Ernest Renan
Die Apostel
Ernest Renan

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Dreizehntes Kapitel.

Die Idee eines Apostolats der Heiden. – Sankt Barnabas.

Als man in Jerusalem vernahm, was sich in Antiochien zugetragen hatte, war die Aufregung groß (Apostelg. XI, 22 etc.). Trotz des guten Willens einiger der Hauptmitglieder der Kirche von Jerusalem, besonders des Petrus, war das apostolische Kollegium stets mit den kleinlichsten Gedanken beschäftigt. Jedesmal, wenn bekannt wurde, das Evangelium sei Heiden verkündet worden, äußerten sich seitens einiger der Ältesten Zeichen der Unzufriedenheit. Der Mann, der diesesmal über diese erbärmliche Eifersucht siegte und verhinderte, daß die ausschließenden Maximen der »Hebräer« die Zukunft des Christentums zerstörten, war Barnabas. Barnabas war der aufgeklärteste Geist der Gemeinde von Jerusalem. Er war der Führer der freisinnigen Partei, die den Fortschritt und eine allen zugängliche Kirche wollte. Früher schon hatte er viel gethan, um das Mißtrauen gegen Paulus zu beseitigen; jetzt übte er wieder einen großen Einfluß aus. Als Abgeordneter der apostolischen Körperschaft nach Antiochien gesandt, sah er alles, was geschehen war, und billigte es; er erklärte, daß die neue Kirche den Weg, welchen sie nun eingeschlagen habe, verfolgen müsse. Es fanden weiter viele Bekehrungen statt (Apostelg. XI, 22-24). Die lebendige und schöpferische Kraft des Christentums schien sich in Antiochien angesammelt zu haben. Barnabas, dessen Eifer ihn stets zu der Stelle trieb, wo die Thätigkeit am lebhaftesten war, blieb hier. Von nun an soll Antiochien seine Gemeinde sein; von hier aus soll er seine fruchtbare Thätigkeit ausüben. Das Christentum war gegen diesen großen Mann ungerecht, indem es ihn nicht in die erste Reihe seiner Gründer stellte. Alle großen und guten Ideen hatten Barnabas zum Förderer. Die kühne Einsicht des Barnabas bildete ein Gegengewicht zu dem schädlichen Eigensinn der beschränkten Juden, welche die konservative Partei von Jerusalem bildeten.

Eine herrliche Idee keimte zu Antiochien in diesem großen Herzen. Paulus befand sich in Tarsus in einer Ruhe, die für einen so thätigen Menschen eine Folter sein mußte. Seine falsche Stellung, seine Schroffheit, seine übertriebenen Ansprüche hoben einen Teil seiner Vorzüge auf. Er verzehrte sich selbst und blieb beinahe unnütz. Barnabas verstand es, diese in einer ungesunden und gefährlichen Einsamkeit sich verbrauchende Kraft zu seinem wahrhaften Werke zu verwenden. Zum zweitenmale reichte er Paulus die Hand und führte diesen ungestümen Charakter der Brüderschaft zu, die er fliehen wollte. Er selbst ging nach Tarsus, suchte ihn auf und brachte ihn nach Antiochien (Apostelg. XI, 25). Das ist es, was die alten Starrköpfe in Jerusalem nie gethan hätten! Diese große, abstoßende und empfindsame Seele gewinnen; sich den Schwächen, den Launen eines sehr feurigen aber herrischen Menschen fügen; sich ihm unterordnen, ihm durch Selbstverleugnung das Feld für seine Thätigkeit am günstigsten bereiten – das ist sicherlich das Höchste dessen, was die Tugend zu leisten vermag, und das hat Barnabas für Paulus gethan. Der größte Teil des Ruhmes des Paulus kommt von dem bescheidenen Manne her, der ihm in allem vorauseilte, vor ihm zurücktrat, seinen Wert entdeckte und ins Licht stellte, mehr als einmal verhinderte, daß seine Fehler alles verdarben und daß die beschränkten Ideen der andern ihn zur Empörung trieben, der dem unheilbaren Schaden vorbeugte, den die kleinlichen Persönlichkeiten dem Werke Gottes hätten zufügen können.

