Ernest Renan
Die Apostel
Ernest Renan

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Zweites Kapitel.

Abreise der Jünger von Jerusalem. – Zweites galiläisches Leben Jesu.

Der lebhafteste Wunsch derer, die ein teueres Wesen verloren haben, ist der, die Orte wieder zu sehen, wo sie mit ihm geweilt haben. Zweifellos war es auch dieses Gefühl, welches einige Tage nach den Ereignissen von Ostern die Jünger veranlaßte nach Galiläa zurückzukehren. Vom Moment der Verhaftung Jesu und unmittelbar nach seinem Tode ist es wahrscheinlich, daß bereits mehrere den Weg nach der Nordprovinz genommen hatten. Im Augenblick der Auferstehung hatte sich ein Gerücht verbreitet, wonach man ihn in Galiläa wiedersehen werde. Einige der Frauen, die an dem Grabe gewesen waren, kehrten zurück und erzählten, ein Engel habe ihnen gesagt, daß Jesus ihnen bereits nach Galiläa vorausgezogen sei (Matth. XXVIII, 7; Mark. XVI. 7). Andere sagten, Jesus sei es gewesen, der ihnen geboten habe sich dahin zu begeben (Matth. XXVIII, 10). Manchmal glaubte man auch sich zu erinnern, daß er es bei Lebzeiten gesagt habe (Matth. XXVI, 32; Mark. XIV, 28). Sicher ist nur, daß nach etlichen Tagen, vielleicht nach dem vollständigen Abschluß des Osterfestes, die Jünger wähnten einen Befehl erhalten zu haben, nach ihrer Heimat zurückzukehren und thatsächlich auch dahin zogen.Matth. XXVIII, 16; Joh. XXI, Luk. XXIV 49,50,52 u. Apostelg. I, 3,4, sind hier im entschiedenen Widerspruch mit Mark. XVI, 1-8 u. Matth. Der zweite Schluß bei Mark. (XVI, 9 etc.) und selbst die beiden andern, die keinen Teil des giltigen Textes bilden (s. Seite 53) scheinen nach dem System des Lukas gebildet worden zu sein. Dies jedoch hat kein Übergewicht gegenüber der Übereinstimmung der synoptischen Überlieferung mit dem vierten Evangelium und selbst, indirekt, mit Paulus (1. Kor. XV, 5-8). Vielleicht auch, daß die Visionen in Jerusalem schwächer wurden. Eine Art Heimweh erfaßte sie. Die kurzen Erscheinungen Jesu genügten nicht, um die gewaltige Leere auszugleichen, die seine Abwesenheit zurückgelassen hatte. Sie gedachten in melancholischem Gefühle des Sees und der schönen Berge, wo sie das Reich Gottes verspürt hatten (Matth. XXVIII, 16). Besonders die Frauen wollten um jeden Preis nach dem Lande zurückkehren, wo sie sich so viel Glücks erfreut hatten. Es sei bemerkt, daß der Befehl abzuziehen hauptsächlich von ihnen herrührt (Matth. XXVIII, 7; Mark. XVI, 7). Diese verhaßte Stadt bedrückte sie; sie sehnten sich nach dem Lande, wo sie ihn, den sie liebten, besaßen, und waren im vorhinein fest überzeugt ihn dort wieder zu finden.

Die meisten der Jünger zogen daher voll Freude und Hoffnung fort, vielleicht in Gesellschaft jener Karawane, welche die Pilger des Osterfestes heimführte. Was sie in Galiläa zu finden hofften, sollten nicht blos vorübergehende Visionen sein, sondern Jesus selbst, in einer Weise fortgesetzt, wie sie vor seinem Tode stattgefunden hatte. Eine ungeheuere Erwartung erfüllte ihre Seelen. Sollte er das Reich Israel erneuern, die Herrschaft Gottes endgiltig begründen und, wie man sagte, »seine Gerechtigkeit offenbaren«?Schluß Mark. in Hieronymus, Adv. Pelag. II. Alles war möglich. Sie vergegenwärtigten sich bereits die lachenden Fluren, wo sie sich seiner erfreut hatten. Mehrere glaubten, daß er ihnen diese Zusammenkunft auf einem Berg bestimmt habe, wahrscheinlich derselbe, an dem ihre teuersten Erinnerungen hafteten (Matth. XXVIII, 16). Zweifellos erfolgte niemals eine Reise froher als diese. Alle ihre Träume von Glück standen vor der Verwirklichung. Sie zogen hin, ihn zu sehen!

