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Weitere Zwischenbemerkungen: Die Schauspielerin und ihre Rollen

Das Gewissen des Biographen regt sich, da er dessen gewahr wird, wieviel er letzterdings von Eleonora Duses Theatertun gesprochen hat, ohne doch, wie er es im Gleichnisse von den untergegangenen Werken des Malers angekündigt hatte, so viel von der Schauspielerei, den Rollen und dem sonstigen die Schauspielerin Betreffenden berichtet zu haben, als es ihm zum Bilde dieses Lebens zu gehören scheint. Ehe er solches versucht, meint er, daß es auch an der Zeit sei, zu erwähnen, daß er seine Aufgabe nicht darin sieht, jede Einzelheit dieser Jahre, bei denen er nunmehr angelangt ist, mitzuteilen, da ihm eine solche Chronik dieses Schauspielerlebens mit ihrer Aufzählung von Tourneen und Erfolgen, mit ihren allzu vielen Namen von Städten, Kritikern, hervorragenden Bewunderern, kurz all des Materiellen, aus dem sich ein großer Ruhm zusammensetzt, den Blick auf das Ganze dieses Lebens zu beirren scheint. So läßt er sich lieber manche hübsche Anekdote und den oder jenen Namen entgehen, die ihm im mündlichen Berichte zugekommen sind oder die er von Freunden und Zeitgenossen aufgezeichnet fand, und möchte es sich angelegen sein lassen, aus den Lebenstatsachen, die von Eleonora Duse aufbewahrt sind, vorwiegend solche auszuwählen, die als Element der Geschichte einer Seele und ihres Schicksals dienen können. Dennoch obliegt es ihm jedoch nun, den Versuch zu unternehmen, einiges Zusammenfassende über die Art zu sagen, wie Eleonora Duse in diesem Lebensabschnitte, der ihren Ruhm begründete und der mit dem Entstehen der großen verhängnisvollen Leidenschaft, in die sie wissend wie die blinde Anna der »Città morta« und vergehensselig hineingegangen war, sein entschiedenes Ende fand, ihrer theatralischen Sendung gerecht geworden ist. Dem Biographen liegen zu diesem seinem Zwecke (außer seinen eigenen allzu späten Erinnerungen) zahlreiche Berichte von Augenzeugen, die ihm selber erzählt wurden, und schier unzählige vor, die in Zeitungsartikeln, anläßlichen Rezensionen und allgemeineren Aufsätzen in Zeitschriften sowie anderen Versuchen, das Vergängliche der Schauspielerschöpfungen Eleonora Duses festzuhalten, niedergelegt worden sind. Freilich handelt es sich in diesen schriftlichen Äußerungen fast durchweg um Herzensergießungen, Begeisterungsausbrüche oder Berichte von Rezensenten, die einem ganz großen Ereignisse gegenüber das Rezensieren vergessen haben. Zwar ließe sich aus den meisten dieser Mitteilungen da und dort ein anschaulicherer Satz herauslösen und aus allen diesen zusammen ein Mosaik oder vielleicht nur ein Flickwerk schaffen, das in all seiner meist ein wenig welkgewordenen Lyrik eine Ahnung von Eleonora Duses Theaterspielen vermitteln könnte. Und der Biograph hätte es auch nicht verschmäht, sich solcher Mittler zu bedienen, wenn sich nicht glücklicherweise in der ganzen Fülle doch ein paar andere gefunden hätten, deren Aussagen ihm anschauliche Zeugnisse von dem Bühnenschaffen Eleonora Duses in jener Zeit abzulegen scheinen. Unter ihnen steht obenan ein Aufsatz, den ein unvergleichlicher Theaterkenner und Kritiker, den Paul Schlenther nach dem ersten Auftreten Eleonora Duses in Berlin über ihr Spiel geschrieben hat.

Es sei nun hier vor allem auszugsweise angeführt, was Schlenther über ihr Spiel und ihre Bühnenwirkung im allgemeinen aussagt: »Ich hatte keine Gelegenheit, die Zivilperson der Frau Duse außerhalb der Bühne zu beobachten ... außerhalb ihrer künstlerischen Aufgabe habe ich sie nur nach den Aktschlüssen gesehen, wenn sie an der geleitenden Hand ihres Partners Andò bewegungslos dastand, die Augenbrauen emporgezogen, einen matten schwermütigen Leidenszug im bleichen Antlitze, die schmächtigen Schultern mit ihrer Lieblingsgewandung, dem Mantel, beworfen, die biegsame Gestalt leicht zur Seite geneigt ... Fast immer kehrte dasselbe Bild wieder. Kein selbstbewußtes Dankeslächeln, aber auch keine naive Freude am Erfolge stahl sich von diesen schmerzhaften Lippen, aus diesen dunklen, müden Augen ...

Frau Duse ist weder groß noch klein. Sie wird nie in ein äußeres Mißverhältnis zum Wirkenden geraten ... Frau Duse ist Italienerin echtester Rasse. Darin liegt ihre künstlerische Kraft. Darin liegt auch ihr persönlicher Zauber und die Fremdartigkeit ihres Wesens. Wer sie wegen dieser Fremdartigkeit für häßlich erklärt, hat diesen Eindruck mit sich selbst abzumachen.« (Uns Heutige will es, wenn wir ihre Bilder betrachten und uns von denen erzählen lassen, die sie damals gesehen haben, unwahrscheinlich anmuten, daß es damals wirklich noch Menschen gegeben habe, die sie häßlich gefunden haben. Sie selbst jedoch erzählte in Wien, wo sie nach ihrem ersten großen Erfolge mit einem der angesehensten deutschen Theateragenten in Verhandlung getreten war, daß dieser es abgelehnt habe, sie zu vertreten, weil er sie, wie sie dann von anderer Seite erfahren habe, für viel zu häßlich gehalten habe.)

»Aber wäre sie schöner, so wäre sie weniger verwandlungsfähig, also eine schwächere Schauspielerin. Denn Schönheit, die auf die Dauer vergeht, ist für einen Abend etwas Stabiles. Ein schönes Gesicht ist meist ein regelmäßiges Gesicht von klassischem Schnitt, und ein regelmäßiges Gesicht verändert sich ungern ... Der Schauspieler ist nicht auf Festhalten, sondern auf Wechseln angewiesen ... Denn gerade das, was man an dieser Frau unschön gefunden hat, steigert und vervielfältigt ihre schauspielerischen Ausdrucksmittel. Wäre diese Stirn erhabener, diese Nase mehr griechisch oder römisch, dieser Mund weicher, dieser Hals voller, dieser Gang edler, diese Bewegungen runder, so könnten sie von all dem vielen, was sie jetzt sagen, nur eines oder das andere aussprechen. Was aber ihrem ruhigen Antlitz an Ebenmäßigkeit der Formen gebricht, das ersetzen im reichsten Maße ihre bewegten Züge durch die Kraft ihres Ausdrucks. Wenn Frau Duse nicht schön ist, so kann sie schön werden. Denn jeder Empfindung, die in ihr vorgeht, entspricht der Ausdruck ihres Gesichtes.

