Ernest Renan
Die Apostel
Ernest Renan

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Neunzehntes Kapitel.

Zukunft der Mission

So war die Welt beschaffen, welche die christlichen Missionäre bekehren wollten. Man muß jetzt wohl einsehen, daß ein derartiges Unternehmen keine Thorheit war, und dessen Gelingen kein Wunder. Die Welt war von moralischen Bedürfnissen erfüllt, welchen die neue Religion in bewundernswerter Weise zu entsprechen vermochte. Die Sitten milderten sich; man wollte einen reineren Kultus haben; der Begriff von Menschenrechten, die Ideen zur socialen Verbesserung tauchten auf allen Seiten auf. Anderseits wieder ging die Leichtgläubigkeit bis zum Äußersten, war die Zahl der unterrichteten Personen sehr gering. Wenn einer solchen Welt eifrige Apostel sich darbieten, Juden, also Monotheisten, Jünger Jesu, also durchdrungen von der mildesten Moralverkündung, die das menschliche Ohr je vernommen hatte, so werden sie sicherlich Gehör finden. Die Träumereien, die sich in ihre Unterweisungen mischen, werden kein Hindernis ihres Erfolges sein; die Zahl derer, die nicht an das Übernatürliche, das Wunder glauben, ist sehr gering. Sind sie niedrig und arm, um so besser. Auf dem Punkte, wo die Menschheit sich jetzt befindet, kann sie nur durch ein aus dem Volke kommendes Bemühen gerettet werden. Die alten heidnischen Religionen sind nicht reformationsfähig; der römische Staat ist das, was der Staat immer sein wird: steif, trocken, streng, hart. In dieser Welt, die aus Mangel an Liebe verderben würde, gehört die Zukunft dem, der den lebendigen Quell volkstümlicher Frömmigkeit berühren wird. Der griechische Liberalismus, der römische Ernst, beide sind dazu ohnmächtig.

Von diesem Gesichtspunkt aus zeigt sich die Gründung des Christentums als das größte Werk, das jemals Männer aus dem Volke geschaffen haben. Sehr bald schlossen sich jedoch auch Männer und Frauen der ersten römischen Familien der Kirche an. Flavius Clemens und Flavia Domitilla zeigen uns gegen Ende des ersten Jahrhunderts, wie das Christentum fast in den Cäsarenpalast dringt.S. Rossi, Bullettino di arch. crist. Jahrg. III, Nr. 3, 5, 6, 12. Der Vorfall Pomponia Gräcina (Tacit. Ann. XIII, 32) unter Nero ist bereits charakteristisch; allein es ist nicht gewiß, daß sie Christin war. Seit den ersten Antoniden gab es reiche Leute in der Gemeinde. Gegen Ende des zweiten Jahrhunderts befinden sich in ihr mehrere der beachtenswertesten Persönlichkeiten des Reiches.S. Rossi, Roma sotterranea I, 309; und Blt. 21, Nr. 12, sowie die von Leon Renier gemachten epigraphischen Mitteilungen. Comptes rendus de l'Acad. des Inscr. et B.-L. 1865, S. 289 etc. und durch General Creuly, Revue arch. Januar 1866, S. 63, 64. Vgl. Rossi, Bull. Jahrg. III, Nr. 10, S. 77-79. Aber anfangs waren alle oder fast alle noch niedern Standes (1. Kor. I, 26 etc.; Joh. II, 5 etc.). In den ältesten Gemeinden, auch in Galiläa unter der Umgebung Jesu, finden wir keine vornehmen, mächtigen Persönlichkeiten. Nun ist aber bei derlei großen Schöpfungen die erste Stunde die entscheidende. Der Ruhm der Religionen gehört gänzlich ihren Gründern. Religionen sind in der That Glaubenssachen. Glauben ist etwas Gewöhnliches; den Glauben einzuflößen wissen ist ein Meisterwerk.

