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Unterwegs

Es war die erste weite Reise. Zum ersten Male betrat Eleonora Duse eines der großen Schiffe, deren sie schon so viele in all den Hafenstädten gesehen hatte, denn Häfen und Schiffe waren ihr immer dunkel erregende Verlockung. Unendliches Meer, Ruhen aller Unrast in der Fahrt ... Aber dann kommen die Häfen der Ankunft, die anderen reden von dem, was man sich selber verschweigen wollte, und das Theater ist wieder unentrinnbar da. Es ist das erste Mal, daß sie vor nichtitalienischen Menschen spielen soll. Rio de Janeiro ... wie schön, fast wie ein ungeheures Neapel. Neapel, sie erschrickt. Drohendes langt nach ihrem Herzen. Sie zwingt sich, nur die Aufgabe zu sehen. Aber die Aufgabe ist schwer – wird sie nicht zu schwer für sie sein? Nein, nein, das darf nicht sein. Sie muß stark genug sein, selbst diese Wand der fremden Sprache zu durchbrechen. Und dann auch noch das: sie müssen Geld verdienen, die Zeit ihrer Krankheit hat viel gekostet, und wieviel erst die Vorbereitungen für die Reise. Es muß gehen! Sie beißt die Zähne zusammen. Ein paar Wochen später schreibt sie dann an die Freundin Matilde Serao:

 

»Rio de Janeiro 25/8/85

... Mein Herz ist voll von schlimmen und guten Dingen ... Mein Kopf ist vollkommen klar, und mein Wille zur Arbeit und in der Arbeit ist fest und unerschütterlich. Eine zarte, zarte Traurigkeit ist in mir, aus brennendem Schmerze her – und es ist Stille in mir, ein Schweigen der Seele von meinen eigenen Schmerzen ... Ich habe all das verschweigen müssen, und ich habe als Unternehmerin und als Künstlerin den Erfolg erreichen müssen – und ich habe ihn erreicht. Ich habe nicht geglaubt, daß ich eine solche Kraft hätte ... während der arme Diotti krank war (er hat fünf Tage lang mit dieser verfluchten Krankheit gerungen) und wir ohne ihn (wie soll man ihn ersetzen? Wie? Oh, das ist eine traurige Sache!) haben wir zu spielen angefangen. Am ersten Abend ›Fedora‹. Das Theater übervoll und ein kompletter Durchfall für Deine kleine Nennella ... ein großes, großes Theater ... ich habe mich schwach und kleinwinzig gefühlt ... es schien mir unmöglich, daß meine Stimme bis zu den hinteren Parkettreihen tragen könne. Ich hätte ›Ich liebe dich‹ so sagen müssen, wie ich sonst ›Hinweg!‹ gesagt hätte, damit die Stimme gereicht hätte. Und ein unaufhörliches, unaufhörliches, aufreizendes Murmeln im Parkett und in den Logen bis zum Ende des Stückes ... Ich hatte die Gewalt über meinen Verstand wie über meine Stimme verloren. Hastig habe ich mich umgekleidet, und dann hastiger als je nach Hause. Ich habe mich in mein Zimmer eingeschlossen: was für eine Traurigkeit, was für eine Leere war an diesem Abende in mir! Tags darauf Rasttag – hier wird nur dreimal in der Woche gespielt. Am anderen Tag geben die Zeitungen keinerlei eindeutiges Urteil ab, sie konstatierten lediglich, daß ich irgend etwas an mir hatte, was ihnen Eindruck gemacht hat. Von meiner Stimme hatten sie kaum eine dünne und dürftige Hälfte verspürt, abgesehen von der Schwierigkeit der Sprache (mein süßes Italienisch gegenüber diesem harten Portugiesisch ... und dem härteren Brasilianisch!). Am nächsten Tage ›Denise‹ als zweite Vorstellung. Das Theater, dieser Marktplatz, beinahe leer – gerade nur vier oder fünf Parkettreihen und vier oder fünf Logen an den Seiten – die der Bühne näheren waren zum Teil von der Presse besetzt. Hier gab es ein wenig Aufmerksamkeit. Meine arme Denise, schlicht, ohne Toiletten, ohne Fürstinnenwürde, ganz ohne jeden Zusammenhang mit der fiebrigen Fedora, hat im ersten und zweiten Akt ein gutes Gehör gefunden. Im dritten Akte habe ich geweint und sie zum Weinen gebracht, soviel ich gekonnt, soviel sie gewollt haben. Das Schiff bekam ein wenig Fahrt ... wenig ... langsam, aber meine Zusammenhanglosigkeit mit dem Theater da, dem Riesenraum, begann zu schwinden ... Es ist freilich auch wahr, daß die Rolle des Fernand an diesem Abende mit Cottin besetzt war, an Stelle des noch immer kranken Diotti ... Und dieser Kranke hob mich über die Kleinlichkeiten der Bühne hinaus. Mir schien es, daß ich, um spielen zu können, Herz und Verstand verschließen müsse und nur die Vergangenheit emporrufen dürfe ... Jetzt, da es um das Leben eines armen guten Jungen ging, der mir nie etwas Schlimmes getan hat, der keinem in seinem ganzen Leben Schlimmes getan hat ... jetzt, hier, an dieser niederträchtigen und hochgelobten Rampe, habe ich gesagt: Heilige Mutter Gottes, tu uns die Gnade und rette den armen Jungen – tu es – unterlasse es nicht – rette ihn – laß mich als Künstlerin zugrunde gehen, aber rette den armen Jungen ... Er hat Vater und Mutter, die zu Hause auf ihn warten ... dort zu Hause ...

Zwei Tage darauf war alles zu Ende: und wir ... wir ... weiter im Kampfe, spielten Theater, ohne ihn ... Und Deine kleine Nennella siegte ... siegte. Die dritte Vorstellung war die ›Fernande‹. Nie habe ich es gefühlt wie an diesem Abende, daß ich ein Herz habe, daß ich Blut, daß ich einen Verstand, daß ich einen Willen habe. Ich habe gut gespielt auf eine hohe Weise – Dir darf ich das sagen, Du bist gut, Du bist von hoher Art ... Du verhöhnst nicht die, welche ihre Seele und ihren Verstand zur Höhe wenden ... Du hast mir niemals gesagt, daß das Leben gemein sei ... Du hast mir nur traurig zugegeben, daß das Leben schwer zu tragen sei.«

 