Sie sehen ihn auch in der That. Kaum ihren friedlichen Chimären hingegeben, wähnten sie sich wieder in der vollen evangelischen Periode zu befinden. Man war gegen Ende des Monats April. Der Boden ist da mit roten Anemonen übersät, die wahrscheinlich jene »Lilien vom Felde« sind, von denen Jesus seine Vergleiche zu ziehen liebte. Auf Schritt und Tritt fand man seine Worte wieder, wie an tausend Zufälligkeiten des Weges angeheftet. Hier der Baum, die Blume, das Saatkorn, woraus er eine Parabel geschaffen; hier der Hügel, wo er seine rührendste Rede hielt, hier der Kahn, wo er lehrte! Es war wie ein schöner wieder begonnener Traum, wie eine verlorene und wiedergefundene Illusion. Das Entzücken scheint wieder geboren zu sein. Das süße galiläische »Reich Gottes« nimmt wieder seinen Lauf. Diese durchsichtige Luft, diese Morgenstunden am Gestade oder auf dem Berge, diese auf dem See vollbrachten Nächte, um den Fischfang zu beobachten, ließen wieder die Visionen erstehen. Sie sahen ihn überall, wo sie einst mit ihm zusammen waren. Zweifellos, es war dies nicht die Freude des Genusses zu jeder Zeit. Manchmal mußte ihnen der See recht einsam vorkommen. Aber die große Liebe begnügt sich mit wenigem. Wenn wir alle, wie wir sind, auch nur einmal im Jahr im raschen Vorüberzug einen Augenblick lang die geliebten Wesen, die wir verloren haben, sehen könnten, nur für einen Augenblick, lang genug, um zwei Worte wechseln zu können: dann wäre der Tod nicht mehr der Tod!

Dies war der Seelenzustand der treuen Schar in dieser kurzen Periode, in der das Christentum einen Moment zu seiner Wiege zurückzukehren schien, um ihr ein ewiges Lebewohl zu sagen. Die Hauptjünger Petrus, Thomas, Nathanael, die Söhne des Zebedäus fanden sich am Ufer des Sees wieder und lebten fortan zusammen (Joh. XXI, 2 etc.); sie nahmen ihren alten Fischerberuf zu Bethsaida oder Kapernaum wieder auf. Die galiläischen Frauen waren zweifellos mit ihnen. Sie hatten mehr als irgendwer zu dieser Rückkehr angeeifert, die für sie ein Herzensbedürfnis war. Es war ihr letztes Wirken bei der Gründung des Christentums. Von diesem Augenblick an sieht man sie nicht mehr erscheinen.Der Verfasser der Apostelg. I, 14, versetzt sie bei der Himmelfahrt nach Jerusalem. Dies kommt jedoch von seiner systematischen Annahme (Luk. XXIV, 49; Apostelg. 1-4), daß nach der Auferstehung keine Reise nach Galiläa stattgefunden habe (ein System, dem Matth. und Joh. widersprechen). Um dem treu sein zu können, ist er genötigt die Auferstehung nach Bethanien zu verlegen, im Widerspruch mit allen andern Traditionen. Ihrer Liebe getreu, wollten sie nicht das Land verlassen, wo sie ihre höchste Freude verspürt hatten. Man vergaß sie bald; und da das galiläische Christentum keine Nachfolge hatte, verlor sich ihr Andenken vollständig in gewissen Zweigen der Tradition. Diese rührenden Besessenen, diese bekehrten Sünderinnen, diese wahren Gründerinnen des Christentums, Maria Magdalena, Maria Kleophas, Johanna, Susanna, gingen in den Zustand der verlassenen Heiligen über. Paulus kennt sie nicht (1. Kor. XV, 5 etc.). Der von ihnen geschaffene Glaube setzte sie fast in Schatten. Man muß bis zum Mittelalter hinabsteigen, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu sehen; die eine von ihnen, Maria Magdalena, nimmt da ihre Hauptstelle im christlichen Himmel ein.