Will man sich diese wundervollen Ursprünge vergegenwärtigen, so stellt man sich gewöhnlich die Dinge nach dem Muster unserer Zeit vor und wird dermaßen zu schweren Irrtümern verführt. Der Mann aus dem Volke glich im ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, besonders in den griechischen und orientalischen Ländern, keineswegs dem, was er heutzutage ist. Die Erziehung richtete damals zwischen den Klassen keine so starke Scheidemauer auf wie jetzt. Diese Rassen am Mittelländischen Meere, wenn man die Bevölkerung Latiums ausnimmt, die bereits verschwunden war oder doch jede Wichtigkeit verloren hatte, seitdem das römische Reich, die Welt erobernd, den besiegten Völkern zu eigen geworden, diese Rassen, sage ich, waren nicht so kräftig wie die unsrigen, aber sie waren beweglicher, lebhafter, geistvoller, idealistischer. Der schwerfällige Materialismus unserer enterbten Klassen, dieses düstere, gedrückte Wesen – Wirkung unseres Klimas und verhängnisvolles Erbteil des Mittelalters – das unseren Armen eine trübselige Physiognomie giebt, war nicht bei jenen Armen zu finden, von denen hier die Rede ist. Obgleich sehr unwissend und sehr leichtgläubig, waren sie es doch nicht mehr als die Reichen und Mächtigen. Man darf sich daher die Errichtung des Christentums nicht derart vorstellen, wie wenn bei uns eine Bewegung in der Volksmenge sich äußert und damit endigt, daß sie – in unsern Augen etwas Unmögliches – die Zustimmung der Gebildeten erhält. Die Gründer des Christentums waren Leute aus dem Volke in dem Sinne, daß sie gewöhnlich gekleidet waren, einfach lebten, schlecht sprachen, oder vielmehr beim Sprechen einzig nur ihre Gedanken recht lebhaft ausdrücken wollten. Aber sie waren, was Intelligenz betrifft, nur einer kleinen Schaar untergeordnet, den mit jedem Tag sich vermindernden Überlebenden aus der großen Zeit Cäsars und Augustus. Verglichen mit der Elite von Philosophen, die das Zeitalter eines Augustus mit dem der Antoniden verknüpften, waren die ersten Christen schwache Geister. Verglichen mit der großen Menge im Reiche, waren sie aufgeklärt. Manchmal hielt man sie für Freidenker und der Pöbel wandte sich gegen sie mit dem Ruf: »Tod den Atheisten!«Αιρε τους αθέους. S. die Mitteilung über den Märtyrertod des heiligen Polycarp, §§ 3, 9, 12 in Ruinart, Acta sincera, 31 etc. Und das ist nicht überraschend. Die Welt machte im Aberglauben erschreckende Fortschritte. Die beiden größten heidnischen Städte des Christentums, Antiochien und Ephesus, waren von allen Städten des Reiches am meisten dem Glauben an das Übernatürliche zugeneigt. Das zweite und das dritte Jahrhundert steigerte diese Sucht nach Wundern und die Leichtgläubigkeit bis zum Wahnsinn.

Das Christentum wurde außerhalb, aber nicht genau unterhalb der offiziellen Welt geboren. Nur dem Anscheine nach und gemäß den weltlichen Vorurteilen waren die Jünger Jesu geringe Leute. Der Weltgesinnte liebt das Kühne, Starke; er spricht mit dem Demütigen ohne Wohlgeneigtheit; die Ehre besteht nach seiner Ansicht darin, daß man sich nicht beleidigen läßt; er verachtet den, der seine Schwäche eingesteht, der alles erduldet, der sich allem unterwirft, sein Kleid hingiebt und seine Wange zum Backenstreich hinreicht. Darin liegt sein Irrtum; denn der Schwache, den er verachtet, ist ihm gewöhnlich überlegen; die Summe der Tugend ist bei den Gehorchenden (Dienern, Arbeitern, Soldaten, Matrosen etc.) größer als bei den Befehlenden und Genießenden. Und das entspricht auch fast ganz der Regel, denn Genießen und Befehlen, weit davon entfernt, die Tugend zu unterstützen, sind ein Hindernis für sie.

