Ernest Renan
Die Apostel
Ernest Renan

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Viertes Kapitel.

Herabsteigen des heiligen Geistes. – Ekstatische und prophetische Erscheinungen.

Klein, beschränkt, unwissend waren die Jünger Jesu, wie man es nur sein kann. Ihre Geisteseinfalt ging bis zum Äußersten; ihre Leichtgläubigkeit hatte keine Grenzen. Aber sie hatten eine Eigenschaft: sie liebten ihren Meister bis zur Thorheit. Die Erinnerung an Jesu blieb das einzig Bewegliche ihres Lebens; es war eine fortwährende Besessenheit und es ist klar, daß sie einzig nur von dem leben würden, das sie während zwei oder drei Jahren so stark an sich angezogen und gefesselt hatte. Für untergeordnete Seelen, die Gott nicht unmittelbar lieben können, d. h. Wahres finden, Schönes schaffen, durch sich selbst Gutes thun, ist es das Heil jemand zu lieben, in welchem ein Strahl des Wahren, Schönen und Guten leuchtet. Die meisten Menschen bedürfen eines doppelgradigen Kultus. Die Menge der Anbeter will einen Vermittler zwischen sich und Gott.

Ist es einer Person gelungen durch ein hehreres moralisches Band mehrere andere Personen an sich zu fesseln und stirbt diese Person, so kommt es immer vor, daß die Überlebenden, die bis daher durch Eifersüchteleien und Meinungsverschiedenheiten voneinander getrennt waren, die besten Freunde werden. Tausend teure Bilder der Vergangenheit bilden ihren gemeinschaftlichen Schatz. Auch das bekundet die Liebe für den Toten, wenn man diejenigen liebt, mit denen man ihn verbunden wußte. Man strebt, sich zu vereinen, um sich der entschwundenen glücklichen Tage zu erinnern. Ein tiefes Wort Jesu (Matth. XVIII, 20) erfüllt sich dann buchstäblich: der Tote ist in der Mitte derjenigen Personen anwesend, die sich im Gedenken seiner versammeln.

Die Neigung, welche die Jünger während Jesu Leben füreinander hatten, verzehnfachte sich nach seinem Tode. Sie bildeten eine kleine zurückgezogene Gesellschaft, die nur für sich lebte. Es befanden sich ihrer in Jerusalem etwa hundertundzwanzig.Apostelg. I, 15. Die Mehrzahl der »fünfhundert Brüder« war zweifellos in Galiläa verblieben. Die Äußerung Apostelg. II, 14 ist sicherlich eine Übertreibung oder wenigstens eine Anticipation. Ihre Frömmigkeit war lebhaft und noch ganz von den Formen der jüdischen Frömmigkeit umschlossen. Der Tempel war der große Ort ihrer Verehrung (Luk. XXIV, 53; Apostelg. II,46; vgl. Luk. II, 37; Hegesippus, in Euseb. Hist. eccl. II, 23). Zweifellos erwarben sie sich ihren Lebensbedarf durch Arbeit, aber die Handarbeit der damaligen jüdischen Gesellschaft beschäftigte nur sehr wenig. Jeder hatte da sein Handwerk, was keineswegs hinderte, daß einer ein unterrichteter oder gut erzogener Mensch war. Bei uns sind die materiellen Bedürfnisse so schwer zu befriedigen, daß einer, der von seiner Hände Arbeit lebt, verpflichtet ist, täglich zwölf bis fünfzehn Stunden zu arbeiten; nur der Müßige kann sich mit den Angelegenheiten der Seele beschäftigen; die Erwerbung von Kenntnissen ist eine seltene und teuere Sache. Aber in diesen alten Gesellschaften, von denen der Orient von heute uns noch eine Vorstellung zuläßt, in diesem Klima, wo die Natur so verschwenderisch dem Menschen giebt und so wenig fordert, hatte das Leben des Arbeiters viele Mußestunden. Eine Art gemeinschaftlicher Unterricht machte jeden mit den laufenden Ideen seiner Zeit vertraut. Nahrung und Kleidung waren ausreichend (5. Mos. X, 18; 1. Tim. VI, 8); man konnte sie sich mit einigen Stunden mäßigen Arbeitens verschaffen. Der Rest gehörte dem Traum, der Leidenschaft. Die Leidenschaft hatte in diesen Seelen einen für uns unbegreiflich hohen Grad der Energie erreicht. Die Juden jener Zeit (s. Geschichte des jüd. Krieges von Josephus) scheinen uns wie wahre Besessene, jeder blindlings dem Antrieb der Idee, die ihn beherrschte, gehorchend.

