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Der Weg in die Welt

Ein paar Jahre: das dreißigste vollendet sich indessen – aber was anderen Frauen schmerzlicher Einschnitt ist, fühlt sie kaum; das Netz der Tage, Monate, Spielzeiten und Reisen mit seinem Gleichmaß von Unstetheit ist zu dicht. Nur schrumpfen die Entfernungen, die zu oft durchwanderten, immer mehr ein. Zuweilen denkt sie an jene erste Fahrt von Turin nach Neapel: dann tut das Wanderherz weh, denn alles in Italien ist so nahe geworden, ist so erreichbar. Nur die Landschaften locken noch, in die sie flüchtet, wann immer sie kann, denn wenn sie vor ihnen ausruhen darf, dann ist der Rastenden das Stück Erde, der Kreis Meer, den ihr Blick umspannt, die ganze Unermeßlichkeit der Erde und des Meeres. Dann fühlt sie erschreckend jenes »Wir besitzen alles, doch durch das Begehren berauben wir uns des Besitzes!« Aber dieses Begehrenmüssen ist außer ihrem Willen, der zu allem Unentrinnbaren ja sagt und dient. Und dann muß sie wieder weiter, in jene andere Wirklichkeit der Zwiesprache ihrer Gestalten mit den Ungezählten in den vielen Theaterräumen.

Aber wie die Entfernungen geringer werden, scheint ihr allgemach auch ihre Aufgabe kleiner zu werden. Die Gefahr ist fort, es ist alles schon zu vertraut, die Theater aller Städte Italiens und jedes Publikum. Es gibt kaum Mißerfolge mehr, alles ordnet sich zu leicht. Was sie ihrem Italien als die, die sie jetzt ist, sein kann, ist sie geworden. Daß sie nicht dieselbe bleiben wird, weiß sie, denn je mehr ihr Können, ihre Kunst reift, um so stärker fühlt sie aus ihren Lebenswurzeln her Drängen, Vorbereitung, Versprechen, wunderbar fremde Gefahr. Und ihr ist zumute wie einem Erobererkapitän, der, im entdeckten Lande heimisch geworden, nun sein Schiff von einem der schon allzu vertraut gewordenen Häfen zum nächsten und noch zu dem und dem führen soll, die er alle kennt. Bis dann an einem Morgen die Ferne sein Herz packt und er das Steuer aus dem Kurs reißt: ins Unbekannte.

Erst versucht sie noch Wagnisse, neue kühnere Gestaltungen, immer wieder auf das Erprobte verzichtend. Aber die Menschen da unten haben schon der ganzen Duse ihr Vertrauen geschenkt. Sie wehrt sich dagegen: merken die denn nicht, daß heute alles ganz anders war? Warum denn derselbe Beifall? Vorher hatte sie sich an Stücken versucht, die niemand hatte spielen wollen. Da war plötzlich ein Dichter dagewesen, ein wirklicher Dichter voll leidenschaftlicher Wahrhaftigkeit, Giovanni Verga, der sein Sizilien in Geschichten und Gestalten zwang, vor deren Kühnheit all die guten Leute, die in der Kunst Leben von ihrer Temperatur haben wollen, zurückschauderten, eben die Leute, die allerdings jetzt, seitdem sie berühmt ist, schon immer leiser sagten: ja, wenn die Duse nicht so eine Vorliebe für das Pathologische hätte, wenn sie nicht so hysterisch übertrieben wäre, und die nun tun, als hätten sie vorausgewußt, daß sie sich dieses »Veristen« (was sie aussprachen, als ob das die Bezeichnung für eine neue ungeahnte Art von Verbrechen sei) annehmen würde.

Sie hatte also die Santuzza in Vergas »Cavalleria rusticana« gespielt, und das Wagnis war über alles Erwarten hinaus gelungen: das Drama war durch sie mit einem Male selbstverständlich geworden und galt, als sei es immer dagewesen.

Dann erfuhr sie, daß Renan, von dem all ihre Freunde mit so viel Verehrung sprachen, den sie als den letzten großen Schriftsteller in der Reihe, die mit Montaigne beginnt, priesen, ein Drama geschrieben habe, das niemand in Frankreich aufzuführen wage, weil es unsittlich sei. Wie, kann ein großer Mensch etwas Unsittliches schaffen? fragte sie. Und sie las diese »L'Abbesse de Jouarre«, das Drama der Äbtissin, die zugleich mit dem Jugendgeliebten vom Revolutionstribunal zum Tode verurteilt wird, sich in der Nacht vor der Hinrichtung dem Nievergessenen schenkt und die dann am Morgen ihre Begnadigung erfährt, während der Geliebte zur Guillotine gehen muß. Und sie spielte das Stück, und ihr Erfolg gab ihm eine Weile einen theatralischen Glanz. Georg Brandes schrieb: »Im höchsten Grade zum Verdienste muß man ihr anrechnen, daß sie es wagte, das schöne, kühne und im Grunde so keusche Drama von Ernest Renan ›L'Abbesse de Jouarre‹ auf die Bühne zu bringen. Die Einfalt und Heuchelei der damaligen französischen Kritik hatte alle Denkenden empört, aber sie schwiegen, und Böotien triumphierte wie immer. Die Duse ganz allein auf dieser Erde hat gewagt, das unschuldige Schauspiel aufzuführen ...« Zwar gelang es ihr nicht, dem Stücke zu einem dauernden Erfolge zu verhelfen, aber es war ihr Befriedigung genug, mit dieser Aufführung Renan eine Ehre bereitet zu haben, die er selber, wie er in einem Dankbriefe schrieb, als eine der letzten Freuden seines Lebens empfunden hatte.