Trefflich erkannte Jesus, daß das Volk in seinem Schoße eine Fülle von Hingebung und Entsagung angesammelt habe, welche die Welt erlösen. Darum erklärte er die Armen für selig, urteilend, daß es ihnen leichter als den andern werde, gut zu sein. Die ersten Christen waren wesentlich Arme. »Arme« war ihr Name (Ebionim, s. »Leben Jesu«, 19. Kap. in Beziehung zu Jak. II, 5 etc. Vgl. die πτωχοί τω πνεύματι, Matth. V, 3). Selbst als der Christ reich war, im zweiten und dritten Jahrhundert, war er im Geist ein tenuior (s. S. 291, 297); dank dem Gesetze über die Collegia tenuiorum tröstete man sich darüber. Nicht alle Christen waren Sklaven oder Leute in niedriger Stellung; aber der gesellschaftliche Gleichwert der Christen und der Sklaven war derselbe; was man von dem einen sagte, galt auch für den andern. Hier wie dort rechnete man sich dieselben Tugenden zur Ehre an: Güte, Demut, Entsagung, Sanftmut. Das Urteil heidnischer Schriftsteller ist in dieser Beziehung gleichlautend. Alle ohne Ausnahme erkennen im Christen die Züge des Sklavencharakters wieder: Gleichgültigkeit gegen die großen Angelegenheiten, ein trübes, zerknirschtes Wesen, ein mürrisches Urteil über die Zeit, eine Abneigung gegen Spiel, Theater, Gymnasien und Bäder (Tacit. Ann. XV, 44; Plin. Epist. X, 97; Suet. Nero 16, Domit. 15, Philopatris ganz; Rutilius Numatianus I, 389 etc., 440 etc.).

Mit einem Wort: die Heiden waren die Welt, die Christen waren nicht von dieser Welt. Sie waren eine kleine, abgesonderte Herde, gehaßt von der Welt, die Welt schlecht findend (Joh. XV, 17 etc., XVI, 8 etc., 33, XVII, 15 etc.). bestrebt, sich »unbefleckt von der Welt zu erhalten« (Jak. I, 27). Das Ideal des Christentums soll das Gegenteil von dem der weltlich Gesinnten sein.Ich spreche hier von den wesentlichen und ursprünglichen Tendenzen des Christentums und nicht von dem, besonders durch die Jesuiten, vollständig umgestalteten Christentum, das heute gepredigt wird. Der vollkommene Christ wird die Erniedrigung lieben; er wird die Tugenden des Armen, Schlichten, dessen, der nicht nach Geltung strebt, haben. Aber er wird auch die Fehler seiner Tugenden haben; er wird Dinge für eitel und nichtig halten, die es nicht sind; er wird die Welt verkleinern wollen; er wird der Feind oder Verächter des Schönen sein. Ein System, in welchem die Venus von Milo nur ein Götzenbild ist, ist ein falsches oder doch teilweise falsches System; denn das Schöne gilt so viel wie das Gute und das Wahre. Der Verfall der Kunst ist bei solchen Ansichten jedenfalls unvermeidlich. Der Christ soll weder auf schöne Bauten, noch auf schöne Bildwerke, Gemälde, einen Wert legen; er ist zu sehr Idealist. Er soll auch nur wenig nach Wissen streben; die Wißbegierde dünkt ihm ein eitel Ding zu sein. Die hehre Wollust der Seele, eines der Mittel, die Unendlichkeit der Seele zu berühren, mit dem gewöhnlichen Vergnügen verwechselnd, wird er sich den Genuß versagen. Er ist zu tugendhaft.