Die Visionen am Ufer des Sees scheinen ziemlich häufig vorgekommen zu sein. Wie hätten die Jünger auf diesen Fluten, wo sie Gott berührt hatten, ihren göttlichen Freund nicht wiedersehen sollen? Die einfachsten Umstände wiesen sie darauf hin. Einmal hatten sie die ganze Nacht gerudert, ohne auch nur einen einzigen Fisch zu fangen; plötzlich aber füllten sich die Netze – das war ein Wunder. Es schien ihnen, als ob ihnen jemand vom Ufer her zugerufen hätte: »Werft euere Netze nach der rechten Seite!« Petrus und Johannes blickten einander an: »Das war der Herr,« sagte Johannes. Petrus, der nackt war, bedeckte sich in aller Eile mit seiner Tunika und warf sich ins Meer, um sich mit dem unsichtbaren Ratgeber zu vereinigen.Joh. XXI, 1 etc. Dieses Kapitel wurde dem bereits vollendeten Evangelium als Nachschrift zugefügt. Aber es ist derselben Herkunft wie der andere Text. – Dann wieder kam Jesus einige Male, um an ihren einfachen Mahlzeiten teilzunehmen. Eines Tages nach Schluß des Fischfangs waren sie erstaunt, angezündete Kohlen, einen darauf liegenden Fisch und daneben Brot vorzufinden. Eine lebhafte Erinnerung an ihre Mahlzeiten in der vergangenen Zeit ging durch ihren Geist. Brot und Fisch waren stets deren wesentliche Bestandteile.

Jesus hatte die Gewohnheit ihnen davon anzubieten. Sie waren nach der Mahlzeit überzeugt, daß Jesus neben ihnen gesessen und ihnen diese Speisen geboten habe, die für sie bereits eucharistisch und geweiht waren.Joh. XXI, 9-14; vgl. Luk. XXIV, 41-43. Johannes vereinigte zu einer einzigen die Scenen vom Fischfang und dem Mahle. Aber Lukas gruppiert die Dinge anders. Wer da aufmerksam die Verse Joh XXI, 14. 15, liest, der wird sich jedenfalls überzeugen, daß die Verbindungen des Johannes hier ein wenig künstlich sind. Hallucinationen sind im Augenblick ihres Wesens stets vereinzelt. Erst später bildet man daraus sich entwickelnde Anekdoten. Diese Art Thatsachen, die durch Wochen oder Monate voneinander gesondert sind, zu verbinden, zeigt sich in überraschender Weise, wenn man zwei Stellen desselben Schriftstellers vergleicht: Luk. Evang. XXIV, Schluß und Apostelg. I, Anfang. Nach der ersteren Stelle soll Jesus noch am Tage der Auferstehung in den Himmel aufgestiegen sein, nach letzterer bestand ein Zeitraum von vierzig Tagen dazwischen. Wollte man auch Mark. XVI, 9-20 ganz genau nehmen, so würde die Himmelfahrt am Abend der Auferstehung stattgefunden haben. Nichts beweist besser, als dieser Widerspruch des Lukas an diesen beiden Stellen, daß die Schriftordner der evang. Schriften sich um die Verbindung ihrer Erzählungen wenig kümmerten.

