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Das Fieber der Dreißigjährigen

Als Eleonora Duse in Italien schon berühmt war und ihr Kommen für jede der Städte ihres Vaterlandes als ein Ereignis galt, war es zwar mit den kleinen Geldsorgen ihrer Anfangsjahre vorüber, aber statt deren hatte sie nun die größeren zu tragen, die ihr um so schlimmer waren, weil sie ja nun für andere zu sorgen hatte. Das Geld war knapp in Italien, und für die meisten aus jenen Klassen, die ihr eigentliches Publikum waren, war ein Theaterbillett eine Ausgabe, die man sich nicht oft gestatten konnte. So zog sich beim Anblick der Kassenrapporte ihre Stirn oft zu schlimmen Sorgenfalten zusammen. Die Gagen, Theatermieten, die Reisen und all das, was der kostspielige Haushalt einer so vielköpfigen Familie wie eines Theaterensembles mit sich bringt, mußten bezahlt werden; und die Gagen waren hoch, weil sie es so wollte, und die Mieten in Anbetracht ihres schon großen Namens nicht gering. So war die Wahl der Städte ein höchst verantwortungsvolles Ding, denn sie konnte es sich nicht leisten, daß auch nur eines ihrer Gastspiele ganz und gar mißglückte. Und dann war sie ja stolz: sie konnte nicht bitten, nicht klagen, nicht einflußreichen Leuten schön tun – es mußte alles durch die Arbeit und deren Wert geschafft werden. Und wenn es ganz schlimm zu gehen drohte, dann meinte sie, sie müsse eben noch immer besser und besser Theater spielen, dann könne es endlich gar nicht fehlen, daß es einmal auch mit diesen Dingen anders würde. Und es wurde anders, so phantastisch anders, wie sie es sich kaum hätte vorstellen können, nachdem sie, ihrer Sehnsucht nach einem weiteren Schaffenskreise folgend, den Weg über die Grenze ihrer Heimat gewagt hatte. Schon in Wien ergab das Erträgnis ihres ersten Gastspiels eine Summe, die ihr, für die vorher hundert Lire noch ein ansehnlicher Betrag gewesen waren, ein Vermögen darstellte.

Wie wollte nun alles wunderbar leicht gehen, und was gestern noch ganz phantastisch schien, war heute so natürlich und selbstverständlich, als Leben ihr überhaupt zu sein vermochte. Es war nun eine hübsche Zahl von Jahren her, daß sie das Unerhörte gewagt hatte, nach der großen Sarah Bernhardt zu spielen – aber das war in Turin gewesen, unter Landsleuten, unter denen sie vor der erhabenen Sarah doch die Sprache voraushatte. Und dann hatte sie es mit den Russen gewagt. Aber da hatte es doch diese geheimnisvolle Vertrautheit vom Herzen her gegeben. Und dann in Wien und in Berlin: aber die hatten doch diesen hochentwickelten Sinn für gutes Theater, der auch sie sogleich verspürte und verstand. Da war das jetzt freilich ein anderes Unterfangen, da ihr nun mit einem Male nahegelegt wurde, in dieses fremde, fremde Land über dem Meere zu gehen, wo alles so ganz und gar anders sein mußte, wo man sich an nichts Vertrautes, Menschliches halten und sich daran aufrichten konnte, wo man einfach Theater spielen mußte, so gut man es verstand, ohne sich Seelennahrung von diesen unverständlichen Menschen da unten zu erwarten.