Ein anderes Gesetz zeigt sich von nun an in unserer Geschichte als das vorherrschende. Die Aufrichtung des Christentums steht in Beziehung zur Unterdrückung des politischen Lebens im Mittelmeergebiet. Das Christentum entstand und verbreitete sich in einer Epoche, in der es kein Vaterland mehr gab. Wenn etwas den Gründern der Kirche gänzlich mangelte, so war es der Patriotismus. Sie waren aber auch nicht Kosmopoliten, denn der ganze Planet galt ihnen nur als ein Verbannungsort; sie waren Idealisten in des Wortes völligster Bedeutung. Das Vaterland ist eine Zusammensetzung aus Leib und Seele. Die Seele, das sind die gemeinschaftlichen Erinnerungen, Bräuche, Legenden, Mißgeschicke, Hoffnungen und Klagen! der Leib, das sind die Eigentümlichkeiten des Bodens, der Rasse, der Sprache, der Berge, der Flüsse, der Produkte. Nun konnte niemand losgelöster von alledem sein, als es die ersten Christen waren. Sie haben keine Anhänglichkeit an Judäa; nach Verlauf einiger Jahre haben sie Galiläa vergessen; der Ruhm Griechenlands und Roms ist ihnen gleichgültig. Die Gegenden, wo das Christentum anfangs sich festsetzte, Syrien, Cypern, Kleinasien, gedachten nicht mehr der Zeit, wo sie frei waren. Griechenland und Rom hatten wohl noch ein starkes Nationalgefühl. Aber in Rom lebte der Patriotismus nur im Heere und in einigen Familien; in Griechenland gedieh das Christentum nur in Korinth, einer Stadt, die seit ihrer Zerstörung durch Mummius und ihrem Wiederaufbau durch Cäsar eine Anhäufung der verschiedensten Menschen geworden war. Die eigentlichen griechischen Länder, die damals, wie heute noch, sehr eifersüchtig die Erinnerung an ihre Vergangenheit wahrten und von ihr ganz eingenommen waren, kümmerten sich nur wenig um die neue Verkündung; sie waren stets laue Christen. Dagegen hatten die weichlichen, heiteren, wollüstigen Länder von Asien und Syrien, Länder des Vergnügens, der freien Sitten, des Sichgehenlassens, Länder, die gewohnt waren, Leben und Herrschaft von auswärts zu erhalten, nichts an Stolz und Tradition zu entsagen. Die ältesten Metropolen des Christentums, Antiochien, Ephesus, Thessalonich, Korinth, Rom waren, wenn ich es so nennen darf, gemeinschaftliche Städte, Städte von der Art des heutigen Alexandrien, wo alle Rassen zusammenströmen, wo die Verbindung zwischen Mensch und Boden, die eine Nation bildet, gänzlich unterbrochen war.

Die Wichtigkeit, die man den socialen Fragen beimißt, ist stets das Wiederspiel der Beschäftigung mit politischen Angelegenheiten. Der Socialismus gelangt auf die Oberfläche, wenn der Patriotismus sich abschwächt. Das Christentum war der Ausbruch socialer und religiöser Ideen, wie er zu erwarten war, seitdem Augustus den politischen Kämpfen ein Ende gemacht hatte. Ein Weltkultus wie der Islam, das Christentum wird im Grunde genommen der Feind der Nationalitäten sein. Es brauchte wohl der Jahrhunderte und der Schismen, bis man dahin gelangte, nationale Kirchen mit einer Religion zu gründen, die vom Beginn an die Verneinung jedes irdischen Vaterlandes war, die zu einer Zeit geworden ist, wo es in der Welt keinen Freistaat und kein Bürgertum mehr gab, eine Religion, die von den alten rauhen und starken Republiken Italiens und Griechenlands sicherlich als ein tötliches Gift für den Staat ausgetrieben worden wäre.

Das war eine der Ursachen der Größe des neuen Cultus. Die Menschheit ist etwas Mannigfaltiges, Wechselndes, bewegt von den widersprechendsten Wünschen. Groß ist das Vaterland und heilig sind die Helden von Marathon, den Thermopylen, von Valmy und Fleurus. Doch das Vaterland ist nicht nur hienieden. Man ist Mensch und Sohn Gottes, bevor man Franzose oder Deutscher ist. Das Reich Gottes, ein ewiger Traum, der nie aus des Menschen Herz schwinden wird, ist der Protest gegen das, was der Patriotismus zu Ausschließliches hat. Der Gedanke einer Organisation der Menschheit hinsichtlich ihres größten Glückes und ihrer moralischen Verbesserung ist christlich und berechtigt. Der Staat kennt nur und kann nur ein Einziges kennen: den Egoismus organisieren. Das ist keineswegs unbedeutend, denn der Egoismus ist der mächtigste und faßbarste aller menschlichen Triebe. Aber es genügt nicht. Regierungen, die von der Annahme ausgegangen sind, daß der Mensch nur aus Begierden zusammengesetzt sei, haben sich stets getäuscht. Die Hingebung ist dem Menschen edler Rasse ebenso natürlich wie der Egoismus. Und die Organisation der Hingebung, das ist die Religion. Man glaube daher nicht, die Religion oder die religiösen Verbindungen vorenthalten zu können. Jeder Fortschritt der modernen Gesellschaften wird dieses Bedürfnis um so gebieterischer erscheinen lassen.

