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Die Zwanzigjährige

Eleonora Duse war zwanzig Jahre alt, als diese Spielzeit am Teatro dei Fiorentini in Neapel für sie begann. Sie wußte, wie man Elend und Demütigungen zu ertragen habe, sie wußte, daß das Theater, wie sie es bisher gesehen hatte, nicht das rechte sein könne, um vieles mehr wußte sie freilich außer den Dingen ihres scheuen und traurigen Herzens nicht. Keiner hatte sie etwas gelehrt, keiner ihr Gedanken, Wissen oder auch nur Bücher gegeben. Wirr und drängend ging, was ihre Sinne aufgenommen hatten, in ihr um und begehrte nach Sinn und Befreiung. Wo waren Sinn und Befreiung? Noch wußte sie nicht einmal, daß es Glücklichsein und das lauter brennende Leiden gibt. Noch kannte sie das Reinwerden in der Anschauung der Landschaft nicht, noch nicht die Seligkeiten des Gespräches, das die Gedanken aus der dunklen Unendlichkeit des Lebens hebt, nicht die Trunkenheit der Seele, wenn die flutenden Bilder entfesselt das Innere durchdrängen, noch die heilige Nüchternheit, da der wissende Wille aus ihnen Gesetz und Gestalt schafft. Sie war zwanzig Jahre alt, ganz Ahnung, Sehnsucht und leidensvolle Dunkelheit. Noch war Neapel eine Stadt wie hundert schon gesehene Städte, ängstigendere Wirrnis, noch voll fremder Menschen. Und sie saß in ihrem Zimmerchen, lernte ihre Rollen und träumte vom Theater, das Sinn und Erlösung sein sollte.

Was sie davon bisher erlebt hatte, mußte ihr, die wirklich wie eine Zigeunerin aufgewachsen war und die an all den Traditionen und Konventionen der Welt um sie kein Teil hatte, fremd und leblos sein.

Es waren noch nicht zehn Jahre seit der Einigung Italiens vergangen. Der Rausch neuen Volksgefühls und die heroische Lebensstimmung waren abgeklungen, und in der nunmehr bescheidentlich gedeihenden verbürgerlichten Welt hatte sich ein verspäteter, zu Üppigkeiten aller Art neigender Romantismus breitgemacht, der sich hier in allem, was Kunst genannt werden wollte, noch gröber und seelenloser auslebte als selbst in dem gleichzeitig im Norden zu einer kurzen Blüte gelangten festlichen Manierismus, der gern mit dem Namen Makarts bezeichnet wird. Das italienische Theater von damals war demgemäß durchaus auf das Pompöse, auf allzu große Gesten und allzu starke Akzente, auf übertriebene Kostümierung, kurz auf jene Art von Veräußerlichung gestellt, in der jede neue Bourgeoisie auf die pathetischst mögliche Weise das Historische zu begreifen liebt. In dieser wunderlich aus Brutus-Attitüden, Advokaten-Republikanertum und prunkliebendem Liberalismus zusammengesetzten Welt (in deren Besten freilich das edle und wahrhafte Pathos des Risorgimento mahnend weiterklang) lebte selbst Alfieri einen letzten Augenblick noch einmal auf, fast schon grotesk, gipserstarrte Antike, nun in dem bürgerlichen Prunke völlig sinnlos werdend.

Eleonora Duse aber fehlten ganz und gar alle Voraussetzungen, zu diesen Äußerungen dessen, was wir ihre Zeit nennen müssen, auch nur eingeschränkt ja zu sagen. Ihre Zeit war, was sie empfand und ahnte – und sie hatte kein anderes Maß als ihr heißes, störrisches Herz.

Als die Proben begannen, fühlte sie zum erstenmal ein wenig Luft, in der sie atmen konnte. Zwar war auch Giovanni Emanuel kein revolutionärer Neuerer, aber er hatte Geschmack und ein künstlerisches Gewissen, und was er während der Proben einwandte oder verlangte, hatte schon zuweilen etwas mit dem zu tun, was dieses Mädchen da ahnend begehrte. Und er ließ die kleine Wilde, die er ja selber eingefangen hatte, gewähren, weil er von ihr etwas erwartete, so sehr sie ihm auch oft gegen seinen Geschmack an harmonischem Zusammenspiele gegangen sein mochte.

Es war ein Drama von Alfieri, der »Oreste«, in dem Eleonora als Elektra etwas wie Erfolg hatte. Allein schon ihr Kostüm zeugte für sie; während ihre Mitspieler sich die Tracht der barocksten Antike zum Vorbilde genommen hatten, trat sie im schlichtesten, linienreinsten Gewande auf, das sie im Museum oder in Pompeji hatte entdecken können. Und wie ihr Kostüm war auch ihr Spiel durchaus von dem der Anderen unterschieden. Heißes, heftiges Leben brannte aus den wohlgemessenen farblosen Versen hervor; leidenschaftlich und doch gehalten lebte eine griechische Jungfrau mit einem südländisch-wilden Herzen ein Stück unheimlichen und erschreckenden Daseins den betroffenen Zuschauern vor. Es gab Erregung, Befremdung, verletztes Stilgefühl – aber diese Zuschauer im Teatro dei Fiorentini waren ja Neapolitaner, leicht entzündliches Volk, das ein wunderbares Organ für das Echte, Lebendige in der Kunst hat, und so spürten sie allem ihrem zeitbedingten Geschmacke zum Trotz in diesem absonderlichen Geschöpf etwas von dem Wunder, das Kunst heißt, und verziehen ihm beinahe seine Ungewöhnlichkeit.

Freilich war damit, daß sie nunmehr »bemerkt« worden war, ihr Leben selber vorerst kaum anders geworden. Die folgende Äußerung des seinerzeit berühmten Theaterkritikers Boutet zeigt, daß Eleonora Duse auch in Neapel (wo Boutet sie kennengelernt hat) anfangs äußerlich noch nicht viel anders gelebt hat als in den Jahren zuvor. Er schreibt: »... Das arme Kind war damals eine Schauspielerin in den ersten Anfängen. Sie geht in einem dürftigen und abgeschabten Kleidchen einher, mit einem dunklen Strohhute mit einem rötlich gewordenen schwarzen Bändchen, der keine Jahreszeit kannte. Tagaus, tagein trabt sie morgens zu den Proben und abends zu den Vorstellungen, hohlwangig von der kärglichen Nahrung, den Träumen und den Ängsten vor dem nächsten Tage.«

Aber etwas wird doch bald anders, wunderbar anders. Ein unbekanntes Glück rührt täglich süßer an ihr Herz. Sie hat junge Menschen kennengelernt, die aus ihrem Spiel ihr Wesen geahnt haben. Sie hat Freunde. Junge Seelen, sehnsüchtig dem Großen aufgetan, das im Leben sein muß, finden sich zu der ihren. Matilde Serao, die Dichterin, ein paar junge Schriftsteller. Sie horcht, spricht, Quellen beginnen zu rieseln, die den Staub vieler Wanderschaften fortspülen. Tausend unbekannte Dinge wachen auf. Sie kann nicht schlafen vor Lebensfülle, sie ist zum ersten Male jung.

Nun wird das Theaterspielen mit jedem Tage erregender. Und selbst die große gefeierte Giacinta Pezzana wird jetzt täglich mehr auf sie aufmerksam. Diese Frau, die schon im Nachmittage ihres Lebens steht, ist nicht etwa eifersüchtig auf die »Kleine«, im Gegenteil, sie wittert ihre künstlerische Kraft, sie sagt ihr zuweilen ein Wort – nicht gute Lehren, die aus ihren eigenen, so verschiedenen Anschauungen von Schauspielkunst stammen, sondern praktische Hinweise auf technische Dinge, wie sie der Unwissenden und nur von ihrer Gestaltungsgier Geleiteten bisher noch keiner gesagt hat.

Es wurde die »Thérèse Raquin« von Zola einstudiert. Noch war Eleonora eingeschüchtert von der Gegenwart der ihrer selbst so sicheren, gefeierten Tragödin und beschränkte sich während der Proben auf andeutendes Spiel. Proben waren ja von früh an für sie stets nur ein zwar unerläßlicher, aber immer als unwesentlich empfundener Notbehelf. Als sie als Halbwüchsige während einer Probe gar nicht mit Spiel und Stimme aus sich herausgehen wollte und der Probenleiter immer ungehaltener in sie drang, hatte der Vater, der diese Eigentümlichkeit Eleonoras wohl kannte, ihm gesagt, er möge das Kind nur gewähren lassen; wenn erst das Rampenlicht brenne, werde sie schon spielen, wie sie solle.