Der vorherrschende Gedanke in der christlichen Gemeinschaft war in dem Moment, von dem hier die Rede ist und wo die Erscheinungen aufgehört hatten, die Ankunft des heiligen Geistes. Man wähnte ihn in einem geheimnisvollen Hauche, der vorüberzog, zu erhalten. Viele glaubten, es sei der Hauch von Jesus selbst (Joh. XX, 22). Jede innere Tröstung, jede Bewegung des Mutes, jeder Aufschwung der Begeisterung, jedes Gefühl froher und sanfter Heiterkeit, das man empfand, ohne zu wissen woher, war das Werk des heiligen Geistes. Diese guten Gemüter führten, wie immer, die in ihnen entstandenen zarten Gefühle auf eine äußere Ursache zurück. Besonders die Versammlungen waren es, wo diese seltsamen Erscheinungen von Erleuchtungen zum Vorschein kamen. Als alle versammelt waren und im Schweigen die Inspiration von oben erwartet wurde, ließ ein Murmeln, ein zufälliges Geräusch, die Ankunft des heiligen Geistes annehmen. In der ersten Zeit waren es die Erscheinungen Jesu, die sich derart hervorbrachten. Jetzt aber hatte sich der Gedankengang verändert. Es war der göttliche Geist, der über die kleine Gemeinde ging und sie mit himmlischen Ausflüssen erfüllte.

Diese Gläubigkeit stand mit Ansichten, die aus dem Alten Testament entnommen waren, in Verbindung. In den hebräischen Büchern wird der prophetische Geist als ein Hauch geschildert, der den Menschen durchdringt und verzückt. In der schönen Vision des Elias (1. Kön. XIX, 11, 12) zieht Gott als leichter Hauch vorüber, der nur ein leises Rauschen hervorbringt. Diese alten Bilder hatten in früheren Epochen Glaubensansichten geschaffen, die denen unserer heutigen Spiritisten ähnlich waren. In der »Himmelfahrt des Jesaias« (dieses Werk scheint zu Beginn des zweiten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung entstanden zu sein) wird die Ankunft des Geistes von einem gewissen Thürknarren begleitet (VI, 6 etc. äthiop. Übers.). Häufig, fast immer, galt diese Ankunft als zweite Taufe, nämlich als »Taufe des heiligen Geistes«, die viel höher stand als die Taufe Johannes (Matth. III, 11; Mark. I, 8; Luk. III, 16; Apostelg. I, 5, XI, 16, XIX, 4; 1. Joh. V, 6 ec). Die Hallucinationen des Gefühls kamen sehr häufig bei Personen vor, die ebenso nervös wie exaltiert waren. Der geringste Lufthauch, begleitet von einem Geräusch, inmitten der Stille, wurde als Vorüberziehen des Geistes betrachtet. Der eine glaubte zu fühlen; bald fühlten alle (vgl. Misson, Le théâtre sacré des Cévennes , London 1707, S. 103) und der Enthusiasmus teilte sich nach und nach mit. Die Analogie dieser Erscheinungen mit denen, die man bei allen Visionären aller Zeiten findet, ist leicht zu begreifen. Sie äußern sich täglich, teils unter dem Einfluß des Lesens der Apostelgeschichte, bei den englischen und amerikanischen Sekten der Quäker, Jumper, Shäker, Irvingianer ( Revue des deux mondes . Sept. 1853, S. 966 ec.), bei den Mormonen (Jules Remy, Voyages au pays des Morm. Paris 1860, Buch II und III, z. B. Band I S. 259, 260, Band II S. 470 ec.) in den »Camp-Meetings« und den »Revivals« von Amerika (Astié, Le réveil relig. des États-Unis , Lausanne 1859). Man sah sie bei uns in der Sekte der sogenannten »Spiritisten« wieder erscheinen. Aber ein gewaltiger Unterschied muß gemacht werden zwischen Abirrungen ohne Ziel und Zukunft und den Illusionen, welche die Begründung eines neuen religiösen Gesetzbuches für die Menschheit begleitet haben.