Ein ganzes Jahr lang waren Barnabas und Paulus zu dieser thätigen Mitarbeiterschaft verbunden (Apostelg. XI, 26). Es war dies eines der glänzendsten und sicherlich auch glücklichsten Jahre im Leben des Paulus. Die fruchtbare Ursprünglichkeit dieser zwei Männer erhob die Kirche von Antiochien zu einer Höhe, die bis dahin keine zweite erreicht hatte. Die Hauptstadt Syriens war einer der Weltpunkte, wo der regste Verkehr stattfand. Die religiösen und socialen Fragen traten, in den Tagen der Römer wie heute, hauptsächlich dort zu Tage, wo eine Anhäufung von Menschen stattgefunden hatte. Eine Art Reaktion gegen die allgemeine Unmoralität, eine Reaktion, die später aus Antiochien die Heimat der Styliten und Einsiedler machte,Libanius, Pro templis , S. 164 etc.; De carcere vinctis , S. 458; Theodoret, Hist. eccl. IV, 28; Joh. Chrysost. Hom. LXXII in Matth. 3 (Bd. VII, S. 705); In Epist. ad Eptes. Hom. VI, 4 (Bd. XI, 44); In I Tim. Hom. XIV, 3 etc. (ebend. S. 628 etc.); Nicephorus XII, 44; Glycas, S. 257, Pariser Ausgabe. war bereits fühlbar. Die gute Lehre fand also in dieser Stadt die besten Bedingungen zum Erfolg, die ihr bisher vorgekommen waren.

Ein Hauptumstand beweist übrigens, daß die Sekte erst zu Antiochien zum vollen Bewußtsein ihrer selbst gekommen ist. In dieser Stadt erhielt sie ihren besonderen Namen. Bisher nannten sich die Anhänger »Gläubige«, »Getreue«, »Heilige«, »Brüder«, »Jünger«; aber einen offiziellen und allgemein gültigen Namen hatten sie nicht. In Antiochien war es, wo der Name »Christianus« gebildet wurde (Apostelg. XI, 26). Die Endung ist lateinisch und nicht griechisch, was anzudeuten scheint, daß der Name von den römischen Behörden als Polizeibenennung geschaffen wurde, in derselben Art wie Herodiani, Pompeiani, Cäsariani.Die Stellen 1 Petri IV, 16 und Jak. II, 7 vgl. mit Sueton, Nero 16 und Tacit. Ann . XV, 44, bestätigen diese Ansicht. S. auch Apostelg. XXVI, 28. – Wohl findet man auch Ἀσιανός (Apostelg. XX, 4; Philo, Leg. 36; Strabo etc.). Aber es scheint, daß dies ein Latinismus sei, ebenso wie Δαλδιανοί und die Namen der Sekten Σιμωνιανοί Κηρινθιανοί Σηθιανοί etc. Die hellenische Ableitung von χριστός wäre χρίστειος gewesen. Es will nichts heißen, die Endung anus als eine dorische Form des griechischen ενος zu bezeichnen; im ersten Jahrhundert war keine Erinnerung dessen mehr vorhanden. Jedenfalls ist sicher, daß ein solcher Name von der heidnischen Bevölkerung gebildet wurde. Er beruht auf einem Mißverständnis, denn es wird dabei angenommen, daß »Christus«, die Übersetzung des hebräischen Meschiah (der Messias), ein Eigenname sei (Tacitus, loc. cit. hält es dafür). So manche, die mit den jüdischen oder christlichen Ideen nicht vertraut waren, mochten durch diesen Namen zu der Meinung verleitet werden, Christus oder Chrestus sei ein noch lebender Parteiführer.Sueton, Claud . 25. Ich werde diese Stelle im nächsten Bande erörtern. Die gewöhnliche Aussprache war thatsachlich auch Chrestiani. ( Corpus inscr. gr. Nr. 2883 d. , 3857 g. , 3857 p. , 3865 l. : Tertul. Apol . 3; Lactantius, Divin inst. IV, 7. Vgl. die französische Form chrestien ).