Bei der Erstaufführung dieses Zolaschen Stückes, das mit seiner einfachen Sprache und grell leidenschaftlichen Wirklichkeit nun freilich auch weit mehr nach dem Sinne einer Besessenen war als der luftlose Alfieri, war dann alle Schüchternheit fort, und Eleonora Duse spielte wie nie zuvor, so daß selbst die Pezzana in den Szenen mit ihr sich an ihr entzündete und, von der jungen Leidenschaftlichkeit hingerissen, stärker und echter war als je zuvor. Wie groß der Erfolg war, verstand das Mädchen trotz all der Hervorrufe erst gar nicht recht; sie war ja noch die andere, die aus der Wirklichkeit des Stückes, die da an die Rampe trat. Erst als die Freunde, die Kollegen und die Pezzana selber es ihr sagten, begriff sie, daß sie nunmehr wirklich Theater gespielt habe. Und Giacinta Pezzana schützte sie wider Neid und Spöttelei; und denen, die versuchten, ihr eigenes edles und wohlabgemessenes Spiel auf Kosten des »Tobens dieser wilden Person« zu preisen, erwiderte sie abwehrend, daß diese kleine Duse eine ganz große Schauspielerin werden würde. Und noch viele Jahre später erzählte die Altgewordene, die Jahrzehnte voll Theaterabenden hinter sich hatte, von diesem Abende mit der kleinen Duse als einem unvergeßlichen.

*

In dieser kurzen Spielzeit in Neapel, in der Eleonora Duse zum ersten Male Freundschaft erfahren hatte und im ersten Erfolge ihre Gestaltungskraft Wirklichkeit werden gefühlt hat, geschah ihr noch Tieferes und Entscheidenderes. Ihr feindseliges Sichwehren war fort, Zutraulichkeit zur Welt tat, zaghaft noch, neue Sinne in ihr auf. Seit es in dieser fremden Stadt Gassen gab, die gut waren, weil Freunde in ihnen wohnten, war die ganze Stadt nicht mehr unheimlich, und seit die Freunde sie die Hingabe und Hinnahme im Gespräche gelehrt hatten, waren die Menschen in ihrem Gefühle anders geworden. Sie, die in Einsamkeit und Scheu gehüllt Gewesene, war nun voll von Glauben, Erwartung und Bereitschaft. Schicksal bereitet sich ja stets innen und außen zugleich, und wenn ein Geschehnis seine Bedeutung haben soll, dann hat es seine Vorläufer im Herzen selber. Als Eleonora Duse damals in Neapel Martino Cafliero kennenlernte, empfand dieser sinnenkluge, echte Verführermensch alsogleich die tiefe Lebenssehnsucht dieser jungfräulichen Seele. Er war reichbegabten Geistes und anspruchsvoll, wie nur ein vom Leben und von den Frauen Verwöhnter es sein kann. Doch sein Verführertum war nicht rohes Nehmen, sondern jene überfeinertste Lust am Spiel der eigenen Kräfte und an ihrem Vermögen, sich Seelen zu gewinnen und dienstbar zu machen. Mit diesem Mädchen, das keine Künste lockender Abwehr, kein Spielen und kein Halbsein kannte, hatte er es allzu leicht. Er war gewandt, hatte viel erlebt, gedacht und gelesen, war, wenn er wirken wollte, ein hinreißender Erzähler, war zudem ein angesehener Schriftsteller und um anderthalb Jahrzehnte älter als die kleine Schauspielerin. Er zeigte ihr Neapel, das plötzlich in seiner ganzen schwermütigen Herrlichkeit zu leuchten begann, führte sie vor Kunstwerke und tat erst nichts anderes, als sonst ein wohlwollender Mensch täte, der einem armen kleinen Wesen Freude machen und seine Stadt zeigen will. Er fuhr mit ihr im Boot in den mondlichten Golf hinaus, zeigte ihr den Blick vom Posilipo und Vomero, führte sie in wunderbare Restaurants zu Mahlzeiten mit Speisen, von denen sie nie gehört hatte, erzählte ihr auf Wagenfahrten und Spaziergängen von den Dingen der Welt, von denen das Komödiantenkind höchstens durch die gespielten Stücke Kenntnis hatte, und von den großen Büchern ihrer Sprache, brachte ihr Blumen ... Bald schaute den Herrn all dieser Herrlichkeiten der Welt die nie gewagte Zärtlichkeit einer ganzen Jugend aus den großen dunklen Traumaugen an, das schmale Gesichtchen mit seiner kränklichen Blässe wurde immer schöner in seinem Leuchten aus Bewunderung und Glück. Das war Eleonora Duses erste Liebeszeit. Ein Schatten fiel drohend auf sie: die Spielzeit am Teatro dei Fiorentini ging zu Ende. Daß dann das Ensemble der Fürstin Santobuono aufgelöst und sie ohne Engagement sein würde, beschäftigte ihre Gedanken kaum. Sie liebte, nun mußte alles recht geschehen. Sie erschrak fast, als sie dann in die Compagnia des in ganz Italien bekannten Cesare Rossi, in die auch Giacinta Pezzana übergegangen war, aufgenommen war. Denn nun war das Drohende Wirklichkeit geworden: sie sollte fort. Sie wollte nicht, sie konnte nicht – fieberhaft wartete sie bis zum letzten Augenblicke, daß der Geliebte ihr sagen werde: »Bleib!« Er sagte es nicht, für ihn war ja dieses Fortgehen der erwünschteste Abschluß einer Beziehung, deren Zeit um war. Und sie konnte nicht fordern, niemals. Die letzte Nacht ist grauenhaft; sie kann es nicht glauben. Sie geht mit ihm durch die Gassen, wortlos, wartend, oh, so wartend. Und dann geschieht das Unfaßbare doch, daß er sie fortläßt. Noch im Bahnhofe wartet sie ... Matilde Serao schaut sie an, das kleine Gesicht ist grau geworden, die tränenlosen Augen sind voll so schauerlicher Trauer, daß die Freundin erschrickt und ahnt, daß eine Seele, die so leiden kann, noch unendlich werde leiden müssen.