Die Kraft des Mienenspiels ist Naturanlage. Niemand kann ihr das beibringen oder abgucken. Solange Ibsens Nora unter ihren Kindern ein Kind ist, das Lecker- und Lügenmäulchen ..., so lange lacht die Jugend aus allen Zügen, und die Augen leuchten einem neubegierigen Backfisch. Als Nora von ihrem Gatten Abschied nimmt für immer, steht vor ihm eine Richterin, alt und klug und häßlich wie die Erfahrung der Welt. Wenn es gilt, einen Liebsten zu bereden, durchflackern dieses Antlitz alle frohen und reizenden Lichter des Lebens; wenn die großen Enttäuschungen kommen, der große Schmerz des Endes, so kann dieses holde Haupt zum Totenkopf erstarren. Nie hat ein Lebender den Schein der Leiche so gehabt wie Frau Duse, wenn sie als Fedora das Gift im Leibe und noch mehr im Gemüte fühlt. Zu diesen Verwandlungen bedarf sie keiner äußeren Künste, unter denen sie sogar die Kunst des Schminkens zu verschmähen scheint. Diese Verwandlungen gelingen ihr allein durch die Kraft der Empfindung.

Und wie das Antlitz, so die ganze Gestalt ... So kostbar die Mittel sind, mit denen Frau Duse ihr Toilettenziel erreicht, so ist dieses Ziel fast überall Einfachheit. Ihre Toilette ist wie ihr Spiel. Mit feinster und höchster Kunst wird das Selbstverständlichste erreicht. Der Kameliendame gibt sie nur weiße, schimmernde Gewänder; der Fürstin Fedora, die den Mord des Geliebten zu sühnen geht, gibt sie nur schwarze, schwere Gewänder. Kein Geschmeide sucht äußerlich den Anblick zu verzieren. Kein Ring belastet die beweglichen und beredten Hände. Bei der Duse unterwirft sich alles, was sie an sich trägt, mit einer Art froher Demut dem, was sie in sich trägt. Und diese inneren Vorgänge werden deutlich, auch wenn sie dem Publikum, das für sie nie vorhanden zu sein scheint, den Rücken dreht. Das Wort ist ihr nicht Selbstzweck, sondern nur notwendiges Mittel, den Gedanken, das Gefühl, den Willen entweder zu offenbaren oder zu verbergen. Nicht sie ist Sklavin des Worts ..., sondern das Wort ist Knecht ihres Wesens. Es gehört ihr unwillkürlich an wie die Bewegung des Augenlids. Mit der oft recht gewundenen, wenig mundgerechten Konversationssprache ihrer französischen Salondramatiker geht Frau Duse sehr souverän um. Ganze glanzvolle, geschliffene Perioden und Satzlabyrinthe verdrängt sie durch ein rasch und oft wiederholtes Ja, Ja oder Nein, Nein. Aber ihre Gebärde und ihre Haltung spricht das aus, was der schreibende, aber nicht gestaltende Sardou oder Dumas glaubte in Worte setzen zu müssen. Und wenn man eine Schauspielerin wie Frau Duse in mittelmäßigen, rohen Stücken vor sich sieht, denen sie die Roheit nimmt, so scheint sich bei aller Redefertigkeit dieser Künstlerin die Schauspielkunst von der Poesie ganz zu emanzipieren und vielmehr mit der Bildhauerei zu wetteifern, eine im Raume mit der Zeit sich fortbewegende flüssige Plastik zu sein.

Wie ihre Rede frei ist von Rhetorik, so ist ihre Plastik frei von jeder Pose. Und wie ihre Rede gebunden ist an ein natürliches Organ mit einem eigentümlich knurrenden Ton, so ist ihre Plastik gebunden an eine natürliche Gangart, die etwas Schleppendes, Hintenübergleitendes hat, mit eingezogenem Kreuz. Dennoch weiß sie auch hier innerhalb dieser Wesensstetigkeit jeder ihrer Gestalten einen besonderen Schritt zu geben. Wie munter hüpft in ihrer roten Bluse die kleine Nora daher; wie lang ausschreitend sucht die Fürstin Fedora ihren Lebenszweck zu erreichen; wie tigerartig sprungbereit schleicht die Rächerin Clotilde um ihr Opfer Fernande ...

Frau Duse gibt nie zu viel und nie zu wenig. Sie wagt alles, wenn es sein darf, und verzichtet auf alles, wenn es sein muß ... Ihre Kunst ist sogar stärker als ihr Naturell, und nur deshalb wirkt sie so natürlich, weil sie ihre Kunst nur ihrem Naturell, ihrer Wesenheit dienstbar macht ... Ein menschliches Wesen! Das ist der Eindruck fast jeder Duse-Vorstellung.

Ist Frau Duse in jeder Rolle eine andere? Sie gibt ihren schwarzen Zopf der Fedora wie der Nora, der Clotilde wie der Cyprienne. Daher kommt es, daß sie zu Anfang eines Stückes stets als dieselbe erscheint. Es ist mit ihrem Bühnenspiel wie mit dem Schachspiel; die ersten Züge sind immer dieselben. Und wer oberflächlich hinsieht, glaubt auch noch weiter, daß auf allen Brettern das gleiche Figurenbild entsteht. Erst das Endresultat zeigt, welcher Art die Schlacht gewonnen ward. Auch Frau Duses Charaktere begreift man erst vom Ende her. Erst wenn ein Mensch vollendet ist, übersieht sich sein Leben.«

Ehe wir versuchen, diese allgemeine Charakterisierung von Eleonora Duses Theaterspielen durch den Hinweis auf einzelne ihrer Rollen zu illustrieren, scheint es uns nötig, einen Augenblick lang bei den Stücken, die sie gespielt hat, zu verweilen. Luigi Pirandello, der Eleonora Duse schon bald nach ihren allerersten Erfolgen zum ersten Male und dann ihr ganzes weiteres Wirken lang ungezählte Male auf der Bühne gesehen hatte, sagte dem Biographen in einem Gespräche (was er übrigens auch in einem Aufsatze über sie ausgesprochen hatte): er sehe ein wahrhaft tragisches Moment im Leben dieser ganz großen Schauspielerin darin, daß sie nie ihren Dichter gefunden habe. Oder vielmehr, faßte Pirandello zusammen, sei es das gewesen, daß sie gerade jenen Dichter gefunden habe (von dessen Eintreten in dieses Schicksal wir bald zu berichten haben). Diese Äußerung Pirandellos führen wir an, weil wir ihr des öfteren begegnet sind und weil sie vom Blickpunkt des Theaterdichters aus ihre Legitimität hat. Uns selber aber erscheint sie dem Ganzen dieses Bühnendaseins gegenüber zu einseitig zu sein. Denn wir sehen, daß Eleonora Duse ja all die »mittelmäßigen, rohen« Stücke, all diesen handwerkssicheren dramatischen Journalismus der Sardou, Dumas usw. auch dann noch weiter gespielt hat, da sie schon längst erkennen gelernt hatte, daß diese gefeierten Autoren wahrhaft nicht die großen Dramendichter seien, für die sie ihre rollengierige Jugend gehalten hatte. Sie hatte schon wirkliche Dichter gespielt, Goldoni, Verga, Ibsen und andere, und hatte vor allem gelesen, gelesen, was es an großer Bühnendichtung in den ihr zugänglichen Sprachen gab. Und dennoch spielte sie wieder und immer wieder in jenen »glänzend gemachten« Stücken; denn in deren routiniertem Aufbau schienen ihr ihre eigenen Rollen sozusagen ausgespart und deren Umrisse nur eben durch die Handlung vorgezeichnet. Das war nur mehr ein Rahmen, und es war Raum darin, in dem sie schaffen konnte.