Wir sehen, in welcher Weise diese Darstellung fremder Ereignisse für uns voll Lehre und Beispiel sein kann. Man darf nur nicht an gewissen Zügen Anstoß nehmen, die der Unterschied der Zeit uns seltsam scheinen läßt. Wenn es sich um Volksglauben handelt, so wird immer ein gewaltiges Mißverhältnis vorhanden sein zwischen der Größe des idealen Ziels, das der Glaube erstrebt und der Kleinheit der materiellen Umstände, die ihn zur Geltung bringen. Daher diese Eigentümlichkeit, daß in der religiösen Geschichte die anstößigsten Einzelheiten und Vorgänge, die der Thorheit gleichen, mit dem Erhabensten sich vermischen können. Der Mönch, der das heilige Ölfläschchen erfand, war einer der Gründer des Königtums in Frankreich. Wer wollte nicht aus dem Leben Jesu die Episode mit dem Besessenen von Gergesa verlöschen? Niemals haben kaltblütige Menschen das vollbracht, was Franz von Assisi, Jeanne d'Arc, Petrus der Eremit, Ignatz von Loyola gethan haben. Nichts ist relativer als das Wort Thorheit auf die Vergangenheit des menschlichen Geistes angewandt. Geht man von den heutzutage verbreiteten Ansichten aus, so hätte es keinen Propheten, keinen Apostel, keinen Heiligen geben können, der nicht hätte eingesperrt werden sollen. In Epochen mit wenig vorgeschrittener Reflexion ist das menschliche Bewußtsein sehr schwankend; in diesem Seelenzustande wird in unsichtbaren Übergängen das Gute zum Bösen, das Böse zum Guten; grenzt das Schöne ans Häßliche und nähert sich das Häßliche dem Schönen. Ohne dies anzunehmen, ist es nicht möglich, der Vergangenheit gerecht zu werden. Derselbe göttliche Hauch durchdringt die ganze Geschichte und bringt sie zum bewundernswerten Einklang; aber die Mannigfaltigkeit der Verbindungen, die des Menschen Fähigkeiten hervorzubringen vermögen, ist unendlich. Die Apostel differieren weniger mit uns, als die Begründer des Buddhaismus, die uns sprachlich, und vielleicht auch der Rasse nach, näher stehen. Unser Jahrhundert hat religiöse Bewegungen gesehen, die nicht minder außergewöhnlich als die früheren sind, Bewegungen, die ebensoviel Begeisterung hervorgerufen haben, die verhältnismäßig schon mehr Märtyrer haben und deren Zukunft noch unbestimmt ist.

Ich rede nicht von den Mormonen, eine Sekte, die in manchen Beziehungen so thöricht und abscheulich ist, daß man zögern muß, sie ernst zu nehmen. Es ist jedoch lehrreich, zu sehen, wie mitten im neunzehnten Jahrhundert Tausende von Menschen unserer Rasse im Mirakel leben, im blinden Glauben an Wunder, die sie gesehen und berührt haben wollen. Es giebt bereits eine ganze Litteratur, welche die Übereinstimmung des Mormonismus mit der Wissenschaft beweisen will; was jedoch noch mehr gilt: diese auf thörichtem Trug begründete Religion hat Wunder von Geduld und Selbstverleugnung einzuflößen gewußt. In fünfhundert Jahren werden vielleicht Gelehrte ihre Göttlichkeit durch das Wundervolle ihrer Begründung beweisen wollen.