Es war schwer, schwerer wohl als je zuvor – aber sie war geübter im Dulden, erfahrener im Leiden geworden. Mit dem Tode des schwärmerischen Pagen Diotti war das Licht erloschen, das aus dem Triestiner Meeresfrühling noch über die Anfänge dieser schicksalhaften Fahrt geleuchtet hatte. Ein böses Fieber hatte den Jüngling zerstört. Und ein anderes zehrendes Fieber hatte sich in das Lebensblut zweier aus dieser Kameradschaft, die da im fremden Lande ganz auf sich selber gestellt arbeiten sollte, eingeschlichen und noch ein anderes Herz schlimm und für immer versehrt. Tropische Gewitterluft lastete über den Kameraden. Alle Fröhlichkeit war fort. Schweigend gingen sie umher. Flavio Andò, der männlich Heitere und Ausgeglichene, mied die Freunde, wo es anging. Eleonora hatte eine Falte zwischen den Brauen, als ob sie unaufhörlich gequält über etwas nachdächte. Und Checchi, der Freund, der immer in sorglicher Hilfsbereitschaft sein Glück gefunden hatte, fühlte in wachsendem Schmerze, daß in Eleonora etwas geschah, woran er kein Teil haben konnte. Er wußte: diese Frau war das Einzige, sein Anteil am Glücke. Und er wurde hellsichtig und sah, was die beiden sich selber zu verschweigen suchten, worum sie einander mieden – und was doch weiter wuchs und kein Wille niederzwingen konnte.

Checchi hatte in Argentinien, wo sie nun waren, neue Freunde gefunden, ansehnliche, ja mächtige Leute, die die Schlichtheit seines Wesens sowie seinen klaren lebhaften Verstand schätzten und ihn herzlich in ihre Kreise zogen. Das half ihm, sein Leiden, die Angst vor dem Verlieren und die Qual der Hilflosigkeit zu beherrschen. Aber Eleonora wußte, daß er litt, und wehevoll wußte sie auch bald, daß sie ihn werde noch mehr leiden machen müssen. Jetzt, da ihre Redlichkeit, ihre Freundschaft und Dankbarkeit sich immer hoffnungsloser gegen die Liebe zu Andò wehrte, verstand sie, wie es um ihr Gefühl zu ihrem Gatten bestellt gewesen war. Und wenn abends auf der Bühne ihr Partner Andò, der nun Armando oder sonstwie hieß, nur ihre Hand nahm und sie dabei zu zittern begann, dann verstand sie noch tiefer, noch unentrinnbarer ... Checchi brach endlich das unerträglich werdende Schweigen, sprach, mahnte, bat, beschwor – da konnte sie nicht mehr anders, sie mußte ihm, der immer nur Güte gewesen war, das sagen. Für sie gab es kein Paktieren, keine Liebeleien, sie mußte sein, die sie war. Es war grausig, grausig, daß er leiden mußte durch sie, aber sie konnte nicht anders, und sie war ja mit ganzer Seele bereit, sich auch nicht einem Augenblicke des Leidens, das ihr Teil war, zu entziehen. Als sie gesprochen hatte, sah Checchi die Frau an, die vier Jahre die seinige gewesen war, und er sah, daß sie weit von ihm fortgegangen war. Nun bedurfte es keiner Worte mehr. Sie beide, die Liebende und der einsam Gewordene, mußten auch äußerlich vollenden, was innerlich vollzogen war. Als das Gastspiel in Buenos-Aires zu Ende ging und Rossi von der bevorstehenden Trennung der beiden Mitteilung gemacht wurde, verlor er alle Fassung, vergaß, was er von Eleonora wissen mußte, und wollte erst vermitteln, dann schlug er vor, sie mögen sich trennen, wenn es nicht anders ginge, das Theater aber solle nicht darunter leiden. Die Antwort war, daß Tebaldo Checchi seinen Austritt aus dem Ensemble anmeldete und mitteilte, daß er nicht nach Italien zurückkehren werde. Und während die Anderen, die, die das Große in seinem Leben gewesen war, und die Kameraden, die Freunde, sie alle, die ihm das letzte Zuhause seines Lebens waren, zu Schiff gingen, um heimzukehren, verbarg er sich in der fremden Stadt und nahm auch noch Abschied von allem anderen, das er geliebt hatte, vom Theater und von Italien. So waren um zwei weniger mit auf dem großen Schiffe, das das Ensemble Eleonora Duse-Cesare Rossi in die Heimat zurücktrug. Der eine, der blonde Junge, lag in der fiebergärenden Erde des Tropenlandes, und den anderen, der diesen wohl heimlich beneiden mochte, hatte die strenge Traurigkeit zu ewigem Exil verdammt. Er tauchte unter in dem fremden Lande, arm, leidensbereit und nach einem Tun suchend, in dem nichts, nichts mehr ihn an die verlorene Welt erinnern könne, die er in sich hineingenommen hatte und die nun als nicht mehr verlöschende Schwermut im Innersten seines Lebens weiter glomm. Die Einzige in der Heimat, deren Freundschaft zuweilen noch in dieses einsame Leben hineingeleuchtet hatte, Matilde Serao, hatte von Zeit zu Zeit Nachrichten von ihm, und sie erzählt: »... Es fehlte ihm nicht an Kenntnissen und Bildung: er hatte in Argentinien zahlreiche große Beziehungen erworben, Leute von höchster Bedeutung achteten ihn und hatten ihn gern. Diese halfen ihm vorwärts, und so trat er schließlich in den Dienst der Republik Argentinien ... Nach etwa zwei oder drei Jahren im argentinischen Außenministerium wurde Tebaldo Checchi zum wirklichen Konsul der Republik ernannt und erhielt die Bestimmung nach Newhaven in England ... Es war ein kleiner Posten und ein kleiner Ort: Exil ..., Einsamkeit, Abgetrenntheit von der Welt, Fremde ohne Heimkehr: das war das stille und würdevolle Dasein Tebaldo Checchis, argentinischen Konsuls in England, des Gatten Eleonora Duses.« Denn vor dem Gesetze war er der Gatte geblieben – und wäre er ein anderer gewesen, dann hätte ihm dieses Gesetz hundert Rechte über die Besitztümer der Gattin und vor allem auf das Kind eingeräumt. Aber er war vornehmen, großmütigen Herzens und rührte mit keinem Gedanken an die Rechte, die wohl mancher von denen, die ihn vordem mit übler Nachrede umgeben hatten, üppig ausgenützt hätte. Matilde Serao erzählt endlich, daß in späteren Jahren Eleonora die Gestalt des einstigen Gatten in immer schönerem Lichte erschienen sei: »Sie drang stets in Enrichetta, mit dem Vater im Briefwechsel zu bleiben. Und zweimal fuhr die Tochter sogar, von der Mutter dazu angewiesen, nach Newhaven und hernach nach Newport, wohin ihr Vater als Konsul versetzt worden war. Doch im Grunde kannten Vater und Tochter einander wenig und verstanden einander nicht. Endlich wurde Checchi für einen bedeutenden Konsulatsposten bestimmt, nach Lissabon: er freute sich lebhaft darüber, nachdem er still so viele Jahre der Einsamkeit in den kleinen englischen Häfen ertragen hatte. Doch er freute sich dessen nicht lange, denn bald nachdem er in Lissabon seinen Wohnsitz genommen hatte, raffte ihn der Tod hinweg ... Eines der letzten Male, da Eleonora in mein Haus kam und sich mir gegenüber auf ihren gewohnten Platz gesetzt hatte, murmelte sie plötzlich: »Der arme Tebaldo ... wirst du es glauben, Matilde, daß Enrichetta und ich von ihm geerbt haben? Wir von ihm, Matilde, verstehst du? Er hatte Ersparnisse ... etliche tausend Lire ... und sie sind uns in einem so richtigen Augenblicke zugekommen ... immer derselbe Tebaldo ...« Und sie versank in Gedanken. – »Immer derselbe, im Leben und im Tode ...«, sagte ich. – »Ja, das ist wahr ...«, schloß sie das Gespräch, versunken, den Blick in die Vergangenheit gerichtet.«