Unter allen diesen »Herabsteigungen des Geistes,« die ziemlich häufig vorgekommen zu sein scheinen, war eine, die in der werdenden Kirche einen tiefen Eindruck zurückließ (Apostelg. II, 1–3; Justin. Apol . I, 50). Eines Tages, als die Brüder versammelt waren, brach ein Gewitter los. Ein heftiger Wind, riß die Fenster auf; der Himmel war feurig. Die Gewitter werden in diesen Ländern von starken Lichtentwickelungen begleitet; die Atmosphäre ist wie von allen Seiten von Feuergarben durchfurcht. Sei es, daß das elektrische Fluidum in das Gemach selbst gedrungen, sei es, daß ein leuchtender Blitz plötzlich aller Antlitz erhellte: man war überzeugt, daß der Geist eingetreten, daß er sich über dem Haupt eines jeden in Gestalt von Feuerzungen niedergelassen habe (der Ausdruck »Feuerzunge« bedeutet im Hebräischen einfach nur Flamme (Jesai. V, 24), vgl. Verg. Aen. II, 682–684). Es war eine in der theurgischen Schule von Syrien verbreitete Meinung, daß die Äußerung des Geistes durch ein göttliches Feuer in Form eines mysteriösen Glanzes geschehe (Jamblichus De myst. , Absch. III, Kap. 6 stellt diese ganze Theorie der leuchtenden Herabsteigungen des Geistes dar). Man glaubte allem Glanz des Sinai beigewohnt zu haben, einer göttlichen Offenbarung, gleich der von einstigen Tagen.Vgl. Talmud von Babylon, Chagiga 146; Midraschim, Schir hasschirin rabba S. 10 b; Ruth rabba S. 42 a; Koheleth rabba S. 87 a. Die Taufe des heiligen Geistes wurde von nun ab auch eine Feuertaufe. Die Taufe des Geistes und des Feuers wurden der Wassertaufe entgegengestellt, der einzigen, die Johannes kannte, und ihr vorgezogen (Matth. III, 11; Luk. III, 16). Die Feuertaufe äußerte sich nur bei seltenen Gelegenheiten. Die Apostel allein und die Jünger der ersten Verbindung sollen sie erhalten haben. Aber der Begriff, daß der Geist sich in Gestalt von Feuerflammen, ähnlich glühenden Zungen, auf sie verbreitet habe, gab einer Reihe der seltsamsten Gedanken Ursprung, die eine bedeutende Stelle unter den Imaginationen jener Zeit einnehmen.