Ja, der Erfolg wächst in dem immer enger werdenden Italien, er legt sich ihr manchmal schon bedrohlich auf die Brust. Aber sie weiß nun schon, daß sie nicht von der Art ist, die es sich leichter macht, wenn etwas erreicht ist, die im Verweilen ihr Genügen findet. Sie macht es sich schwer. Und wenn das Können zur Gefahr werden will, dann zwingt sie in die oftgespielten Rollen immer auf neue Art ihr fühlendes Herz hinein, auf eine wunderliche Art oft. Der Dramatiker Marco Praga erzählt, wie er einmal in Triest mittags um die Essensstunde unvermutet in ihr Hotelzimmer gekommen sei: da habe er sie auf dem Boden sitzend, den Rücken an die Wand gelehnt, mit einem Teller auf den Knien gefunden, sie habe nicht gegessen, sondern heiße Tränen seien auf den Teller niedergefallen. Als er sie nach dem Grunde ihres Weinens fragte, habe sie ihm gestanden: »Ich weiß nicht ... Nichts. Aber heute abend muß ich die Odette spielen, wissen Sie. Und wenn ich mich jetzt nicht ein wenig ausweine, weine ich im vierten Akt zu sehr, und dann habe ich Angst, daß das Publikum sich über mich lustig machen könnte ... denn Odette ist ein Trumm, und kurz und gut, wenn ich im vierten Akt nicht ein bißchen weine, dann spiele ich überhaupt nicht.«

Früher war noch der Erfolg ihr Maßstab dafür gewesen, ob ihre Arbeit die rechte sei. Das war nun zu Ende. Denn es geschieht ihr, daß sie selber einen Abend mit sich bitter unzufrieden ist und die da unten ihr dennoch zujubeln. Nun ist nur noch ihr eigenes Gefühl ihr Maß, ob sie in ihrem Tun fortschreite – und so muß sie immer mehr alle ihre Kräfte anspannen, um sich selber zu genügen, um nicht dann nach solch einem Theaterabende voll rauschender Begeisterung schuldbeladen heimzukehren und eine fiebrige Nacht voll Selbstanklagen und grausiger Angst vor dem Stillstande zu haben. Alle ihre Kräfte sind unaufhörlich aufs äußerste angespannt, und oft ist es fast zu schwer, denn wieder und wieder versagt der Körper den Dienst, und sie kann nicht mehr atmen, sie ist wie in einem versperrten Zimmer, dessen Luft verbraucht ist. Dann schreibt sie Zeilen wie diese: »Die Kälte hat mir all meinen Willen genommen – ich bringe die Tage hin – zwölf Stunden im Theater und zwölf im Bette – von einem Pelz in den anderen – mit der entsprechenden Erkältung, daß es eine Freude ist, mich anzusehen. Die Ideen sind mir eingefroren! Alle Tage nehme ich mir vor, irgend etwas zu tun – aber die Tage gehen hin – und der Kretinismus kommt näher und näher ...«

Sie weiß immer deutlicher, daß das so nicht weitergehe, daß das nicht ihr Leben sein könne. Sie knausert ja wahrlich nicht mit ihren Kräften, aber sie fühlt nun zu quälend dieses Ungenügen an dem letzten Jahre. Was hat sie getan? Theater gespielt, Theater gespielt, Erfolg gehabt, ein bißchen Geld verdient – das alles wiegt nicht. Und die guten Dinge? Ja, sie hat das Kind gesehen und hatte an seiner Entwicklung ihre Freude gehabt. Die Kleine sprach zwar noch ihren piemontesischen Dialekt, den sie von den bäuerlichen Zieheltern gelernt hatte, und hatte auch noch die Frische des Landkindes, aber sie hatte sich besser, als die Mutter es gehofft hatte, in das Leben des vornehmen Instituts in Turin dareingefunden. Wie entzückend das gewesen war, mit ihr zu plaudern, sich von ihr erzählen zu lassen! Und wie klug sie war! Oh, wie gut es wäre, dieses Wesen um sich zu haben, wie morgens das Fenster aufmachen und die reine Luft atmen! Aber nein, das Kind sollte nichts von dieser Hölle wissen, in der sie selber lebte, nie den Fieberhauch des Theaters spüren!

Und sie hatte wieder Theater gespielt, war ein wenig geflüchtet, hatte Bäume angeschaut und bewundert, war in die Städte zurückgekehrt. Sie war in Padua gewesen und hatte hier das gleiche Gefühl wie früher in dieser Stadt wiedergefunden, als sie einem Padovaner Bekannten geschrieben hatte: »Ich habe Sie vor meiner Abreise gebeten, den so liebenswürdigen Menschen in Padua, den Damen, die so sehr Damen sind, meinen Dank zu sagen ... Heute wiederhole ich den Dank, und – sagen sie es ruhig, denn es ist die Wahrheit – ich werde so freudig nach Padua zurückkehren! Wenn auch meine Alten traurig und fast verlassen ihre letzten Jahre in dem Orte verbracht haben – ich habe hier ihre ganze Jugend gefunden und habe die schwermütige Erinnerung, die vor meinem Kommen, in mir ausgelöscht. Was wollen Sie, zu Hause ist immer zu Hause, und wo unsere Alten gelebt haben und gestorben sind ... dahin kehrt man leise, leise ..., einem Zwange folgend, wieder ... auf den Fußspitzen ..., um nicht zu stören ... nicht aufzuwecken ...«

Und dann wieder Venedig, wo dies Gefühl noch stärker war. Sie hatte den alten Mann wiedergesehen; er war noch stiller geworden, noch traumwandlerischer und inniger den Bildern zugetan. Sie sagte ihm nichts von ihrer unruhvollen Bedrängnis, er sollte sie glücklich glauben in ihrem Ruhme, der Alte, der von den armen Wanderfahrten, den Hungerjahren und dann von der Julia in Verona sprach und sie ansah, verstummte und an ihre Tote dachte, von der sie beide nicht sprachen.