Eleonora Duse war aus Südamerika zurückgekehrt. Glanzlos hob dieser Herbst an, den die anderen, die um ihr verändertes Leben wußten, als eine glückreiche Liebeszeit ansehen mochten. Noch war sie wund von dem Geschehenen. Und es gab jetzt Sorgen über Sorgen, denn jene Tournee in Südamerika hatte sie und ihren Teilnehmer noch mit neuen Schulden belastet. Und dann geschah um sie etwas, das sie in ihrer Schamhaftigkeit und Verschwiegenheit zutiefst beleidigte. Sie war ja nun berühmt, und alle die das Theater umschnüffelnden Klatschlüsternen hatten sich der Dinge ihres Lebens als Frau bemächtigt, allerlei empörende Zutaten ausschmückend hinzugefügt und trugen nun die Geschichte ihrer Trennung von dem Gatten und ihrer Liebe zu Flavio Andò immer weiter. Bald hieß es dann schon, sie habe den Gatten im bittersten Elend und mit allen ihren Schulden beladen in Amerika zurückgelassen, und diese Erfindung griff eine Zeitung auf. Das war Eleonoras erste Begegnung mit dieser Art Öffentlichkeit: und sie wehrte sich, sie schrieb einen Brief an jenes Blatt, in dem sie entrüstet die tückischen Behauptungen zurückwies.

»Die Kunst und der Wille werden mir helfen, die Kunst, die stets, in jeglichem schweren Augenblicke, der Schutz, der Trost, die Zuflucht, das Lächeln meines Lebens gewesen ist.« So schrieb sie damals. Die Kunst ... nun war wieder eine ungeheure Ungeduld in ihr, Theater zu spielen, wie sie es brauchte und wozu ihr Flavio Andò so wunderbar half. Aber zu vieles stellte sich ihr noch entgegen. Sie mußte die Schulden bezahlen. Schulden konnte sie nicht ertragen, in keiner Gestalt, sie fühlte sie wie schwere Ketten, fühlte sie bis in den Schlaf hinein. »Um leben zu können, wie ich es nach meinem Gesetze muß, muß ich bürgerlich korrekter sein als alle anderen«, hatte sie einmal gesagt. So mußte sie arbeiten, mit allen Kräften arbeiten, um der sie umstellenden Verpflichtungen ledig zu werden, um nachher noch anders arbeiten zu können, frei, nur um der Arbeit willen. Und dann war da noch etwas, das anders werden mußte. Sie brauchte Klarheit um sich – und diese Verbindung mit Rossi war Unklarheit. Sie hatte alles versucht, aber es lag ja nicht an seinem Willen, sondern an seinem ganzen Wesen. Da war nichts zu hoffen. Sobald die Schulden gezahlt sein würden, sagte sie sich, müsse auch hier ein endgültiges Wort gesprochen werden.

Ein Jahr der Arbeit: unterwegs sein, Erfolge, lernen, lernen. Wenn es anging, ein Besuch bei dem Kinde. Und einmal einer bei dem stillen, alten Manne, der nun längst das Theater, das ihm wie Galeere gewesen war, verlassen hatte, dem Vater, der nun in der wiedergefundenen Heimat, in Venedig, seinen kurzen, leisen Nachsommer lebte, rastlos malend, als wollte er alle die Jahre, die er den geliebten Farben hatte fern sein müssen, nun nachholen. Dann wieder weiter, spielen, lesen, wenn es Zeit gibt – Herrgott, so viel müßte man lesen, immer mehr wird es, je mehr man kennt. Und zwischendrein diese verfluchten Gelddinge! Würde es ihr immer so gehen? Oft dachte sie an andere große italienische Schauspielunternehmungen, die ja alle zufolge der stets gleichbleibenden Ausgaben und der so sehr schwankenden Einnahmen immer tief in Schulden staken – und ihr graute, denn sie wußte, daß sie nie diese heitere Gleichgültigkeit oder den Fatalismus lernen würde, der jenen anderen half, in all den Wechselfällen die guten Zeiten zu genießen und die Bedrängnisse leicht zu nehmen. Nein, nein, das war nicht ihr Weg. Sie hatte sich diese ganzen Jahre in strenger Zucht gehalten, und je ungeeigneter sie sich zu Zugeständnissen irgendwelcher Art werden fühlte, um so empfindlicher wurde ihr Ehrgefühl und ihre Zuverlässigkeit gegenüber eingegangenen Verpflichtungen.

Ihr Ruf wuchs. Und sie freute sich dessen, denn wenn sie spielte, waren die Theater voll, sie hatte Massen vor sich, an denen sie das Geheimnisvolle und Flüchtige ihrer Kunst wirkend erproben konnte – und sie freute sich des Ertrages, der mit jedem Abende ihre Schulden minderte. Als dann das Jahr 1886 seinem Ende zuging, kam es zu dem Unvermeidlichen, zu dem Bruche mit Cesare Rossi. Es tat ihr weh, daß sie nicht anders konnte. Sie war nicht untreu, nicht undankbar. Aber je mehr sie von sich wußte und je besser sie Menschen erkennen lernte, um so klarer wußte sie, daß diese Rossische Welt nicht mehr die ihre war oder vielleicht nie die ihre gewesen war. Die Zusammenarbeit hatte ihren inneren Sinn verloren. So hätte sie weiter zu führen Stagnation, Lähmung gebracht. Nein, die Dinge zwischen Menschen haben ihre Zeit, und wer dies verkennt, macht sich und den anderen kleiner ... Sie schreibt an d'Arcais: »Rossi ist immer derselbe ... er hat nie begreifen wollen, daß er in mir nicht eine Ware, sondern einen Menschen vor sich hat«; und dann nach dem Bruche: »Jetzt habe ich die Brücke hinter mir abgebrochen, und nun gibt es keine Möglichkeit mehr, mit Rossi je wieder anzuknüpfen. Im nächsten Jahre werde ich allein und auf eigene Gefahr arbeiten. Es ist mir ordentlich schwer geworden, mich an diesen Gedanken zu gewöhnen ... Geduld! Schließlich, Marchese, bin ich vor allen Dingen zu einer Überzeugung gelangt: daß die größte Kraft auf der Welt die Arbeit ist – und wenn man sich diese einmal zu eigen gemacht und ihre Plagen und ihren Segen erfahren hat, dann wird man ihr, zumal wenn man eine Frau ist, nach all den kostspieligen Erfahrungen am Leben und den Tatsachen und der Verantwortlichkeit, die man für seine eigene Zukunft und die der Angehörigen empfindet, ein wachsamer und eifriger Hüter.«