Der Babismus in Persien war eine in anderer Weise beachtenswerte Erscheinung.S. die Geschichte des Ursprungs des Babismus in Gobineaus » Les Relig. et les Philos. dans l'Asie centrale « (Paris 1865) S. 141 etc. und Mirza Kasem-Begs Darstellung im » Journal asiatique «. Ich selbst habe in Konstantinopel von zwei Personen, die im Babismus verwickelt waren, Mitteilungen erhalten, welche die Darstellungen dieser beiden Gelehrten bestätigen. Ein sanfter, anspruchsloser Mensch, eine Art frommer, bescheidener Spinoza, sah sich, fast gegen seinen Willen, zum Rang eines Thaumaturgen, einer göttlichen Verkörperung erhoben, und wurde das Oberhaupt einer zahlreichen eifrigen und fanatischen Sekte, die fast eine Umwälzung wie der Islam herbeigeführt hätte. Tausende von Märtyrern sind dafür mit Freuden in den Tod gegangen. Ein Tag ohnegleichen in der Weltgeschichte ist vielleicht der, an welchem in Teheran die große Metzelei an den Babisten begangen wurde. »Man sah an diesem Tage in den Straßen und Bazaren von Teheran,« sagt ein Erzähler, der aus der Quelle schöpfte (Gobineaus cit. Werk, S. 301), »ein Schauspiel, das die Bevölkerung wohl nie vergessen wird. Heute noch, wenn davon die Rede ist, kann man die mit Entsetzen vermischte Bewunderung wahrnehmen, welche die Menge empfand und welche mit den Jahren nicht verringert wurde. Zwischen den Henkern sah man Kinder und Frauen dahinschreiten, den Leib mit offenen Wunden bedeckt, in die glimmender Zündschwamm hineingepreßt war. Man schleppte die Opfer an Stricken und trieb sie mit Peitschenhieben an. Kinder und Frauen sangen im Hinschreiten einen Vers, der besagte: ›Wir kommen wahrlich von Gott und kehren zu ihm zurück.‹ Ihre Stimmen erhoben sich laut über die tiefe Stille der Menge. Wenn einer der Gefangenen niederfiel und er mit Peitschenhieben oder dem Bajonett wieder auf die Beine gebracht wurde, so begann er, falls das über alle seine Glieder rieselnde Blut ihm noch Kraft übrig ließ, zu tanzen und in hellster Begeisterung auszurufen: ›Wir sind wahrlich Gottes und kehren zu ihm zurück.‹ Einige Kinder starben während des Weges. Die Henker warfen ihre Leichen deren Vätern und Schwestern zu Füßen, die tapfer darüber fortschritten und ihnen kaum zwei Blicke zuwarfen. Auf der Richtstätte angelangt, wurde den Opfern das Leben angeboten, wenn sie ihren Glauben abschwören wollten. Einer der Henker rief einem Vater zu, er werde dessen beiden Söhnen auf seiner Brust den Hals abschneiden, wenn er nicht nachgäbe. Es waren dies zwei Knaben, von denen der ältere vierzehn Jahre alt sein mochte, und die, von ihrem eigenen Blute gerötet, das Fleisch verbrannt, ruhig diese Reden anhörten. Der Vater warf sich zur Erde und sprach, er sei bereit, während der ältere der Knaben, das Recht der Erstgeburt eifrig für sich heischend, als erster getötet zu werden forderte.Eine andere Einzelheit, die ich aus erster Quelle schöpfte, ist folgende: Einige Sektierer, die man zum Widerruf zwingen wollte, wurden an die Mündung einer Kanone gebunden, an der eine langsam brennende Lunte steckte. Man schlug ihnen vor, sie möchten Bab verleugnen, dann wolle man die Lunte abschneiden. Sie aber erhoben die Arme gegen die Lunte und baten sie, sich zu beeilen, damit ihr Glück bald vollendet werde. Endlich war alles geschehen. Die Nacht fiel auf einen Haufen unförmlicher Leiber. Die Köpfe wurden gebündelt an den Gerichtspfahl gesteckt und die Hunde der Vorstädte kamen herdenweise herbei.«

Dies geschah im Jahre 1852. Die Sekte der Masdak unter Chosroe Nuschirwan wurde in einem ähnlichen Blutbad erstickt. Unbedingte Hingebung ist für naive Naturen der höchste Genuß und eine Art Bedürfnis. Bei den Babi sah man Leute, die kaum erst der Sekte beigetreten waren, sich selbst denunzieren, damit auch sie den Duldern zugesellt würden. Es thut dem Menschen so wohl, für etwas zu leiden, daß in vielen Fällen die Aussicht auf das Märtyrertum genügt, um zum Glauben zu veranlassen. Ein Jünger Babs, der an seiner Seite auf den Wällen von Tabris gehenkt wurde, hatte vor dem Tode nur eines zu sagen: »Bist du mit mir zufrieden, Meister?«