Aber gab es denn nicht: Shakespeare, dessen Julia sie oft und dessen Cleopatra in der Übersetzung Boitos sie eine Zeitlang nicht selten gespielt hatte? Wäre nicht er, der hundert Frauen von allen Arten zur Gestaltung darbot, immer dagewesen, wenn sie nach einem Dichter gesucht hätte? Aber sie hatte ja noch nicht gesucht, noch nicht – und als ihr Suchen dann endlich nach diesem Ziele ging, wäre beinahe ihre Kunst daran zugrunde gegangen. Denn ihr Theaterspielen war von der urhaftesten Art, es war das Schöpferischwerden jener inneren Polyphonie, die in den Unbegabten leicht zur Krankheit wird, jenes Hinausprojizierens der Zwiespältigkeit, die in ihrer niedersten Art in den Lügen der Hysterischen oder den Stimmen und dramatischen Wahngebilden der Paranoischen Gestaltung sucht. Es war ein Theaterspielen, in dem es immer um Erlösung ging, um Selbsterlösung, solange ihr eigenes Wesen noch unversöhnt war, und um Erlösung der Anderen, um jene Katharsis, in der das antike Theater etwas von der Psychoanalyse vorweggenommen hat. Der Affektgehalt und die Dynamik ihrer Konflikte bestimmte ihre Gestalten – und es hätte schon ein sehr glückliches Zusammentreffen sein müssen, wenn die festumrissene Gestalt wirklicher Dichtung sich mit der durch ihre Natur bestimmten decken sollte.

Vom Theater her gesehen, ist solche Stückwahl ja kein Einzelfall. Wir dürfen an einen großen Schauspieler erinnern, dessen Andenken noch in Vielen lebendig ist, an Alexander Girardi, in dessen Repertoire die Theaterstücke von dichterischem Rang ein paar Einzelfälle darstellen. Und vielleicht auch an die Commedia dell'Arte, deren größte Darsteller in ihren Stücken und Rollen eben auch nur den vagumrissenen Rahmen für ihre Erfindungskraft, ihren Humor und das Spiel ihrer Leidenschaft sahen. Eleonora Duse hatte viele Leben auf der Bühne zu leben, sehr verschiedene, deren Kräfte in ihr drängten, so nahm sie sich von den sich ihr durch Theatertradition oder Zeitstimmung darbietenden Stücken eben jene, deren Rollen ihr »lagen«, das heißt, an denen sie sich schöpferisch werden fühlte und die ihr diese rege werdenden Kräfte nicht zu beengen drohten. Ihr Repertoire ist ein theatralisches, kein literarisches.

Sie muß Theater spielen, und sie muß gut Theater spielen, denn nur das gibt ihr die Augenblickserlösungen von ihrer Unrast. Das bestimmt die Wahl ihrer Stücke, die, als sie endlich selbständig wählen konnte, noch fast ein Jahrzehnt auch nicht viel anders ausfiel als vorher unter Rossi, obwohl sie indessen vieles kennengelernt hatte, was sie ein paar Jahre vorher nicht gewußt hatte. Daran änderte auch der Einfluß Boitos und seine Erziehung zur Dichtung nichts. Denn solange Eleonora Duse jene Schauspielerin blieb, die man als die Tragödin eines spätromantischen Verismus zu klassifizieren versucht hatte, bestimmte trotz ihrer wachsenden Erfahrung und »Bildung« der Instinkt so sehr ihr Repertoire, wie er etwa ihre Liebeswahl bestimmte. Durch ihn mußte sie recht tun, fehlen, und in seinem Urwalde mußte sie sich verirren und verlieren, damit sie endlich in eine neue Sphäre des Wollens und Wählens eintreten konnte. Aber nun haben wir uns wieder jener Zeit in ihrem Leben genähert, auf die in diesem ganzen Menschen- und Künstlerdasein alles vorbereitend hinzuweisen scheint. Wir besinnen uns unserer Aufgabe und kehren zu den an dieser Stelle gebotenen Bemerkungen über das Theater zurück.

Die meisten Rollen, die Eleonora Duse vom Beginn ihres Aufstiegs bis zu dem Zeitpunkte, dem unsere Lebensbeschreibung sich nun nähert, gespielt hat, sind schon mit Namen genannt worden. Wir wollen die vernachlässigen, die sie selber wieder fallen gelassen hat, und uns nur bei denen aufhalten, in denen sie ihren Zeitgenossen die große Eleonora Duse geworden ist, von der heute noch in vielen Ländern der Erde unzählige empfinden und sagen, daß sie das große, schöne Theater dieser Welt gewesen und daß nach ihr das meiste Theater ein wenig schal und entseelt geworden sei.

Während wir über die Gesamtheit ihres Spiels im ersten Teil ihres Lebens nichts Zulängliches anzuführen gefunden haben als Teile jenes Aufsatzes von Schlenther, bietet sich uns hinsichtlich einzelner Rollen ein sehr großes Material an Berichten, Kritiken und Mitteilungen dar, aus denen wir eine bezeichnende Auswahl zu treffen versuchen. Wir haben ein weniges von ihrer Julia und deren instinktschöpferischem Spiel mit den Rosen gesprochen, haben angedeutet, wie sie schon damals in Neapel als Elektra sich von der pompösen Theatralik ihrer Umgebung zu unterscheiden verstanden hatte. Und wir haben in Berichten ihrer ersten großen Triumphe die Stücke schon genannt, in denen sie ihre Erfolge errang und die ihr die Schätzung des gefeiertsten Dramatikers jener Zeit, Alexandre Dumas fils, so sehr errangen, daß dieser sogleich nach Beendigung eines Manuskripts, das er für eines seiner gelungensten hielt, darauf bedacht war, es zu ihrer Kenntnis zu bringen. Nun wollen wir in diesen Zwischenbemerkungen einfügen, was in der Lebensbeschreibung selber keinen Platz finden kann, und vor allem die Stücke aufzählen, die sie in jenem ersten Teil ihres Lebens gespielt hat. Es waren: La vita nuova von Gherardi del Testa – La Locandiera, Pamela nubile, Gli Inamotari von Goldoni – Cecilia von Pietro Cossa – Ridicolo und Amore senza Stima von Paolo Ferrari – Demimonde, die Kameliendame, die Prinzessin von Bagdad, Denise, La femme de Claude, La visite de noces, Francillon, La Princesse Georges und Dionyse von Alexandre Dumas fils – Theodora, Fedora, Fernande, Odette und Divorçons von Sardou – Frou-Frou von Legouve und Scribe – Resa a discrezione, Tristi amori, La Contessa di Challant von Giuseppe Giacosa – La moglie ideale und L'Innamorata von Marco Praga – Scrollina von Achille Torelli – La figlia di Jefte von Feiice Cavalotti – Der Hüttenbesitzer von Georges Ohnet – Cavalleria rusticana von Giovanni Verga – L'Abbesse de Jouarre von Ernest Renan – L'autre danger von Donnay – Heimat von Sudermann – Antonius und Cleopatra und Romeo und Julia von Shakespeare – La seconda Madame Tanqueray von Pinero und Nora und Rosmersholm von Ibsen.