Daß die Zusammenarbeit Eleonora Duses mit Cesare Rossi ihren inneren Sinn verloren hatte, begann sich in dieser letzten Zeit übrigens auch äußerlich immer deutlicher kundzutun. Stimmen wurden laut, die vom Abstiege des Ensembles sprachen. Und als die Auflösung der Verbindung bekannt geworden war, schrieb der Kritiker Boutet: »Heute abend gab die Compagnia Cesare Rossi ihre letzte Vorstellung. Zum Fastentermin löst sie sich auf. Die Duse wird dann erste Darstellerin und Direktrice. Cesare Rossi will ein Jahr ausruhen, hernach fängt auch er als erster Darsteller und Direktor wieder an. Aufrichtig gestanden, freut es mich, daß dieses Ensemble sich auflöst, denn unmerklich ist es allgemach eines von jenen geworden, denen Salvini usw. ein schlechtes Beispiel gegeben haben. Bei der Compagnia Rossi gab es Vorstellungen von zwei Arten: solche mit der Duse und solche ohne die Duse. Wenn die Duse nicht spielte, ging ein Hauch von Nachlässigkeit, Mattheit und Mißverstehen durch das Ensemble und durchwehte die Aufführung. Wenn die Duse aber spielte, zeigte sich ein ungeheurer Abstand zwischen ihr und den anderen Schauspielern; dennoch war ein Unterschied zu bemerken, eine gewisse Verbesserung, angefangen bei der Anordnung der Stühle auf der Bühne bis ins Zusammenspiel und die Gestaltung der Charaktere. Dieser offensichtliche Unterschied ergab sich jedoch nicht durch die große Bedeutung der Duse und die geringere Bedeutung der anderen, sondern er war in der Unzulänglichkeit der Regie begründet.«

Das neugegründete Ensemble (in dem natürlich Flavio Andò als Primo attore verblieben war) sollte nun seinen Namen bekommen. Aber Eleonora Duse schauderte davor zurück, ihm ihren eigenen zu geben: »Soll er wie der Name Liebig auf den Fleischextraktplakaten figurieren?« Sie entschloß sich, sei es als Huldigung an die Hauptstadt, sei es in Erinnerung an die in Rom errungenen Triumphe, ihr Ensemble »Drammatica Compagnia della Città di Roma« zu nennen.

Nun war sie unabhängig. Das schmeckte doch ein wenig anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Aber sie nahm die vermehrte Sorgenlast gerne dafür mit in den Kauf. Denn nun sollte ihr Theater Wirklichkeit werden, dieses innerlichste, freieste Theater ohne Zugeständnisse und ohne Herkömmlichkeiten, von dem sie alle die Jahre geträumt hatte, daß es Botschaften der Seele unter die Menschen tragen, diese zu sich selber aufrütteln und ihr Leben kühner, tiefer und wirklicher machen sollte. Das war die Aufgabe, der jeder Tag künftig dienen sollte.

Die erste Spielzeit ihrer Freiheit hatte spät begonnen und war kurz. Doch sah sie, da sie die ersten Verbindlichkeiten für die folgende Spielzeit einzugehen sich anschickte, mit einer leisen Genugtuung, daß ihr Ensemble, das ihr zu Anfang noch ein wenig traumhaft und als ein unerhörtes Wagnis erschienen war, voll genommen wurde und der Name Eleonora Duse nun schon Geltung genug hatte, ihr die Theater, die sie wollte, freizumachen. Den Sommer dieses Jahres 1887 ruht sie aus, sie darf ihrem fanatisch gespannten Tun die kurze Rast gönnen und Kraft aus der mütterlichen Erde trinken. Ihr Kind ist bei ihr, jetzt darf sie es bei sich haben, da sie ja nicht Theater spielt und also nichts von der Unrast und Besessenheit dieses Tuns sein Leben versehren kann. Aus dem Schlupfwinkel dieses Sommers schreibt sie einem Freunde: »... Da sehen Sie mich jetzt – mit einer Hand schreibe ich, mit der anderen gebe ich einer entzückenden Kleinen Spielzeug – ich bin für sie nur ein paar Stunden am Tage die Mutter, die übrige Zeit tue ich mein Möglichstes, ein kleines Mädchen zu sein, ein Geschöpfchen von wenigen Jahren und mit viel Lächeln wie sie.

Das ist die einzige Sache in meinem Leben, die mich weder Arbeit, noch Plage, noch Willensanstrengung gekostet hat. Das ist beachtenswert!

Ich habe mich in einem kleinen, winzig kleinen Häuschen zusammengeduckt, wirklich eine rosa Schachtel mit grünen Fensterladen vor einem großen, unfaßlichen Meere. Der Tag kommt herauf ... es kommt der Abend, und dann wieder der Abend, und dann wieder der Tag ... ein kleines Rad, das sich unter der großen ordnenden Sonne dreht, der Sonne, die sich nicht bewegt, die mich nicht bewegt. Was für ein großes Schweigen! Zikaden – eine prächtige Weinrebe um das Fenster – ausgerenkte Puppen – Pferdchen ohne Sattel und Zügel ... Gesunde Speisen – kein Klavier, keinerlei Musik der Erde – keine Zeitung – ein kleiner Bettelmönch, der jeden Tag mit seinem weißen Barte barfuß um sein kleines Almosen kommt ... Da haben Sie meinen Tag ... Mit meiner Gesundheit geht es vorwärts, die Brust schmerzt mich nicht mehr, ich fühle nicht mehr die trockene Glut in mir, die mir beim Spielen die Stimme und das Wort zerrissen hat.