Hauptsächlich Johannes und Petrus waren es, die durch diesen intimen Verkehr mit dem innig geliebten Phantom begünstigt wurden. Eines Tages glaubte Petrus, vielleicht im Traume (doch, was sage ich! ihr Leben an diesen Ufern, war es nicht ein fortwährendes Träumen!) Jesus zu hören, der ihn fragte: »Liebst du mich?« Die Frage wiederholte sich dreimal. Petrus, von einem Gefühl zarter Wehmut erfüllt, bildete sich ein zu antworten: »Ach ja, Herr, du weißt, daß ich dich liebe.« Und jedesmal sagte dann die Erscheinung: »Weide meine Schafe!« (Joh. XXI, 15). Ein anderes Mal teilte Petrus dem Johannes im Vertrauen einen seltsamen Traum mit. Ihm hatte geträumt, er sei mit dem Meister spazieren gegangen. Einige Schritte hinter ihnen ging Johannes. Jesus sprach mit ihm in sehr dunkeln Ausdrücken, die Petrus Gefängnis oder gewaltsamen Tod zu verkünden schienen und wiederholte verschiedene Male: »Folge mir!« Petrus, mit dem Finger auf Johannes weisend, fragte dann: »Und jener, Herr?« – Jesus antwortete: »So ich will, daß er weile, bis ich komme, was kümmert es dich? Folge mir!« Nach der Hinrichtung des Petrus erinnerte sich Johannes dieses Traumes und betrachtete ihn als Voraussagung der Todesart seines Freundes. Er erzählte ihn seinen Jüngern und diese glaubten darin die Versicherung zu finden, daß ihr Meister nicht vor der letzten Wiederkehr Jesu sterben werde (Joh. XXI, 18 etc.).

Diese großen melancholischen Träume, diese ununterbrochenen, mit dem geliebten Toten erneuten Unterhaltungen, füllten Tage und Monde aus. Die Sympathie der Galiläer für den von den Jerusalemiten getöteten Propheten erwachte wieder. Schon hatten sich mehr als fünfhundert Personen um das Angedenken Jesu geschart (1. Kor. XV, 6). In Ermanglung des Meisters gehorchten sie seinen berechtigtsten Jüngern, besonders Petrus. Als eines Tages im Gefolge ihrer geistigen Führer die getreuen Galiläer einen jener Berge erstiegen hatten, wohin sie Jesus oft geführt hatte, wähnten sie ihn wieder zu sehen. Die Luft auf jenen Höhen ist voll von seltsamen Spiegelungen. Dieselbe Illusion, die einst für die vertrautesten Jünger stattgefunden hatte, zeigte sich wieder. Die versammelte Menge glaubte das göttliche Gespenst im Äther sich abzeichnen zu sehen; alle warfen sich auf ihr Antlitz und beteten es an (Matth. XXVIII, 16-20; 1. Kor. XV, 6, vgl. Mark. XVI, 15 etc.; Luk. XXIV, 44 etc.). Das Gefühl, das der klare Horizont auf diesen Höhen einflößt, ist der Begriff von der Unermeßlichkeit der Welt und die Begierde sie zu erobern. Auf einer dieser benachbarten Bergspitzen wies Satan auf die Königreiche der Erde und ihre ganze Macht hin und hat, wie man sagt, sie Jesus angeboten, wenn er sich ihm ergeben wollte. Dieses Mal war es Jesus, der von der Höhe der geheiligten Gipfel seinen Jüngern die ganze Erde wies und ihnen die Zukunft sicherte. Sie stiegen von dem Berge hinab, überzeugt, daß der Gottessohn ihnen den Befehl erteilt habe, das menschliche Geschlecht zu bekehren, daß er ihnen versprochen habe bis an das Ende aller Zeiten bei ihnen zu weilen. Ein eigentümlicher Eifer, ein göttliches Feuer erfüllte sie am Schlusse dieser Unterhaltung. Sie betrachteten sich als die Missionäre der Welt, fähig alle Wunder zu vollführen. Der heilige Paulus sah mehrere derer, welche diesem außerordentlichen Vorgang beigewohnt hatten. Nach fünfundzwanzig Jahren war der Eindruck noch so stark und lebendig, wie am ersten Tage (1. Kor. XV, 6).

