Ernest Renan
Die Apostel
Ernest Renan

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Drittes Kapitel.

Rückkehr der Apostel nach Jerusalem. – Ende der Periode der Erscheinungen.

Die Erscheinungen indes, wie es während der Bewegungen enthusiastischer Leichtgläubigkeit vorzukommen pflegt, begannen sich zu vermindern. Die populären Imaginationen gleichen ansteckenden Krankheiten; sie stumpfen sich rasch ab und wechseln die Form. Die Thätigkeit der glühenden Seelen wandte sich bald einer anderen Seite zu. Was man aus dem Munde des teuern Auferstandenen zu vernehmen wähnte, war der Befehl dahinzuwandeln, zu predigen, die Welt zu bekehren. Wo beginnen? Natürlich in Jerusalem (Luk. XXIV, 47). Die Rückkehr nach Jerusalem wurde nun von denjenigen beschlossen, die in diesem Momente die Sekte leiteten. Da solche Reisen gewöhnlich in Karawanen, zur Zeit der Feste gemacht wurden, so läßt sich mit Wahrscheinlichkeit annehmen, daß die Rückkehr, um die es sich hier handelt, zur Zeit des Laubhüttenfestes Ende des Jahres 33, oder zu Ostern des Jahres 34 stattgefunden habe.

Galiläa wurde daher von dem Christentum verlassen, für immer verlassen. Die kleine Gemeinde, die hier verblieb, bestand ohne Zweifel noch, aber man hörte nicht mehr von ihr sprechen. Wahrscheinlich wurde sie, wie alles andere, durch das fürchterliche Mißgeschick zermalmt, welches das Land während des Krieges mit Vespasian betroffen hatte. Die Überreste der zerstreuten Gemeinde flüchtete sich jenseits des Jordans. Nach dem Krieg war es nicht das Christentum, das nach Galiläa zurückkehrte; es war der Judaismus. Im zweiten, dritten und vierten Jahrhundert ist Galiläa ein ganz jüdisches Land, der Mittelpunkt des Judaismus, das Land des Talmud.Über den Namen »Galiläer«, der den Christen gegeben wurde, s. 13. Kapitel. Galiläa zählte also nur eine Stunde in der Geschichte des Christentums; aber dies war eine besonders heilige Stunde, sie gab der neuen Religion das, was ihr Dauer verschaffte; ihre Poesie, ihren durchdringenden Reiz. »Das Evangelium« nach der Art der Synoptiker war ein galiläisches Werk. Nun aber will ich später versuchen zu zeigen, daß »das Evangelium«, so verstanden, die Hauptursache des Erfolgs des Christentums war, und die sicherste Bürgschaft seiner Zukunft bleibt.

Es ist wahrscheinlich, daß ein Bruchteil der kleinen Schule, die Jesus in seinen letzten Tagen umgab, in Jerusalem verblieben ist. Im Moment der Trennung war der Glaube an die Auferstehung bereits begründet. Dieser Glaube entwickelte sich daher von zwei Seiten her mit einer merklich verschiedenen Physiognomie, und das ist ohne Zweifel die Ursache der vollständigen Divergenz, die sich in den Darstellungen von den Erscheinungen bemerkbar macht. Zwei Traditionen, die eine galiläisch, die andere jerusalemitisch, bildeten sich. Nach der einen fanden alle Erscheinungen (ausgenommen die des ersten Moments) in Galiläa statt, nach der andern geschahen alle zu Jerusalem.Matthäus ist ausschließlich Galiläer; Lukas und der zweite Markus, XVI, 9–20, sind ausschließlich Jerusalemiter. Johannes vereinigt beide Traditionen. Paulus (1. Kor. XV, 5-8) nimmt auch Erscheinungen auf sehr entlegenen Punkten an. Möglich, daß die Vision der »500 Brüder« des Paulus, die wir mittelst Konjektur mit denen »vom Berge Galiläas« des Matthias identifiziert haben, eine jerusalemitische Vision ist. Die Übereinstimmung der beiden Fraktionen der kleinen Kirche über das Grunddogma bestätigt natürlicherweise nur den gemeinschaftlichen Glauben. Man umarmte sich in demselben Glauben; man rief einander begeistert zu: »Er ist auferstanden!« Vielleicht, daß die Freude und der Enthusiasmus, welche die Folgen dieser Begegnung waren, einige andere Visionen herbeiführten. Diese Zeit ist es, in die man die von Paulus erwähnte »Vision des Jakobus« versetzen kann.1. Kor. XV, 7. Man kann sich das Stillschweigen der vier kanonischen Evangelien über diese Vision nur in Verbindung einer Epoche, die diesseits des Rahmens ihrer Darstellung liegt, erklären. Die chronologische Ordnung der Visionen, auf der Paulus mit so viel Bestimmtheit beharrt, führt zu demselben Resultate.