Eine Anzahl dieser Stücke sind Versuche geblieben. Eleonora Duse sah in ihnen die eine oder andere Möglichkeit, aber als Ganzes erwiesen sie sich ihren Anforderungen, Rahmen einer von ihr erschaffenen Gestalt zu sein, als unzulänglich, und sie ließ sie wieder. Von diesen Rollen zu berichten, scheint ebensowenig unser Amt zu sein, als etwas von allen denen zu erzählen, die in ihrem Repertoire geblieben sind und die sie immer wieder gespielt hat. Beim Überblicken der zeitgenössischen Versuche, sie in Einzelfällen ihres Spiels zu charakterisieren, wird uns an der geringen Anschaulichkeit dieser Darstellungen das Fragwürdige eines solchen Unterfangens allzudeutlich, so daß wir uns, eben nur zum Zwecke der Illustration des Vorhergegangenen, mit ein paar Abschnitten und Berichten begnügen wollen, die sich auf ihre wesentlichsten Rollen (diejenigen, die sie in jener Zeit gespielt und auch zum Teil in der späteren Epoche ihres Schauspielerlebens wieder aufgenommen hat) beziehen.

Da ist vor allem ihre Kameliendame, jene Rolle, die ihr den entscheidenden Erfolg in Wien errungen hat und die sie als Fünfundzwanzigjährige wie als alternde Frau mit der gleichen Intensität und einer immer noch wachsenden Wirkung dargestellt hat, jene Rolle endlich, mit der sie die große Sarah Bernhardt, zu der sie damals in Turin voll anbetender Bewunderung aufgeschaut und die doch selber allmählich zu ihrer Rivalin geworden war, besiegt hatte. Hierüber stehen uns Berichte aus verschiedenen Zeiten und Ländern zu Gebote, und indem wir sie vergleichen, meinen wir, auf die Zeit nicht viel Rücksicht nehmen zu müssen, da sie früher wie später meist das gleiche hervorheben. Aus jener Zeit, da Eleonora in Paris in Sarah Bernhardts Glanzrolle triumphiert hatte, liegt uns vor allem eine kurze Darstellung von der Hand des Vorkämpfers des modernen Theaters in Frankreich, Antoines, vor. Er schreibt: »Im Juni gab sie eine allzu kurze Reihe von Vorstellungen. Da war vor allem die Kameliendame. Ich hatte immerhin meine Vorbehalte, denn die Rolle der Marguérite Gautier galt seit einigen Jahren als eine der großartigsten der Sarah.

Und tatsächlich war mein erster Eindruck recht entmutigend: trotz ihrer ausgezeichneten Maske wirkte die Eleganz der Duse nicht einwandfrei. Die schlichte und vornehme Einfachheit der italienischen Schauspielerin ging nicht gut mit dem Gehaben einer Pariser Kurtisane zusammen. Aber von Akt zu Akt – ohne daß sie dabei aufgehört hätte, sie selber zu bleiben – befreite die Duse die Kraft dieses zugleich genialen und mittelmäßigen Werkes: an ihr wurde mir das Geheimnis der nie nachlassenden Wirkung der Gestalt auf die Empfänglichkeit der Massen deutlich. Marguérite Gautier ist vor allen anderen ebenso wie Manon Lescaut eine Liebende, woran ihre gesellschaftliche Stellung nichts Wesentliches ändert. Nach den zwei ersten Akten, da die Umgebung verschwindet und nur noch die beiden Gestalten der Liebenden hervortreten, an dem Punkte, wo das Drama das Freudenmädchen läutert und adelt, wurde die Duse ganz groß. Die entscheidende Szene für sie, in der niemand sie übertreffen wird, war die Auseinandersetzung mit dem alten Duval ...«

Wir lassen diesen Worten eine Charakterisierung ihrer Kameliendame folgen, die Luigi Rasi, der bekannte italienische Theaterhistoriker, geschrieben hat. Vorher ist jedoch zu bemerken, daß die Kameliendame, die lange Zeit dem Publikum als der Gipfel der Unmoral erschienen und der Zensur ein Stein des Anstoßes gewesen war, jahrelang zwecks Milderung dieser Verworfenheit mit einem melodramatischen Apparat von Musik und Chören aufgeführt worden war und daß Sarah Bernhardt das Stück damals im Kostüm der Zeit von Dumas père spielte, wohl um es durch diese Transposition »poetischer« und weniger sozial anklagend zu machen. Eleonora Duse verzichtete natürlich auf Musik wie Kostüm und spielte einfach das Liebesdrama, von dem Dumas selber gesagt hatte, daß es schon dreitausend Jahre zuvor in Japan geschrieben worden sei und daß es in allen Ländern der Erde, wo es junge Leute und Kurtisanen gibt, immer wieder geschrieben werden könne.

»Sie ist eine wirkliche Frau von heute«, sagte Rasi über Eleonora Duse als Kameliendame ... »In ihrer Erscheinung, ihrer Konversation, ihrer Heiterkeit bei Tische ist immer ein Untergrund von Traurigkeit. Wie die Duse sich jetzt auf diesen Diwan hinstreckt, nun, stets ohne Pose, auf einem anderen, wie mühsam sie ihre Worte hervorhaucht, damit drückt sie auf eine vollkommene Weise die Müdigkeit ihres Körpers, die Erschöpfung ihrer seelischen Kräfte, ihren Ekel vor dem Leben aus ... Sie ist nicht verliebt, sie ist eine Liebende. Sie lacht, weil sie von ihrer Umgebung und ihrer Stellung dazu gezwungen wird, aber dieses Lachen ist nichts als ein Verzerren des Mundes: dahinter ist das Herz verschlossen, elend eingekerkert, als wäre es gar nicht da. Erst mit dem Tage, da der Funken den in ihr verborgenen Brand entfacht, wird die arme Gefühllose im Augenblicke zu der großen Liebenden ...«

Auch hier mag Schlenther wieder als ein klarer und zuverlässiger Gewährsmann sprechen:

»Frau Duses Kameliendame erscheint selbst wie eine weiße Kamelie: so zart, so bleich, so wehmütig. Nichts Freches, nichts Kokottenhaftes. Ihr freies Benehmen den Männern gegenüber ist naiv ... Aber alles geschieht mit entzückender Anmut, und Anmut ist ja immer frei. Dann wird ihr dieser sonderbare Armando vorgestellt, der die Wunderlichkeit hat, sie ganz ehrlich zu lieben. Dieser seltsame junge Mensch steht nun vor ihrem Diwan; sie sieht ihn halb neugierig, halb ungläubig, mit einem prüfenden Lächeln an und reicht ihm eine rechte Kinderhand. Daß sie dabei so gar nicht gerührt ist, ist das Rührendste in diesem Augenblicke. Im Nu hat sich Dumassche Sentimentalität in Dusesche Natürlichkeit verwandelt, und der Sinn des Stückes zieht seine Vorteile daraus. Es soll lustig werden diesen Abend. Sie ruft vom Fenster aus eine Nachbarin herüber; als sie das Fenster schließt, räuspert sie sich leise und leicht. Sie kann die Zugluft nicht vertragen. Dann wird getanzt. Beim Tanz befällt sie zweimal ein Schwächezustand. Gewöhnlich werden solche Schwächezustände schauspielerisch durch Kraftproben hervorgebracht. Frau Duse hält nur inne und wird etwas nervös. Im Alleinsein sammelt sie wieder Kräfte. Sie reibt sich mit beiden oberen Handflächen die Augen, und als die Arme wieder sinken, ist das ehedem bleiche Gesicht fieberisch gerötet, die Augenlider brennen. Mit dem werbenden Liebhaber spricht sie dann sehr vernünftig; sie kennt das Leben und ist frei von Illusionen. Aber wider ihren Willen scheint sich ein Glück zu verwirklichen. Sie genießt es bescheiden und herzlich. Im Garten blühen ihre Blumen, sie hat sie mit langen Stengeln gepflückt. Mit ungeübter Hand (gewöhnlich sind in einem solchen Falle unsere Schauspieler gelernte Gärtner) schlingt sie einen viel zu langen Bindfaden um die Kamelien. Nun wird ihr ein alter Herr gemeldet. Als er ihr sagt, er sei Armandos Vater, heftet sich auf ihn ein ängstlicher Blick, der demütig zu fragen scheint: ist das Glück schon jetzt vorbei? Dann weicht sie langsam vor ihm zurück bis zum Ausgang, und erst im Schutze der halbgeöffneten Tür bleibt sie stehen. Der holde Ernst ihres Wesens wirkt auch auf den Vater. Sie nähern sich wieder. Er stellt die furchtbare Forderung an ihre Liebe. Sie soll entsagen, sie soll sich dem Geliebten verächtlich machen. Dagegen schreit alles in ihr auf. Das ist einer der Momente, wo nichts mehr hinter der Hülle bleibt, wo ein Affekt durch das ganze Wesen schüttelt, wo der ganze innere Jammer ausbricht. Sie entläßt dann den Alten mit ihrem Versprechen. Halbtot bleibt sie mit sich allein; eine tiefe Ratlosigkeit kommt über sie, dann löst sich alles in einen Strom von Tränen auf. Wie keusch und zart, daß Frau Duse, diese Virtuosin des Weinens und Verweintseins, sich im Hintergrund der Bühne auf ein Sofa wirft, geschützt durch einen großen bedeckten Tisch. Wer weint, verbirgt sein Gesicht auch vor sich selbst. Allmählich kommt die Fassung wieder, und wie das nachzittert und auszittert, ist unvergleichlich.

Endlich ist die Kameliendame weit genug, den Absagebrief zu schreiben. Sie schreibt ihn wie jeden anderen: rasch, gefaßt, geschäftsmäßig, zerstreut. Mit einer jähen Handbewegung nach rückwärts hin reicht sie ihn der Dienerin zur Besorgung. Sie mag nicht sehen, wie mit diesem Briefe das Glück sie verläßt. Als dann Armando kommt, empfängt sie ihn ohne das übliche Aufschreien, matt und schwermütig, und er wird nicht recht klug aus ihr. Die Getrennten begegnen sich auf dem Balle. Mitten unter seinen Beleidigungen spürt sie noch einen Nachhall von Glück, denn er würde sie nicht beleidigen, wenn er sie nicht geliebt hätte. Und nun kommt er auch wirklich, sie zu suchen. Sie hört seinen Schritt, und mit einem Lächeln versteckt sie ihre Augen. Alle seine Sinne flackern wieder auf. Die Kameliendame widerstrebt. Nun wirft er sie weg und erniedrigt sie. Sie ist auf einen Sessel niedergefallen, und derweil er lästert, streckt sie den langen, hageren, weißen Arm nach ihm aus und ruft immer mahnender, immer bittender, immer dringender seinen Namen: Armando, Armando, Armando! Wie hier in Frau Duses Tönen die Gekränktheit in Bitte, in Sorge übergeht, der Geliebte könne sein edles Selbst verlieren, das ist aus den Tiefen der Menschenbrust geholt. Dann das Sterben. Nach einem Fieberschlafe, der die Kissen ihres Bettes zerwühlt hat, erwacht sie unerquickt. Nichts freut sie mehr recht; die borgende Freundin und ihren kalten Trost fertigt sie nervös ab, und die Neujahrsgaben einstiger Anbeter kritisiert sie mit Galgenhumor. Sie will allein sein. Dieses Alleinsein des Kranken, dem die wenige Zeit noch lange wird! Ein zufälliger Blick fällt auf die Hände – o Gott, wie sind sie abgezehrt! Das Buch, kaum angeblättert, klappt wieder zu. Der Blick in die Gasse regt auf. Hinein ins Bett und wieder hinaus. Unter den Kopfkissen die alten Liebesbriefe; das hundertmal Gelesene fällt auswendig von den Lippen wie eine Litanei. Aber es beruhigt, es gibt einen Traum, und wieder drückt der Kopf das Kissen. Alles ist Sterbestimmung. Und nun kommt der Geliebte. Nicht bloß im Traum. Sie wird noch einmal froh, plaudert auf seinen Knien, und der Atem keucht vor Freude und Luftmangel. Zuletzt gibt die Lunge nur noch den Namen des Geliebten her, der Kopf birgt sich in seine Brust, es wird still ...«

Zu ihrer Kameliendame erzählt Primoli: »Nachdem Giuseppe Verdi Eleonora Duse als Marguérite Gautier gesehen hatte, sagte er zu einem Freunde über seine ›Traviata‹: ›Ich könnte sie zwar heute nicht neu machen ... aber diese kleine Duse! Wenn ich sie gesehen hätte, bevor ich meine Oper komponiert hatte, hätte ich vielleicht aus diesem Crescendo in ihrem: Armando!, das sie einfach im Überströmen ihres Herzens gefunden hat, ein schönes Finale machen können.‹ Er meinte ihre wiederholten Ausrufe im vierten Akt der Kameliendame, da der Geliebte ihr die grausamste Beleidigung zufügt und sie, die ja durch ihr dem Vater gegebenes Versprechen gebunden ist, einzig im Rufen des Namens Armando kundgibt, was in ihrem Innern vorgeht.«

Unter den paar Rollen, von denen hier gesprochen werden kann, soll als nächste die Mirandolina in Goldonis anmutiger »Locandiera« gestreift werden, weil sie Eleonora Duse von einer ganz anderen Seite zeigt, die für alle, welche sie nur in den Rollen tragischer Leidenschaften gesehen hatten, überraschend und doppelt entzückend war. Diese Komödie, mit der sie Herkunft, Bluttradition und ihre Liebe zu Venedig verband, ist wie ein kleines, helles, sonnenerfülltes Gemach in dem düsteren, smara-umwehten Palazzo, in dem ihre Gestalten wohnen. In diese heitere Kammer geht sie zuweilen, wenn sie übermütig sein, lachen und ihre kleinen Weibsnarreteien und Schlechtigkeiten hold und ausgelassen begehen will, wie nur irgendein gelüstiges und gewitztes venezianisches Frauenzimmerchen.