Und in dem geliebten Venedig, ihrer Schicksalsstadt, war dann plötzlich das andere da, das, was kommen mußte und das all die schwelende Unrast plötzlich zu einem lodernden Feuer der Hoffnung aufschürte. Sie hatte hier ein russisches Ehepaar kennengelernt, das, hingerissen von ihrem Spiele, ihre Bekanntschaft gesucht hatte. Diese Wolkow waren wohlgebildete, warmherzige Menschen mit einer großen Liebe für die Kunst und überdies Leute von Einfluß und Ansehen. Sie waren es, die ihr sagten, sie müsse nach Rußland gehen, dort würde sie ein Publikum finden, wie sie es noch nicht geahnt habe. Sie erschrak wunderbar. Ja, Rußland, das war das Unbekannte, das Abenteuer. Und die neuen Freunde setzten alle ihre Beziehungen in Bewegung und erwirkten ihr wirklich, daß sie, die Unbekannte, für die folgende Spielzeit ein russisches Gastspiel vereinbaren konnte.

Und dann fährt sie wirklich nach Petersburg. Sie durchquert diese Länder und Städte, die noch nichts von ihr wissen, diese nun herbstgrauen und immer winterlicheren Länder. Sie, die die Kälte mehr als die meisten irdischen Übel fürchtet, reist einem Lande zu, das ihr als die Heimat der Kälte selber erscheinen muß und nach dem sie doch, seit sie ein paar russische Menschen kennt, ein Gefühl hinzieht, als habe sie dort noch etwas mehr zu suchen und zu finden als ein neues Publikum und Erfolg. Und ihre Vorgefühle und Ahnungen hatten ja immer recht, denn wo ihr Denken nicht hinlangte, war vieles Wissen in ihr, als wäre es aufbewahrt aus dem Schicksale aller Gestalten, in denen sie gelebt hatte.

Wie anders aber war in dem winterweißen Lande nun alles und doch wie warm vertraut! Was in ein paar Gesprächen und Stunden mit russischen Menschen vorher so gut, so unmittelbar an ihr Herz gerührt hatte, war plötzlich überall um sie, war die selbstverständliche Lebensluft all der Menschen, die sie mit einem Male so unbegreiflich nahe hatte, als ob sie sie immer gekannt hätte. Daheim in Italien war es ja in den letzten zwei, drei Jahren nun auch schon anders gewesen als vorher: viele Menschen, und auch solche mit Namen und Rang, hatten allmählich ihre Bekanntschaft gesucht, und sie hatte ihren Widerstand gegen diese Leute aus der »Gesellschaft«, in dem noch etwas wie die alte Angst, es könne ihr wer »figlia di commedianti« zurufen, weiterlebte, aufgeben gelernt, aber es war doch nicht so gewesen, wie es nun hier in dem fernen fremden Lande war. Die Kälte war gar nicht kalt, und die vielen Menschen, die nun kamen und sie besuchten, waren einfach Menschen, und man konnte durch das Französisch hindurch so mit ihnen sprechen, als ob man sie seit damals kennte, da man selber noch ein hungriges, bettelhaftes, kleines Wesen gewesen war. Sie meinten gar nicht die Schauspielerin, sie sprachen von so gut einfachen selbstverständlichen Menschendingen, daß man nicht anders konnte, als selber auch so mit ihnen sprechen, ohne Notbrücken und Redensarten, wie einem eben zumute war. Und die Häuser waren warm, und die Zimmer waren Räume, in denen man wirklich lebte, und gaben ein neues fremdvertrautes Gefühl von Behaglichkeit. Sonst war Behaglichkeit ja durchaus nicht die Atmosphäre, in der zu leben es sie verlangte – aber hier konnte man sich für eine Weile dieses Verführerische von allzu guten Möbeln und milder Ofenwärme gern gefallen lassen, diese Wärme ohne muffelnde kleinbürgerliche Enge, die, wenn man aus der Schneeluft kam, so gut nach schönem Holze, frischem Linnen, gebratenen Äpfeln und Märchenzuhause roch. Und wer hätte ahnen können, daß diese Winterleute mit den Pelzmützen und den wunderlichen blauäugigen Asiatengesichtern solche Schwärmer und Enthusiasten sein könnten! Sie hatte ja schon ein Teil an Begeisterung hinter sich, das ein paar erfolgreichen Schauspielerleben hätte genügen können, hatte an Zujubeln und Toben, bengalischen Beleuchtungen, Blumen und hingerissen stammelnden Briefen erlebt, was Italien zu ihrer Zeit hatte keinem anderen zuteil werden lassen – aber hier in Petersburg war das doch alles noch ganz anders. Wer hätte sich das vorstellen können, daß diese Leute, weil man ihnen einen Abend so sehr Eindruck gemacht hatte, den anderen Tag ganze Parkettreihen und Logenfolgen von Billetten für die gesamte Freundschaft aufkaufen würden, weil sie, wie sie gern mit ihren Freunden schmausen und trinken, auch diese höhere Freude nicht für sich allein haben wollen? Und wer hätte es für möglich gehalten, daß alle diese feinen Leute mit Orden und Titeln nachher in ihrem Dankenwollen nur noch erregte Kinder waren, die Dankworte lallten und sie angstvoll ansahen, ob sie wirklich die Einladung zu dem und dem Empfange, den man ihr bereiten wollte, annehmen würde ... Hier brachte sie kein Nein über die Lippen. Und wenn sie dann in diese Adelshäuser voll dunkelen Holzgetäfels kam und in die Kerzenhelle, die in vielem matten Silber und Porzellan widerschimmerte, eintrat, wagte niemand mehr ein Wort der Begeisterung, das doch noch hätte an die Schauspielerin erinnern können, sondern diese Frauen und Männer redeten mit ihr wie mit einem lieben altvertrauten Menschen, mit dem man etwas Großes erlebt hat, von dem man nicht spricht. Sie erzählte dann einmal von der Gräfin Lewaschow, daß sie mit ihr gleich beim ersten Zusammensein eine Freundschaft wie seit der Kinderzeit her gehabt habe und daß die Gräfin sie, als sie dann zum ersten Male in großer Gesellschaft in ihrem Hause war, mitten in all der Festlichkeit beim Arm genommen und aus den menschenerfüllten Salons weg in einen entfernten Teil des Hauses geführt habe, in das Zimmer ihrer unheilbar kranken Tochter, um ihr das Bild des Tiefsten und Traurigsten ihres Lebens als Freundschaftsgabe zu schenken. Das hätte sie auch tun können, darum ergriff es sie so als eine wortlose Botschaft dorther, wo die Seelen der wirklichen Menschen beieinanderwohnen.