Fast ein Jahr entschwand in diesem zwischen Himmel und Erde schwebenden Leben.Johannes beschränkt nicht die Dauer des Lebens Jesu außerhalb des Grabes. Er scheint eine recht lange angenommen zu haben. Nach Matthäus währte sie nicht länger als die Zeit, die nötig war, nach Galiläa zu ziehen und sich auf den von Jesus bezeichneten Berg zu begeben. Nach dem ersten, unvollendeten Schluß von Markus (XVI, 1-8) würden sich, wie es scheint, die Sachen so zugetragen haben, wie bei Matthias. Nach dem zweiten Schluß (XVI, 9-20), nach anderen (s. Seite 53, Note) und nach Lukas scheint das Leben außerhalb des Grabes nur einen Tag gewährt zu haben. Paulus (1. Kor. XV, 5-8), in Übereinstimmung mit dem vierten Evangelium, verlängert es um Jahre, da seine Vision, die mindestens fünf bis sechs Jahre nach Jesus Tod stattgefunden hatte, als die letzte der Erscheinungen gilt. Der Umstand der »fünfhundert Brüder« führt zu derselben Annahme, denn es dünkt nicht wahrscheinlich, daß am Tage nach Jesus Tod die Gruppe seiner Freunde stark genug gewesen wäre, um eine solche Versammlung ergeben zu können (Apostelg. I, 15). Mehrere gnostische Sekten, besonders die Valentianer und die Sethier schätzten die Dauer der Erscheinung auf achtzehn Monate und gründeten darauf sogar die mystischsten Theorien (Iren. Adv. haer. I, 3, 2; XXX, 14). Nur der Verfasser der Apostelg. (I, 3) bestimmt die Dauer des Lebens Jesu außerhalb des Grabes auf vierzig Tage. Dies jedoch ist eine gar schwache Autorität, besonders wenn man in Betracht zieht, daß sie sich einem irrigen System ergiebt (Luk. XXIV, 49, 50, 52; Apostelg. I, 4, 12), nach welchem das ganze Leben außerhalb des Grabes in Jerusalem und dessen Umgebung vollbracht worden sein sollte. Die Zahl 40 ist symbolisch (das Volk verbleibt 40 Jahre in der Wüste; Moses 40 Tage auf dem Sinai; Elias und Jesus fasteten während 40 Tagen etc.). Was die Form der vom Verfasser des dritten Evangeliums angenommenen Erzählung der letzten zwölf Sätze betrifft, eine Form, nach der die Umstände auf einen Tag zusammengedrängt sind, s. Anmerkung S. 71, Note. Die Autorität von Paulus, die älteste und stärkste von allen, welche die Beweiskraft des vierten Evangeliums stärkt, das für diesen Teil der evangelischen Geschichte den größten Zusammenhang und die größte Wahrscheinlichkeit besitzt, scheint uns ein entscheidendes Argument zu liefern. Dessen Reiz, weit entfernt abzunehmen, vermehrte sich noch. Es ist das Eigentümliche alles Großen und Heiligen sich stets zu vergrößern und zu reinigen. Das Gefühl für eine geliebte Person, die man verloren hat, ist in einiger Entfernung fruchtbringender als an dem Tage nach dem Tode. Je mehr man sich davon entfernt, je kräftiger wird dieses Gefühl. Die Traurigkeit, die anfangs herrscht und, in gewissem Sinne sich verminderte, verwandelt sich in frohe Frömmigkeit. Das Bild des Verblichenen verklärt sich, idealisiert sich, wird die Seele des Lebens, die Grundlage jeder Handlungsweise, die Quelle jeder Freude, das Orakel zur Beratung, der Trost, den man in den Momenten der Niedergeschlagenheit sucht. Der Tod ist die Bedingung jeder Apotheose. Jesus, so geliebt während seines Lebens, war es nach seinem letzten Seufzer noch mehr, oder vielmehr sein letzter Seufzer wurde der Beginn seines wahren Lebens im Schoße seiner Kirche. Er wurde der innere Freund, der Vertraute, der Weggenosse, der, welcher sich an der Wendung des Weges mit dir vereint, der folgt, sich mit dir zu Tische setzt, und sich im Schwinden zu erkennen giebt (Luk. XXIV, 31). Der absolute Mangel an wissenschaftlicher Strenge im Geiste des neuen Gläubigen machte, daß man über die Beschaffenheit seines Daseins keine Fragen stellte. Man stellte sich ihn als leidenslos, mit einem zarten Körper versehen vor, durch verschlossene Pforten schreitend, bald sichtbar, bald unsichtbar, aber stets lebend. Manchmal dachte man, sein Körper sei nicht materiell, sondern nur schattenhaft oder scheinhaft gewesen (Joh. XX, 19, 26). Dann wieder wurde ihm die Stofflichkeit, Fleisch, Knochen zugesprochen; mit naivem Bedenken und als ob die Hallucinationen sich vor sich selbst hätten schützen wollen, läßt man ihn essen, trinken; man wollte wissen, daß er sich habe berühren lassen.Matth. XXVIII, 9; Luk. XXIV. 37 etc.; Joh. XX, 27 etc., XXI, 5 etc.; Evang. der Heb. im heil. Ignatius, Epistel an die Smyrnäer 3, und heil. Hieronymus de viris ill. 16. Die Begriffe über diesen Punkt wogten in der vollständigsten Unbestimmtheit hin und her. Bisher haben wir kaum daran gedacht eine müßige und unlösliche Frage zu stellen. Während Jesus in wirklicher Weise auferstand, das heißt, im Herzen derjenigen, die ihn liebten; während die unverrückliche Überzeugung der Apostel sich bildete und der Glaube der Welt sich vorbereitete – wo mögen während dessen die Würmer den leblosen Leib verzehrt haben, der am Samstag Abend in das Grab gelegt wurde, diese Frage wird stets unbeantwortet bleiben, denn natürlicherweise können uns die christlichen Traditionen nicht die geringste Auskunft darüber geben. Der Geist ist es, der belebt, das Fleisch ist nichts (Joh. VI, 64). Die Auferstehung war der Triumph des Gedankens über die Realität. Ist einmal die Idee in ihre Unsterblichkeit getreten, was liegt dann noch an dem Körper?