Der russische Theaterkritiker K. D. Nabokow erzählt, daß die große russische Schauspielerin jener Zeit, Maria Gawrilowna Sawina (die zudem um ihres strengen und unbeeinflußbaren Urteils in Theaterdingen willen bekannt war), ihm, nachdem sie Eleonora Duse in dieser Rolle gesehen hatte, gesagt habe: »Sehen Sie, auch ich habe die Mirandolina gespielt, und ich kann Sie versichern, daß ich meine Sache wirklich nicht schlecht gemacht habe. Aber jetzt kommt es mir so vor, als ob die meinige nichts als Dilettantismus gewesen sei – die da aber, das ist wirkliche große Kunst.« Nun, solche allgemeine Urteile über diese Gestalt haben wir in Fülle vor uns, schöne, begeisterte, lyrisch beschwingte Worte namhafter Persönlichkeiten etlicher Nationen – aber wieder stehen wir der Schwierigkeit gegenüber, aus Bewunderung und Überschwang das gegenständlich Berichtende herauszulösen, das denen, die diese Mirandolina nicht mehr selber gesehen haben, ein weniges von dieser holden Schöpfung zu vermitteln vermöchte. Wir, die wir sie in dieser Rolle ihrer jüngeren Jahre selbst nicht mehr erlebt haben, haben etliche ihrer schauspielerischen Kameraden von damals über sie befragt. Wir haben von ihnen gehört, daß sie wie ihre Vorfahren sich die Freiheit genommen habe, da und dort Akzente zu verstärken und etwas hinzuzufügen. Einer ihrer Kameraden von ehedem, Augusto Jandolo, der, nachdem er das Theater verlassen hatte, etwas wie ein Dichter geworden ist, hat uns erzählt, daß diese Rolle für ihn die schönste der Duse gewesen sei, vielleicht weil sie die einzige dieser Art war, die sie lange Zeit hindurch gespielt hatte. Zwar hätte sie in der Blütezeit ihrer Liebe mit Flavio Andò mit ihm auch die »Pamela nubile« von Goldoni dargestellt, dieses Stück habe sie aber bald darauf für immer fallen lassen. Jandolo betont, daß in allen Städten ein jegliches Publikum, welcher Nation es auch immer angehört hatte, genau an den gleichen Stellen in einen Sturm von Lachen ausgebrochen sei. Das Geheimnis ihrer Wirkung meinte er darin zu suchen, daß Goldonis Komik ja nicht durch das Wort, sondern durch die mimische Situation sich dem Publikum mitteile und daß in diesen Situationen die Duse unerschöpflich an Erfindungen gewesen sei. Als Höhepunkt hebt er die Szene hervor, in der die Mirandolina in Gegenwart des Cavaliere di Ripafratta, des Weiberfeindes, den sie in sich verliebt machen will, Wäsche plättet. Da ruft sie plötzlich den in sie verliebten und von ihr geliebten Diener Fabrizio herbei, daß er ihr das heiße Eisen bringe. Und mit diesem verbrennt sie, scheinbar unabsichtlich, die Hand des Cavaliere und streichelt dabei liebkosend über die Haare des verliebten und eifersüchtigen Fabrizio, womit sie wieder die Eifersucht Ripafrattas erweckt. In dem Doppelspiel dieser Szene sei ihr Gesicht mit seinem unaufhörlich zwischen Koketterie, Verschlagenheit und Zärtlichkeit wechselnden Mienenspiele von hinreißender Komik gewesen.

Einzelne Bemerkungen aus Aufsätzen von Georg Brandes, Virgilio Talli und anderen fügen dem Bilde dann noch ein paar Details hinzu. Die Mirandolina ist die erste Rolle, in der wir erfahren, daß Eleonora Duse sich geschminkt habe: freilich nur die Lippen, aber das ist bei ihrem Widerstande gegen alle äußerlichen Mittel dieser Art schon ebenso bemerkenswert wie das Schönheitspflästerchen, das sie in der »Locandiera« als einen Teil des Kostüms, wie das helle kurze Kleidchen und die Atlasschuhe, trägt. Da sie auf die Bühne kommt, ist sogleich helle heitere Luft venezianischen Rokokos um sie. Und sie ist eine der Schönen jener Casanovaschen Welt, die, wo ihnen das Herz danach steht, nicht mit sich kargen, die sich aber in lustiger Wehrhaftigkeit sehr geschickt gegen alle die zu verteidigen wissen, die jeder wohlgeratenen Hübschen das Busentuch lüften möchten.

Ehe wir nun zu einer Rolle ganz anderer Art übergehen, wollen wir hier zwei Bemerkungen des Grafen Primoli, der, wie erwähnt, sie von den Anfängen ihres Aufstieges an gekannt hatte, über ihr Theaterspiel einfügen. Er sagt: »Man kann von ihr nicht sagen, daß sie ein System habe, zumal sie ja aus keinerlei Schule hervorging. Freilich hat sie aber ihre ganz individuelle Art, die keiner anderen gleicht und die nachzuahmen gefährlich wäre. Um auf eine solche Weise so genial Theater spielen zu können, muß man vielleicht von der Commedia dell'Arte herkommen, in der der Schauspieler ebensoviel schöpferisches Talent besitzen mußte wie der Autor: dieser hatte nur den Kanevas zu spannen, auf den jener dann seine Blumen stickte.« Charakteristisch ist, was er über ihre Art des Auftretens schreibt: »Während die Primadonnen, besonders in Italien, immer auf eine möglichst aufsehenerregende Weise auftreten, um vom Applause des Publikums begrüßt zu werden, tat die Duse stets ihr möglichstes, auf die Bühne zu gelangen, ohne daß der eigentliche Moment ihres Auftretens bemerkt würde. Sie ist zufrieden, wenn man sie nicht auftreten gesehen hat oder wenn, da sie dann erkannt wird, gemurmelt wird: ›So, das also ist sie!‹ Aber schon beim ersten Worte, das von ihren Lippen kommt, der ersten einfachen Geste oder Bewegung wird dieses ›das‹ jemand, und dieser jemand wird alsbald alles, so daß nach kurzem außer ihr schon nichts anderes mehr auf der Bühne und im Theater existiert.«