Es war noch die alte russische Welt, in die sie damals hineingekommen war, jene, die in der Epopöe der russischen Bücher (die sie nachher so geliebt hat) aufgezeichnet steht. Von ihr hat sie dann ihr Leben lang sehnsüchtig erzählt, und nach ihr hat sie hernach, als die Sintflut von Haß und Blut über sie hinweggegangen war, ein unstillbares Heimweh empfunden. Sie war noch ein zweites Mal in Rußland gewesen, noch vor dem Untergange, freilich, als schon die Sintflut über ihr eigenes Leben hinweggegangen war – doch damals schien ihr dann alles, was sie sah und erlebte, vor dem Rußland ihres Inneren klein zu werden. Denn dieses erstmalige war ganz und gar wunderbar gewesen: das Aufatmen erst in dieser schönen Fremde, hinter der unendliches Land bis ans Ende der Welt zu fühlen war, die herrlich erregende Aufgabe, an der plötzlich ungeahnte Kräfte aufbrachen, dann die Menschen und endlich, wie von dem Tage, da sie die russische Grenze überschritten hatte, sich alles auf eine so geheimnisvolle Weise zu ihrem Dienste zu verketten schien, sogar diese elende Krankheit, als sie dann fiebergeschüttelt nach Moskau fuhr und die fremde Dame, diese deutsche Schauspielerin, sich ihrer annahm! Glückliche Zufälle all das? Als ihr nach und nach aufgegangen war, wie viele Kräfte damals zusammengewirkt hatten, um diese Wochen in Rußland zu so glückhaften für sie zu machen, wollte ihr das Wort Zufall allzu dürftig und bürgerlich erscheinen. Ja, sie hatte gut Theater gespielt, vielleicht besser als je zuvor, es war ihr gewesen, als ob in der Atmosphäre dieser Menschen, die sie gefühlt hatte wie nie zuvor ein Publikum, mit einem Male die letzten italienischen Fiorituren, das Letzte, was sie vielleicht noch mit der Pezzana und den anderen gemein gehabt hatte, von ihr abgefallen wären und sie endlich so gespielt hätte, daß es keine »Mittel« mehr dabei gegeben habe. Aber daß »zufällig« alle diese anderen Leute, die nie vorher in Petersburg gewesen waren, nun plötzlich da waren und ins Theater gingen, um gerade sie zu sehen? Alle die, von denen sie nichts ahnte und deren Wirkungen sie dann teils so bald, teils nach Jahren und Jahrzehnten zu fühlen bekam?

Sie erzählte ja nie viel von ihrem Leben, aber wenn ein Freund mit ihr auf Rußland zu sprechen kam, dann wurde sie bis in die letzten Jahre ihres Daseins beinahe gesprächig. Sie berichtete von den Wegbereitern und Helfern ihres Schicksals, die damals unter all den Russen gewesen waren, dabei fielen ihr die schwer aussprechbaren Namen dieser russischen Leute wieder ein, ein paar herzliche russische Anreden und Begebenheiten, in denen ihr die Art der Ergriffenheit dieser Menschen sichtbar geworden war. Und zweier davon gedachte sie oft um ihrer Wertlosigkeit willen besonders: wie jeden Abend jene vornehme Dame im Schnee an ihrem Wagen gewartet und es sich nicht hatte nehmen lassen, ihr die Wagentür zu öffnen. Und von jenem Manne, von dem sie erst ganz spät erfahren hatte, der durch all die Jahre, die sie noch Theater gespielt hatte, ihr von Land zu Land gefolgt war, um sie immer wieder zu sehen und zu hören, und der, obwohl er hohen Standes gewesen und viele Menschen gekannt hatte, deren manche ihm doch hätten vielleicht dazu verhelfen können, niemals einen Versuch gewagt hatte, mit ihr persönlich bekannt zu werden. Als dieser selbe dann mehr als drei Jahrzehnte später, da er selbst die Heimat und all sein Besitztum verloren hatte, ihr Wiederauftreten in Rom erlebte und noch einmal vertiefter all die Erschütterungen seiner Jugend erfuhr, bot ihm eine russische Dame, die um die Geschichte seiner treuen Gefolgschaft wußte, an, ihn mit ihr bekannt zu machen – mit einem schwermütigen Lächeln und einem leisen »Zu spät« lehnte er dies ab. Dann erzählte diese Dame Eleonora von dem Manne; und daß sie ihm dann eine Loge geschickt hat, wird wohl die letzte große Freude dieses abendlichen heimatlosen Lebens gewesen sein.