Nun, es war ganz und gar nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte, als sie damals von Berlin im Januar 1893 zum ersten Male nach den Vereinigten Staaten »transportiert« wurde. Es war nicht nur nicht arg, sondern, als das erste erschrockene Befremden vorbei war, war da hinter all den Wunderlichkeiten eben auch eine Menschenwelt, mit der man sich verständigen konnte, wenn man von Gott selber diese gnadevoll unmittelbare Sprache der Seele mitbekommen hatte. Der erste Augenblick ist noch ein gelindes Grauen. Sie schreibt an den Kunsthistoriker Corrado Ricci, den Freund ihres damals wohl mehr als je vermißten Boito: »... Als ich zum ersten Male nach einer stürmischen und qualvollen Überfahrt in Amerika landete und die große Stadt sah, nichts als Geleise, Wagen, Geschäfte, nichts als absonderliche Bauwerke, riesenhafte Reklamen, nichts als Lärm und Getöse, ohne ein Lächeln der Kunst, ohne einen Ruhepunkt für das Auge und für die Seele, da hatte ich den Gedanken, mich wieder dem stürmischen Meere zu vertrauen und unverweilt nach Italien zurückzukehren. Ich blieb, nachdem ich diese erste Regung niedergerungen hatte, war aber immer von einer tiefen, unerklärlichen Traurigkeit erfüllt.«

Sie bleibt. Und da sie in ihrem Hotelzimmer, wo sie sich ein wenig geborgen glaubt, kaum zum Bewußtsein ihrer selbst zurückzufinden beginnt, empfindet sie mit einem Male, daß sie, wie sehr sie sich nun auch verkriechen mag, in dieser ungeheuerlichen Stadt durchaus nicht unbemerkt geblieben ist. Die Fühler der Riesenstadt, die Journalisten, sind auf den Namen Eleonora Duse gestoßen. Es ist ihr Amt, ihr Recht, zu wissen, was es mit diesem Namen für eine Bewandtnis habe. Millionen von Menschen haben sie dazu angestellt, und keiner wird ihnen ihr Recht verwehren. Sie kommen, wollen sehen, fragen. Und da geschieht das Unbegreifliche, Wahnsinnige: diese Eleonora Duse weigert sich einfach, Rede zu stehen, die Frager, denen keine Tür verschlossen bleibt, zu empfangen. Der amerikanische Theateragent, der gearbeitet hat wie ein Rasender, um diese namenlosen Helfershelfer des Ruhms herbeizulocken, ist völlig verstört, da er von dieser Weigerung erfährt. Er stürzt zu Eleonora Duse, bittet, beschwört, redet ihr zu wie der Vater dem Kinde, das eine bittere Medizin nicht nehmen will. Sie sieht ihn mit traurig erschrockenen Augen an und sagt immer wieder, sie sei doch eine Frau wie jede andere, sie habe doch das Recht, fremde Leute nicht einzulassen, wenn sie allein sein wolle. Er redet von neuem auf sie ein: sie sei ja in Amerika, ob sie denn nicht verstehe, daß sie das größte Weltwunder sein könne und daß hier doch keine zehn Leute sich fänden, die sich von ihrer Herrlichkeit überzeugen wollten, wenn nicht erst die Presse, die Reklame für sie gearbeitet hätte. Die Leute hier hätten zuviel zu tun, sie gingen nicht aufs Geratewohl, sich eine unbekannte Italienerin anzusehen. Sie wollten wissen, was sie zu erwarten hätten. Nachher würden sie freilich dann schon selber urteilen. Wenn sie auf ihrer Weigerung beharre, sei die Amerikareise ein verlorenes Unternehmen, was einem Verluste von hunderttausend Franken gleichkäme. Es war dieselbe Auseinandersetzung, die sie, als sie das nächste Mal nach den Vereinigten Staaten kam, mit ihrem Impresario Schurmann hatte. Während sie sich wieder gegen die unablässigen Interviewer verteidigte, wird erzählt G. Antonia Traversi, ließ sich eine Journalistin, Mrs. G., melden, und Eleonora Duse gab Auftrag, sie vorzulassen, entschlossen, die Sache in ihrem Sinne zu wenden, und sagte mit erregter Stimme zu ihr: »Verzeihen Sie mir, gnädige Frau. Ich bin eine Fremde und kenne die Gebräuche ihres Landes nicht. Man macht mir zum Vorwurfe, daß ich es an Respekt gegen die Presse fehlen lasse, weil es mir nicht möglich ist, alle die Journalisten zu empfangen, die zu mir wollen. Wollen Sie meine Sprecherin bei ihnen sein? Wir Frauen müssen uns ja solidarisch zeigen und uns gegenseitig unterstützen. So bitte ich Sie, ihre Kollegen zu fragen, warum die Arbeiter, die den Tag über sich plagen, das Recht haben, sich dann in der Nacht auszuruhen, während ich, die ich den ganzen Abend arbeite, meine Nachmittage nicht in Frieden genießen dürfen soll? Es ist eine mühselige und auch undankbare Sache, allen denen Rede stehen zu sollen, die in meinem Hotel vorsprechen und mir unter dem Vorwande, daß eine Schauspielerin dem Publikum gehöre, hundert indiskrete Fragen stellen. Mir hingegen scheint es, daß die Schauspielerin als etwas ganz Neues auf der Bühne erscheinen müßte, ohne daß vorher schon den Zuschauern gezeigt worden wäre, woraus das Spielzeug gemacht ist, mit dem sie sich vergnügen sollen ...«