Gegen das Jahr 80 oder 85, als der gegenwärtige Text des ersten Evangeliums seine letzten Zusätze erhielt, hatten die Juden hinsichtlich dessen schon eine gefestete Meinung (Matth. XXVIII, 11-15; Justin, Dial. cum Tryph ., 17, 108). Wollte man ihnen glauben, so wären die Jünger während der Nacht gekommen und hätten den Leichnam gestohlen. Das christliche Bewußtsein war entrüstet über dieses Gerücht und um diesen Einwand zu beseitigen, erfand es den Umstand mit dem Wächter und des an die Gruft gelegten Siegels (Matth. XXVII, 62-66, XXVIII, 4, 11). Dieser Umstand, der sich nur im ersten Evangelium vorfindet, vermengt mit den Legenden einer sehr schwachen Autorität, ist keineswegs annehmbar.Matth. XXVIII, 2 etc. – Es wird Matth. XXVII, 63 angenommen, die Juden wußten, daß Jesus seine Auferstehung vorher verkündet habe. Indes hatten bezüglich dessen selbst die Jünger keine bestimmte Vorstellung. S. Anmerkung S. 49. Allein die Erklärung der Juden, obgleich unwiderlegbar, ist keineswegs befriedigend. Man kann kaum annehmen, daß diejenigen, die so völlig den Glauben hatten, daß Jesus auferstanden sei, dieselben wären, die den Leichnam fortgenommen hatten. Wie unbestimmt bei diesen Leuten die Reflexion auch gewesen sein mag: man erfindet kaum eine so seltsame Täuschung. Man darf nicht vergessen, daß die kleine Gemeinde in diesem Moment vollständig zerstreut war. Es gab keine Verbindung, keine Centralisation, keine regelmäßige Öffentlichkeit. Die Glaubensanschauungen entstanden zerstreut, dann verbanden sie sich so gut es anging. Die Widersprüche zwischen den uns überlieferten Darstellungen der Vorfälle von Sonntag morgens beweisen, daß sich die Gerüchte durch sehr verschiedene Kanäle verbreiteten und daß man sich um die Übereinstimmung nicht viel kümmerte. Es ist möglich, daß der Leib von einigen der Jünger fortgenommen und nach Galiläa gebracht wurde (ein unbestimmtes Gefühl dessen kann man bei Matthäus finden: XXVI, 32, XXVIII, 7, 10; Mark. XIV, 28, XVI, 7). Die andern, die in Jerusalem verblieben waren, hatten keine Kenntnis von der Sache. Anderseits mögen die Jünger, die den Leib nach Galiläa gebracht hatten, anfangs nichts von den Erzählungen gewußt haben, die sich in Jerusalem bildeten, so daß der Glaube an die Auferstehung sich hinter ihnen bildete und sie schließlich überrascht hatte. Sie mögen keinen Widerspruch erhoben haben, und selbst wenn sie es gethan hätten, so würde das nichts zu bedeuten gehabt haben. Wenn es sich um Wunder handelt ist eine verspätete Berichtigung nicht zulässig. Dies ließ sich bei den Mirakeln von La Salette und Lourdes erkennen. – Eine der gewöhnlichsten Arten der Bildung mirakelhafter Legenden ist folgende: Von einer heiligen Person glaubt man, daß sie Heilung verschaffen kann. Man bringt ihr einen Kranken, der sich zufolge der Erregung erleichtert fühlt. Am nächsten Tage erzählt man zehn Meilen in der Runde, ein Wunder habe stattgefunden. Der Kranke stirbt fünf oder sechs Tage später; niemand jedoch spricht davon und während seine Beerdigung stattfindet, wird von seiner Heilung bereits bis auf vierzig Meilen Entfernung voll Bewunderung gesprochen. – Das dem griechischen Philosophen zugeschriebene Wort von dem Exvoto von Samothraka (Diog. Laërt. VI, 2, 59) hat seine vollständige Richtigkeit. Niemals verhindert eine materielle Schwierigkeit die Entwickelung eines Gefühls und die Entstehung der Fiktionen, deren letzteres bedarf. Eine derartige, und noch auffallendere Erscheinungen kommen alljährlich in Jerusalem vor. Die griechischen Orthodoxen behaupten, daß das Feuer, welches am Samstag vor den griechischen Ostern an dem heiligen Grabe von selbst sich entzünde, die Sünden derjenigen auslösche, die es über ihr Gesicht führen, und daß es nicht verbrenne. Tausende von Pilgern machen dieses Experiment und wissen dabei recht gut, daß es sie brenne (die Gesichtsverzerrungen verbunden mit dem Brandgeruch beweisen das genügend); nichtsdestoweniger hat sich noch keiner gefunden, der dem Glauben dieser orthodoxen Kirche widersprochen hätte. Es wäre dies ein Eingeständnis des Mangels an Glauben, daß man des Wunders unwürdig sei, und, o Himmel! eine Anerkennung, daß die Lateiner die wahre Kirche bilden. Denn dieses Wunder wird von den Griechen als Beweis erachtet, daß ihre Kirche die einzig gute sei.Die Angelegenheit von La Salette vor dem Civiltribunal zu Grenoble (Beschluß vom 2. Mai 1855) und vor dem Gerichtshof zu Grenoble (Beschluß vom 6. Mai 1857), Verteidigungsreden der Herren Jules Favre und Bethmont., gesammelt von J. Sabbatier (Grenoble, Vellot, 1857). In der neueren Geschichte des Mirakels von La Salette wurde der Irrtum mit voller Beweiskraft nachgewiesen;Celsus schon machte über diesen Gegenstand treffliche kritische Bemerkungen (in Orig. contra Celsum II, 55). dies jedoch hinderte nicht, daß die Basilika sich erhob und der Glaube herbeieilte.