Die Zunge des inspirierten Menschen sollte angeblich eine Art Sakrament empfangen. Man behauptete, daß mehrere Propheten vor ihrer Mission stotterten (2. Mos. IV, 10, vgl. Jerem. I, 6), daß der Engel Gottes ein Stück Kohle über ihre Lippen geführt habe, wodurch diese gereinigt und mit der Beredsamkeit begabt wurden (Jes. VI, 5 etc.; vgl. Jer. I, 9). Es wurde auch angenommen, daß bei der Predigt der Mann nicht aus sich selbst heraus spreche (Luk. XI, 12; Joh. XIV, 26). Seine Zunge galt als das Organ der Gottheit, die sie inspirierte. Diese Feuerzungen erschienen nun als ein auffallendes Symbol. Man hielt sich überzeugt, daß Gott dermaßen zeigen wollte, er habe seine köstlichsten Gaben der Beredsamkeit und der Begeisterung auf die Apostel ergossen. Aber man blieb bei diesem Punkt nicht stehen. Jerusalem war, wie die meisten großen Städte des Orients, eine Stadt, in der verschiedene Sprachen gesprochen wurden. Die Mannigfaltigkeit der Sprachen war eine der Schwierigkeiten, die sich hier für die Propaganda eines allgemeinen Charakters vorfand. Eines der Dinge übrigens, das die Apostel beim Beginn einer Verkündung, die bestimmt war die ganze Welt zu umfassen, am meisten erschreckte, war die Zahl der Sprachen, die dort gesprochen wurden; unaufhörlich legten sie sich die Frage vor, wie sie so viele Dialekte erlernen sollten. »Die Gabe der Sprachen« wurde zu einer Art wundervollen Vorrechtes. Man glaubte die Verkündung des Evangeliums von dem Hindernis befreit, das von der Mannigfaltigkeit der Sprachen geschaffen wurde. Man bildete sich ein, daß bei einigen feierlichen Anlässen jeder der Anwesenden die apostolische Verkündung in seiner eigenen Sprache vernommen habe, mit anderen Worten, daß die apostolische Rede sich jedem von selbst übersetzt habe.Apostelg. II, 5 etc. Das ist der wahrscheinlichste Sinn der Erzählung, obgleich sie auch bezeichnen kann, daß jedes der Idiome durch jeden der Prediger besonders gesprochen wurde. Andere Male ließ sich dies in einer etwas verschiedenen Weise auffassen. Man sprach den Aposteln die Gabe zu, durch göttliche Eingießung alle Idiome zu kennen und beliebig zu sprechen.Apostelg. II, 4; vgl. 1. Kor. XII, 10, 28, XIV, 21, 22. Bezüglich ähnlicher Imaginationen f. Calmeil, De la folie I , S. 9, 262, II, S. 357 etc.

Es lag darin ein liberaler Gedanke; man wollte sagen, das Evangelium habe keine eigene Sprache, es sei in alle Idiome übersetzbar und die Übersetzung sei dem Original gleichwertig. Das war jedoch nicht das Gefühl des orthodoxen Judaismus. Das Hebräische war für den jerusalemitischen Juden die »heilige Sprache«; kein Idiom konnte damit verglichen werden. Die Bibelübersetzungen wurden nur wenig geschätzt: während der hebräische Text mit größter Genauigkeit erhalten wurde, konnte man sich bei den Übersetzungen Änderungen und Milderungen erlauben. Die Juden von Egypten und die Hellenisten von Palästina übten wirklich ein höchst tolerantes System aus; sie verwendeten das Griechische zu den Gebeten (Tal. von Jerus. Sota 21 b ) und lasen gewöhnlich die griechische Übersetzung der Bibel. Aber der erste christliche Gedanke ging noch weiter: dieser Idee nach hatte das Wort Gottes keine eigene Sprache; es ist frei und ledig jeder Fessel des Idioms; es giebt sich freiwillig und ohne Dolmetsch jedem hin. Die Leichtigkeit, mit der sich das Christentum von dem semitischen Dialekt lossagte, den Jesus gesprochen hatte; die Freiheit, mit der es zuerst jedem Volke überließ, sich seine Liturgie, seine Bibelübersetzung im nationalen Dialekt zu schaffen, stand mit dieser Art von Sprachenemanzipation im Zusammenhang. Es galt allgemein, daß der Messias alle Sprachen und alle Völker zur Einheit verbinden werde (Test. der zwölf Patr., Juda 25). Die gemeinschaftliche Benutzung und die Vermischung der Sprachen war der erste Schritt zu dieser großen Ära allgemeinen Friedens.