Mrs. G. versprach, die Worte der Duse zu wiederholen, und sie schrieb tatsächlich einen kraftvollen Artikel zur Verteidigung des Friedens, auf den die große Schauspielerin ein Anrecht habe. Der Artikel wurde gelesen und der Appell gehört.

Ihrem Instinkte folgend hatte sich Eleonora Duse mit diesem Appell die wirksamste Beschützerin und, ohne es zu beabsichtigen, die in Amerika machtvollste Reklame erworben: die amerikanischen Frauen. Denn sie waren es um jene Zeit vor allem, die die Gesandtinnen der Männerwelt in alle die Reiche, die jenseits der erwerbenden Arbeit begannen, darstellten. Sie lasen die Bücher und entschieden ihr Schicksal bei den Männern, sie waren es, die Bilder kauften, Musik hörten und trieben, kurz, ihnen war sozusagen die Verwaltung alles Künstlerischen im amerikanischen Leben anvertraut. Und das erste Publikum, das Eleonora Duse dann bei ihrem ersten Auftreten in New York, in einer Matinee als Marguérite Gautier, zujubelte, bestand vorwiegend aus Frauen.

New York war dann ein Erfolg erster Ordnung, und auch die anderen amerikanischen Städte, in denen sie bei ihrer ersten Tournee auftritt, übertreffen alle Erwartung. Das Ergebnis ist eine unerhörte, unwahrscheinliche Summe Geldes – und ein großes Heimweh nach Italien.

Und nun kamen Anfragen, Gastspielanträge, Briefe in wildfremden Sprachen. Das alles hatte sie nicht bedacht. Und der kleine Tänczer, der gerade in seinem Heimatlande diese Dinge zur Not in Ordnung zu halten verstand, war auch nicht der Mann, die Verantwortung für all das Unbekannte, das sich nun beängstigend vor ihr auftürmte, zu übernehmen. Sie brauchte jetzt den Menschen, der sich auf all das verstand, was nun unausweichlich zu sein schien.

Und da sie einen solchen Mann brauchte, war er auch da: ganz und gar der, dessen sie bedurfte, der Mann, der in allen Ländern der Erde zu Hause zu sein scheint, einen unfehlbaren Instinkt für Künstler und Publikum hat und mit wunderbarer Geschmeidigkeit Menschen zu behandeln weiß, das Muster des Impresarios großen Stils: J. J. Schurmann. Wenn der an einen Künstler glaubte, dann setzte er ihn durch, wo er wollte; wie oft und gründlich ihm das gelungen ist, erzählen seine beiden Erinnerungsbücher an Künstler, Reisen und Erfolge mit der Fülle der Namen derer, die er zu berühmten Namen gemacht hat, und die Orden aus aller Herren Ländern, die bei gegebenem Anlasse seine breite Brust schmücken, und endlich auch das Teil Ansehens und Erfolges jeder Art, das ihm nicht karg vom Schicksale zugemessen worden ist. Dieser »Elefantenführer Barnum-Schurmann«, wie ihn Eleonora Duse in einem Briefe genannt hat, übernahm nun das neuaufgetauchte Wundertier, in dem, abgesehen von aller seiner wirklich aufrichtigen Bewunderung für die Kunst, der gewiegte Impresario sogleich das ganz große Geschäft witterte. Und er setzt sogleich seine rastlose Tatkraft, seine weltumspannenden Beziehungen und das ganze Gewicht seines wohlerworbenen Ansehens für diese Schauspielerin ein, für die er einen Erfolg ahnt, wie ihn sonst höchstens noch eine ganz große Sängerin haben kann. Ihr, der dieser ganze losgelassene Furor von Geschäftstüchtigkeit galt, mag wohl zuerst recht wirblig zumute gewesen sein, als mit unendlichen Telegrammen und täglich sich mehrenden Verpflichtungen plötzlich Städte und Länder, von denen sie kaum recht wußte, wo sie lägen, in ihren Lebenskreis eindrangen.