Wenn sie von dieser Zeit ihres ersten russischen Gastspiels sprach, nannte sie zuweilen ein paar deutsche Namen, die ihr unauslöschlich im Gedächtnis geblieben waren, und unter ihnen vor allem den eines Schriftstellers, eines Österreichers. Dieser, damals ein junger Mensch, dessen Geist und Herz sich in lauterem Feuer entflammten, wenn er menschlich großes und schöpferisches Wesen in irgendeiner Gestalt begegnete, war mit Freunden, deutschen Schauspielern, die zu einem Gastspiele fuhren, nach Rußland gekommen, um dieses Land, die Heimat vieler geliebter Bücher, und auch etwelche von deren Dichtern kennenzulernen. Dieser junge Österreicher hieß Hermann Bahr, und sein nächster Freund unter den Schauspielern war Josef Kainz. Bahr hat dann selber in seinem »Selbstbildnis« von diesem Erlebnisse erzählt: »Bei der Zollrevision an der Grenze sagte mir die schöne Jenny Groß, mitleidig auf eine dunkelverhüllte Gestalt und ihre Gefährten zeigend: ›Das sind Konkurrenten, Katzelmacher, die auch in Petersburg gastieren. Der armen Person war in der Nacht sehr schlecht. Es ist eine gewisse Duse.‹ Kein Mensch kannte den Namen, und in dem ungewissen Licht sah sie nicht nach Berühmtheit aus, die Fröstelnde sah sozusagen gar nicht aus ... Eines Abends spielte Kainz nicht. Er hatte frei. Wohin gehen wir? Er entschied für die gastierenden Italiener: ›Italienische Komödianten, noch so schlecht, sind mir lieber als die besten deutschen; auch von italienischen Schmieranten kann man noch immer was lernen.‹ ›La femme de Claude‹ wurde gespielt. Hinter uns saß Mitterwurzer. Plötzlich packt mich Kainz am Arm, er klammert sich an, und ich höre Mitterwurzer aufstöhnen; und ich selber sagte mir aber nur in einem fort: Du darfst nicht laut heulen, du machst dich lächerlich! Unvorbereitet, ganz ungewarnt, gar nicht darauf gefaßt, die Duse plötzlich erleben, in Erwartung irgendeiner begabten Komödiantin, sich plötzlich vor der Duse finden, zum ersten Male angesichts der Duse – was das ist, geht über alle Kraft des Wortes.«

Und Hermann Bahr, der dieses Erlebnis unter die größten Erschütterungen seines Daseins rechnet, tat, was er sein Leben lang getan hatte, wenn er an einen Menschen, ein Werk, einen Gedanken geglaubt hat: er warb, wirkte mit der Überredungskraft des begeistert Überzeugten. Er schrieb für die »Frankfurter Zeitung« einen Aufsatz über diese Eleonora Duse, von der in den deutschen Ländern noch kein Mensch gehört hatte. Und dieser Aufsatz ...

Eleonora Duse reiste ab; sie mußte nach Moskau weiter. Sie war krank, aber es ging nicht anders, sie hatte sich verpflichtet, und sie mußte ja an die anderen denken, die Ihren. Sie hatte sich ja in diesen Jahren allmählich daran gewöhnen müssen, daß es um ihre Lungen nicht so stand wie um die anderer Leute und daß es nur allzuoft Zeiten gab, in denen alles Wollen nichts frommte. Und diesmal schien es fast schlimmer als sonst. Andò drang in sie, doch eine Verschiebung des Moskauer Gastspiels zu erbitten, wenigstens zu warten, bis das Fieber vorbei war. Aber wie sollte sie warten, wenn trotz des Krankseins die Begierde, das Ihre zu tun, so stark in ihr war? Und so fuhr sie mit den Ihrigen in die graue Schneewüste hinein, fieberglühend, von Husten hin und her geworfen. Da kam dann die Dame aus dem Nachbarcoupé zu ihr. Es war Jenny Groß, die nun wußte, wer diese Duse war, und sie wie eine Schwester betreute. Sie suchte sie dann auch in Moskau auf, sooft es ihre eigene Arbeit erlaubte, und als Eleonora Duse diese Stadt verließ, hatte sie eine bewundernde und ergebene Freundin mehr, die ihr dann in der Folge eifervoll tätig ihre Freundschaft bewiesen hat.

Die Mandelbäume blühten, als sie nach Italien heimkam, aber es war ein kühler Frühling, sie fröstelte und fror, und es dauerte diesmal länger als sonst, bis die Nachwirkungen der Krankheit vorbei waren, denn sie mußte gleich spielen. Oh, wenn sie erst wieder ein wenig Sonne fühlen würde, gute heilsame Wärme! »In Rußland habe ich die Kälte gesehen, aber hier in Italien fühle ich sie!« pflegte sie von da ab zuweilen zu sagen. Aber es war doch schön, wieder da zu sein, und sie ging von einer Stadt der Heimat zur anderen, wie sonst ein Heimgekehrter in seinem Hause von einer Stube in die andere geht.

Und dann kam eines Tages ein Brief aus Wien, von einem Manne namens Tänczer, der schrieb, daß er Theateragent sei, von ihr Rühmliches gelesen habe und bereit wäre, ihr ein Gastspiel in Wien zu arrangieren. Er verhehle ihr und sich das Gewagte eines solchen Unternehmens nicht, aber wenn sie wirklich so fabelhaft sei, wie sein Gewährsmann ihm versichere, dann würde er sie trotz ihrer völligen Unbekanntheit in Wien schon durchsetzen, und sie wisse ja wohl, wieviel Wien in Theaterdingen zu bedeuten habe.

Das wußte sie wohl, denn sie hatte genug vom Burgtheater erzählen gehört und gelesen. Wie, sie sollte gerade in dieser Stadt spielen, die ein solches Theater hatte, sollte sich hier mit ihrer fremden Sprache durchsetzen? Sie zögerte, schwankte, konnte sich nicht entschließen. Da kam ein anderer Brief, in dem dieser Tänczer, sich abermals auf seinen Gewährsmann berufend, von dem er jedoch diesmal erklärte, daß es der Schriftsteller Hermann Bahr sei, der sie in Petersburg gesehen habe, sie optimistischer und dringlicher zu einem Gastspiel in Wien aufforderte. Sie ließ noch eine Zeit vergehen, dann war ihre Müdigkeit fort, und sie sagte für die nächste Spielzeit zu.