Als letzte der Rollen, die wir in diesem Versuche einer Charakterisierung ihrer Kunst vor ihrer Begegnung mit dem Manne, der ihr Leben und ihr Schaffen zu einem anderen gemacht hat, anführen wollen, sei eine gewählt, die sie erst gegen das Ende dieses Lebensabschnittes in ihr Repertoire aufgenommen hat: die Magda in »Heimat« von Sudermann. Dieses Stück, kraftvolles Theater, durch die verfeinertere Sensibilität der naturalistischen Fin de siècle-Stimmung und seine echte Gegensätzlichkeit zwischen dem freigewordenen Individuum und der Enge seiner Herkunft hoch über das Niveau der Dumas und Sardou hinausgehoben, hat sie trotz mancher allzu zeitbedingt deutscher Dinge angezogen, weil sich darin eine sehr verlockende Aufgabe darzubieten schien: das Nationale und Artfremde an dieser Gestalt mit ihrem eigenen Wesen zu erfüllen und dazu etwas von der Problematik der Bühnenkünstlerin in der Bürgerwelt als Dusesches Bekenntnis zu gestalten. Aus einem Briefe, den sie an Hermann Sudermann geschrieben hat, geht hervor, wie sie sich sogleich mit dieser Sängerin zu identifizieren versucht hat, so daß sie sogar ihre eigenen beim Theater verbrachten Jahre aufzählt und gegen die der Magda hält.

Ehe wir hier aus zweien der zu Gebote stehenden Quellen Berichte über ihr Spiel als Magda anführen, wollen wir an dieser Stelle, die uns aus einem äußeren Grunde dazu geeignet scheint, ein paar Worte über die Ensembles sagen, mit denen sie diese wie alle ihre anderen großen Rollen gespielt hat. Nun, diese Ensembles waren, wie die Mehrzahl ihrer Stücke, unentbehrlicher Rahmen, ohne sonderliche Eigenbedeutung. Nicht mitgemeint ist natürlich Flavio Andò, der ein vornehmer Schauspieler von höchstem künstlerischen Geschmacke und, wie von allen betont wird, der würdige Partner Eleonora Duses war, obgleich oder vielleicht weil er sich stets beinahe unterordnete und immer nur gerade soviel an Wirkung zu erreichen suchte, als sich mit der seiner Freundin Eleonora vertrug. Er blieb, solange er mit ihr spielte, eine schöne, edle Begleitstimme, die sie gern hatte und neben sich brauchte. Und da er feinfühlig, taktvoll und uneitel war, konnte er neben ihr bestehen, ohne zuviel von seiner Schauspielerwesenheit einzubüßen. Nicht mit gemeint sind ferner der eine oder der andere von den vielen, die in all den Jahren mit ihr gewirkt haben, wie vor allem Rossi, Zacconi, Rosaspina und mehrere, die eigenartige Schauspielerpersönlichkeiten waren, was sich bei einigen freilich erst offenbarte, als das allzugrelle Licht der großen Eleonora Duse sie nicht mehr blendete. Die Mehrzahl der Schauspieler in der »Drammatica Compagnia della Città di Roma«, worauf gerade gelegentlich der »Heimat« von der Kritik des öfteren andeutungsweise Erwähnung getan wird, aber waren, mochten sie auch begabt gewesen sein, zu schwach, um neben ihrer Primadonna als mehr denn Staffage zu wirken. Ein so guter Kamerad Eleonora Duse menschlich den Ihrigen stets zu sein versuchte, wenn sie mit ihr auf der Bühne standen, »drückte sie sie an die Wand«, wie von ihr gesagt wurde. Wo sie spielte, war nicht viel Platz für andere Persönlichkeiten – und so blieb auch nicht viel von solchen um sie übrig. Ihr Ensemble mußte leidlich fügsam sein und die Rollen so lernen, wie sie sie zurechtbog. Zwar gab sie sich zu Anfang immer Mühe, die Phantasie ihrer Schauspieler zu wecken, damit sie ihre Rollen möglichst verlebendigten, und ermunterte sie, doch recht nach ihrem Herzen und ihrer Natur zu spielen. Doch wem danach zumute war, der gab es unmerklich wieder auf, weil der Platz, der ihm in den von Eleonora neugeschaffenen Stücken blieb, nicht genug Atemluft bot. Sie hätte gerne immer gute Schauspieler um sich gehabt, aber es gelang ihr nicht, wie es etwa einem der großen Maler von ehedem, die ihre umfangreichen Kompositionen durch Schüler und Gesellen ausführen ließen, nicht gelungen wäre, einen starken und sehr eigenartigen Künstler lange bei einer solchen Arbeit zu behalten. Es ist zum Beispiel kaum anzunehmen, daß eine kräftige Schauspielernatur in der Rolle des doch das ganze Stück hindurch so gründlich antipathischen Oberstleutnants Schwartze in »Heimat« sich den einzigen wirksamen Augenblick und Effekt, auf der Bühne zu sterben, hätte nehmen lassen und gefügig auch noch diese seine Hauptwirkung der Magda überlassen hätte, als welche Eleonora Duse mit ihrem Gesichte und ihren Gesten den Tod des Alten selber darstellte.

Über die Magda schreibt der Pariser Theaterkritiker Adolphe Brisson: »Man erinnert sich des Sujets des Stückes. Sarah Bernhardt, die das Stück früher gespielt hat, macht aus der Heldin eine Abenteuerin. Sie landet daheim als Triumphatorin, schüchtert die kleinen Leute durch ihren großartigen Aufwand an Luxus ein, und man begreift gar nicht, wie diese auf den Gedanken kommen, sie bei sich zurückzubehalten.

Das Auftreten der Duse geschieht diskreter. Man hat bei ihr weniger das Gefühl, daß sie in ihrer alten Umgebung eine Fremde sei, man begreift besser, daß diese wieder Gewalt über sie bekommen könne. Die ganze Gestalt hat bei ihr eine Note von schüchterner und sanfter Demut, die jedoch die Möglichkeit des Stolzes keineswegs ausschließt. Sie sucht für den aufdringlichen Glanz ihres Reichtums Vergebung zu erlangen. Sie zittert wie ein Kind vor der Zuchtrute des unsinnigen Oberstleutnants Schwartze, und sie gelangt erst allmählich dahin, sich dieser widerwärtigen Tyrannei zu entziehen und sich ihrer Würde bewußt zu werden. Eleonora Duse findet mit einer außerordentlichen Sicherheit den Ausdruck für die Abstufungen dieses Gefühls: Überraschung, Erniedrigtsein, dann den Abscheu, den ihr die Feigheit ihres Jugendverführers einflößt, den wachsenden Zorn und den Ausbruch der Empörung zuletzt. All das ist harmonisch zueinandergefügt und umweht von einer Atmosphäre von Distinktion und moralischer Vornehmheit. Eine Szene war ganz besonders erlesen, die, in der Magda die unvermuteten Schätze in der Seele des übelbeleumundeten Pastors Heffterdingk entdeckt; die Duse hatte ein Verstummen und Blicke, die mehr sagten als lange Gespräche. Sie war nicht mehr sie selber, sie war nur noch die Magda ... und es war, als ob man durch das Flüstern ihrer Stimme ihr Herz klopfen hörte.«