Das Ensemble Cesare Rossi ging nach Turin, und hier begann eine neue Leidenszeit für Eleonora Duse. Der Erfolg von Neapel war vergessen, die Freunde fern und ferner noch und immer ferner der Geliebte, der unerkennbar aus den seltenen, farblos freundlichen Briefen zu ihr sprach. Sie hatte an eine Heimat im Glücke geglaubt – nun war die Einsamkeit noch schauriger. Und trotz des Wohlwollens Giacinta Pezzanas war das Theater nun wieder Qual geworden. Cesare Rossi hatte ihr im Vertrauen auf die in Neapel gezeigte Kraft bedeutendere Rollen anvertraut. Und das Publikum von Turin, durch altvertraute Ensembles ganz und gar zu den herrschenden Schauspielkonventionen erzogen, lehnte die »häßliche junge Person« mit ihrem exaltierten Spielen erst entschieden ab. Dann kam noch Schwereres: Übelkeiten, Versagen aller Kräfte des in ständiger Anspannung mißbrauchten, unterernährten Körpers und endlich die nicht mehr zu verhehlende Erkenntnis, daß sie schwanger sei. Sie schreibt nach Neapel. Die Antwort scheint wenig Trost gebracht zu haben. Endlich entschließt sie sich – oh, wie schwer wird der Entschluß ihr, die nicht bitten kann –, den Geliebten um eine Zusammenkunft zu bitten. Er kann sich nicht weit von Neapel entfernen, schreibt er, und schlägt Rom vor. Dahin fährt sie nun die Nacht durch in der dritten Klasse mit den ersparten paar Lire, für die sie hatte ein Kleid und Schuhe kaufen wollen. Bei ihm müsse ihr Trost werden, sagt sie sich unaufhörlich. Und meint damit, daß die ganze Liebe wieder aufwachen und ihr alles Schwere selbstverständlich machen müsse. Aber es kam anders. In ihrem eigenen Gefühle war, ihr unbewußt, schon das mit, daß er sie hatte fortgehen lassen. Und so wird ihr seine Zärtlichkeit, nach der sie so gehungert hatte, zur Demütigung und sein Begehren zur Gier, von der sie sich besudelt fühlt. Da sie dann allein in dem elenden kleinen Hotelzimmer ist, ist sie im tiefsten, gräßlichsten Abgrunde der Verzweiflung, und nur noch der Tod scheint Hilfe zu sein. Da bäumt sich etwas Mächtiges, das sie noch nicht in sich empfunden hatte, in ihr auf: »Das wäre zu klein, zu leicht!« Sie sieht sich gehen, einsam, beladen, sich eine unendliche Straße hinschleppen. Alles ist grau, Mühsal, Elend, sie senkt den Kopf mit den weit aufgerissenen Augen. Da der Morgen graut, geht sie aus dem Hotel fort. Sie trägt ihr Köfferchen durch viele schmale und winkelige Gassen, ehe sie sich, nun wieder scheu geworden, nach dem Wege zu fragen entschließt. Einmal schaut sie auf, sieht im Frühlichte der engen Gasse ein schönes altes Gebäude und liest »Teatro Valle«. Eine tiefe Angst, auf deren Grunde etwas wie eine schmerzensvolle Süßigkeit ist, erfüllt ihr Herz. Theater spielen, ja Theater spielen ... Sie kehrt nach Turin zurück und spielt, solange sie kann. Erst als ihr zarter, entstellter Körper ihr die Bühne verbietet, läßt sie sie für eine Weile. Sie verkriecht sich in Marina di Pisa (jenem Marina di Pisa, wo zwei Jahrzehnte später ihr Dichter seine schönsten Gedichte geschrieben hat). Ihr Unterschlupf ist ein Bauernhaus. Schlichte, freundliche Leute sind um sie, betreuen ihre Schwäche und schaffen Beistand, da ihre Stunde gekommen ist. Der erste Blick schon auf ihr Kind erschüttert sie auf eine Weise, daß Liebe und Grauen dieses Augenblickes noch nach Jahren mit voller Gewalt über sie hereinbrechen konnten. Es war ein Knabe, ein elend kleines Wesen mit einem winzigen, erbärmlichen, faltigen Greisengesichtchen, das von der ersten Minute an zu alt und zu traurig zum Leben schien. Das Geschöpfchen starb nach ein paar Tagen, und die Mutter trug es selber in seiner kleinen Kiste zum Friedhofe.

Dann muß sie wieder zurück, zum Ausruhen hat sie keine Zeit, kein Geld. Ein paar Blätter von dem Grabe, in dem die Frucht ihrer ersten Liebe liegt, hat sie in ihr Taschenbüchlein genommen und trägt sie bei sich, bis sie Staub werden wie das Geschöpfchen selber. Aber dieses taucht wieder empor, nach Jahren noch in Visionen, die das Herz der Frau in jener grauenvollen Liebe aus dem ersten Augenblicke ihres Mutterseins erzittern machen.

*

Rossi hatte Zutrauen zu dem Talente seiner seconda donna, mochte es sich auch in Formen äußern, die ihm gegen den Geschmack gingen, und mochte auch das Publikum einer Stadt sie ablehnen. Er war seines Instinktes sicher – und überdies machte ihm diese Ablehnung gerade in Turin nicht viel aus, denn hier hatte er Zeit genug vor sich, die Duse durchzusetzen. Es war ihm gelungen, bei der Kommune von Turin einen auf eine Reihe von Jahren laufenden Vertrag zu erwirken, der ihm alljährlich für eine bestimmte Zeit das städtische Theater sicherte. Er war der Unregelmäßigkeiten der Gastspiele müde; zu lange hatte er das von stets unberechenbaren Zufällen abhängige Wanderleben der italienischen Schauspieler geführt. Nun, diese Zufälligkeiten ließen sich ja auch nicht ganz ausschalten, wenn man Ordnung in die Reihenfolge der Gastspiele zu bringen suchte, aber aus der Vertrautheit, die durch einen stets wiederkehrenden Kontakt mit dem Publikum einzelner Städte erwächst, ließ sich manches vorhersehen, fördern oder vermeiden. Und daran lag ihm. Er war berühmt genug, hatte sich genug geschunden, nun wollte er, soweit es ging, leben, wie er es liebte. Er war nicht mehr jung, ein bißchen bequem und wurde leicht mürrisch, wenn ihn etwas störte. Er aß gerne gut, und es war ihm fast eine Leidenschaft (soweit ein solches Wort für sein ein wenig ausgebranntes Wesen gebraucht werden darf), wie sein großer Landsmann Rossini selber in der Küche zu stehen und sich und ein paar Freunden seine besonderen Leibgerichte zu bereiten. Es hatte viele Frauen, sehr viele, in seinem Leben gegeben, und er brauchte sie auch jetzt noch. Nur mußte es einfach gehen, sie durften keine »Geschichten« machen, er haßte Widerstand jeder Art und wurde unleidlich, wenn nicht alles ging, wie er es forderte. Und dann, er hatte zu viele Frauen schwach, meinungslos, käuflich gesehen, und nun hielt er nichts mehr von dem ganzen Geschlechte. Es war hübsch und konnte Freude machen, es konnte auf dem Theater, wenn man seine natürliche Komödiantenbegabung mit Verstand zu entwickeln und anzuwenden wußte, eine Menge erreichen – aber wenn es sich um ernste Dinge handelte, die Urteil oder Zuverlässigkeit erforderten, hielt er sich an die Männer.

Da war nun diese kleine Duse. Talent hatte sie ganz bestimmt, mehr als die meisten, die er gesehen hatte, aber es war alles zu maßlos, zu hysterisch, wie er alles zu nennen liebte, was ihn hätte mit blutdurchpochter Leidenschaft in seinem Gleichmaße stören können. Wenn das Frauenzimmer wenigstens hübscher wäre! Na, man mußte ihr einige Unarten abgewöhnen, und im übrigen würde sich das Publikum schon an dieses absonderliche Gesicht gewöhnen, das ja mit seiner Beweglichkeit für das Metier recht geeignet war.

Die den »großen« Rossi lange kannten, wunderten sich im übrigen, wie nachsichtig er gegen diese armselige Duse war, die immer mit Blicken umherging, die keinen anschauten, und die oft geradezu erschrak, wenn man sie anredete. Er ließ sie gewähren, selbst wenn sie auf den Proben eine Stelle gegen ihn verteidigte, seit er da und dort gesehen hatte, daß solche Stellen »flau« wurden, wenn sie sich zu einer Auffassung bereden ließ, während gewagte und absonderliche Dinge, die er anderen nicht durchgelassen hätte, bei ihr plötzlich vortrefflich wirken konnten, weil eben sie es war. Er hatte sich vor derartigen Überraschungen längst sicher geglaubt. Aber sie überraschte ihn immer wieder, ja noch mehr, es war nicht zu leugnen, daß sie ihn beschäftigte.

Dann kam die Sache, die er vorausgesehen hatte: die Pezzana wollte fort. Die Gage, Rollen ... weiß der Teufel, was in solch einem durch allzuviel Erfolg verwöhnten Frauenzimmer alles vorgeht. Im Grunde ist es ja doch wohl nur das, daß man es einfach nicht lange in einem Ensemble aushält; nicht einmal in seinem, wo es sich doch wirklich leben ließe. Was jetzt? Wieder eine von den Berühmten nehmen, riesige Gagen zahlen, sich mit den Launen einer wahrscheinlich auch nicht mehr jungen, eingebildeten Person herumschlagen? Hatte er denn einen großen Namen nötig? Genügte es nicht, daß er für seine Leute einstand und daß er, Cesare Rossi, von Zeit zu Zeit selber spielte? Die Duse war nun einmal da, sie machte sich gar nicht schlecht, damals in Venedig hatte sie doch sehr gefallen und eine ausgezeichnete Presse gehabt. Und für die seconda donna war sie schon allmählich nicht mehr das Richtige. Und dann, wenn man ihr so außerordentlich entgegenkam, würde sie vielleicht auch etwas gefügiger werden. Sie hatte sich doch jetzt ganz nett herausgemacht. Oder täuschte er sich? Hatte er sich nur an sie gewöhnt? War es nur das, daß er die hübschen glatten Fratzen allmählich satt hatte? Sie gefiel ihm, sie gefiel ihm mehr, als ihm lieb war, und er wurde mürrischer denn je, wenn sie wieder einem Annäherungsversuche entglitten war.