Dieser Briefschreiber war ein jüngerer Mensch, ein noch unbekannter, einflußloser Theateragent, der eifrig auf der Suche nach einer Gelegenheit war, seine Fähigkeiten zu bewähren. Er hatte jenen Aufsatz Hermann Bahrs in der Frankfurter Zeitung gelesen und darauf bei dem Verfasser angefragt, »ob das nur ein Feuilleton oder aber eine so begabte Schauspielerin vielleicht tatsächlich vorhanden und es rätlich wäre, sie nach Wien zu bringen«. Als Hermann Bahr dann in seiner Antwort eifrigst zugeraten hatte, meinte Tänczer die ersehnte Gelegenheit gekommen, und obgleich er mit diesem Versuche sein gesamtes bescheidenes Besitztum aufs Spiel setzte, ließ er nicht ab, bis er die Zusage dieser Italienerin, in die er nun einmal seinen Glauben gesetzt hatte, in Händen hatte.

Im Februar 1892 kam Eleonora Duse mit ihrem Ensemble nach Wien. Das Theater, das Tänczer für dieses Gastspiel hatte mieten können, war durchaus nicht eines der größten und ansehnlichsten der Stadt. Es war das Karltheater, jenseits des Donaukanals in der Praterstraße gelegen, ein mäßig großes, ein wenig aus der Mode gekommenes Haus, in dem vorwiegend Possen und Operetten gespielt wurden und in das nur selten zu Gastspielen und Sonderaufführungen das »gute« Publikum kam. Als Tänczer am ersten Abend kurz vor dem Aufgehen des Vorhanges in den Zuschauerraum sah, wollte ihn aller Mut verlassen: das Theater war halb leer, nur auf den Galerien sah man einiges sonderbares Volk, lange Haare, Samtröcke und Lavallière-Krawatten. Im letzten Augenblick gewahrte er dann noch ein paar namhafte Kritiker, Schriftsteller, Schauspieler von Ruf. Am liebsten hätte er sich jedoch irgendwo bis zum Schlusse versteckt. Aber dann sah er doch auf die Bühne. Und nun kam die Duse. Wer hatte je eine solche Kameliendame gesehen? Seine vibrierenden Nerven umfingen das ganze Haus, und er fühlte leidend, was die alle dachten: daß sie nicht schön sei, daß sie gar nichts »Pikantes«, Pariserisches an sich habe. Die hundertfache kühle Befremdung fror in sein Herz hinein, und er begann zu erstarren wie einer, der alle Hoffnung aufgibt. Aber als er die erste Pause und die Blicke in so viele verlegene, befangene und befremdete Gesichter hinter sich hatte und sie wieder auf der Bühne stand, begann sich seine Erstarrung allmählich zu lösen. Es ging etwas vor in dem Theater, eine andere Unruhe war zu spüren, die rasch zur Erregung wurde. Seit der Knabenzeit kannte er Theater aller Art und meinte, sich auf seine Luft und sein Wetter zu verstehen. Aber da geschah etwas, was ihm fremd war, ihn ängstigte, was ebensogut ein Skandal wie eine ganz unbekannte Art von Erfolg werden konnte. Er schaute auf die Bühne und vergaß endlich selber, daß da um seine Habe und seine Zukunft gespielt wurde. Und als dann die Szene mit dem Alten vorbei war und ihn am Schlusse des dritten Aktes Applaus, wahnsinnig anwachsender Applaus, der doch in seiner Art von jedem ihm bekannten Applause so verschieden war wie diese Duse mit ihrem Theaterspielen von allen anderen Schauspielerinnen, die er gesehen hatte, als ihn das beinahe stöhnende Rufen der jungen Leute auf der Galerie aufweckte, verstand er erst gar nicht, daß sein Spiel gewonnen sei. Das hatte er doch nicht für möglich gehalten, daß ihn Theater noch dermaßen packen könne. Und als der Jubel und das Stampfen und Irrsinnsgeheul nach dem letzten Akte vorbei war und er hinter die Bühne ging, um der Duse ein paar Worte zu sagen, und die blasse Frau vor sich sah, die wahrhaftig aussah, als käme sie aus dem Tode zurück, da begann er, der vorher mit ihr ein wenig als der Gönner, der der unbekannten Anfängerin auf den Weg hilft, gesprochen hatte, zu stammeln, verbeugte sich tiefer, als er es je in seinem Leben getan hatte, und wandte sich dann mit den praktischen Dingen, die er ihr hatte sagen wollen, an den, der den Armand gespielt hatte, an Flavio Andò.

Anderen Morgen, es war der 20. Februar 1892, war Tänczer, der spät zu Bett gekommen war und eine recht wirre Nacht gehabt hatte, schon im nächsten Kaffeehause, ehe es noch Morgen geworden war; er riß einen Packen Zeitungen an sich und begann sie mit klopfendem Herzen durchzulesen. Er wagte nicht zu hoffen, daß mehr als kurze Notizen darin stünden. Aber dann standen in diesem Blatte und in diesem und in allen wichtigen Zeitungen mit großgedruckten Überschriften lange Kritiken, unwahrscheinliche, schwärmerische, ekstatische Kritiken, wie er deren noch nie gelesen hatte. Und in einer glückseligen Müdigkeit lehnte er sich, die ganzen Zeitungen auf dem Schoße, in die Sofaecke zurück. Der Abend vorher hatte alles in allem achthundert Kronen eingebracht. Wie würde das heute werden? Nein, nach diesem Erfolge, dieser Presse konnte es nicht fehlgehen!

Nun trugen indessen alle die, die den Abend miterlebt hatten, den Bericht von dem Unerhörten, das sich im Karltheater begeben habe, zu ihren Freunden und Bekannten, diese sprachen allen davon, denen sie begegneten, und die Zeitungen taten das Ihrige, der ganzen theaterverliebten Stadt das Verlangen, diese fabelhafte Italienerin zu sehen, zu erregen. Und eine ganze Weile vor Beginn der Vorstellung schon war das Theater ausverkauft – und Tänczer wurde die phantastische, alle Erwartungen übersteigende Summe von neuntausend Kronen gemeldet.