Es ließe sich auch annehmen, daß das Verschwinden des Leichnams eine That der Juden war. Vielleicht glaubten sie dadurch den tumultuarischen Scenen zuvorzukommen, die über den Leichnam eines so volkstümlichen Mannes, wie Jesus war, entstehen konnten. Vielleicht wollten sie verhindern, daß man ihm ein geräuschvolles Begräbnis bereite, und daß sich über diesem Gerechten ein Grab erhebe. Schließlich, wer weiß, ob nicht das Verschwinden des Leichnams eine That des Gartenbesitzers oder des Gärtners bildete?Unwillkürlich denkt man da an Maria von Bethanien, die thatsächlich am Sonntag Morgen keine bestimmte Rolle hatte. (Sollte Joh. XX, 15, einen Lichtstrahl darüber enthalten?) Dieser Eigentümer stand aller Wahrscheinlichkeit nach der Sekte fern (vgl. S. 53). Man wählte seine Höhle, weil sie die nächste von Golgatha war und man Eile hatte (Johannes sagt dies ausdrücklich (XIX, 41,42). Vielleicht war er mit dieser Besitznahme unzufrieden und ließ den Leichnam entfernen. Offen gesagt, die im vierten Evangelium angeführten Einzelheiten, wie das zurückgelassene Leichentuch, das sorgsam zusammengefaltete und in einen Winkel gelegte Schweißtuch (Joh. XX, 6, 7) stimmen mit einer derartigen Hypothese nicht recht überein. Dieser letztere Umstand ließe annehmen, daß eine weibliche Hand hier heimlich gewirkt habe. Die fünf Erzählungen von dem Besuch der Frauen an dem Grabe sind so konfus und verwickelt, daß es uns sicherlich nicht ferne steht zu vermuten, irgend ein Mißverständnis stecke dahinter. Das weibliche Gewissen, beherrscht durch die Leidenschaft, ist der sonderbarsten Illusionen fähig. Oft ist es an seinen eigenen Träumereien beteiligt.Celsus schon machte über diesen Gegenstand treffliche kritische Bemerkungen (in Orig. contra Celsum II, 55).