Eleonora Duse war also als prima donna an die Stelle der Giacinta Pezzana getreten. Als Rossi ihr den unerwarteten Vorschlag gemacht hatte, hatten ihr die Knie zu zittern begonnen. Sie an Stelle der Pezzana? Damals hat Rossi sie das einzige Mal weinen gesehen.

Wenn Rossi nicht so fest von dem Talente seiner neuen Primadonna überzeugt gewesen und zudem auf eine ihm ganz unverständliche Weise von ihrem Wesen gefangen gewesen wäre, hätte er es wahrscheinlich bereut, nicht lieber doch eine andere Frau, deren Wirkung er sicher sein konnte, engagiert zu haben. Diese Duse brachte ihm unstreitig Pech. Nicht nur weil sie sein behagliches Gleichgewicht störte; seit sie Primadonna war, schien es auch mit dem Ensemble gar nicht mehr vorwärtszugehen. Wieder war es Turin, wo sich eine Spielzeit so ganz und gar entmutigend für Eleonora Duse anließ. Der Theaterbesuch nahm von Tag zu Tag bedrohlich ab, nach jedem Kassenrapport war Katastrophenstimmung um Rossi. Er wußte nicht mehr, was er spielen solle. Stücke, auf die er geschworen hatte, versagten, und es wehte aus dem halbleeren Zuschauerraume ein Hauch von Öde auf die Bühne, daß denen da oben in ihren mittelmäßigen Stücken die Worte im Munde grau und kümmerlich wurden und die Arme aus den Gesten niedersanken wie Segel ohne Wind.

Verzweiflung griff nach Eleonora Duse. Alle Verheißungen schienen erloschen, alle Anstrengungen sinnlos. Die Wunde von Neapel her tat immer noch furchtbar weh und machte sie scheu vor Menschennähe, deren Wärme hätte Hilfe sein können. Zudem hustete sie, fühlte sich oft fiebrig, oft elend matt. Und das Theaterspielen in diesen Stücken, die nach Schimmel rochen, und vor diesem Publikum, dessen Gleichgültigkeit ihr das Blut stocken machte, das geliebte Theaterspielen war jetzt wie Fliegenwollen und Eisenkugeln an Händen und Füßen haben. Konnte sie nicht doch noch anderes beginnen, sie war jung, liebte die Arbeit – gab es nicht irgendeine andere, sinnvollere Arbeit für sie? Diesen Zustand der Spannungslosigkeit, dieses beamtenhaft tägliche Ins-Theater-Gehen ohne Schwung, ohne einen Funken inneren Aufleuchtens ertrug sie nicht mehr. Sie suchte nach einem Auswege, sie wollte fort vom Theater, etwas tun, schaffen und wieder atmen können.

Alles war hier unerträglich geworden, und beinahe am schlimmsten diese Sache mit Rossi. Er war nun unablässig hinter ihr her, und wenn sie ihm freundlich oder zuletzt gereizt zu verstehen gegeben hatte, daß er sie in Frieden lassen und doch endlich diese sinnlose Verfolgung aufgeben möge, war er beleidigt, wütend, demütigte sie vor den Anderen und sann hundert Bosheiten aus, ihr weh zu tun. Und immer schlimmer noch wurde das, als sie hier den erwarteten Erfolg nicht hatte. Nun begann er die Primadonna von seinen Gnaden als sein Geschöpf zu behandeln und als sein Recht zu fordern, daß sie ... Nein, sie konnte nicht weiter!

Da wurde ihr von unerwarteter Seite Hilfe. In dem Ensemble war ein Schauspieler, ein Mann zu Anfang der Dreißig, kein ganz großes Talent, aber ein gescheiter, geschmackvoller Darsteller – und vor allem ein guter Kamerad, ein braver, anständiger Bursch, zu dem man, selbst wenn einem so Grausiges widerfahren war wie ihr, Vertrauen haben mußte. Er war der Einzige, mit dem sie in dieser lichtlosen Zeit zuweilen geredet hatte. Sie hatte sich nie über Rossi beklagt. Sie hätte sich geschämt, davon zu reden, und dann, wenn sie diesen plötzlichen Irrsinn des Alternden ruhiger ansah, tat er ja nicht zu Ungewöhnliches, wie es das Leben beim Theater sie gelehrt hatte. Viele waren so, und niemand fand daran etwas auszusetzen, und viele Frauen sagten um des Fortkommens und des lieben Friedens willen ja. Nur sie konnte das nicht, sie konnte nichts tun, was sie nicht mußte, das wußte sie allmählich von sich, und wenn sie sich einmal zum Nachgeben gezwungen hätte, wäre es mit ihr zu Ende gewesen. Davon aber sagte sie nichts zu Tebaldo Checchi, der ihr in dieser Zeit durch seine Herzlichkeit und seine stets gleichmäßige fürsorgliche Art schon ein Freund geworden war. Im Gegenteil, sie rühmte, was sie Rossi zu danken habe, wie verständnisvoll für ihre Art er ihr so oft Dinge gesagt habe, die ihr technisch außerordentlich geholfen hätten, und was es schließlich für ein Akt des Vertrauens gewesen sei, sie, die junge Person ohne Namen, zur Nachfolgerin der Pezzana zu machen. Checchis Verehrung für sie wuchs noch, weil sie sich über das nicht beklagte, was er täglich mit ansah. Dann wurde es eines Tages auch ihm zu arg. Er hatte dieses ernste Mädchen, von dessen trauriger Lebens- und Liebesgeschichte ihm der Theaterklatsch ohne sein Dazutun manches zugetragen hatte, liebgewonnen. Er wollte das zarte und so leidensfähige Geschöpf behüten, über der Entfaltung seines Talentes, das er bewunderte, wachen und der vom Leben Verängstigten und in sich selber Friedlosen Geborgenheit geben. Ihm ahnte, daß das eine schwere Aufgabe sein könnte. Man hatte ihm gesagt, daß sie die »Smara« habe, jene venezianische Krankheit der Seele, die durch das Blut treibt wie die Abendnebel über die Kanäle, die darin mit Sehnsucht, Schwermut und Leidenschaften irrlichtert und das ganze Leben rettungslos unstet macht. Das sei Aberglauben, meinte er. Aber daß sie in ihrem Wesen anders sei als die Frauen, die er gekannt hatte, und in vieler Gefahr sei, wußte er, und es schreckte ihn nicht. Da er liebte, wollte er helfen, schützen können. Er sah nur einen Weg dazu. Da ging er zu Eleonora Duse, nahm ihre Hand und sagte, daß sie seine Frau werden müsse, sonst gäbe es keinen Frieden für sie. Denn wenn sie auch das im übrigen für sie so vorteilhafte Engagement bei Rossi verließe, würde sich ein anderer Rossi finden, und wahrscheinlich noch ein schlimmerer. Er habe sie von Herzen gern, wisse, was sie durchgemacht habe, und ihm wäre es das Glück, ihr das Leben leichter machen zu können. Es war eine so große Einfachheit und Innigkeit in ihm und seinen Worten, daß davor all ihr Widerstand verging.

Sie heirateten bald. Und vom Augenblicke an, da Rossi von der beschlossenen Verbindung wußte, schien er seine Leidenschaft für seine Primadonna ganz und gar vergessen zu haben. Weder sie noch ihr Bräutigam und Gatte bekamen je auch nur eine Spur nachträgerischen Grolls, wie man ihn ihnen prophezeit hatte, zu spüren; im Gegenteil, er benutzte jede der alsbald sich bietenden Gelegenheiten, sich als freundschaftlicher Förderer zu zeigen, fast als hätte er etwas abbitten mögen.