An diesem Abende fühlte Eleonora Duse, die sonst »spielte wie jemand, der sich unbeachtet glaubt«, wie nie zuvor, daß sie das empfindlichst mitschwingende Publikum einer Theaterstadt vor sich habe, einen Resonanzraum, der nicht den leisesten Ton verlorengehen ließ. Und dann vergaß sie das Theater, sich selber und war Marguerite Gautier so sehr, daß auch diese Hunderte da unten ihr erfahrenes Genießen, Abschätzen und Vergleichen mit der Wolter und anderen ihnen vertrauten Theater-Thaumaturginnen vergaßen und mit ihrem innersten Leben selber teilhatten an dem Lieben, dem Entsagen, dem Tode und der Entsühnung dieses Frauenlebens. Und als dann zum letztenmal der Vorhang niederging und sie mit der Raserei ihres Applauses in das zurückzudringen suchten, was sie ihre Wirklichkeit zu nennen gewohnt waren, fühlten sie, daß etwas in ihrem Leben geblieben war, was mit keiner ihrer Theatererfahrungen mehr etwas zu tun hatte. Und das redete dann aus ihnen zu allen um sie, erfüllte die ganze große Stadt, drang in Briefen, Berichten von Reisenden, Telegrammen von Zeitungsleuten und auf alle die nicht zu verfolgenden Arten, auf die das Wirkend-Große Kunde von seinem Dasein aussendet, über diese Stadt, über Österreich hinaus und säte den Samen der Bereitschaft über Europa hin.

Und sie selbst, von der nun plötzlich die ganze fremde große Stadt sprach und deren Bild sich auch denen, die sie nicht gesehen hatten, aus all den Porträts in den Zeitungen so sehr einprägte, daß Tänczer erzählen konnte, sie sei, als er sie dann am Tage der Abreise an die Südbahn gebracht habe, von allen Fiakerkutschern gegrüßt worden? Ihr ahnte, daß das diesmal ein anderer Erfolg sei. Aber schnell hatte sie vergessen, wie sehr sie alle ihre Kräfte angespannt hatte, um der fremden Sprache zum Trotz diese Stadt, deren Theaterverstand sie nicht lange zuvor noch gescheut hatte, zu erobern. Das Getane war getan. Mochten sich die Faulen und die Wehleidigen gewesener Anstrengung rühmen – das war nicht ihre Sache. Der Mühsal gedachte sie nur, wenn ihr scheinen wollte, daß deren nicht genug gewesen sei. Das Abenteuer war bestanden, sie hatte ihr Tun an diesem Wien erprobt, und Wien hatte es für recht befunden. Ebbene – nachdem sie auch noch die »Fedora« gespielt hatte und alles womöglich noch besser gegangen war als in der »Kameliendame«, schien es ihr schon zu leicht, mit Stücken dieser Art fortzufahren. Es gelüstete sie nach ein wenig Wagnis. Man hatte sie gewarnt, daß die Wiener für diesen neuen, allzu problematischen Nordländer, für Henrik Ibsen, wenig Sympathie hätten. So wollte sie Ibsen spielen, die Nora, die ihr neuerdings immer wichtiger, immer erregender wurde. Sie mußte diesen Menschen da zu fühlen geben, daß diese Frau sie angehe.

Tänczer war ein klein wenig unruhig, als »Nora« als dritte Vorstellung angesetzt wurde, aber das Theater war auch an diesem Tage bis zum letzten Platze ausverkauft. Und auch dieser Versuch gelang: das hier gern ein wenig belächelte »Puppenheim« griff in Frauenseelen und Männergewissen ...

Noch eine Wiederholung der »Kameliendame«, dann mußte sie fort. Sie war zu einem Gastspiel in Triest verpflichtet. Sie war kaum mehr als eine Woche in Wien gewesen, aber das hatte hingereicht. Sie hatte nicht viel von der Stadt gesehen, aber dazu würde sie ja genug Zeit haben, denn sie würde so bald wiederkommen. Schon waren Abmachungen mit Tänczer über ein anderes Gastspiel in Hauptstädten der Monarchie getroffen, und dann vor allem wollte sie im Mai schon wieder in Wien sein, wenn die Internationale Theaterausstellung eröffnet würde. Sie wußte, daß Schauspielensembles vieler Länder bei dieser Gelegenheit in Wien spielen würden, und wohl die besten, so daß es eine rechte Aufgabe sein würde, den eben errungenen Boden in dieser Stadt zu verteidigen. Das lockte herrlich, und sie konnte den Tag kaum erwarten.

Am 15. Mai verkündeten die Anschlagzettel des Karltheaters das zweite Gastspiel der »Drammatica Compagnia della Città di Roma« mit Eleonora Duse und Flavio Andò. Und es war, als ob diese Compagnia das einzige Theater in Wien wäre. Sie blieb fast einen Monat, und jede Vorstellung war ausverkauft. Unendliche Hervorrufe, Zujubeln beim Bühnenausgange, Blumen und Briefe, viele Briefe jeden Tag. Unter ihnen Worte der Begeisterung von Theaterdirektoren, Schauspielern, Kritikern aller großen Nationen, die dann wiederum daheim ihre Herolde wurden. Diesmal lernte sie Menschen kennen und sah auch die festliche Stadt, die sie jetzt unter dem Frühlingshimmel gar nicht mehr fremd anmutete und die ihr nachher wohl die vertrauteste von allen nichtitalienischen Städten geworden ist. Denn sie ist viele Male zu dieser »Wiege ihres Ruhms« zurückgekehrt und hat sie dann noch, da sie sechzigjährig nochmals den Kreuzweg des Theaters beschritt, wiedergesehen: glanzlos und wie gealtert in den Jahren des großen Krieges, verblichen wie die Gesichter der Menschen, die nun vom Hunger gezeichnet und in verwelkten Kleidern die Straßen erfüllten. In diesem selben Jahre 1892 war Eleonora Duse noch zu einem dritten Gastspiele nach Wien gerufen worden. Und dann Ende dieses Jahres, das ihr den Weg in die Länder der Erde aufgetan hatte, fuhr sie einer neuen Hauptstadt entgegen: Berlin.