Kurzum, ein großer Friede in meinem Geiste – ein großes Lächeln für sie, meine Kleine – und ein vollkommenes Wohlgefühl meines Körpers – der schon in den Wurzeln zu zermürben begonnen hatte ...«

Dann fängt das Theater wieder an. Sie spielt, all ihre Kräfte einsetzend. Andò ist ein wunderbarer Kamerad, dazu ein Schauspieler, wie sie ihn braucht. Und dem Ensemble teilt sich etwas von ihrem Fanatismus mit. Aber je mehr sie arbeitet, je schwerer und vielfältiger die Pflichten und Verantwortungen werden, um so heftiger wird jetzt ihr Verlangen, allein zu sein, wann immer sie es nur vermag. Seitdem sie frei ist, verschwindet sie, sooft ein paar Tage es gestatten, sucht fremde einsame Plätze im Gebirge oder lieber noch am Meere. Zuweilen gibt es dann einen Brief an irgendwen, panisch erfüllte Zeilen voll Meer oder Berglandschaft. Dann eilt sie zurück, gesteigert, stampfend vor Unrast, und spielt wieder. Nun könnte sie zuweilen länger in Städten bleiben. Aber dann beginnt ihr Herz zu flattern, und sie muß fort. Was ehedem Qual war, das Weitermüssen, ist nun Gesetz. Sie sieht schwesterlich den Wolken zu und den Sternen; und die Straßen, die von ihr forteilen, die Schiffe, die aus einem Hafen, die Züge, die aus den Hallen fahren, erregen sie dunkel. Ja, sie möchte auch bleiben, ein Zuhause haben oder doch wenigstens eine Stätte, wohin sie immer wiederkehren könnte, aber es drängt ja alles zu Tun und Weitermüssen. Heimat wird wohl nur für die Anderen sein, die mit den friedsamen Geschäften, den friedfertigen Gefühlen und dem sanftmütigen Gotte. Für sie müßte schon das lange Unterwegs das Zuhause sein, die Arbeit und ihre Gestalten, in denen sie einkehren durfte, um für ein paar Stunden sich verströmend auszuruhen von sich selber. Und dann hatte sie ja die Freunde, die immer nahen, die Herzen, in denen sie die Menschheit lieben gelernt hatte. O es war süß, aufzutauchen aus den Trunkenheiten des Gestaltens und zu wissen: der ist da, die ist da, und ich könnte hineilen. Dann schickt sie an monatelang nicht Gesehene eine Depesche, deren Worte drängend voll von Gefühl sind. Oder sie kommt, für ein paar Stunden, ein paar Tage höchstens. Nicht zuviel, Freundschaft muß etwas Feiertägiges sein ...

Und endlich gibt es den »Heiligen«, den Freund der Freunde, den, der nun da ist, als ob er immer dagewesen wäre, den Lehrer und Führer, der wußte, was sie nicht wußte. »Cor cordium«, dachte sie von ihm, wie sie es auf dem Grabe Shelleys in Rom gelesen hatte, der Vollkommene, der Wunderbare, den sie verehren mußte, wie sie nie zuvor verehrt hatte. War es möglich, daß sie ihn einmal nicht gekannt hatte, und war das Wahnsinnige möglich, daß sie ihn schon gekannt hatte, ohne zu begreifen, daß dieser Arrigo Boito der Freund sei, der vom Schicksale Gesandte? Alles an ihm weckte ihre Bewunderung: die Lauterkeit seines Wesens, die Güte gegen die Anderen und die Strenge gegen sich selber, die Fülle seines Wissens und vor allem jenes Unnennbare, die Kunst in ihm. Wie schön seine Musik war! Sie hatte ja so wenig von Musik gewußt, und durch ihn war ihr aufgegangen, daß sie teilhaben konnte an diesem reinsten Reich der Seele; er hatte ihr die Elysien heiliger Schwermut und schlackenloser Leidenschaft geschenkt, die heimwehvolle Süßigkeit der alten Meister, und dann Beethoven, Beethoven, der sie aufwühlte wie kein anderer ... Und wie bescheiden der Freund bei alledem war! Wie er von seinem Schaffen kaum sprach, ihr seine Musik, seine Gedichte verschweigen wollte, weil es ja soviel Größeres gäbe, das sie noch kennenlernen müsse. Und wie er diente, wo er bewundern mußte! Daß er das große Werk, seinen »Nerone«, unterbrach, um dem alten Manne, in dem er den letzten großen Musiker sah, um Giuseppe Verdi Operntexte zu schreiben! Freilich, wer hätte das so herrlich gekonnt wie er? Wer hätte diesen Otello sonst zustande gebracht?

Er ist siebzehn Jahre älter als sie. Vielleicht würde sie, wenn sie seine Jahre erreichte, auch so schweigsam werden und die Dinge ihres Lebens verschlossen halten wie er die seinen. Aber sie ist jung und voll brennenden Verlangens nach Wissen. Lange währt es, bis sie seine Geschichte weiß: wie er, der Sohn eines mittelmäßigen und von Leidenschaften zerrissenen Malers und einer polnischen Gräfin, nach den verstörten Jahren der ersten Kindheit früh schon von der Mutter, die endlich ganz und gar von dem Gatten verlassen worden war, Geduld und Beständigkeit im Tun und Dulden gelernt habe. Dann die ersten Lehrjahre in Venedig, zusammen mit dem geliebten Bruder Camillo, und das Erwachen der Liebe zur Kunst in ihnen beiden, wie er dem Bruder die ihm aufgehenden Herrlichkeiten der Musik mitgeteilt, wie dieser ihn vor Bilder und Statuen geführt und wie sie zusammen hingerissen Gedichte gelesen hatten. Dann die Jahre im Konservatorium in Mailand, das seither unverlierbar seine Stadt geworden ist: wie er mehr gedichtet als musiziert und sich schon zu seiner ersten größeren Komposition selber den Text geschrieben hatte. Dann der Preis dafür: er konnte nach Paris gehen, durfte die von ferne bewunderten Großen sehen, kennenlernen, Verdi, Berlioz und vor allem Rossini! Dann die anderen Reisen, Polen erst, dann Deutschland, Belgien und England, wo er fast vergaß, daß er Musiker sei, so ungeheuer war die Fülle des zu Lernenden. Dann die Heimkehr nach Mailand mit leeren Taschen, doch fiebernd voll von Ideen, Plänen und Arbeitslust. Und was er dann nicht alles getan und getrieben hatte! Gleich übernahm er mit einem Freunde zusammen die Herausgabe einer Zeitschrift, in der er nach Herzenslust von den tausend Dingen, die ihn bewegten, schreiben konnte und in der er in kritischen und theoretischen Ausführungen über Gegenstände aller Künste sich etwas wie eine Ästhetik aufgebaut hatte.