Bald muß sie dann sogar Schurmanns Eifer dämmen, wenn er, noch unvertraut mit ihrem Wesen, der Reklame ein wenig zu viel tut. Und wenn er, händeringend wie jener Amerikaner, zu ihr kommt und sie beschwört, doch den oder jenen wichtigsten Zeitungsmann, den er mit vieler Mühe für sie interessiert habe, zu empfangen, dann kann sie es sich doch nicht versagen, lächelnd darauf hinzuweisen, daß nach ihren amerikanischen Erfahrungen ihre Art, die Presse zu behandeln, auch ihre Vorteile habe, und zu betonen, daß sie entschlossen sei, es weiter so zu halten.

Freilich hatte das nicht immer so freundliche Folgen wie in Amerika. Oft rief ihr Abscheu gegen jegliche Indiskretion und ihr eifersüchtiges Wachen über ihr Leben, das nicht dem Theater gehörte, die Rachsucht der Abgewiesenen wach, die sich dann allen umlaufenden Klatsches bemächtigten und ihn, stets zum Dementi bereit, zu Enthüllungen aufbauschten. Oft, wenn sie den einen oder anderen Interviewer wirklich gar nicht mehr abweisen konnte, fand sie immer noch irgendein Mittel, sich der gefürchteten Ausfragung und Besichtigung zu entziehen. So heftete sie einmal an die zugezogenen Vorhänge ihres Bettes ein ärztliches Zeugnis des Inhalts, daß Frau Duse unter keinen Umständen durch fremde Menschen gestört werden dürfe. Und in London, wo ihr die Berichterstatterin einer bedeutenden Zeitung durch Bekannte so empfohlen worden war, daß sie sie empfangen mußte, legte sie im abgedunkelten Zimmer ihre wohlinstruierte Jungfer in ihr Bett, die dann eine halbe Stunde lang, schweres Leiden mimend, der Interviewerin Rede stand, bis diese endlich der Vertauschung gewahr wurde und empört das Hotel verließ; daß sie nachher nicht eben freundlich Kritik geübt hat, focht Eleonora Duse wenig an.

Sie hatte einem Freunde einmal gesagt: »Ich gehöre abends von sieben bis elf Uhr dem Publikum. In der übrigen Zeit bin ich eine Frau wie jede andere und habe das Recht, für mich zu leben.«

Und sie verteidigte dieses Recht mit allen ihren Kräften, nicht nur gegen die Journalisten, die die Schauspielerin dort suchten, wo sie keine war –, sondern auch gegen alle die, die sich der Frau, dem Menschen nähern wollten, wo es diesen nicht gab, wo sie in diese Fedora oder Magda hineingegangen und irgendeine Gestalt geworden war, deren vergängliche Wesenheit nur hinter der magischen Linie des Rampenlichtes Sein haben durfte. Diese Augenblicke des Aufwachens aus jener anderen Wirklichkeit, das Zurücksuchen des erschöpften Körpers in das Leben Eleonora Duse hütete sie, wie die unter die Lebendigen heraufgestiegenen Wasserfrauen das Geheimnis ihrer Brunnentiefe hüten. Hier war Leben, dort Theater – daß sie von dem einen in das andere gehen konnte, war ihr schicksalvolles Geheimnis. Aber es gab immer nur das eine oder das andere, kein Ineinanderfließen, keine Vermischungen. Wer die Schauspielerin sehen wollte, mußte Zuschauer im Theater sein. Und wer den Menschen finden wollte, mußte sich ihm menschlich nahen. Es gab keine Ausnahmen. Nicht weil »sie es sich leisten konnte«, da sie nun berühmt war, sondern weil das gegen ihr Gesetz ging, das ihr im Geringscheinenden ebenso unerbittlich war wie in den Schicksalsaugenblicken, in denen es um Tod und Leben ging.