Matilde Serao, die Eleonora Duses erste Freundin gewesen war, erzählt über diese Zeit: »Wie viele geflüsterte Schmähreden und laute Spöttereien fielen nun über Tebaldo Checchi um seiner Ehe willen her! Leise hieß es ›schmutziger Spekulant!‹ Und laut ›Mann der Primadonna!‹. Er wußte und hörte alles und zuckte die Achseln und lachte darüber. Ja, er war der Gatte der Primadonna: aber er war auch der wachsame Hüter dieses erlesenen Geschöpfes und der Verteidiger wider jeglichen bedrohlichen Ärger und jeden ermüdenden Verdruß; er stand vor ihr, deckte sie mit seiner Person und nahm ganz allein die Quälereien auf sich, die ... für eine Künstlerin im Aufstiege unvermeidlich sind. Dann gab es auch schon Leute, die Eleonora Duse um eines solchen gewöhnlichen und lächerlichen Gatten willen bemitleideten: aber sie zog die Brauen zusammen und brachte solche unerwünschte Hofmacher sogleich zum Schweigen. Immer verteidigte sie den Gatten mit einem Worte, einer Gebärde. Sie allein und die ganz wenigen nächsten Freunde wußten es, welch rührender Zärtlichkeit für seine Frau er fähig war. Ich erinnere mich: Im dritten Jahre ihrer Ehe verfiel in Neapel der Mann, der gegen Eleonora so grausam gewesen war, in eine sehr schwere Krankheit. Er war ein Schriftsteller von Namen und war Journalist, so brachten die römischen Zeitungen täglich Nachrichten über seine Krankheit. Eleonora ... spielte damals am Teatro Valle in Rom. Mann und Frau wohnten in ein paar bescheidenen Zimmerchen in der Via de' Canestrari. Und die alte Wunde ihres Herzens begann wieder zu bluten. Sie schwieg in der ihr angeborenen Schamhaftigkeit des Schmerzes, die eine der höchsten Tugenden ihrer Seele gewesen ist. Aber Tebaldo Checchi verstand alles, hatte Mitleid mit ihr und wollte ihr in seinem Zartgefühl doch nicht zeigen, daß er Mitleid habe ... Dem kranken Manne ging es immer schlechter, und man fürchtete jeden Augenblick die Nachricht von seinem Tode. Da kam Tebaldo verstört zu mir und sagte mir: ›Liebste Freundin, wenn der Mann heute nacht stirbt, gehe ich morgen von Eleonora und vom Hause fort und bringe einen Tag außerhalb von Rom zu ... sie soll mich nicht sehen, meine Gegenwart kann eine Last für sie sein. Das möchte ich ihr ersparen und sie ihrem Schmerze überlassen, der gerecht ist, der menschlich ist. Aber sie darf nicht allein sein. Gehen Sie hin, liebe Matilde, bleiben Sie bei ihr, helfen Sie ihr! Versprechen Sie mir das?‹ Bis in den Grund meines Herzens erschüttert, versprach ich es ihm. Und ich empfand für diesen so oft falsch beurteilten Mann eine Freundschaft, die dann nicht mehr aufgehört hat. Es kam alles, wie Tebaldo Checchi es vorausgesehen hatte. Der Mann starb in der Nacht. Checchi hinterließ sehr früh am Morgen ein vorsorgliches und mitleidvolles Billett für das Stubenmädchen: ›Geben Sie der gnädigen Frau nicht die Morgenzeitungen!‹ Und ging fort, wer weiß wohin. Aber die schlaflose und angstgequälte Duse hatte das Billett gefunden und gelesen und alles verstanden. Als ich zu ihr kam, fand ich sie in Krämpfen sich windend. Ich blieb den Tag und eine Nacht bei ihr. Ich mag nicht von ihrem kalten Rasen sprechen. In zusammenhanglosen Sätzen zog die Geschichte ihrer Liebe an ihr vorbei, und sie sprach mit seiner Stimme nach, wie er sie in seinem schmeichlerischen Neapolitanisch ›Nennella, Nennella!‹ genannt hatte. Der nun vor der Zeit dahingegangen war, war in der Liebe böse, schlecht zu ihr gewesen: aber er hatte ihrem noch unfreien, dumpfen und schwankenden Genie Luft und Licht und Flamme gegeben ... Eleonora dankte ihm all ihre brennendsten Tränen, jene, die eine Spur graben, aber auch das Offenbarwerden ihrer Kraft. Nach vielen Stunden wurde ihre ermattete Seele still. Sie erkannte mich. Ich konnte mit ihr sprechen, kurze und leise Worte. Aufmerksam hörte sie mir zu. Und da konnte ich das Geheimnis meiner Erschütterung nicht verhehlen, es drängten sich mir die Worte hervor: ›Eleonora, wie gut ist Tebaldo gewesen ...‹ Da suchte sie ihn ringsum mit ihrem Blicke: der harte Knoten ihrer Verkrampftheit löste sich, und über die Güte und das Mitleid dessen, der nicht da war, strömten ihr die Tränen hervor, lange, wohltätige, trostreiche Tränen.«

*

Die lähmende Mattigkeit lastete weiter über dem Turiner Theater. Keine Anstrengung fruchtet, kein Stück vermag das theatermüde Publikum zu locken. Die Einnahmen werden auf immer bedrohlichere Weise kleiner, eines Abends betragen sie 27 Lire 50 Centesimi. Was tun? In andere Städte auf Gastspiele gehen? Aber dazu braucht es Vorbereitungen, und dann ist das Rossische Ensemble ja hier gebunden. Da geschieht das Unerwartete: Sarah Bernhardt, die Große, die Welteroberin, läßt mitteilen, daß sie zu einem Gastspiele nach Turin kommen wolle. Und Cesare Rossi und die Seinen sollen ihr in ihrem Theater Gastfreundschaft gewähren. Ein jäher Hauch von Leben hat all die gestockte Provinzödigkeit fortgeblasen. Die Wirkung dieser Nachricht gibt ein Bericht wieder, den Graf Guiseppe Primoli, der jahrzehntelange Freund Eleonora Duses, einer der letzten Abkömmlinge des Hauses Bonaparte und im übrigen der kunst- und theaterliebende Kavalier alten Stils, schrieb: »Sogleich wird alles Unterste zu oberst gekehrt, alles neu hergerichtet, jeder Gedanke ist darauf gerichtet, die von den Göttern geliebte Künstlerin würdig zu empfangen. Die bescheidene Garderobe der kleinen Duse wird in ein Boudoir umgewandelt, das geradezu nach Eleganz aussieht. Und dann gibt es acht Tage lang eine nicht endende Prozession von Gepäckstücken zwischen dem Theater und dem Hotel. Vor der großen Bändigerin kommt eine ganze Menagerie an: ihre Hunde, Affen, Papageien, alle die Bestien, die sie von ihren Reisen mitgebracht hat, begleiten sie auf ihrer Tournee. Man kann sich die Verdutztheit der kleinen Komödianten beim Auspacken all der exotischen Merkwürdigkeiten vorstellen.« Erregt sieht Eleonora Duse den triumphalen Einzug der Sarah Bernhardt mit an. Es ist ihre erste Begegnung mit wirklichem, mächtigem Ruhme, und sie fühlt etwas wie Stolz darüber, daß eine Frau solche Gewalt erlangen könne. Primoli erzählt weiter: »Die Logen kosten hundert Franken, eine unerhörte Summe für Turin, wo man im allgemeinen einen Proszeniums-Logenplatz mit fünf Franken bezahlte. Und Eleonora Duse wohnte allen Vorstellungen bei, und mit was für einem Interesse! Wie die anderen alle, oder nein, sicherlich mehr als alle anderen war sie hingerissen von dem Talente der Bernhardt und von ihrem Charme bezaubert. Sie applaudierte bis zur Erschöpfung, und sie erlebte bebend ihr Spiel mit, als ob sie selber spielte.«

Jahre später schreibt Eleonora Duse selber über dieses Erlebnis: »... Und sie kam, von ihrer großen Aureole, ihrem schon die Welt umspannenden Ruhme umleuchtet. Und wie durch Zauberei erfüllte plötzlich Bewegung das Theater, das neu zu strahlen begann. Mir war, als ob mit ihrem Nahen alle die alten, welken Schatten des Herkömmlichen und der versklavten Kunst in Nichts zergingen. Es war wie eine Befreiung. Nun ist sie da, sie spielt, sie triumphiert, sie ergreift Besitz von uns allen, sie geht wieder ... aber sie läßt wie ein großes Schiff eine Spur hinter sich ... und lange noch bleibt in dem alten Theater die Atmosphäre, die sie mitgebracht hat. Eine Frau hat das alles zustande gebracht! Und auf eine mittelbare Weise fühlte auch ich mich befreit, ich empfand, daß ich das Recht habe, zu tun, was mir recht scheint, das heißt anderes, als man mich bisher zu tun gezwungen hatte. Und tatsächlich ließ man mich von da ab gewähren. Sie hatte die ›Kameliendame‹ gespielt, wie wunderbar! Ich bin jeden Abend hingegangen und habe geweint.«

Sarah Bernhardt, von der ihr damals nicht ahnte, daß diese einmal anders ihren Weg kreuzen werde, hatte ihr Mut zu sich selber gemacht. Ihre Kraft war wieder da und zugleich ein Ahnen, daß diese Kraft von anderer Art sei als die jener grandiosen Virtuosin.