All das erfuhr Eleonora erst nach und nach, aus Andeutungen und durch gemeinsame Freunde, die ihr die alten Hefte jenes »Figaro« brachten. Es waren die ersten Äußerungen über Kunst, die sie mit leidenschaftlichem Interesse las und die sich ihr einprägten wie die Worte des Freundes selber – eine Theorie jenes spätromantischen Kunstideals, dem sein eigenes Schaffen diente: einer Kunst »der späten gebrochenen Lichter«, Heidentum nach Art der endenden Antike voll Verherrlichung der Leidenschaft als der Göttlichkeit des Menschen. Die Stimmung der »klassischen Walpurgisnacht« war in diesem Kunst-Wollen und -Fordern, getragen von einem edlen Gerechtigkeitspathos nach Hugoscher Art, das sich im Kampf für seine Ideale geläutert hatte.

Auch das erfuhr Eleonora erst viel später, daß der Freund das rote Hemd der Garibaldianer getragen hatte; erst als ihr Gefühl ihr schon gesagt hatte, daß er seinem ganzen ritterlichen, stolzen, wahrheitsliebenden und opferwilligen Wesen nach einer der besten Söhne des Risorgimento sei. Dann erfuhr sie auch die Geschichte des »Mefistofele«, den sie so lieben gelernt hatte, dieser ersten Oper Boitos, zu der er aus beiden Teilen des Goetheschen Fausts sein dichterisch schönes Textbuch selber gestaltet hatte. Und wie die Mailänder Scala das Werk des jungen Menschen aufgeführt und diese Aufführung ein grausiger Mißerfolg geworden sei und wie sich Hohn, Wut und Gemeinheit jeder Art hernach auf ihn gestürzt hätten. Und wie er geschwiegen, gelernt und rastlos weitergearbeitet habe, bis dann, acht Jahre später, dieselbe Oper nach einiger Umarbeitung in Bologna diesen ungeheuren Erfolg hatte, nach dem bald ganz Italien sein »Canta sirena!« sang. Und endlich weiß sie auch von seinem anderen Werke, dem »Nerone«, an dem er arbeitet, arbeitet, in das er all seine Melodien und all sein Dichten zu einem einzigartigen musikalischen Drama zusammentragen will. Sie ahnt seine Qualen, wenn er, der unerbittliche Kritiker, immer wieder große Teile des schon Geschaffenen zerstört, fühlt den Schnitt, der bis ins innerste Leben geht, und bewundert noch tiefer, wie er immer wieder wortlos zur Arbeit zurückkehrt, zu dem Werke, dessen Namen ihr lebenslang mit dem seinigen verbunden geblieben ist.

Aber daß dieser strenge Arbeiter und unbestechliche Kritiker ein immer junges schwärmerisches Poeten- und Musikantenherz in der Brust trug, das war es, was sie noch mehr zu ihm hinzog. Denn dieses Herz kannte sie, hatte sie schnell wunderbar verstanden, und sie fühlte es in den Führerworten, die er ihr voll brüderlicher Innigkeit gesagt hatte. Oh, er war da, war wunderbar da – und das erste Aufleuchten werdender Schicksalsweisheit sagte ihr, daß er, der so zur rechten Zeit gekommen sei, bleiben werde für alle ihre Zeit und daß daran kein Fernsein etwas ändern und kein Geschick, das lockend und drohend in ihrem sehnsüchtigen dunklen Blute bereit sein mochte, daran zu rühren vermöchte. Alles bisher hatte vergänglich sein können, hatte ihr genommen werden oder von ihr fortwachsen können – dieser da, dieser Freund, dieser Mensch war das erste Endgültige in ihrem Leben.

*

Sie war jetzt achtundzwanzig Jahre alt, und was vordem im Tun und Gestalten, in Wanderschaft, Sehnen und Leiden ganz und gar in Leben aufgegangen war, drängte nun immer unaufhaltsamer ins Wissen. Wenn sie einen Augenblick besinnend einhielt, erschrak sie fast davor, wieviel sie von sich selber wisse, doch immer öfter ahnte ihr, daß all die Fülle dieses Wissens ihr nichts fromme und daß ihre Wege und Entscheidungen, wie sehr sie aus diesem Wissen auch Ausgang und Ende würde voraussehen können, doch so geschehen würden, als ob sie nichts wüßte. Sie verstand, daß dies Erkennen ihrer eigenen Natur noch nicht das rechte Wissen sei, daß davor noch etwas anderes sei, durch das sie hindurch müsse, ehe jenes rechte Wissen ihr ganzes Leben durchdringen und leiten könne. Wenn sie, deren ganzes Spiel auf dem Theater Leidenschaft war, im Lesen der Dichter diesem Worte Leidenschaft begegnete, begann sie den Namen für das zu verstehen, das in ihr brannte, wie das Feuer unter jenem mild ansteigenden, rebengrünen Berghange bei Neapel brennt. Dann las sie dieses Wort von ihren Kritikern ausgesprochen. Und zuweilen geschah ihr, daß sie plötzlich aufschauend ihr Gesicht in einem Spiegel sah und sie aus diesem traurigen Gesichte etwas ansah, was sie schon so oft gesehen haben mußte. Was war es? Wo hatte sie das gesehen? Tiere in Käfigen fielen ihr ein und die Blicke aus den samtenen Augen der blassen, schwarzgekleideten Frauen im Volke in Neapel und in ihrer Stadt, in Venedig, und die rettungslose Schwermut in den Canzonen ... Was war es? Sehnsucht, die keine Erfüllung stillt, kein gierigstes Besitzen erlöst, Klage der Seele nach Tod oder Befreiung? Das mußte es in den Tänzen der Menschen da unten im Süden gewesen sein, das war wie das Auf und Nieder der Tiere im Käfige. Leidenschaft ... Dann schüttelte sie all das von sich ab und dachte an das Theater, an die Aufgabe.

Sie war nun achtundzwanzig Jahre alt, beinahe glücklich, und unter ihrer unerbittlichen Zucht und ihrem immer zu Tun drängenden Willen hatten sich die Äußerungen ihres Seins geklärt und waren so bestimmt geworden, als es jenes andere Geheime und Unbändige in ihr überhaupt zuließ. Ihr Gesicht war einfach geworden und schon nahe der Form, die mehr als Schönheit war. Ihren Freunden schlossen sich nun ihre Eigenschaften und Eigenheiten zu einem immer sichereren Bilde zusammen, in das sie freilich das Elementarische und Unberechenbare, das ihr innewohnte wie der Natur selber, einzubeziehen verstehen gelernt hatten. Wenn sie jetzt von ihr sprachen, an sie dachten, von ihr schrieben, war trotz manchem Widerspruchsvollen nunmehr ein Bild da, dessen Wesentliches ihnen blieb, auch als der ungeheure Ruhm um sie gewachsen war, auch als die Frau dann wissend jenen Weg beschritt ...