Um dergleichen Vorfälle als Wunder zu betrachten betrügt niemand freiwillig, aber jedermann wird ohne daran zu denken dahingeführt, zuzustimmen. Maria Magdalena war, nach der Sprache jener Zeit, von »sieben Teufeln besessen« (Mark. XVI, 9; Luk. VIII, 2). Man muß bei all diesem die geringe Geistesschärfe der Frauen im Orient in Betracht ziehen, ihren absoluten Mangel an Erziehung und die besondere Färbung ihrer Aufrichtigkeit. Die exaltierte Überzeugung macht jede Rückkehr zu sich selbst unmöglich. Wenn man den Himmel überall sieht, wird man dahin gebracht, sich hie und da an die Stelle des Himmels zu setzen.

Ziehen wir einen Schleier über diese Geheimnisse. In den Zuständen religiöser Krisen, wo alles als göttlich betrachtet wird, können aus den unbedeutendsten Ursachen die größten Wirkungen hervorgehen. Wären wir Zeugen der befremdenden Thatsachen, die sich beim Ursprung aller Glaubenswerke finden, so würden wir Umstände bemerken, die uns nicht mit der Wichtigkeit der Ergebnisse im Verhältnis zu stehen scheinen, andere, die uns lächeln machen. Unsere alten Domkirchen zählen zu den schönsten Dingen der Welt; man kann nicht eintreten ohne gewissermaßen betäubt von deren Unendlichkeit zu sein. Indes sind die prächtigen Wunderwerke fast immer das Ergebnis irgend eines kleinen Betrugs. Was liegt auch schließlich daran? Das Resultat allein zählt bei diesen Dingen. Der Glaube reinigt alles. Der materielle Zwischenfall, der an die Auferstehung glauben ließ, war nicht die wirkliche Ursache des Zwischenfalls. Was Jesus auferstehen ließ, das war die Liebe. Diese Liebe war so mächtig, daß ein kleiner Zufall genügte, um den Bau des allgemeinen Glaubens zu errichten. Wäre Jesus weniger geliebt gewesen, hätte der Glaube an seine Auferstehung weniger Grund zu seiner Entstehung gehabt, so hätten derlei Zufälligkeiten immerhin sich einstellen mögen: es wäre nichts aus ihnen hervorgegangen. Ein Sandkorn führt den Sturz des Berges herbei, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Die größten Dinge haben gleichzeitig die größten und die kleinsten Ursachen. Die großen Ursachen sind die einzig wahren; die kleinen bestimmen nur das Erscheinen einer seit langem vorbereiteten Wirkung.


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