Es war oft sehr schwierig, solche Besuche aus der anderen Sphäre abzuweisen, solchen Rufenden nicht zu folgen. Als damals die Königin Margherita, von ihrem Spiele erschüttert, sie im Zwischenakte in ihre Loge zu kommen hieß, war es schwer, die Weigerung auszusprechen. Und doch mußte sie das sagen, daß sie jetzt Schauspielerin sei und als solche nicht in den Zuschauerraum gehöre: »Ihre Majestät wird das verstehen!« Und diese Majestät, die ein kluger und feinfühliger Mensch war, die Königin, die den Republikaner Giosuè Carducci besucht und geehrt hatte, verstand und achtete den Grund. Schwieriger war das schon mit einem anderen gekrönten Haupte, dem Könige von Württemberg, der erst durch seinen Adjutanten, dann selber verlangt hatte, in ihre Garderobe eintreten zu dürfen, und sich erst hatte abweisen lassen, als sie erklärt hatte, das Stück würde nicht weitergehen, ehe der König nicht wieder in seiner Loge wäre.

Eleonora Duse kehrte in ihr Italien zurück, das ihr nun heiterer und herzensnäher scheinen will als je zuvor. Noch ein paar Gastspiele, dann kann sie ausruhen, dann hat für eine kleine Weile Schurmann keine Gewalt über sie. Aber schnell wird ihr Land ihr wieder eng, eng. Dann sieht sie das Kind und denkt: die soll hinaus, soll lernen und die Welt verstehen, dann wird ihr Italien erst die rechte Heimat werden. Und dann soll sie weit, weit fort sein von der Welt, in der die Mutter Theater spielt! Eine Frau fällt ihr ein, die sie in Deutschland kennengelernt hat und deren Wesen ihr so wunderbar Vertrauen eingeflößt hatte, daß sie gedacht hatte: wenn ich einmal einen zuverlässigen Menschen brauche, soll es die sein. Diese Frau lebte in Dresden, und Dresden wird hernach die Stadt, wohin die Tochter, dieses ernste, lernbegierige Kind, gebracht wird, auf daß sie alles das lernen möge, was der Mutter nicht gewährt gewesen war.

Karg sind nun die Zeiten der Rast in Landschaften bemessen. »La gloire oblige.« Sie weiß es, und Schurmanns Mahnungen kommen wie Weckrufe zu dem schon Erwachten. Aber sie lernt, sich noch immer tiefer und inniger zu versenken und das kurze Glück des Alleinseins wie außer der Zeit zu trinken, mit ihren schauenden Augen, die die Farben so lieben und sich aus ihnen wunderbare Feste zu machen wissen, und mit all ihren Sinnen, die ihr die schöne Erde in ihre Seele bringen. Und ein hohes Fest wird ihr jedesmal, da sie mitten in ihren Wanderfahrten ein paar Tage an dem Meere ausruhen darf, das das Meer von Venedig und Chioggia ist und von dem sie einmal gesagt hat: »Ich liebe das Adriatische Meer viel mehr als das Mittelländische. Die blauen Fluten und die weißen Segel des Mittelmeeres wiegen mir das smaragdene Meer und die Lateinersegel, die blutend rot sind wie die Sonnenuntergänge, nicht auf. Und was für hübsche Aufschriften sie tragen: Al ritorno! oder: Per te! O unsere Seeleute gedenken immer ihres Heims und derer, die sie dort erwarten, und so schreiben sie diese anmutigen Worte, die ihnen vom Herzen kommen, auf die lebendigen und pochenden Herzen ihrer Barken Zu Joseph Galtier