Übrigens formte sich bald die Gabe der Sprachen beträchtlich um und schloß mit den seltsamsten Wirkungen. Die Exaltation der Köpfe führte die Ekstase und die Prophezeiung herbei. In diesen Augenblicken der Ekstase brachte der vom Geist ergriffene Gläubige unartikulierte, unzusammenhängende Töne hervor, die man für Worte einer fremden Sprache hielt und naiv zu erklären versuchte (Apostelg. II, 4, X, 44 etc., XI, 15, XIX, 6; 1. Kor. XII–XIV). Dann wieder glaubte man, der Verzückte spreche neue, bisher unbekannte Sprachen, oder selbst die Sprache der Engel. Die wunderlichen Scenen, die Mißbräuche herbeiführten, verallgemeinerten sich erst später (1. Kor. XII, 28, 30, XIV, 2 etc.). Es ist jedoch wahrscheinlich, daß sie sich von den ersten Jahren des Christentums an äußerten. Die Visionen der alten Propheten waren oft von Erscheinungen nervöser Erregung begleitet (1. Sam. XIX, 23). Der dithyrambische Zustand der Griechen hatte Thatsachen derselben Art als Folge; die Pythia bediente sich mit Vorliebe dieser fremden oder veralteten Ausdrücke, welche, wie in den apostolischen Erscheinungen »Zungen« genannt wurden (Plutarch, De Pythiae oraculis 24; vgl. die Weissagung der Kassandra im »Agamemnon« von Aeschylos). Viele Schlagwörter des ursprünglichen Christentums, die eben aus zwei Sprachen oder durch Anagramme gebildet wurden, wie »Abba pater,« »Anathema Maranatha« (1. Kor. XII, 3, XVI, 22; Röm. VIII, 15) waren vielleicht aus diesen seltsamen Zuständen hervorgegangen, untermischt mit Seufzern (Röm. VIII, 23,26,27), halblautem Flehen, Gebeten, Bitten und plötzlichem Auffahren, was man für prophetisch hielt. Es war wie eine unbestimmbare Musik der Seele, die sich durch undeutliche Töne äußerte, und die die Zuhörer durch Bilder und bestimmte Worte zu übersetzen versuchten; oder vielmehr wie Gebete des heiligen Geistes, der sich an Gott wendet, in einer Sprache, die nur Gott kennt und nur Gott zu erklären vermag (1. Kor. XIII, 1, XIV, 7 etc. – Röm. VIII, 26,27). Der Ekstatische verstand in der That nicht das, was er ausrief, wie er überhaupt kein Bewußtsein hatte (1. Kor. XIV, 13, 14, 27 etc.) Man lauschte begierig und man lieh diesen unzusammenhängenden Sylben Gedanken, die einem plötzlich einfielen. Jeder berief sich auf seine eigene Mundart und versuchte naiver Weise die unverständlichen Laute durch das zu erklären, was er sprachlich verstand. Dies geschah immer mit mehr oder minderem Erfolg, denn der Zuhörer legte diesen abgerissenen Worten den Sinn dessen unter, was er auf dem Herzen hatte.

Sprache galt den naiven Völkern immer als ein unverständliches Stammeln. S. Jesaias XXVIII, 11, XXXIII, 19; 1. Kor. XIV, 21. – 1. Kor. XIII, 1, wenn das Vorhergehende in Betracht gezogen wird.

Die Geschichte begeisterter Sekten ist reich an derartigen Thatsachen. Die Prediger der Cevennen boten mehrere Fälle der »Glossolalie«.Jurieu, Lettres pastorales 3. Jahrg. 3. Br. Mission, Le théâtre sacré des Cévennes , S. 10, 14, 15, 18, 19, 22. 31, 32, 36, 37, 65, 66, 68, 70, 93, 104, 109, 126, 140. Brueys, Hist. du fanatisme (Montpellier 1709) I, S. 145 etc. Flechier, Lettres chois. (Lyon 1734) I, S. 353 etc. Aber die auffälligste ist die der schwedischen »Leser« um die Zeit von 1841–1843.Karl Hase, Kirchengeschichte, §439 und 458, 5. – Die protest. Zeitschrift »L'Espérance« , 1. Apr. 1847. Unwillkürliche Worte, die für die Sprecher keinen Sinn hatten, begleitet von Zuckungen und Ohnmächten, waren lange Zeit eine tägliche Übung dieser kleinen Sekte. Sie wurden ganz ansteckend und eine ziemlich große Volksbewegung schloß sich daran. Bei den Irvingianern erscheint das Phänomen der Sprachen mit Zügen, welche den Darstellungen der Apostelgeschichte und des heiligen Paulus auffallend ähnlich sind.M. Hohl, »Bruchstücke aus dem Leben und den Schriften Ed. Irvings«, (St. Gallen 1839), S. 145, 149 etc. – Karl Hase, »Kirchengeschichte« § 458,4. – Was die Mormonen betrifft, s. Remy, »Voyage« I, S. 176, 177, Anmerk.; 259, 260; II, S. 55 etc. Was die Zuckerer von Saint Medard betrifft, s. hauptsächlich Carré de Montgeron »La verité sur les miracles etc.« (Paris 1737–1741) II, S. 18, 19, 49, 54, 55, 63, 64, 80 etc. Unser Jahrhundert hat täuschende Scenen ähnlicher Art gesehen, deren hier nicht weiter gedacht werden soll; denn es ist immer ungerecht, die mit einer großen religiösen Verbindung unerläßlich verbundene Leichtgläubigkeit mit einer Leichtgläubigkeit zu vergleichen, die nur die Geistesflachheit zur Ursache hat.