Jenny Groß hatte bei ihrem Direktor für sie gewirkt. Zeitungsberichte und nicht zum mindesten die Begeisterungsworte von Lewinsky und Sonnenthal (der großen Burgtheatertragöden), die sie in Wien gesehen und indessen in Berlin gastiert hatten, sowie die Josef Kainz', der damals von den ersten Strahlen seines Ruhmes umleuchtet war, hatten das übrige getan, so daß ihr das Lessingtheater Gastfreundschaft gewährte. Und es ging ihr hier nicht anders als in Wien. Das Lessingtheater hatte seine Preise erhöht und war trotzdem jeden Abend ausverkauft. Und die Menschen empfingen sie, als ob sie nie zuvor Theaterspielen gesehen hätten.

Seit jenem Februarabende in Wien schien alles sich so anlassen zu wollen, wie es ihr nachmaliger Impresario Schurmann gesagt hatte: »Für sie war die ganze Welt die gleiche Stadt, das gleiche Theater, das gleiche Publikum. Überall strömten die Tränen, und die Menschen litten mit ihr.« Es schien so ... Freilich wechseln die Orte, und die vielen Theater bringen der Schauspielerin Erfüllung. Noch gibt es neue Länder, neue Aufgaben, die die Spannkraft wecken. Aber oft erschrickt sie: soll ihr die Welt eng wie Italien werden? Dann drängt das Schaffenmüssen weiter, es gibt die kleinen Genugtuungen, die schnell in den großen Melancholien und dem vielen Heimweh ihres durch kein Erreichtes zu sättigenden Herzens untergehen.

Sie ist allein. Nein, sie hat den Freund zur Seite, Andò, den guten Kameraden, mit dem sich's so wunderbar zusammenarbeiten läßt. Aber ihr Liebesschicksal mit ihm ist erfüllt, sie sind nur mehr Kameraden. Und wenn sie aus den Rasereien ihrer Schöpfungsstunden zerbrochen heimkehrt, träumt ihre unstillbare Sehnsucht von dem Immernahen und Immerfernen, dem in den Kreis seiner Arbeit Gebannten, den sie nicht stören darf und an dessen Seite eine schwerkranke Frau lebt, der man nicht weh tun darf.

Neue Menschen kommen, tun sich auf, sind fast vertraut, Freunde, die vorübergehen oder sich bewährend bleiben. Ahnung vom Geiste der Länder, vom Wesen der Völker sickert durch die Wände ... Sie hat nun Geld, Ruhm, Verehrung umgibt sie wie kaum eine Frau, aber es ist doch fast wie in dem Komödiantenwagen fahren. Eisenbahnen, Hotels, Proben in immer neuen Theatern, die schließlich eben das Theater sind. Dann sich absperren, gegen furchtbare Müdigkeit kämpfen, abends endlich sich straffen, aus Kulissen heraustreten und sich in das Stundenschicksal einer Gestalt hineinwerfen. Wenn sie jetzt zuweilen aus der fernen Tiefe einer großen Ermattung auf ihr Leben schaut, will sie das Gleichmaß ihrer Erregungen und Erschöpfungen, das Flimmern in Fahren, Theaterspielen und sich in Schwermut Verschließen fast wie ein Ruhen in der Unrast anmuten.

In alledem fühlt sie, daß ihr die erste Reife geschieht, daß sie anders schafft, anders erwirbt, daß Menschen, Bücher, Gedanken anders in sie eingehen. Sie denkt an andere Frauen, an die besten, die sie weiß, und muß sich sagen, daß in ihrem Dasein Sinn und Fülle genug sei. Ihr aber ist all das Vorläufigkeit, Übergang, und diese ganze erste Höhe ihres Künstlerdaseins ist ihr wartende Zwischenzeit. Denn das Eigentliche, wonach es sie verlangt, seitdem sie sicher ist, daß sie in der Inbrunst ihres Schaffens nicht nachlassen werde, ist etwas anderes, muß, so sagt ihr ihre Unrast, noch ein tiefes Anderswerden sein. Und darum sind ihr diese für die Schauspielerin erfüllenden Wanderjahre, vom Ganzen des Lebens aus gesehen, etwas wie ein Ruhen. Ihre Seele, die nun um ihre Trunkenheiten, Ermattungen und die Abgründe ihrer Schwermut weiß, verlangt es nach neuer Schicksalstiefe, aus der »das Tiefste zum Höchsten werde«, nach Umsturz, nach ungeheuren Gewittern, damit wieder Atemluft in der engwerdenden Welt sei. Und wie in ihrem Theaterspielen Revolte ist gegen die Welt, in der die Leidenschaften klein und die Leiden lau werden, so ist in ihrem Umgange mit dem eigenen Herzen und in ihren anklagenden Nachtgesprächen mit sich selber Revolte gegen die immer berühmtere Eleonora Duse, die doch nicht in alle Tiefe liebt und noch nicht bis an den Rand der Zerstörung leidet. Sie sagt sich »il faut que le cœur se brise ou se bronce« und fühlt das ihrige ungebrochen, unverhärtet und wartend, wartend wie damals, als ihr in Neapel ihr Erwachen geschah. Und je mehr das Unstete ihres Lebens in Fahrt und Wanderschaft seine Ordnung zu finden droht, um so heißer brennt in ihrer Pilgerschaft die Schicksalsgier dem entgegen, das kommen muß, bald, bald kommen muß.

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