Leute, die alles, was in der Geschichte über den gewöhnlichen Verstand geht, für mirakelhaft und chimärisch betrachten, müssen solche Thatsachen unerklärlich finden. Die Grundbedingung der Kritik jedoch ist, die verschiedenen Zustände des menschlichen Geistes verstehen zu lernen. Der absolute Glaube ist für uns eine vollkommen fremde Sache. Außerhalb der positiven Wissenschaften, die von einer gewissermaßen materiellen Sicherheit sind, ist in unsern Augen jede Meinung nur ein Ungefähr, das einen Teil Wahrheit und einen Teil Irrtum enthält. Der Teil Irrtum sei so klein man wolle, er wird doch niemals auf Null verringert werden können, wo es sich um moralische Dinge handelt, oder in Sachen der Sprache, der Kunst, der litterarischen Form, der Persönlichkeit. Das aber ist nicht die Art und Weise, wie beschränkte und hartnäckige Geister, die Orientalen z. B., etwas in Betracht ziehen. Das Auge dieser Leute ist anders als das unsrige; es ist das starre Emailauge einer Mosaikfigur. Sie können auf einmal nur eine einzige Sache sehen; diese nimmt sie in Besitz, und es ist nicht mehr in ihrer Macht, zu glauben oder nicht zu glauben; es ist in ihnen kein Raum mehr für ein weiteres Denken vorhanden. Für eine derart erfaßte Meinung läßt man sich auch töten. Der Märtyrer ist in der Religion das, was der Parteimann in der Politik ist. Es hat nur wenig sehr intelligente Märtyrer gegeben. Die Bekenner zur Zeit Diokletians mußten nach dem Kirchenfrieden hinderliche und herrschsüchtige Leute sein. Man ist niemals duldsam, wenn man die Überzeugung hegt, daß man unbedingt recht habe und die andern unbedingt unrecht.

Die großen Ketzerverbrennungen, die Folge einer sehr bestimmten Anschauungsweise, wurden derart ein Rätsel für ein Jahrhundert wie das unsrige, in welchem sich die Überzeugungsstrenge abgeschwächt hat. Bei uns modifiziert der aufrichtige Mensch stets seine Meinung, in erster Reihe, weil die Welt sich verändert, in zweiter, weil auch die Beurteilung sich verändert. Wir glauben mehreres gleichzeitig. Wir lieben Gerechtigkeit und Wahrheit, für diese setzen wir unser Leben ein; aber wir geben nicht zu, daß das Gerechte und Wahre nur einer Sekte oder Partei zugehöre. Wir sind gute Franzosen, aber wir bekennen, daß uns die Deutschen, die Engländer in mancher Hinsicht überlegen sind. So ist es nicht in Epochen und Ländern, wo jeder völlig in seiner Gemeinde, Rasse, politischen Schule aufgeht; und das ist der Grund, warum alle großen religiösen Schöpfungen in Gesellschaften stattfanden, deren Geist im allgemeinen mehr oder minder dem des Orients ähnlich ist. Bisher vermochte in der That nur der absolute Glaube den andern sich aufzudrängen. Eine fromme Dienerin in Lyon, Blandine, die sich vor siebzehnhundert Jahren für ihren Glauben töten ließ, ein roher Bandenführer, Clovis, der, es mögen vierzehn Jahrhunderte her sein, es für gut fand, den Katholizismus anzunehmen, machen uns noch heute Gesetze.