Diese fremdartigen Erscheinungen traten zuweilen nach außen hervor. Ekstatiker, in dem Augenblick selbst, wo sie die Beute ihrer bizarren Erleuchtungen waren, wagten hervorzutreten und sich der Menge zu zeigen. Man hielt sie für Betrunkene (Apostelg. II, 13, 15). Obgleich, was den Mystizismus betrifft, nüchtern, hatte doch Jesus in seiner Person mehr als einmal die gewöhnlichen Erscheinungen der Ekstase gezeigt (Mark. III, 21 etc.; Joh. X, 20 etc., XII, 27 etc.). Während zwei oder drei Jahren waren die Jünger mit diesen Ideen beschäftigt. Der Prophetismus kam häufig vor und wurde als eine Gabe, ähnlich der Sprachen betrachtet (Apostelg. XIX, 6; 1. Kor. XIV 3 etc.). Das Gebet, gemengt mit Zuckungen, kadenzartigen Betonungen, mystischen Seufzern, lyrischem Enthusiasmus, Dankliedern, wurde zur täglichen Übung (Apostelg. X, 46; 1. Kor. XIV, 15, 16, 26). Eine reiche Ader von »Gesängen,« »Psalmen,« »Hymnen,« Nachahmungen des Alten Testaments, wurde dermaßen erschlossen. Bald begleiteten sich Mund und Herz gegenseitig; bald sang das Herz allein, innerlich begleitet von der Gnade (1. Kor. XIV, 15; Kol. III, 16; Eph. V, 19). Da keine Sprache die neuen hervorgebrachten Empfindungen wiedergab, gab man sich einem unbestimmten Stottern hin, kindisch und hehr zugleich, in welchem das, was man »die christliche Sprache« nennen könnte, im embryonalen Zustande sich bewegte. Das Christentum, das in den alten Sprachen kein für seine Bedürfnisse geeignetes Instrument finden konnte, vernichtete sie. Aber bis die neue Religion eine geeignete Ausdrucksweise fand, sind Jahrhunderte dunkeln Bemühens und der Verschwommenheit vergangen. Der Stil des heiligen Paul und im allgemeinen der, der Schriftsteller des Neuen Testaments, was ist er anderes als die unterdrückte, keuchende, ungeformte Improvisation der »Glossolalie?« Die Sprache reichte nicht aus. Wie die Propheten, begannen sie mit dem Lallen des Kindes (Jerem. I, 6). Sie konnten nicht sprechen. Das Griechische und das Semitische ließen sie in gleicher Weise im Stich. Daher diese enorme Gewalt, welche das werdende Christentum der Sprache anthat. Es war wie bei einem Stotterer, in dessen Mund die Töne erstickt werden, sich stoßen, um mit einer konfusen aber völlig ausdrucksvollen Pantomime zu schließen.

Dies alles war von dem Gefühle Jesu weit entfernt; aber für diese vom Glauben an dem Übernatürlichen durchdrungenen Geister hatten diese Erscheinungen eine große Bedeutung. Die Gabe der Sprache besonders wurde als ein wesentliches Zeichen der neuen Religion betrachtet und als Beweis für deren Wahrheit (Mark. XVI, 17). Jedenfalls ergab dies bedeutende Früchte der Erbauung. Mehrere Heiden wurden dadurch bekehrt.1. Kor. XIV, 22. Πνευμα in den Episteln Pauli wird oft mit δύναμις in Verbindung gebracht. Die δυνάμεις betrachtet, d. h. als Wunder. Bis zum dritten Jahrhundert offenbarte sich die »Glossolalie« auf eine ähnliche Weise, wie sie der heilige Paulus beschrieben und wurde als ein dauerndes Wunder betrachtet (Iren. Adv. haer. V, 6, 1. Tertullian Adv. Marcion V, 8; Constit. apost. VIII, 1). Einige erhabene Worte des Christentums sind aus diesen unterbrochenen Seufzern hervorgegangen. Die allgemeine Wirkung war rührend und durchdringend. Diese Art, seine Inspirationen der Allgemeinheit mitzuteilen und sie der Deutung der Gemeinde zu überlassen, mußte zwischen den Gläubigen ein festes Band der Brüderlichkeit schaffen.