Jakobus war der Bruder, oder wenigstens ein Verwandter Jesu. Man erkennt nicht, ob er Jesus bei seinem letzten Aufenthalt zu Jerusalem begleitet habe. Er kam wahrscheinlich mit den Aposteln dahin, als diese Galiläa verließen. Alle bedeutenden Apostel hatten ihre Vision gehabt; es wäre daher schwer anzunehmen, daß der »Bruder des Herrn« nicht auch die seinige gehabt hätte. Diese war, wie es scheint, eine eucharistische Vision, d. h. Jesus erschien, nahm das Brot und brach es.Evang. der Heb. citiert von Hieronymus in De vir. ill. 2. Vgl. Luk. XXIV, 41–43.

Später versetzten diejenigen Teile der christlichen Familie, die sich Jakobus angeschlossen hatten, und die Hebräer genannt wurden, diese Vision auf den Tag der Auferstehung und meinten, sie habe als erste von allen stattgefunden (Evang. der Hebr. bei Hieron. De vir. ill. 2).

Es ist in der That sehr merkwürdig, daß die Familie Jesu, von der einige Mitglieder während seines Lebens sich ungläubig verhielten und seiner Mission feindlich gegenüber standen (Joh. VII, 5), jetzt einen Teil der Gemeinde bildeten und hier bedeutende Stellungen einnahmen. Man könnte annehmen, daß die Vereinigung wahrend des Aufenthalts der Apostel in Galiläa stattgefunden habe. Die Berühmtheit, die plötzlich der Name ihres Verwandten gewonnen hatte, diese fünfhundert Personen, die an ihn glaubten und versicherten ihn auferstehen gesehen zu haben, mag einen Eindruck auf ihr Gemüt gemacht haben. (Sollte Gal. II, 6 eine Anspielung auf diesen jähen Wechsel bedeuten?) Gleich nach der definitiven Niederlassung der Apostel zu Jerusalem sieht man Maria, die Mutter Jesu, und dessen Brüder bei ihnen (Apostelg. I, 14, was indes ein schwaches Zeugnis ist; man verspürt schon bei Lukas (I, II) die Tendenz, die Rolle Marias zu vergrößern). Was Maria betrifft, so scheint es, daß Johannes, in der Meinung, damit eine Empfehlung seines Meisters zu erfüllen, sie adoptiert und mit sich genommen hatte (Joh. XIX, 25–27). Er brachte sie vielleicht nach Jerusalem. Diese Frau, deren Rolle und persönlicher Charakter im tiefen Dunkel geblieben sind, erlangte von nun an eine Wichtigkeit. Das Wort, das der Evangelist einem Unbekannten in den Mund legte: »Glücklich der Leib, der dich getragen und die Brüste, an denen du gesaugt hast!« begann sich zu verwirklichen. Es ist wahrscheinlich, daß Maria nur wenige Jahre ihren Sohn überlebte. (Die Tradition über ihren Aufenthalt in Ephesus ist neueren Ursprungs und ohne Wert. S. Epiph. Adv. haer. haer. LXXVIII, 11).

Was die Brüder Jesu betrifft, so ist die Frage noch dunkler. Jesus hatte Brüder und Schwestern (s. »Leben Jesu«, S. 53). Es dünkt indes wahrscheinlich, daß in der Klasse von Personen, die sich »Brüder des Herrn« nannten, Verwandte zweiten Grades sich befanden. Diese Frage ist indes nur soweit sie Jakobus betrifft von Wichtigkeit. Dieser Jakobus »der Gerechte« oder »Bruder des Herrn«, den wir während der ersten dreißig Jahre des Christentums eine große Rolle spielen sehen, war er Jakobus der Sohn Alphäus, der ein Vetter Jesu gewesen zu sein scheint, oder ein wirklicher Bruder Jesu? Die Angaben sind in dieser Hinsicht vollkommen unbestimmt und widersprechend. Was wir von diesem Jakobus wissen giebt uns von ihm ein Bild, das so sehr von dem des Jesu entfernt ist, daß man kaum glauben möchte, zwei so grundverschiedene Menschen seien von derselben Mutter geboren worden. Wenn Jesus der wahre Gründer des Christentums ist, so ist Jakobus dessen gefährlichster Feind. Sein beschränkter Geist war daran alles zu verderben. Später glaubte man mit Gewißheit, daß Jakobus der Gerechte wirklich der Bruder Jesu war (Evang. der Heb. s. Note S. 82). Aber vielleicht war bezüglich dessen irgend eine Verwirrung eingetreten.