Primoli erzählt dann weiter: »... Tags darauf zog die italienische Truppe wieder in das Teatro Carignano ein, und der vorsichtige Cesare Rossi wollte in seiner Furcht vor der noch in allen nachglühenden Erinnerung ein altes Stück von Gherardi del Testa ›Der Triumph der Adelaide‹ spielen. Die Duse erhob Einspruch dagegen: ›Wenn ich morgen spielen soll,‹ erklärte sie entschieden, ›spiele ich nur die Prinzessin von Bagdad.‹

›Daran können Sie doch nicht denken, nach der Sarah Bernhardt!‹

›Gerade. Erstens hat sie ja nicht die Prinzessin gespielt, und dann liegt mir daran, mir die Sympathie, die sie zwischen der Bühne und den Zuschauern geschaffen hat, zunutze zu machen.‹

›Aber ...‹

›Wenn Sie nicht wollen, daß ich die Prinzessin spiele ...‹

›Die in Paris ausgepfiffen worden ist ...‹

›Ein Grund mehr ... dann verlasse ich Sie.‹

›Und wo wollen Sie denn hingehen?‹

›Chi lo sa ...?‹

Und sie spielte die ›Prinzessin von Bagdad‹ ...«

Sie hatte einen Erfolg, wie sie ihn bisher noch nicht erfahren hatte. Das Publikum von Turin, das sie erst feindselig abgelehnt und ihr dann, worunter sie noch mehr gelitten hatte, stumpfe Gleichgültigkeit zu fühlen gegeben hatte, jubelte ihr zu – und sie war wie immer dann nach einem großen Gelingen betäubt, konnte nicht in die Wirklichkeit voll Händeklatschen und Zurufen zurückfinden und stand fremd im Rampenlichte, den Kopf zurückgebogen und die Augenbrauen hochgezogen, fremd, fremd, Geschöpf der Sehnsucht, das ein paar Stunden lang Heimat gehabt hatte in einer Gestalt und nun zurück sollte ...

Rossi strahlte: »Ich habe es ja immer gesagt, aber man muß ihr eben ihren Willen lassen.« Und dann nach ein paar Tagen kam er stolzgeschwellt zu seiner Primadonna. Er hatte einen Brief von dem Autor der »Prinzessin von Bagdad« bekommen, der kein Geringerer war als der jüngere Dumas, der gefeiertste Dramatiker der Zeit und für Rossi als der Verfasser von Stücken mit »Bombenrollen« noch in einer besonderen Gloriole strahlend. Er, Cesare Rossi, hatte die »Prinzessin von Bagdad«, die in Paris, in der »Comédie Française«, trotz der, wie man erzählt hatte, fabelhaften Darstellung durch die Croizette so ungeheuerlich durchgefallen war, zum Erfolg gebracht!

Der Graf Primoli (der Freund Dumas', wie er der Freund Flauberts, der Goncourts und aller derer gewesen war, die sich seinerzeit in dem Salon seiner Verwandten, der Prinzessin Mathilde Bonaparte, eingefunden hatten) hatte Dumas von dem Erfolge seines Stückes und von der jungen Duse, der er zu danken gewesen war, geschrieben. Das war der Anlaß jenes Briefes an Rossi, dem später dann Briefe an die Duse selber folgten.

Ein großer Erfolg also, und nicht in einer erprobten Rolle, einer, deren Wirkung auf das Publikum sicher stand, nein, dem Ungewissen abgetrotzt. Nun wußte sie: das gab ihr Kraft, das zwang diese dunkle, ihrem Willen noch nicht untertane Welt in ihr wunderbar, eine Andere aus ihr zu machen. So mußte sie Aufgaben haben, schwere, aussichtslos scheinende Aufgaben. Aber wo sie finden? Schmerzlich fühlte sie jetzt immer stärker, daß sie nichts wußte. Und keiner war da, der ihr sagen konnte, was sie brauchte, das, wonach sie noch nicht einmal zu fragen wußte. In jenem Manne in Neapel hatte das zuweilen aufgeleuchtet, dieses Wissen, für das sie auch nicht einen Namen wußte, aber nach dem ihr verlangte, nach dem sie hungerte. Es war zuviel Dunkel da, zuviel Gärendes, das nach einem Weg suchte. Sie fuhr in den Nächten auf, schwer atmend, konnte nicht im Bette bleiben. Sie wollte etwas tun. Was? Theater spielen? Ja, Theater spielen, aber anders noch, stärker, erfüllender, »mit meinem ganzen Herzen, mit meiner ganzen Seele, mit allen meinen Kräften«, wie es in der Kindheit im Katechismus geheißen hatte. Ja, alles ganz tun, ganz sein! Es war zuviel Laues, Halbes in der Welt ... Theater spielen war ein Weg, sie wußte keinen anderen. Aber so Theater spielen, daß man selber dabei ganz wird und daß davor die da unten zittern und die heilig furchtbare Kraft des Lebens selber spüren. Ein großer Erfolg? Das war recht, das war ein Maßstab dafür, daß das in ihr, aus dem sie Theater spielte, am Werke gewesen war. Ja, man mußte Erfolg haben, um zu wissen, daß man seine Sache ganz und recht mache. Ein Schauspieler ohne Erfolg ist ein Unding: denn sein Tun hat erst mit der Wirkung zusammen seinen Sinn.

Eine Aufgabe? Die nächstliegende war, zu versuchen, ein anderes, nicht zur Wirkung gelangtes Stück dieses Dumas, von dem ihr alle, die sie kannte, sagten, daß er ein großer Dramatiker sei, durchzusetzen. Da war die »Femme de Claude«. Die Erinnerung an eine edle, tragische Gestalt war mit diesem Stücke verbunden: die Desclée hatte es gespielt, auch das schien Eleonora Duse ein Hinweis. In ihrem Zeichen wollte sie die Darstellung wagen, »denn«, so sagte sie, »die Toten helfen den Lebendigen.« Auch diesmal stimmte Rossi dem Wagnisse zu, aber als ob er damit alle Verantwortung auf die Primadonna abwälzen wollte, überließ er ihr zum größten Teil die Inszenierung. Es war eine gute Zeit für sie, sie hatte wunderbar zu tun, von früh bis in die Nacht, sie lernte, erfand, mahnte und weckte allen Eifer der Mitspieler.

Die Erstaufführung dieses Stückes, das sie hernach viele, viele Male gespielt hat, war für sie selber ein großer Erfolg. Primoli erzählt davon: »Ich hörte den zweiten Akt in der Proszeniumsloge an, in der sich der Prinz Napoleon befand. An einer bestimmten Stelle – der, da Césarine, an der Wiedergewinnung des Gatten verzweifelnd, wie Hermione rasend die Bühne auf und nieder läuft – tauchte eine Vision vor den Augen des Prinzen auf, vielleicht rührte eine Erinnerung an sein Herz, und ein Name kam auf seine Lippen: Rachel ...«

Aber dieser Erfolg war nicht nach dem Herzen der Duse, denn sie hatte ihr Ziel nicht erreicht: sie hatte triumphiert, aber das Drama, um das es ihr gegangen war, hatte nicht den Weg zum Herzen der Zuhörer gefunden. Also hatte sie ihre Sache doch nur halb gemacht. Das konnte sie nicht ertragen, nie durfte das geschehen, nie: hier fühlte sie schon ihr Gesetz.