Ihr Al ritorno und ihr Heimweh gilt den Freunden, den Herzen, die als das Stetige in ihrer Unstetheit pochen. Kaum ist sie wiedergekehrt, gibt es eine gehetzte Fahrt dahin, ein paar Stunden unendlichen Gespräches mit dem einen zu haben, ein Telegramm dorthin, rufend, daß ein anderer komme. Nun ist seit Jahren auch noch ein anderer Freund in ihrem Leben, von dem sie weiß, daß er für immer da ist: Adolfo de Bosis, der Dichter, in dem früh schon etwas von der serenen Weisheit antikischer Menschen leuchtet, der mit stolzer Heiterkeit die Last eines fast unerträglichen Berufes trägt, um den Seinen zu dienen, Adolfo de Bosis, »der Treueste der Treuen«, der immer da ist, wenn man ihn braucht, und der zu all seinen Arbeitspflichten und Studien, die zwei Leben anderer Art ganz und gar ausgefüllt hätten, immer noch Zeit hat, den Freunden zu dienen, der viele Nächte hindurch nicht schläft, um eine übereilte Bitte erfüllen zu können. O wie gut ist es, mit ihm zu sein. Zuversicht geht von ihm aus, nicht der Optimismus, in dem sie nur allzuoft schon die willige Blindheit gegen Drohung und Gefahr erkennt, sondern jene Zuversicht der hohen Seelen, daß alles wirkliche Tun seinen Sinn in sich trage. Oh, und wieviel er weiß! Er erzählt ihr von seinen Freunden, von dem wunderbaren Giovanni Pascoli, diesem tragischen Theokrit einer späten Welt, liest ihr seine Verse vor und andere, vor allem den geliebten Shelley, den er übersetzt und zu dem er diesen tiefen dichterischen Kommentar schreibt.

Und dann ist Matilde Serao da, die Freundin anderer Art, die so sehr Frau ist, so leiblich-südlich, und die so viel von ihr weiß. Und dann die paar anderen, die ihr schreiben, von denen sie soviel weiß und die mit jedem Wiedersehen näherwerden. Und dann ist vor allem er da. Und wenn sie ihn auch immer seltener sehen darf, er ist doch in ihrem Lande, es ist ihrer beider Italien, das sie grüßt, wenn sie wieder über seine Grenze zurückkehrt.

Es ist gut, es ist tröstlich, zu wissen, daß die da sind. Sie braucht sie, und sie fühlt, daß sie ihrer noch mehr und mehr bedürfen werde. Denn immer mehr ist Gewitterluft um sie, Sturmdrohung. Es ist doch alles jetzt zu leicht geworden: so kann das nicht sein. Sie hat zu oft empfunden, daß sie »im Theaterspielen nicht den Erfolg, sondern die Zuflucht suche«. Und jetzt wird alles Erfolg, und sie muß immer besessener an ihrem Herzen rütteln, auf daß es den allzubekannten Gestalten etwas von dem Dunkel und Geheimnis gebe, in dem sie Zuflucht finden kann. Oft schweigt dieses Fordern ein paar Tage – dann aber wacht es stärker auf als zuvor, dann liegt sie schlaflos und fiebernd. Und sie hat keinen Gott, zu dem sie beten kann, daß er ihr helfe, sie muß sich selber erlösen, alles, alles selber tun bis an das Ende ihrer Kräfte.

Sie spielt Theater, neue Städte jubeln ihr zu, vertraute finden sie von Mal zu Mal herrlicher. Aber in ihr bereitet sich jenes Taedium vitae vor, vor dem sie die eigenen Kräfte nicht mehr retten zu können scheinen, jenes Gefühl, das in den Worten des Dichters, über den schon die Schatten der rettungslosen Schwermut drohen, aufgeschrieben steht:

»... und es listet die Seele
Tag um Tag den Gebrauch uns ab.«

Später dann hat sie in einem Briefe alledem Ausdruck gegeben: »Magda, ›Die ideale Gattin‹, die ›Femme de Claude‹, die ›Kameliendame‹ ..., nicht zu vergessen die Kameliendame! Da ist doch noch ein goldener Faden, der die falschen Perlen dieses Dramas zusammenhält: der goldene Faden der Leidenschaft. Aber das übrige! Das übrige! ... Ich selber bin erniedrigt in den Gewändern dieser Menschen, die ich darzustellen gezwungen bin. Und oftmals wird der Widerwille so groß und der Protest meines Gewissens so sehr zur stolzen Empörung, daß es mir scheint, als müßte mich von einem Augenblick zum anderen auch die physische Kraft zu meinen schauspielerischen Mitteln im Stiche lassen; dann reicht der Strom in meinen Nerven nicht mehr hin, die Arme zu bewegen, er reicht nicht mehr hin, meinen Verstand aufzuwecken, und dann bin ich wie in Verblödung verfallen. Dann, oh, dann habe ich nur mehr ein einziges Verlangen: die Rampenlichter auslöschen zu lassen und alle Rollenhefte ins Feuer zu werfen, den ganzen Ballast meines Schauspielerinnengepäcks ... Es verlangt mich danach, etwas Neues zu versuchen. Was ich bis jetzt getan habe und was ich auch jetzt noch weiter tue, genügt mir nicht mehr. Ich fühle in meinem Innern, daß etwas neu wird; ich fühle all das Falsche, Hinfällige, ja schon Untergegangene in den Werken, die ich spiele. Und gleichzeitig fühle ich den wenn auch noch verschwommenen Wunsch und das wenn auch noch unbestimmte Drängen nach einer Kunstform, die unmittelbarer und tiefer dem nunmehrigen Zustande meines Geistes entspräche ...«

Sie hat die Mitte ihres vierten Lebensjahrzehnts erreicht, und aus dem vielen, vielen Tun sind ein paar Gedanken gewachsen, wirkende lebenshafte Gedanken, mit denen sie einen Sinn dieses in ihr gärenden Verlangens nach Erneuerung, nach Anderssein versteht. Sie hat aus tausend Bildern etwas von ihrer Zeit und ihrem eigenen Wirken darin erfaßt – und dieses scheint ihr wie die Zeit selber zu sein, allzu willkürlich, allzu unverbunden und darum noch nicht in der letzten Tiefe wahr. Ja, sie hat sich und die ganze Sehnsucht und Leidenschaft ihres Herzens in die bläßlichen Gestalten dieser mittelmäßigen Stücke hineingedichtet. Aber diese Stücke waren die Zeit, und ihr Tun war auch nicht viel mehr. Was jetzt kommen mußte, mußte mehr sein, gebundener, gesetzhafter, ja gesetzhafter. Sie denkt an das, was sie von der Antike weiß, von den Kunstschöpfungen der großen, in Gesetzen ruhenden Zeiten, und ihr ahnt die Mission in der griechischen Tragödie, den mittelalterlichen Mysterienspielen. Fast wäre sie versucht, in deren Welt zu suchen – aber ihr Instinkt verwehrt es ihr, und ihre Erfahrung an sich und der Welt sagt ihr: das ist nicht unser Gesetz, das unsrige müssen wir in unserem Blute, in unseren Schwächen und Erbärmlichkeiten, in unserer Kraft finden, damit es zu unserer Größe werden könne. Und im Fieber ihres wie nie sehnsüchtigen und wartenden Herzens träumt sie von einer Kunst, in der diese Zeit ihre Größe fände, in der die Leidenschaft, Einsamkeit und Sehnsucht des neuen Menschen wäre und die seine Tragik dorthin hebe, wo ihr Brennen nur mehr Feuer im Kristall wäre: in das Gesetz.

Das andere Teil ihrer tieferen Unrast, die in diesen Jahren voll unablässigen Unterwegs nur immer gieriger, quälender und fordernder in ihr pocht, weiß sie mit ihren Gedanken freilich nicht zu deuten. Und wenn sie aus dem Grübeln auffährt, aus Fieberstunden oder grausiger Müdigkeit sich emporreißt, sagt sie sich: da frommt kein Denken, das muß gelebt werden. Und sie ist bereit.

*


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