Die Juden nahmen jedenfalls nicht den von den Römern ihren schismatischen Glaubensgenossen gegebenen Namen zum steten Gebrauch an. (Jak. II, 7 bekundet nur einen augenblicklichen und unbestimmten Gebrauch.) Sie nannten die neuen Sektirer ferner noch »Nazarner« oder »Nazoreer« (Apostelg. XXIV, 5; Tertul. Adv. Marcionem IV, 8), sicherlich weil sie die Gewohnheit hatten, Jesus »Han-Nasari« oder »Hanosri« zu nennen. Dieser Name blieb bis auf den heutigen Tag im ganzen Orient vorherrschend. ( Nesârâ. Die Namen Meschihoio im Syrischen, Mesihi im Arabischen sind verhältnismäßig neu und nach χριστιανός gebildet. Der Name »Galiläer« ist viel jünger. Julian war es, der ihn aufbrachte und damit einen gewissen Spott und eine Verachtung verband. Julian, Epist. VII; Gregor von Nazantius, Orat. IV ( invect. I), 76; St. Cyrillus von Alex., Contra Julien II, 39, Ausg. Spanheim; Philopatris, ein fälschlich Lucian zugeschriebener Dialog, der eigentlich aus der Zeit Julians herrührt, § 12; Theodoret, Hist. eccl. III, 4. Ich glaube, daß bei Epiktet (Arrian, Dissert. IV, 7, 6) und bei Mark Aurel (»Gedanken« XI, 3) dieser Name nicht die Christen bezeichnet, sondern daß er auf die »Sicarier« oder Zeloten, fanatische Jünger des Juda, den Galiläer oder Galoniten, und auf Johann von Geschala sich bezieht.)

Ein wichtiger Moment tritt hier ein. Die Stunde, in der eine neue Schöpfung ihren Namen erhält, ist feierlich, denn der Name ist ein bestimmtes Zeichen der Existenz. Durch den Namen, den ein Einzelwesen oder eine Körperschaft erhält, wird es zu einem Selbst und tritt aus einem andern heraus. Die Bildung des Wortes »Christ« bezeichnet daher den bestimmten Zeitpunkt, in welchem die Kirche Jesu sich vom Judentum sonderte. Noch lange wird man diese beiden Religionen miteinander verwechseln, aber diese Verwechslung soll nur in Ländern stattfinden, wo der christliche Glaube, wenn ich so sagen darf, zurückgeblieben ist. Die Sekte übrigens nahm die für sie gemachte Bezeichnung rasch an und betrachtete sie als einen Ehrentitel (1. Petri IV, 16; Jak. II, 7). Wenn man bedenkt, daß zehn Jahre nach Jesus' Tod seine Religion in der Hauptstadt Syriens schon einen griechischen und einen lateinischen Namen hatte, so muß man über den in so kurzer Zeit erfolgten Fortschritt staunen. Das Christentum ist nun gänzlich dem Mutterschoße entnommen; der wahre Gedanke Jesu hat über die Unentschlossenheit seiner ersten Jünger gesiegt; die Kirche von Jerusalem ist überflügelt worden: das Aramäische, die Sprache Jesu, ist einem Teil seiner Schule unbekannt; das Christentum spricht griechisch; es ist für die Dauer in den starken Wirbel der griechischen und römischen Welt gebracht worden, aus dem es nie wieder heraustreten wird.

Die Thätigkeit, das Gedankenfieber, das sich in dieser jungen Gemeinde entwickelte, muß etwas ganz Ungewöhnliches gewesen sein. Die großen Offenbarungen, » spirites «, waren hier häufig (Apostelg. XIII, 2). Jeder wähnte sich in einer andern Art inspiriert. Die einen waren »Propheten«, die andern »Gelehrte« (Apostelg. XIII, 1). Barnabas, wie sein Name andeutete (s. Seite 121), hatte sicherlich den Rang eines Propheten. Paulus führte keinen besonderen Titel. Man nannte noch unter den Notabilitäten der Kirche von Antiochien: Simon, genannt Niger, Lucius von Cyrene, Menachem, der ein Milchbruder des Herodes Antipas war, folglich ziemlich bejahrt sein mußte (Apostelg. XIII, 1). Alle diese Personen waren Juden. Zu den bekehrten Heiden gehörte vielleicht schon jener Evhode, der zu einer gewissen Zeit den ersten Rang in der Gemeinde von Antiochien eingenommen zu haben scheint. (Euseb., Chron. , im Jahre 43; Hist. eccl. III, 22; Ignat., Epist. ad Antioch. apokr. 7.) Zweifellos waren die Heiden, welche nach der ersten Verkündung beitraten, anfangs etwas untergeordnet; sie vermochten in den öffentlichen Übungen der Glossolalien, im Predigen und Prophezeien nur wenig zu glänzen.