Wie alle Mystiker führten auch die neuen Sektierer ein strenges, mit Fasten verbundenes Leben (Luk. II. 37; 2. Kor. VI, 5, XI, 27). Gleich den meisten Orientalen, aßen sie wenig, was dazu beitrug, sie in Aufregung zu halten. Die Mäßigkeit des Syrers, die Ursache seiner körperlichen Schwäche, versetzte ihn in einen dauernden Zustand des Fiebers und der nervösen Empfindlichkeit. Unsere gewaltigen geistigen Anstrengungen sind mit einer solchen Lebensweise unvereinbar. Aber diese Schwächung des Gehirns und der Muskeln führt ohne ersichtlichen Grund einen lebhaften Wechsel von Trauer und Freude herbei, welche die Seele in steter Beziehung zu Gott erhält. Was »die göttliche Traurigkeit« genannt wurde (2. Kor. VII, 10) galt als himmlische Gabe. Die ganze Lehre der Väter des geistigen Lebens, des Johannes Klimakos, Basilius, Nilus, Arsenius; alle Geheimnisse der großen Kunst des inneren Lebens, einer der glorreichsten Schöpfungen des Christentums, waren als Keim in dem seltsamen Seelenzustand vorhanden, durch den in ihren Monaten ekstatischen Erwartens diese berühmten Vorfahren und alle »Männer des Erwartens« hindurchgingen. Ihr moralischer Zustand war seltsam: sie lebten im Übernatürlichen; sie handelten nur durch Visionen; die Träume, die unbedeutendsten Dinge schienen ihnen Winke des Himmels zu sein (Apostelg. VIII, 26 etc., X ganz, XVI, 6, 7, 9 etc. Vgl. Luk. II, 27 etc.).

Unter dem Namen Gaben des Heiligen Geistes verbargen sich derart die seltensten und vorzüglichsten Ergüsse der Seele, Liebe, Frömmigkeit, respektvolle Furcht, Seufzen ohne Ursache, plötzliche Niedergeschlagenheit, freiwillige Zartheit. Alles Gute, was im Menschen ward, ohne daß der Mensch hiezu beitrug, wurde einem Hauch von oben zugesprochen. Besonders die Thränen galten für eine himmlische Gunst. Diese reizende Gabe, ein Vorrecht nur der sehr guten und sehr reinen Seelen, äußerte sich mit unendlicher Weichheit. Man weiß, welche Kraft die zarten Naturen, besonders Frauen, aus der göttlichen Fähigkeit, viel weinen zu können, schöpfen. Es ist ihr Gebet und sicherlich das heiligste der Gebete. Man muß bis in das tiefe Mittelalter hinabsteigen, zu dieser von Thränen ganz durchtränkten Frömmigkeit des heiligen Bruno, des heiligen Bernhard, des heiligen Franz von Assisi, um die keusche Melancholie der ersten Tage wiederzufinden, wo man in Wahrheit in Thränen säte, um in Freuden ernten zu können. Weinen wurde zu einem Akt der Frömmigkeit. Diejenigen, die weder predigen, noch in Zungen reden konnten, noch Wunder verrichten, weinten. Man weinte im Beten, im Predigen, im Ermahnen (Apostelg. XX, 19, 31; Röm. VIII, 23, 26). Das Reich der Thränen war gekommen. Man hätte sagen sollen, daß die Seelen sich verschmolzen und im Mangel einer Sprache, welche ihre Gefühle wiedergeben konnte, sich nach außen hin durch einen lebhaften und abgekürzten Ausdruck ihres ganzen innern Wesens verbreiten wollten.


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