Diese halbgeglückte Erstaufführung hatte sich zu Ende der Turiner Spielzeit ereignet. Nun sollte das Ensemble Rossi nach Rom. Die Hauptstadt und die Stadt, von der man sagte, daß ihr Publikum das schwierigste von Italien sei – und für Eleonora Duse die böse, feindliche Stadt, in der sie den Geliebten so schaurig zum letzten Male gesehen hatte! Eine doppelte Aufgabe nun, Rom und diese »Femme de Claude«! Denn daß dieses Stück, das sie nicht mehr zur Ruhe kommen ließ, das erste sein müsse, das in Rom angesetzt würde, war ihr selbstverständlich. Und da frommten alle Weigerungsversuche Rossis, der um das Schicksal des ganzen Gastspiels zitterte, nichts. Er mußte nachgeben. Zwar hatte er seinen Anhang in Rom, der sich ihm und den Seinen noch allemal als wohlgesinnt und beifallsfreudig erwiesen hatte. Aber das waren doch andere Stücke gewesen, zuverlässige, erprobte Stücke, und andere Primadonnen als diese Duse ... Weiß der Teufel, wie sie sie hier aufnehmen würden, diese skeptischen und blasierten Leute, die sich keine Gelegenheit zu einem Witz entgehen lassen. Ihm war nicht wohl in seiner Haut. Und dann schien es wirklich kommen zu wollen, wie er gefürchtet hatte. Den ersten Abend, an dem er in der Tat diese »Femme de Claude« gespielt hatte, hatte er ein beinahe leeres Haus. Zwar applaudierten diese Leute, meist Studenten und dergleichen junges Volk, wie toll – aber Rossi hatte keinen Mut und gab Auftrag, im Theater die Zettel, die auch für den folgenden Tag die »Femme de Claude« ankündigten, zu entfernen. Als die Duse davon hörte, lief sie, ein paar andere des Ensembles mit sich ziehend, zu Rossi – und er fügte sich wieder. Einer, der unter den begeisterten jungen Leuten von damals gewesen war Camillo Antona Traversi, der angesehene Theaterkenner und Schriftsteller, in seiner wertvollen Dokumentensammlung über die Duse., erzählt: »... Die ›Femme de Claude‹ blieb auf dem Theaterzettel. Indessen taten die Kritiken in den Zeitungen, die fast durchweg enthusiastisch waren, das Ihrige – und zur zweiten Vorstellung strömte ein zahlreiches Publikum herbei. Und die ganze Aufführung wurde zu einem wahrhaften Triumphe ... Die getreuen Verehrer der Marini, der Pezzana wollten nicht glauben, daß diese Unbekannte sich auf dem ihr von ihrem berühmten Direktor eingeräumten Platze mit Ehren würde halten können ... Überdies hatte die neue Primadonna nicht die Gabe, den alten Abonnenten des Teatro Valle zu gefallen, die darauf dressiert waren, beim Klange der ›goldenen Stimme‹ der Marini vor Begeisterung zu vergehen ... Aber die neue Generation, zu ihrer Ehre sei es gesagt, verstand sogleich, daß es hier um ganz und gar neue Kunst gehe ... Auf der Bühne des Teatro Valle weinte, litt, liebte und raste jeden Abend ein wirkliches Menschenwesen. Die gewohnte Bühnenlüge hatte der Wahrheit Platz gemacht. Die Gebärden kamen nicht mehr aus erlerntem Herkommen, sondern aus ihrem inneren Müssen. Die holde Stimme quoll in unsagbaren Modulationen aus ihr hervor, die ganze Gefühlsskala der Seele, von der Liebe zum Hasse, von der Eifersucht zur Rachgier, von der Freude zum Schmerze, hatte menschliche Töne gefunden ..., ein Freudenschrei dankte ihr, ein Triumphgesang ...«

Der gestern unbekannt gewesene befremdliche Name geht heute schon in Rom von Mund zu Mund. Geschriebenes Wort der Chronisten bewahrt den Nachkommenden ein paar Tatsachen aus diesem Schicksalsaugenblicke, in dem auf Eleonora Duse der erste Schein jenes (ihr dann selber oft allzu grellen) Lichtes fällt, das Ruhm heißt.

Ein Bericht (Luigi Lodi, einer unter den besten Tagesschriftstellern jener Zeit, schrieb ihn) erzählt: »Die Kritiker, angefangen bei dem Marchese Francesco d'Arcais, dem einflußreichsten seiner Epoche, widmeten ihr hochtönende Lobgesänge, die Damen brachten ihr ganze Gärten von Blumen, das Publikum begleitete sie nach Hause, das ganze Publikum mit Fackeln und Händeklatschen ...« Und ein anderer, der sich Yorick nannte, schrieb von ihrem Spiel und seiner Wirkung: »Eleonora Duse hat eine ihr durchaus eigentümliche Art, Theater zu spielen, die nachlässig scheint und durchdacht ist, die mühevoll erworben anmuten könnte und doch ganz spontan ist, die nicht durch die Anwendung und den Mißbrauch der ›großen Mittel‹ wirkt und trifft, sondern die durch einen eigentümlichen Duft von Wahrheit verführt, bezaubert, hinreißt, durch einen zarten Reiz der Natürlichkeit, durch ein Beben der Leidenschaft, die jäh aus ihr hervorbricht und sich unwiderstehlich der Masse der Zuschauer mitteilt. Selbst die Kältesten unter ihnen fühlen mit einem Male das Auflodern des Hasses oder die Flammen der Liebe in allen ihren Adern, und die Gefühlsträgsten und Widerspenstigsten noch empfinden jene Unruhe, jenes Unbehagen, endlich jene Erregung, die sie aus ihrer gewohnten Gleichgültigkeit aufrüttelt und sie bebend und atemlos in die Peripetie des Dramas hineinreißt.«

Es war ein Erfolg, zu dem sie selber ja sagen konnte, denn das Stück war durchgesetzt. Das war ihre Genugtuung. Was sie selber dabei anging, Zujubeln und sie umwogende Begeisterung, hatte sie, wenn es vorbei war, auch schon vergessen. Für einen Abend war es recht, dann wußte sie eben, daß sie an diesem Abend das Ihrige getan hatte. Aber wieviel war noch zu tun, wie unbewältigbar viel! Sie war ja erst am Anfang des Weges. Und wie das alles auf die rechte Weise tun? Lernen, arbeiten, lernen, arbeiten ... Fast beneidete sie jetzt die, denen schon in der Kindheit in ihren Schulen all das selbstverständlich mitgegeben worden war, was sie sich nun mühsam zusammentragen muß. Alles ist unzulänglich, das Wissen, ihre Kräfte und sogar dieser Körper, der ja ihr Instrument ist. Manchmal möchte sie sich mit Fäusten schlagen, wenn noch soviel zu tun ist und sie wieder nicht weiterkann. Sie hat so oft Fieber, immer öfter schnürt ihr ein glühender Reif den Kopf zu, und endlich wird jeder Schritt und jede Bewegung zur Qual. Dann hustet sie auch, das macht ihre Stimme so müde, und das Atmen ist oft schwere Mühe.

Und während rings um sie in Worten, Briefen und den Zeitungen das Lobpreisen wächst, schreibt sie dem von ihr verehrtesten unter ihren Kritikern, der schon damals in Neapel prophezeiend auf sie hingewiesen hatte, an den Marchese d'Arcais, einen Brief: »Ich muß arbeiten, ich muß mich von meinem inneren Drängen befreien. Ich liebe die Kunst zu sehr und bin ebensosehr eifersüchtig auf sie in meinem Verlangen, daß sie mein sei, mein im Gefühle, in der Seele, im Ausdrucke und im Erfassen. Weh' mir, wenn es nicht so wäre! Dann hätte ich es wohl leicht mit allen meinen Hoffnungen, aber auch mit meinen Genugtuungen wäre es schnell vorbei. Dann fände ich nicht mehr diese Unzufriedenheit, die mir gut tut, dieses Verlangen, das mich quält, dieses Begehren nach Hilfe, wie ich sie jetzt von Ihnen brauche, da ich Angst habe, mich zu verirren ...«

Was ihr an dem zweiten Abende in Rom an Beifall und Huldigung widerfahren war, steigerte sich indessen mit jeder Vorstellung. Viele Menschen suchten nun die zarte, blasse Frau, die noch voll der Scheu der langen, finsteren Jahre, aus denen sie gekommen war, den Bewundernden gegenübertrat. Ein paar waren unter ihnen, zu denen sie selber voll Verehrung aufsah, weil sie das in ihnen zu spüren vermeinte, wonach sie selber unterwegs war. Deren Worte galten und halfen. Neue Freundschaft keimte auf, eine zarte, scheue darunter, die Jahre später dann zu einer lebenslangen Innigkeit wurde.