Mitten in dieser hinreißenden Gesellschaft ließ sich Paulus von der Strömung treiben. Später zeigte er sich als Gegner der Glossolalie (1. Kor. XIV ganz), und es ist wahrscheinlich, daß er sie nie geübt hat. Aber er hatte viele Visionen und unmittelbare Offenbarungen (2. Kor. XII, I-5). Wahrscheinlich war es Antiochien,Er versetzt tatsächlich diese Vision vierzehn Jahre vor die Zeit, in der er die zweite Epistel an die Korinther schrieb, die ungefähr vom Jahre 57 herrührt. Es ist jedoch nicht unmöglich, daß er noch in Tarsus war. wo er die große Ekstase hatte, die er mit folgenden Worten erzählt: »Ich kenne einen Mann in Christo, der vor vierzehn Jahren (fand diese Sache körperlich oder außerhalb des Körpers statt? Ich weiß es nicht. Gott weiß es) bis zum dritten Himmel entzückt war.Über diese jüdischen Ideen der übereinanderliegenden Himmel s. Testament der zwölf Patr., Levi 3; Himmelfahrt des Jesaias, VI, 13, VII, 8 und das ganze Buch. Talmud von Babyl. Chagiga 12 b ; Midraschim, Bereschith rabba , Absch. XIX, S. 19c; Schemoth rabba , Absch. XV, S. 115d; Bamidbar rabba , Absch. XIII, S. 218a.; Debarim rabba , Absch. II, S. 253a; Schir haschirim rabba , S. 24d. Und ich weiß, daß dieser Mann (Gott könnte sagen, ob er in einem Körper oder ohne Körper war) bis zum Paradies entzückt war (vgl. Talm. von Bab. Chagiga 14 b ), wo er unvergleichliche Worte vernahm, die keinem Sterblichen erlaubt sind auszusprechen (vgl. Himmelf. Jesaias VI, 15, VII, 3 etc.). Nüchtern und praktisch im allgemeinen, teilte jedoch Paulus die Ideen seiner Zeit hinsichtlich des Übernatürlichen. Wie jeder, glaubte auch er Wunder bewirken zu können (2. Kor. XII, 12; Röm. XV, 19); er hielt es für unmöglich, daß die Gaben des heiligen Geistes, die für ein gemeinschaftliches Recht der Kirche galten, ihm versagt sein sollten (1. Kor. XII ganz).

Aber die von einem so lebhaften Feuer ergriffenen Geister konnten sich nicht mit diesen Chimären einer überwuchernden Frömmigkeit begnügen. Man wandte sich rasch der That zu. Der Gedanke großer, zur Bekehrung der Heiden bestimmter Missionen in Kleinasien zu beginnen, bemächtigte sich aller Köpfe. Wäre ein solcher Gedanke in Jerusalem entstanden, so hätte er sich dort nicht verwirklichen lassen. Die Kirche von Jerusalem war aller Geldmittel entblößt. Ein großes Propaganda-Unternehmen braucht jedoch gewisse Mittel. Nun war aber die ganze gemeinschaftliche Kasse in Jerusalem zur Unterstützung der Armen bestimmt und reichte zuweilen für diesen Zweck gar nicht aus. Von allen Gegenden mußte Beistand geleistet werden, damit diese edlen Bettler nicht vor Hunger sterben.Apostelg. XI, 29, XXIV, 17; Gal. II, 10; Röm. XV, 26; 1. Kor XVI, 1; 2. Kor. VIII, 4, 14, IX, 1, 12. Der Kommunismus hatte in Jerusalem ein unheilbares Elend und eine völlige Unfähigkeit zu großen Unternehmungen herbeigeführt. Die Gemeinde von Antiochien kannte diese Plage nicht. In den profanen Städten waren die Juden zum Wohlstand, manchmal sogar zu großen Reichtümern gelangt (Jos. Ant. XVIII, 6, 3, 4 , XX, 5, 2 ); Gläubige mit einem ziemlich beträchtlichen Besitz waren der Gemeinde beigetreten. Antiochien war es, welches die Kapitalien zur Gründung des Christentums geliefert hatte. Man begreift, welchen Unterschied an Sitten und Geist schon dieser Umstand allein zwischen beiden Gemeinden hervorrufen mußte. Jerusalem blieb die Stadt der Armen Gottes, der Ebionim, der frommen galiläischen Träumer, die trunken, fast betäubt von dem verheißenen Himmelreich waren (Jak. II, 5 etc.). Antiochien, fast fremd dem Worte Jesu, das es nie vernommen hatte, war die Kirche der That, des Fortschritts. Antiochien war die Stadt des Paulus; Jerusalem die Stadt des alten apostolischen Kollegiums, versenkt in seine Träume, machtlos den neuen Problemen gegenüber, die sich eröffneten, aber im Glanze seines unvergleichlichen Vorrechts und reich durch seine unschätzbaren Erinnerungen.