Sei es wie immer! die Apostel trennten sich nunmehr nur, um zeitweilige Reisen auszuführen. Jerusalem wird ihr Mittelpunkt (Apostelg. VIII, 1; Galat. I, 17-19; II, 1 etc.; es scheint, als fürchteten sie sich zu zerstreuen und gewisse Züge scheinen bei ihnen die vorhergefaßte Meinung zu äußern, eine neue Rückkehr nach Galiläa zu verhindern, welche die kleine Gesellschaft aufgelöst hätte. Man vermutete einen ausdrücklichen Befehl Jesu, der verbietet Jerusalem zu verlassen, wenigstens bis zu der erwarteten großen Offenbarung (Luk. XXIV, 49; Apostelg. 1,4). Die Erscheinungen wurden immer seltener. Man sprach von ihnen viel weniger und begann zu glauben, daß man den Meister vor seiner feierlichen Rückkehr in den Wolken nicht mehr sehen werde. Die Einbildungskraft wandte sich mit großer Kraft einem Versprechen zu, das der Annahme nach Jesus gegeben haben sollte. Während seines Lebens, sagte man, habe Jesus oft vom heiligen Geist gesprochen, der als eine Verkörperung göttlicher Weisheit aufgefaßt wurde.Dieser Gedanke wird wohl nur im vierten Evangelium entwickelt (XIV, XV, XVI). Aber er findet sich auch angedeutet bei Matth. III, 11; Mark. I, 8; Luk. III, 16; XII, 11, 12, XXIV, 49. Er hatte seinen Jüngern versprochen, dieser Geist werde ihre Kraft sein in den Kämpfen, die sie werden liefern müssen, ihre Begeisterung in den Schwierigkeiten, ihr Fürsprecher, wenn sie öffentlich zu reden genötigt sind. Als die Visionen selten wurden, warf man sich auf diesen Geist, den man als Tröster betrachtete, als ein anderes Ich, das Jesus seinen Freunden sandte. Manchmal stellte man sich vor, daß Jesus sich plötzlich inmitten seiner versammelten Jünger zeige und einen Hauch des Lebens mit seinem Munde auf sie blase (Joh. XX, 22, 23). Dann wieder wurde das Verschwinden Jesu als die Bedingung der Ankunft des heiligen Geistes betrachtet (Joh. XVI, 7). Man glaubte, er habe in seinen Erscheinungen die Herabkunft dieses Geistes versprochen (Luk. XXIV, 49; Apostelg. I, 4 etc.). Mehrere stellten ein inniges Band fest zwischen diesem Herabsteigen und der Herstellung des Reiches Israel (Apostelg. I, 5-8). Die ganze Thätigkeit der Einbildungskraft, welche die Sekte entwickelte um die Legende des auferstandenen Jesus zu schaffen, wurde nun auf die Schaffung einer Zusammenstellung frommer Gläubigkeit über das Herabsteigen des heiligen Geistes und über seine wundervollen Gaben verwendet.

Es scheint indessen, daß wieder eine große Erscheinung Jesu in Bethanien oder auf dem Ölberg stattgefunden hatte.1. Kor. XV, 7; Luk. XXIV, 50 etc; Apostelg. I, 2 etc. Gewiß, es ließe sich recht gut annehmen, daß die von Lukas erzählte Vision von Bethanien eine Parallele bildete zu der Vision vom Berge in Matth. XXVIII, 16 etc., mit Versetzung des Ortes. Indessen folgt bei Matthias dieser Vision nicht die Himmelfahrt. Im zweiten Schluß Markus folgt der letzten Ermahnung die Himmelfahrt in Jerusalem. Endlich hatten nach Paulus »alle Apostel« die Vision, als Unterschied von der der »fünfhundert Brüder.« Gewisse Traditionen bezogen auf diese Vision die Schlußermahnungen, das wiederholte Versprechen der Sendung des heiligen Geistes, den Akt, durch welchen den Jüngern die Macht erteilt wird Sünden zu vergeben (andere Traditionen beziehen die Verleihung dieser Macht auf vorhergehende Visionen. Joh. XX, 23). Die charakteristischen Züge dieser Erscheinungen wurden immer verschwommener; man verwechselte die einen mit den anderen; schließlich dachte man nicht mehr daran. Man nahm an, daß Jesus lebe (Luk. XXIV, 23; Apostelg. XXV, 19); daß er sich durch eine Zahl von Erscheinungen offenbart habe, genügend, um seine Existenz zu beweisen; daß er sich noch in teilweisen Visionen offenbaren könne, bis zur großen Schlußoffenbarung, wo alles erfüllt sein würde (Apostelg. I, 11). So stellte auch Paulus die Offenbarung, die er auf dem Wege von Damaskus hatte, als von derselben Ordnung, wie die soeben erzählten dar (1. Kor. XV, 8). In jedem Falle nahm man in einem idealistischen Sinne an, der Meister sei mit seinen Jüngern und werde mit ihnen bis ans Ende sein (Matth. XXVIII, 20). In den ersten Tagen, wo die Erscheinungen sehr häufig waren, wurde angenommen, Jesus bewohne fortdauernd die Erde und erfülle mehr oder minder die Thätigkeit eines Erdenlebens. Als die Visionen seltener wurden, folgte man einer anderen Imagination. Man stellte sich Jesus in der Glorie, zur Rechten seines Vaters sitzend vor. »Er ist gegen den Himmel gefahren,« wurde gesagt.