Aber daran änderte alle Glorie des Erfolges nichts, daß man wieder weiter mußte. Der letzte Abend des Gastspiels war gekommen. Sie hatte viel gelernt in diesen Wochen. Nun fand sie immer besser den Zugang zu sich selber, konnte immer mehr, immer verschwenderischer Leben aus ihrer Tiefe holen und es glühend den Gestalten ihrer Abende einhauchen. Es ist kaum mehr zu ahnen, wie sie damals gewesen sein mag, da ihre Seele »Jugend, der wilde Schwan« war, Kraft der Erde und Kraft des Himmels, großes Fliegen und Schwermut des Niedersteigenmüssens in die Bangnis aller Kreatur. Kein Wort, kein Zeugnis vermag festzuhalten, was an diesem letzten Abend in Rom von ihr ausgestrahlt haben mag. Nur die Raserei derer, die das empfangen durften, ist in Chroniken und Berichten bewahrt worden wie die Spur vergangenen Lebens im Stein, aus der doch nicht Farbe und Duft abzulesen ist.

Jener Mann (Traversi), der aus seiner Jünglingszeit von dem ersten und zweiten Abende dieser Spielzeit in Rom erzählt hat, schreibt von dem letzten: »Ein paar Bewunderer ihrer Kunst wollten sich die allgemeine Begeisterung des römischen Publikums für jene Schauspielerin, die ihnen bis dahin unbekannte Herrlichkeiten geoffenbart hatte, zunutze machen und sie am letzten Abende im Triumphzuge mit bengalischen Lichtern vom Theater nach Hause begleiten. Eleonora Duse kleidete sich in ihrer Garderobe um. Sie war noch ganz verwirrt von den empfangenen Huldigungen und dem enthusiastischen ›Auf Wiedersehen‹, das ihr das bedeutsamste Publikum der Hauptstadt zugerufen hatte, und ahnte ganz und gar nicht, was sie draußen erwartete. Im Fluge hatte sich indessen die Nachricht von dem Fackelzuge unter den Zuschauern verbreitet, und keiner wollte dabei fehlen. Im Nu füllte sich die Straße mit Menschen, und vor dem Bühnenausgange stand eine derartige Menge, daß die Wagen nicht durchkommen konnten. Da trat Eleonora, begleitet von Flavio Andò, dem Primo attore des Ensembles, aus dem Bühnenausgange. Ein ungeheures Beifallklatschen erhob sich in der Menge, und tausend Stimmen schrien mit aller Kraft: ›Es lebe die Duse! Es lebe unsere Duse!‹ Und wie durch Zauber erfüllte plötzlich roter Feuerschein die Straße, so daß man von ferne hätte glauben können, das Teatro Valle stehe in Flammen. Eleonora, weiß wie Leinen, zum Weinen erschüttert, winkte mit dem Taschentuche und grüßte die ganze, vor Begeisterung rasende Menge mit hervorgestammelten Worten: ›O Dank, Dank ... es ist zuviel, zuviel ... das verdiene ich nicht ...‹ Und sie ließ sich bis zu ihrer bescheidenen Wohnung führen. Hier verdoppelten sich die Hochrufe und das Beifallklatschen. Es waren unvergeßliche Augenblicke. Viele weinten vor Erschütterung. In ihrer herzensechten Hingerissenheit hatten sich Alte und Junge verbrüdert, um die gemeinsam zu ehren, die nachher durch ihre Kunst die ganze Welt berückt hat.«

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Eine andere Stadt, noch eine und wieder eine. Es geht nicht in allen alles so märchenhaft wie in Rom, aber das ist gut, die Kraft wächst am Widerstande. Und die Summe ist überall neuer Erfolg, der sich zu dem aus Rom dazuschlägt. Nun wissen die Städte, in die sie kommt, schon von ihr. Aber jede glaubt, mehr vom Theater zu verstehen als die anderen. Es ist in Italien ja nicht wie in Frankreich oder anderen Ländern, daß die Provinzen selbstverständlich hinnehmen, was die Hauptstadt entschieden hat. Alle diese großen Städte, Mailand und Venedig, Florenz und Bologna und die anderen sind auch Hauptstädte von Reichen, die ihre eigene Tradition, ihren Charakter und Geschmack und in ihren Dialekten sogar ihre eigene Sprache haben. So muß jede dieser Städte für sich erobert werden. Auch das ist gut, es gibt immer neue Spannung, immer neue Aufgaben. So muß es für sie sein, das beginnt sie stärker und stärker zu verstehen. Sie denkt viel in diesem Jahre, es ist ihr dreiundzwanzigstes, mehr als in all den anderen vorher. Im Hochsommer muß sie ausruhen. Sie ist schwanger. Zum erstenmal hat sie ein klein wenig Geld, gerade genug, daß diese Wochen frei von Sorgen sind und das Bevorstehende nicht von der Angst, wie sie denn all das würde bezahlen können, erschwert wird. Checchi ist wunderbar, ganz Fürsorge, wo sie deren bedarf; und er läßt sie allein, so oft sie es braucht. Und sie braucht viel Alleinsein. Es ist das erste Ausruhen, dessen sie sich entsinnen kann. Es tut unendlich gut, weil es auf so große Mühsal folgt und weil danach noch mehr Arbeit, strengere Pflichten kommen würden. Aber es ist schon recht, daß das alles so ist, das weiß sie jetzt. Es ist, wie sie selber ist. Nun beneideten sie schon manche, weil sie jetzt »ausgesorgt« habe. Sie lächelt vor sich hin. Berühmt sein ... Für die wäre es, nun zu wissen, daß einem um ein vorteilhaftes Engagement nicht mehr bange zu sein braucht, daß man überall, wohin man kommt, Leute finden würde, die von einem wissen und wohltuenden Tribut an Verehrung und Bewunderung entrichten. Sie aber sagte sich: Wohin ich jetzt auch komme, wird es Menschen geben, die etwas von mir erwarten, die etwas von mir zu fordern haben. Jedes Theater, dessen Bühne ich betrete, wird voll von Gläubigern sein – und wehe mir, wenn ich eine säumige Schuldnerin bin! Und wehe mir, wenn ein Tag käme, da die Anderen nichts mehr von mir fordern, dann wüßte ich nicht mehr, wohin mit mir, und müßte mich selber zerfleischen. Denn was ich erreicht habe, gilt mir nichts mehr, nur die Aufgaben gelten, nur das Unendliche, das ich noch zu bewältigen habe. Aber ich spüre schon, es werden noch andere Pflichten, von denen ich noch nicht weiß, kommen, und das Theaterspielen wird noch einen ganz anderen Sinn haben müssen.

Bald ist sie des Ausruhens müde und hätte sich wieder auf den Weg gemacht, wenn es ihr Leib ihr nicht verwehrt hätte. So liegt sie und grübelt und weiß doch, daß sie mit dem Denken allein nichts lösen, nichts erfassen könne. Denken ist das Nachher. Vielleicht, wenn sie mehr gelernt haben würde ...? Dann schüttelt sie heftig den Kopf, streicht mit den beiden marmorschönen Händen das schwarze Haar zurück und sagt laut zu sich selber: Arbeiten muß ich, arbeiten, lernen!

Sie kehrte mit dem Gatten nach Turin zurück, der Stadt, die ja in diesen Jahren vermöge Rossis Verbindung mit dem Teatro Carignano der Mittelpunkt ihrer Fahrten war. Und hier kam das Kind zur Welt, ein Mädchen, das sie Enrichetta nannte. Eine tiefe, friedevolle Zärtlichkeit für das Wunder, das aus ihr geschehen war, erfüllte die Frau. Sie hatte ihr Kind, und alles andere schien weit, weit fort. Aber sie war zu fest an jenes andere Müssen gebunden – und schnell waren die Pflichten und Forderungen wieder da und pochten auf ihr Recht. Man mußte Theater spielen, mußte unterwegs sein. Sollten sie das Kind auf ihren Wanderschaften mit sich haben, in dem Leben voll Unruhe, dessen Ordnung von den Launen des Theaters abhing? Sie fanden in der Nähe Turins, in Leyni, ein bäuerliches Ehepaar, dessen Herzlichkeit und Ruf großer Redlichkeit ihnen Gewähr zu bieten schien, daß das kleine Wesen hier die rechte Luft und Pflege zu gutem Wachstum haben würde. Sie hatten sich nicht getäuscht: sooft sie wiederkamen – und sie kamen, wann immer nur das Theater ihnen Zeit dazu ließ –, fanden sie die Kleine wohlgehalten, blühend wie ein rechtes Bauernkind und von der wachsenden Liebe der Zieheltern behütet.

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