Ein Umstand eben sollte alle diese Züge bald ans Licht stellen. Der Mangel an Voraussicht war dermaßen in dieser armen hungerigen Gemeinde von Jerusalem vorhanden, daß der geringste Unfall die Verbindung dem Verderben nahe brachte. Nun kann in einem Lande, wo die ökonomische Organisation gleich Null ist, wo der Handel nur wenig entwickelt und die Quellen des Wohlstandes nur spärlich fließen, die Hungersnot nicht ermangeln sich einzustellen. Es gab eine solche fürchterliche im vierten Jahre der Regierung des Claudius, im Jahre 44.Apostelg. XI, 28; Jos. Ant. XX, 2, 6 , 5, 2 ; Euseb. Hist. eccl II, 8, 12. Vgl. Apostelg. XII, 20: Tacit. Ann. . XII, 43; Sueton, Claudius 18; Dio Cassius LX, 11; Aurelius Victor, Caes. 4; Euseb. Chron. Jahr 43 u.s.w. Während der Regierung des Claudius fand beinahe alljährlich im Reiche eine teilweise Hungersnot statt. Als die Anzeichen derselben fühlbar wurden, faßten die Ältesten zu Jerusalem den Beschluß, die Brüder der reicheren Gemeinden in Syrien um Beistand anzugehen. Eine Gesandtschaft jerusalemitischer Propheten kam nach Antiochien (Apostelg. IX, 27 etc.). Einer von ihnen, namens Agab, dem eine besondere Sehergabe zugesprochen wurde, fühlte sich plötzlich vom Geist ergriffen und kündigte die nahende Geisel an. Die Gläubigen von Antiochien waren von den Übeln, welche die Mutterkirche betroffen, der sie sich noch tributpflichtig hielten, sehr gerührt. Eine Sammlung wurde vorgenommen, zu der jeder nach seinem Vermögen beitrug. Barnabas wurde beauftragt, das Ergebnis den Brüdern von Judäa zu überbringen.Die Apostelg. (XI, 30, XII, 25) läßt Paulus diese Reise mitmachen. Allein Paulus erklärte, daß er zwischen seinem ersten zweiwöchigen Aufenthalt und seiner Reise in der Beschneidungsangelegenheit nicht nach Jerusalem gekommen sei. (Gal. II, 1, wenn man den allgemeinen Argumenten des Paulus hier Rechnung trägt.) S. Einleitung Seite 25. Jerusalem soll noch lange die Hauptstadt des Christentums bleiben. Dort sind die einzigen Heiligtümer vereint, nur dort giebt es Apostel (Gal. I, 17-19). Aber ein großer Schritt ist gethan. Mehrere Jahre lang gab es nur eine vollständig organisierte Gemeinde, die zu Jerusalem, der absolute Mittelpunkt des Glaubens, von dem alles Leben ausging, wohin alles Leben zurückfloß. Jetzt ist es anders geworden. Antiochien ist eine vollständige Kirche. Sie hat die ganze Hierarchie der Gaben des heiligen Geistes. Die Missionen ziehen von hier aus fort (Apostelg. XIII, 3, XV, 36, XVIII, 23) und kehren hierher zurück (Apostelg. XIV, 25, XVIII, 22). Sie ist eine zweite Hauptstadt, oder richtiger ein zweites Herz mit seiner eigenen Thätigkeit, und dessen Kraft nach jeder Richtung hin wirkt.

Von jetzt an läßt es sich auch leicht voraussehen, daß die zweite Hauptstadt die erste bald überflügeln werde. Der Verfall der Kirche von Jerusalem erfolgte in der That sehr rasch. Es ist das Eigentümliche der auf Kommunismus gegründeten Institutionen, daß sie einen glänzenden ersten Moment haben, denn der Kommunismus setzt stets eine große Exaltation voraus; aber sie entarten bald, weil der Kommunismus der menschlichen Natur entgegen ist. Im Tugenddrang wähnt der Mensch sich der Selbstsucht und des Eigennutzes gänzlich entäußern zu können; die Selbstsucht rächt sich, indem sie beweist, daß die absolute Uneigennützigkeit viel ernstere Übel schafft als die, welche man durch Abschaffung des Eigentums vermieden glaubt.


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