Wer wäre noch nicht im Durchwandeln unserer nun modern gewordenen alten Städte am Fuße der riesigen Denkmäler des Glaubens alter Tage stehen geblieben? Ringsum hat sich alles erneuert, nicht eine Spur der Gewohnheiten von einst; nur die Kathedrale ist geblieben, vielleicht ein wenig beschädigt bis zur Höhe, wohin die Menschenhand reicht, aber tief im Boden eingewurzelt. Mole sua stat! Ihre Massigkeit ist ihr Recht. Sie hat der Flut widerstanden, die alles um sie her fortgefegt hat. Keiner der Menschen von früher würde, wenn er zurückkäme, um die Stätte, wo er einst gelebt hat, zu besuchen, sein Haus wiederfinden. Nur der Rabe, der sein Nest auf der Höhe des geheiligten Baus errichtet hat, sah niemals den Hammer an seine Wohnung ansetzen. Seltsame Verjährung! Diese rechtschaffenen Märtyrer, diese rauhen Bekehrten, diese Seeräuber, die Erbauer der Kirchen beherrschen uns noch immer. Wir sind Christen, weil es ihnen beliebt hat, es zu werden. So wie in der Politik nur die barbarischen Institutionen von Dauer sind, so sind in der Religion nur die spontanen und, wenn ich sie so nennen darf, die fanatischen Versicherungen fortpflanzungsfähig. Es kommt daher, weil die Religionen ganz populäre Schöpfungen sind. Ihr Erfolg hängt nicht von den mehr oder minder trefflichen Beweisen ab, die sie von ihrer Göttlichkeit erbringen; ihr Erfolg steht vielmehr im Verhältnis zu dem, was sie dem Herzen des Volkes mitzuteilen haben.

Folgt daraus, daß es die Bestimmung der Religion sei, allmählich zu verschwinden, wie die populären Irrtümer über Magie, Hexerei und Geisterbeschwörung? Die Religion ist kein populärer Irrtum; sie ist eine große instinktive Wahrheit, vom Volk erkannt und vom Volk zum Ausdruck gebracht. Alle Symbole, die dazu dienen, dem religiösen Gefühl einen Ausdruck zu geben, sind unvollkommen, und ihr Geschick ist, eines nach dem andern verworfen zu werden. Aber nichts ist falscher als der Traum mancher Leute, der sich die Menschheit ohne Religion darstellt, wenn sie vervollkommt sein wird. Das Gegenteil müßte er annehmen. China, dessen Menschtum untergeordneter ist, hat fast gar keine Religion. Nehmen wir dagegen einen Planeten an, dessen Menschheit eine doppelt so große intellektuelle, moralische, physische Kraft hätte, als die irdische, so würde diese Menschheit wenigstens auch zweimal religiöser sein als die unsrige. Ich sage »wenigstens«, denn es ist wahrscheinlich, daß die Vermehrung der religiösen Fähigkeiten viel rascher erfolgen würde, als die der intellektuellen, und nicht nach dem einfachen direkten Verhältnis. Nehmen wir eine zehnmal stärkere Menschheit als die unsrige an, und sie wird unendlich mehr religiös sein. Es ist sogar möglich, daß bei diesem Grad der Verfeinerung frei von jeder materiellen Sorge und jedem Egoismus, mit einem vollkommenen Takt und einem göttlich zarten Geschmack ausgestattet, die Niedrigkeit und Nichtigkeit alles dessen, was nicht wahr ist, erkennnend und auch das Gute oder das Schöne – daß ein solcher Mensch nur religiös sein würde, in eine beständige Anbetung versunken, von Ekstase zu Ekstase schwebend, in einem Wirbel von Wonne geboren werden, leben, sterben würde. In der That, der Egoismus, der den Maßstab für die Unterordnung der Wesen bildet, nimmt in demselben Maße ab, in welchem man sich vom Tier entfernt. Ein vollkommenes Wesen würde nicht mehr Egoist sein; es würde ganz religiös sein. Der Fortschritt wird daher die Vergrößerung der Religion zur Wirkung haben und nicht deren Vernichtung oder Verringerung.

Doch es ist Zeit, zu den drei Missionären zurückzukehren, zu Paulus, Barnabas und Johannes Markus, die wir in dem Moment verlassen haben, als sie sich von Antiochien durch das Thor entfernten, welches nach Seleucien führt. In meinem dritten Buche werde ich versuchen, die Spuren dieser Boten der »frohen Botschaft« zu Land und zu Wasser, in Stille und Sturm, durch gute und böse Tage zu verfolgen. Es drängt mich, diese unvergleichliche Epopöe wiederzugeben, diese unendlichen Straßen in Asien und Europa zu zeichnen, längs deren sie die Saat des Evangeliums ausgestreut haben, diese Fluten, welche sie so oft in den verschiedensten Situationen durchkreuzt haben. Die große christliche Odyssee wird beginnen. Schon hat die apostolische Barke ihre Segel gehißt, der Wind bläst und hat nur ein Streben: die Worte Jesu auf seinen Schwingen fortzutragen.

 

Ende.


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