Wenn der immer bereite Klatsch, der um die Sichtbaren wittert, sich rühren wollte, dann traten die Freunde denen, die ihnen Rede standen, entgegen: seht euch doch diese Frau an, wenn sie das Theater verlassen hat – sie anzusehen muß euch schon sagen, wie sinnlos all das Gerede ist, wenn ihr nicht ganz und gar von allem Instinkt verlassen seid. Schaut doch allein nur ihre damenhafte Haltung und ihre Art, sich zu kleiden, an: seht ihr denn nicht, daß in ihr nichts von Leichtfertigkeit und Sichgehenlassen sein kann, daß es in diesem Lebenskreise nichts Verspieltes, nichts Kokettes, nichts Kleines gibt! Und unter sich sprachen sie dann wohl von ihrer Abneigung gegen alles Verniedlichende weiter, gegen die Nippes und Deckchen und sonstigen schmückenden Kleinigkeiten jener Zeit, von denen sie nichts in den vielen, vielen Zimmern, die sie bewohnt hat, je duldete, von dieser Abneigung gegen alles Kokette, die so weit ging, daß sie Wäsche mit Spitzen oder Bändern verabscheute (was sie einer Freundin einmal gestanden hatte). Freilich habe sie es nicht schwer gehabt, ihren »Stil« zu finden: der war da, wie sie selber da war. Denn sobald sie die erste Not ihrer Anfangsjahre hinter sich hatte und überhaupt daran denken konnte, sich Kleider machen zu lassen, waren es auch schon ihre Kleider, hatte sie auch schon ihren Mantel, den sie liebte und der meist ein wenig zurückgeglitten auf ihren zarten Schultern lag. Schon damals trug sie gerne die schönen, schweren, fallenden Stoffe, einfache, nur im Nötigen an die Mode angenäherte Schnitte und nur selten andere als dunkle Farben und Weiß. Außer einem Ringe mit einem schönen Brillanten, den sie ganz selten und nur Freunden zuliebe, die ihn an ihrer Hand zu sehen liebten, ansteckte, trug sie keinen Schmuck. Ihr schwarzes reiches Haar war stets auf das kunstloseste geordnet: über die Stirn, in der Mitte sich teilend, weich zurückgelegt und im Nacken in einem griechischen Knoten aufgesteckt. Und während alle Frauen ihre Körper in grausige Panzer aus Stahlplanchetten oder Fischbein zwängten, um sich dem Ideal der Wespentaille anzunähern, trug sie niemals ein Korsett oder Mieder. Dem ist es wohl zu danken, daß sie, durch keine Einschnürung entstellt und bei all ihrer Zartheit von edlen Verhältnissen, trotz ihres kaum die Mittelgröße erreichenden Wuchses immer für groß gehalten wurde und ihre wirkliche Größe jedem, der ihr zum ersten Male außerhalb der Bühne begegnete, zur Überraschung wurde.

Wie viele leidenschaftliche und dabei sehr innerliche Menschen von hoher Art war sie schüchtern. Sie, die auf der Bühne fessellos wie kaum je eine andere Schauspielerin den Tausenden die wilde Inbrunst ihres Wesens vorlebte, scheute ängstlich die Menge, sobald sie nicht mehr Schauspielerin war. Sie verbarg sich bei Konzerten auf abseitigen Galerieplätzen, mied das Parkett der Theater – und je mehr ihr Ruhm wuchs, um so begieriger suchte sie die Anonymität ihres außertheatralischen Lebens zu verteidigen. Wo immer sie es vermochte, wich sie großen Gesellschaften aus und lud die, mit denen sie sprechen wollte oder mußte, einzeln zu sich oder ging (übrigens oft zu den ungewöhnlichsten Stunden) zu ihnen. Sie war imstande, ein Hotel brüsk zu verlassen, wo man sie als etwas Außergewöhnliches zu behandeln oder zur Schau zu stellen versuchte. Oh, vieles wußten die Freunde noch von ihr zu berichten, kleine Züge und tiefe Eigenheiten. Sie sei ja ein »so ausgesprochener Mensch«, sagten sie denen, die nach ihr fragten, und so sei natürlich alles an ihr besonders. Und sie sprachen von ihrer Liebe zu den Blumen, ihrer körperlichen Abneigung gegen die meisten Parfüms und von Dingen solcher Art. Von dem anderen, was sie an ihr bewunderten, von ihrer Unfähigkeit, zu paktieren und Konzessionen zu machen, von ihrer elementaren Art, ja und nein zu sagen, von den wunderbaren Äußerungen ihrer Güte und all dem anderen Innerlichen ihrer Freundin sprachen sie freilich nicht. Daß trotz dieser Verschwiegenheit derer, die sie kannten, allmählich in den meisten ihrer Bewunderer ein Bild ihres Lebens und Wesens (und meist kein entstelltes) wuchs, lag nicht allein an der Neugier nach Biographischem, die so gerne im Gefolge der Bewunderung auftritt, sondern vielmehr auch an Eleonora Duses Theaterspielen, in dessen Gestaltungen die Empfindlicheren etwas vom Wesen dieser Seele zu spüren vermochten, die diesen Frauen auf der Bühne ihr Leben gab. So prägte sie, deren Verlangen danach ging, nur in ihren Rollen von den Menschen gesehen und beachtet zu werden, dennoch vielen, vielen allein schon mit ihren Rollen ein solches Bild ein, daß sie, wenn die Schauspielerin fort war, über dem Menschen, den sie verspürt hatten, oftmals die Rolle vergaßen.