Ausführlicher erzählt Luigi Rasi, der eine Zeitlang Mitglied ihres Ensembles gewesen war und Gelegenheit gehabt hatte, sie des öfteren in dieser Rolle zu sehen, von ihrer Magda:

»Die Gestalt hatte bei ihr sofort ihr ganz persönliches Gepräge, da sie auf die Bühne gestürzt kommt und ihre Schwester Maria in die Arme preßt, die einzige, an die sie ein freundliches Erinnern bewahrt hat, die einzige, die wiederzusehen sie erschüttert, dieses armselige Blumenknöspchen, das wohl dahinsiechen wird, ohne zu erblühen, erstickt von jener unnachgiebigen verhängnisvollen Strenge, die auch sie selber zu ersticken gedroht hatte. ›Die Kleine! Die Kleine! Die Kleine!‹ flüstert sie, über sie gebeugt, sie mit leidenschaftlichen Küssen und Zärtlichkeiten überströmend. Nach dieser heißen Umarmung wendet sie sich kalt und respektvoll, den Vater zu begrüßen, kalt und höflich die Stiefmutter, kalt und spöttisch die Tante Franziska. Oh, in dieses mit spitzen Lippen und funkelnden Augen gesagte ›Da sind wir ja auch noch ...‹ drängen sich all die Erinnerungen an jene unseligen Tage zusammen, in denen sie neben der soldatischen Zucht des alten Oberstleutnants auch noch die heuchlerische Zucht der alten Betschwester hatte über sich ergehen lassen müssen. Ein Wort, ein Blick, ein Tonfall sprechen unvermittelt aus, was für eine Rolle jede dieser Personen spielen wird ... Genial gelungen ist ihr der Schluß des dritten Aktes, da auf das gebieterische ›Ich habe mit dir zu reden!‹ des Oberstleutnants und auf Magdas nicht weniger stolzes ›Und ich mit dir!‹ der gebieterische, drohende, dröhnende Befehl folgt: ›Geh voran – in mein Zimmer!‹ Hier steht im (italienischen) Textbuche ein einfaches, trockenes und knappes ›Ja‹ als Antwort, eine Fortsetzung, wenn nicht gar eine Steigerung der Herausforderung. Die Duse hingegen läßt gegenüber dem unbeugsamen Stolz des Vaters äußerlich allen ihren eigenen Stolz fallen. Auf jenes Brüllen der Drohung hin wendet sie sich mit einem beinahe mitleidigen Ausdrucke zu ihm hin. Und während sie geht, sagt sie: ›Aber ja ... Vater!‹, langsam, gefügig, gelangweilt, und legt auf das letzte Wort einen starken Akzent, nicht den unausweichlicher Unterwerfung, sondern vielmehr den mitleidsvollen Nachgebens.

Im vierten Akte, zum Schlusse der Szene mit Keller, da sie nach einem zarten Hin und Wider von Spötteleien und Ironien kaum seinen Vorschlag vernommen hat, das geliebte Kind in Verborgenheit zu halten, fährt sie mit einem rasenden Ausdruck wilden Stolzes gegen ihn los: ›Come? Che hai detto? ... Mio tesoro! Mio bene! Creatura mia! E io dovrei ... ah! ah! ah! Fuori! ... Fuori! ... Fuori! ...‹ (Im Sudermannschen Text heißt die Stelle: ›Mein Süßes! Mein Kleines! Mio Bambino! Mio povero bam – dich – dich – soll ich – hahahahaha – Hinaus, hinaus! [will die Flügeltür öffnen] hinaus!‹)

Da dann der Vater eingetreten und sie mit ihm allein geblieben ist, sagt sie zu sich selber: ›So! jetzt bin ich wieder die alte!‹, mit einem solchen leidenschaftlichen und entschlossenen Ausdruck und Tonfall, daß ein Zweifel darüber gar nicht mehr möglich ist, was für Ausbrüche von Angst und Wut, vor allem aber von Wut, nun in dem letzten, bitteren und verhängnisvollen Kampfe mit dem unbeugsamen Alten folgen müssen ...«

Dann kommt eben jene von der Duse selbst geschaffene Szene, in der sie mit ihrem Grauen das Sterben des dem Publikum nicht sichtbaren Oberstleutnants darstellt.

Das war die Magda, in der sie vielleicht die intensivsten Erfolge jener Jahre errungen hat. Rein äußerlich kann auch der, der sie nicht in dieser Rolle gesehen hat, sich eine Vorstellung machen davon, wie sehr diese Gestalt zu ihrer Schöpfung geworden ist, wenn er Berichte wie die angeführten mit Sudermanns Originaltext vergleicht. Sudermann selber jedoch hat diese Umgestaltung als eine Bereicherung empfunden, denn er schrieb, daß keine andere Magda an Eleonora Duse herangereicht habe und daß diese im Gegensatze zu Sarah Bernhardt ebendiese ungeheure Wirkung sozusagen ohne alle äußeren Mittel und einzig durch ihre Innerlichkeit erreicht habe.

Obwohl wir, wie alle, die von ihren Gestalten erschüttert und bezaubert waren, wissen, daß diese Erschütterungen und Verzauberungen ganz und gar aus der Kraft einer Seele kamen und nicht aus Fertigkeiten und Technik, haben wir in diesen letzten Seiten versucht, die zulänglichsten Zeugnisse, die wir aufzufinden vermochten, von ihrem Theaterspiel und ein weniges von den Ausdrucksmitteln, deren sich diese gestaltensgierige Seele bediente, sprechen zu lassen. Freilich wird dieses »Erzählen von den hingegangenen Bildern« denen, die sie nicht erlebt haben, kaum etwas von der Wahrheit und ungeheuren Lebensfülle ihrer Gestalten zu vermitteln vermögen. Wenn aber diesen Spätergeborenen unser Buch als Ganzes eine Ahnung vom Menschlichen dieser großen schöpferischen Natur Eleonora Duse mitteilt, hat es diesem späteren Geschlechte gegenüber schon seinen kleinen Sinn. Den anderen aber, die sie gesehen haben, werden diese paar Striche, diese andeutenden Lichter und Schatten die vielleicht in ihrem Gedächtnisse sich schon ein wenig verwischenden Bilder wieder auffrischen. Und wenn dazu ihnen die Biographie und ein paar Dokumente dieses Daseins die Erinnerung an ihre Theaterbegegnung mit der großen Künstlerin vermenschlichend bereichern, mag dieses Buch, das nun sogleich wieder zu seiner Aufgabe des Berichtens zurückkehrt, auch für diese seinen Sinn haben.

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