktragen würde, wenn nur erst das vorübergegangen wäre, o Gott! Wie ihre Mutter es getan hätte, gelobte sie eine große schöne Kerze, wenn sie heimgekehrt wäre, und sei es auch nur, um in Asolo zu sterben. Sie verschloß sich in ihr Hotelzimmer. Keiner durfte zu ihr als die Vertrauten, die mit ihr waren, die sich mit immer scheueren Schritten dem schaurigen Ölbergdunkel um sie nahten. Vier Tage der Vorbereitung verbrachte sie so, schaudernd zwischen Hier und Dort. Am Abend dieses 5. April endlich rief sie das unentrinnbare »Komm arbeiten!«

Eisiger, schneedurchwehter Regen fiel. Schnell, schnell jetzt vom Wagen ins Theater! Aber der Bühneneingang war verschlossen und der Mann, der ihn hätte öffnen sollen, nicht da. Und sie mußte im nassen Schauern draußen stehen und warten. Als ihr dann endlich das Tor aufgetan wurde, war die Kälte schon in allen ihren Adern und schüttelte sie immer gräßlicher. Mit all ihrem verzweifelten Wollen, jetzt, so nahe dem Ende ihrer Pflicht, nicht noch einen Abend zu versäumen, zwang sie ihren zitternden Körper noch einmal zum Dienst. Und sie spielte die Tragödie des Einsamwerdens, des Alleinseinmüssens vor dem Letzten so über alles Maß hinaus groß, daß die paar ihr nahen Menschen im Theater aufweinend den Abschied ahnten.

Dann wurde sie heimgebracht in die fremde Herberge, schon in den Flammen der Zerstörung brennend, die schnell den elenden Rest von Lunge, der ihr geblieben war, entzündeten. Bald wußte sie selber, wie es um sie stand, daß nun Arbeit und Pilgerschaft zu Ende gingen. Nur hier sollte es nicht geschehen, nur hier nicht, flehte sie. Und im Fiebern sprach sie von einem Kloster in Italien, wo sie Frieden finden würde. Schnell, schnell, als ob es zu verhindern gelte, daß ihre Kraft noch einmal den Kampf aufnehme, zehrten Glut und Schmerzen jetzt ihr leibliches Leben auf. Unrast ungeheuren Aufbruchs trieb in letzten Fiebern gejagt durch das verflackernde Kreisen ihres Blutes. Und indessen die Gnade schon stillend ihr Unsterbliches zum Eingang in das Geheimnis bereitete, gärte und begehrte das unerfüllt Gebliebene von allen Straßen der Erde, brach die Erde selber in ihrem nun endenden Wunder noch einmal in die letzte Stimme dieses Lebens hinein und schrie »Aufbrechen! Arbeiten!« und klang in der Bitte »Deckt mich zu!« aus, nun sich der letzte Feind, die Kälte, auf den ausgebrannten Leib stürzte.

Und noch nach dem Leichnam griff die tödliche Stadt und gönnte ihm nicht, sich in den neuen, noch so fremden Frieden einzuruhen. Indessen auf allen Drähten und durch alle Lüfte der Erde die Nachricht zu den Menschen flog, daß Gott seine gnadenvolle Gabe an die Menschenwelt, die Seele Eleonora Duse, heimgeholt habe, wurde in der ersten Morgenstunde der Sterbenacht, es war der Ostermontag, der 21. April 1924, der Leib den getreuen Begleiterinnen entrissen und in die eisige Einsamkeit des Leichenhauses gebracht.

*

Dann ist der Leichnam in weiße Rosen zum letzten Aufbruche gebettet, und die Heimfahrt hebt an.

Ein schönes, stolzes, italienisches Schiff, der »Duilio«, wartete, und die als ein armer, müder Mensch noch einmal ausgezogen war, um ihre letzten Gaben zu den Menschen zu tragen, kehrte heim wie eine große Königin der Erde. Und als ob aller hingerissene Jubel, all die herzpochende Begeisterung, die dem Schaffen ihres Lebens dargebracht worden waren, nun zur Klage geworden wären, empfing sie die Trauer ihres ganzen Volkes mit all ihrem düster prunkenden Rituale.

Von den leuchtenden Farben der italienischen Fahne bedeckt, stand der Sarg hoch aufgebaut auf dem Hinterdeck des in den Hafen von Neapel einfahrenden Schiffes. Ein Mitglied des königlichen Hauses, Würdenträger aller Art, ein mächtiges Aufgebot von Truppen erwarteten die Heimkehrende; und nachdem das offizielle Italien mit Worten, Trauermusik und defilierenden Soldaten ihr die Ehre erwiesen hatte, drängten die Namenlosen, Hunderttausende, ein ganzes Volk, an den Sarg heran und brachten ihr ihre Tränen und ihr Gebet »Das ewige Licht leuchte ihr, lasse sie ruhen in Frieden!« dar.

Dann empfing die Hauptstadt sie mit dem höchsten Gepränge der Trauer, mit dem Wehen der schwarzen Fahnen durch alle Straßen, mit Abordnungen aller Art und der aus dem ganzen Lande zusammengeströmten Flut der Blumengaben. Die Kirche, in der das dritte Rom seine hohen Feierlichkeiten begeht, Michelangelos Santa Maria degli Angeli, war zum Einsegnungsamte bereitet worden. Im Bogen des Kirchentors war eine Tafel angebracht, die die von Freundeshand verfaßte Inschrift trug:

 

PACE IN DIO
ALL'IRREQUIETO ANELITO
DI ELEONORA DUSE
NELL'ORA DEL SUO RITORNO
DALL'ULTIMO PELLEGRINAGGIO
IMPLORANO ROMA E L'ITALIA MADRE

(Um Frieden in Gott für die ruhelose Eleonora Duse in der Stunde ihrer Heimkehr von der letzten Pilgerfahrt flehen Rom und die Mutter Italien.)

 

Dann noch in Florenz, Bologna, Padua Trauerreden, Fahnen, Blumen und die stumme letzte Huldigung der Massen, dann war die königliche Grabfahrt zu Ende, und der Leichnam Eleonora Duses wurde von den Freunden und den Menschen von Asolo in dem kleinen Friedhofe unterhalb der Kirche Sant' Anna in venerischer Erde zu Grab gebracht.

Ein Granitblock, vom Monte Grappa gebrochen, trägt den Namen derer, deren Irdisches nun unter der schlichten Grabplatte ausruhen darf von der langen Pilgerschaft durch alle Menschenqual und deren Unsterbliches, im ewigen Lichte von Frieden zu Frieden wandelnd, von Gott ein Lichtlein erbitten mag für alle, die heißen Herzens suchend über die Straßen der Erde wandern.

FINIS

*

 


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