Dieser Ausdruck blieb für die meisten im Zustand eines verschwommenen Bildes oder einer Induktion.Joh. III, 13, VI, 62, XVI 7, XX, 17; Eph. IV, 10; 1. Petri. III, 22. Weder Matthäus noch Johannes haben die Erzählung der Himmelfahrt. Paulus (1. Kor. XV, 7, 8) schließt selbst deren Begriff aus. Aber er stellte sich mehreren in materieller Weise dar. Man wollte, daß zufolge der letzten allen Aposteln gemeinschaftlichen Vision, wo er ihnen seine hehrsten Mahnungen gab, Jesus sich himmelan erhoben hätte.Mark. XVI, 19; Luk. XXIV, 50-52; Apostelg. 2-12. Justin. Apol. I, 50; Himmelfahrt des Jesaias, äthiop. Übersetzung, XI, 22; lat. Übersetzung (Venedig 1552) am Ende. Die Scene wurde später entwickelt und gestaltete sich zu einer förmlichen Legende. Man erzählte sich, daß himmlische Männer, gemäß der Ausrüstung göttlicher, sehr glänzender Offenbarungen (vgl. die Erzählung der Verklärung), im Moment, wo eine Wolke ihn umgab, erschienen seien und die Jünger durch die Zusicherung einer Rückkehr in den Wolken, ganz ähnlich der Scene, deren Zeugen sie waren, trösteten. Der Tod Moses war durch die Phantasie des Volkes von Umständen ähnlicher Art begleitet (Jos. Antiqu. IV, 8, 48). Vielleicht auch, daß man sich der Himmelfahrt des Elias erinnerte (2. Könige II, 11 etc.). Eine Überlieferung (Lukas, letztes Kapitel des Evangeliums und erstes Kapitel der Apostelgeschichte) verlegt diese Scene in die Nähe von Bethanien, auf den Gipfel des Ölbergs. Dieser Fleck war den Jüngern zweifellos sehr teuer, denn Jesus hatte hier gewohnt.

Die Legende behauptet, daß die Jünger nach dieser wunderhaften Scene »mit Freude« nach Jerusalem zurückkehrten (Luk. XXIV, 52). Was uns betrifft, so sagen wir nun mit Trauer Jesus das letzte Lebewohl. Ihn in seinem Schattenleben lebend wiederzufinden, war für uns ein großer Trost. Dieses zweite Leben Jesu, ein schwacher Abglanz des ersten, ist noch voll Reiz. Jetzt aber verliert sich um ihn jeder Duft. Auf seinem Wolkenthron, zur Rechten seines Vaters läßt er uns mit Menschen allein und, o Himmel! wie tief ist der Sturz. Die Herrschaft der Poesie ist vorbei. Maria Magdalena, zurückgezogen in ihrem Örtchen, versinkt hier in ihren Erinnerungen. Zufolge dieser ewigen Ungerechtigkeit, nach der der Mann einzig nur sich das Werk zuschreibt, an welchem das Weib nicht minder Anteil hat als er, stellt sie Kephas in den Schatten und läßt sie vergessen werden. Keine Bergpredigten mehr, keine Heilung Besessener, keine gerührten Ehebrecherinnen, keine jener seltsamen Mitarbeiterinnen an dem Werke der Wiedergeburt, die Jesus nicht zurückgewiesen hatte! Der Gott ist wirklich verschwunden. Die Geschichte der Kirche wird fortan oft zur Geschichte des Verrates an den Gedanken Jesu. Aber, wie immer auch! Diese Geschichte ist der Hymnus seiner Glorie. Worte und Bild des hehren Nazareners werden wie ein erhabenes Ideal in der Mitte des unendlichen Elends bleiben. Man wird besser verstehen, wie groß er war, wenn man erkannt hat, wie klein seine Jünger waren.


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