Und so geschah es immer öfter, daß ihre eigene Wirkung auf Herzen ihr in einer Art fühlbar gemacht wurde, der sie sich nicht mehr entziehen durfte. Menschen, Frauen und Mädchen vor allem, schrieben ihr und kamen zu ihr, weil sie sich von der tieferen, schicksalsvolleren Seele, die sie verspürt hatten, Trost, Hilfe, Segnung erwarteten. Und Eleonora mußte daran denken, daß die Trostbedürftigen wohl sonst nicht zu Schauspielerinnen kämen, und sich sagen, daß nun in Wirklichkeit ihr Theater zu sein begonnen habe, das Amt und Sendung war, und daß ihr in jedem Schicksale, in das sie solcherart eingetreten sei, auch eine Pflicht erwachsen sei. Und sie entzog sich keiner Pflicht. So läßt sie die Sehnsüchtigen und die Klagenden, diese Mädchen und Frauen, die ihr als der Verwirklicherin einer Welt voll tragischer Schönheit Briefe schreiben, zu sich kommen, die arbeitenden Mädchen und Frauen vor allem, »damit sie sehen, daß ich arbeite, wie sie arbeiten, und daß zwischen uns nicht viel Unterschied ist«. Arbeiten! sagt sie, arbeiten, sich wirkend bewähren! Die in der Zeit gärenden Ideen von Frauenemanzipation meint sie freilich nicht damit, und wenn deren Vertreterinnen (die, ach, meist so wenig von der Frau vertreten!) sich ihr als einer Verbündeten nahen wollen, lächelt sie. Wenn sie mit den zu ihr drängenden Kontormädchen, Studentinnen und kleinen Schauspielerinnen spricht, dann liest sie in den hungrigen Augen die Sehnsucht nach Liebe und nach einem Sinn. Und sie denkt daran, wie gefährdet diese schwachen Sehnsüchtigen sind, wie sie, wenn die Liebe, an die sie sich anklammern wollen, nicht Stütze ist, ins Leere stürzen können. Dann sieht sie die kleine Not um sie und jene schlimmere Gefahr noch: wie leicht die materielle Abhängigkeit der Frau vom Manne das Gefühl trüben und die Unmittelbarkeit der freigewählten Liebesbeziehung gefährden kann. Und so sagt sie einer jeden, die fragend zu ihr kommt: »Arbeiten Sie, verlangen Sie vom Manne Liebe, nicht Hilfe, dann hat Ihr Leben den Sinn, den Sie suchen.«

Als sie Jahre zuvor zum ersten Male Cesare Rossis Verachtung für ihr Geschlecht empfunden hatte, hatten Empörung und Scham in ihr gebrannt, und dann hatte sie verstanden, daß sie die Frau, den weiblichen Menschen liebe, weil sie selber immer mehr Frau wurde, je mehr sie Mensch wurde. Und weil sie doch dieses Kreaturhafte, das sich an seiner Lebensfülle wund stößt, so tief verstand. Und wenn sie dann aus diesen Geschöpfen, in denen alles ist, Einfachheit und Verworrenheit, Güte und Schlechtigkeit, Sanftmut und Verderbtheit, aus diesen Frauenaugen hinter den kleinen Lichtern von Träumen, Gier und Eitelkeit die Ausweglosigkeit aller Kreatur anschaute, dann war ihr ganzes Wesen tränenheißes Weh und Helfenwollen – und dann spielte sie so aus aller Frauentiefe her Theater, daß all die Unwissenden und Schwachen zu ihr drängten, als ob sie sie gerufen hätte.

Nein, mit den »Emanzipierten« hatte sie freilich nichts zu tun! Sie weiß, was die Welt der Männer ist, und liebt sie. Und sie weiß: »Gott schuf den Menschen, nicht Mann, nicht Weib!« Wenngleich ihr der Gott dabei noch etwas recht Fragliches ist. Denn was an Religiosität in ihr ist, ist panisch-irdisch, etwas wie die alten Erdkulte, die Geschlecht und Tod im gleichen Zeichen begreifen. Sinn ist die Erlösung auf Erden, die Menschwerdung, als Frau oder als Mann zum Menschen zu werden.

Ja, sie liebt die Welt der Männer, zumal, seit sie durch Boito so sehr an ihr Anteil haben durfte, als sie es konnte und wollte. Sie konnte es nicht immer, denn Wissen und Denken mußte ihr sinnlich-dinglich sein und dem Leben selber oder seiner tieferen Form, der Kunst, dienen, damit sie es annehmen und haben konnte. Abstraktionen verwirren sie doch ein wenig, und dem Nur-Intellektuellen, das nicht arbeitend seinen Sinn erweist, steht sie staunend wie ein Kind gegenüber. Und sie will auch wahrhaftig nicht die von der heiligen Natur gezogene Schranke überschreiten. So erregt ihr der bloße Gedanke, etwa Männerrollen zu spielen, wie es die Sarah Bernhardt tat, Abscheu: das ist Verwischung, Virtuosentum – Kunst kann nicht ungeschlechtlich sein, wie Blut es nicht sein kann.

So liebt sie die Menschen in ihren Geschlechtern, mit deren Sünden und Tugenden und mit ihrer Erlösungssehnsucht – als das Lebendige. Ihm dient ihr Tun, das ist die Aufgabe. Aber es geht ihr darum, wirkend wirklich zu sein, tätig sich zu erfüllen, nicht um Gedanken darüber, und am wenigsten um Programme! Wie sie von ihrem Theaterspielen kein solches auszusprechen gewußt hatte, so gab es für solche auch in ihrem ganzen, auf die höchste, unmittelbar lebendigste Wirklichkeit gerichteten Leben keinen Platz. Ja, sie liebte die Frauen voll schwesterlicher Hilfsbereitschaft – aber da einmal ein Kongreß der Frauenbewegung sich an sie wandte, schrieb sie: »Der Irrtum der Frauenbewegung, wie sie bei uns geschaffen und verstanden worden ist, besteht darin, daß sie sogleich zu einem Kampfplatze kleinlicher Zwistigkeiten und Alltagsgenugtuungen geworden ist. So erweckt sie den Anschein, als ob die Geschlechter zwei Parteien wären, deren jede die andere auf deren Kosten bekämpfen kann ... Aber die Lösung des Problems muß sich aus der Gegenseitigkeit der Achtung und des Vertrauens ergeben, aus dem Bereiche der höchsten Tugenden und der höchsten Kräfte des Lebens. Die Grundlage einer Änderung ist also die Erziehung, die Erziehung der Männer und der Frauen. Überdies ist die Liebe ein allzu bedeutsames, allzu seltenes und erhabenes Geschehen, als daß die einen wie die anderen sich daran gewöhnen dürften, jedes Wort und jedes Tun im Leben sogleich auf sie zu beziehen ...«

Dann spricht sie weiter von den Enttäuschten der Liebe. Sie fühlt zutiefst mit allen ihren Schwestern, was in den Worten des Denkers ausgesprochen ist: »Die ungeheure Erwartung in betreff der Geschlechtsliebe und die Scham in dieser Erwartung verdirbt den Frauen von vornherein alle Perspektiven.« So rät sie, die Liebende, die weiß, daß die Liebe das Hohe, das Feiertägige des Lebens sein muß, nicht im Warten auf sie das Sein zu vertun. Sie sieht das Hohe in den Wartenden klein werden, sieht immer wieder das schlimme Durcheinander von Begehren und Interesse – und sie ruft zur Arbeit auf, hier wie hundertmal in Gesprächen, Mahnungen und Briefen, zur Arbeit als Sinngebendes, als Trost.

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