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Vierzehntes Kapitel

Obgleich Schön-Minnele am Morgen nach dem Balle spät erwachte und sich aus ihrem schneeweißen Bette erhob, so schien sie doch allen anderen Bewohnern des Hauses zuvorzukommen; sie hatte bereits ihren Morgenanzug geordnet und ihre übliche Andacht verrichtet, ohne dass die Zofe oder ein anderes Mitglied der Dienerschaft sich regte oder sehen ließ.

Minnele dachte, man rechne wahrscheinlich wegen des Balles auf ungewöhnlich lange Ruhe der Herrschaft und lasse die Gelegenheit, sich gütlich zu tun, nicht unbenützt vorübergehen; daher griff sie, sobald ihre Andacht verrichtet war, sogleich zu einer Arbeit am Stickrahmen und wollte ruhig das Erwachen des Hauses abwarten.

Als hierauf aber eine Stunde vergangen und immer noch kein menschliches Wesen im Hause zu hören war, wurde Minnele bange, und sie wollte nachsehen, ob nicht etwa Unwohlsein oder ein anderes Unglück die Zofe in ihrem Bette halte.

Minnele schlich also auf den Zehen den Korridor entlang bis an eine kleine, hellblau angestrichene Türe; hier wollte sie eben leise klopfen, als sie merkte, dass die Türe etwa offen stand.

Minnele drückte also nur ein wenig den Kopf zwischen die Türe, um ins Kämmerlein sehen zu können; die Türe wich ohne Geräusch, und zwar weiter, als Minnele eigentlich beabsichtigt hatte; aber was sollte sich da ihren Blicken zeigen!

Sabine, das Zöfchen, lag da quer über die Decke ihres Bettes hingeworfen, die Beine in Pantalons mit breiten, roten Seitenstreifen und malerisch so geordnet, dass das eine Bein auf dem Stuhle am Bette ruhte, das andere über die Brüstung des Bettgestelles hinabhing; an den Absätzen ihrer netten Stiefelchen starrten feine, silberne Sporen.

Sabine lag mit dem Gesicht aufrecht und schlafend da, ein Stümmelchen Zigarre hielt sie noch fest zwischen ihren Lippen; ihr Oberkörper ruhte etwas nach rechts gewendet, so dass der rechte Arm davon beinahe ganz bedeckt wurde, der linke Arm aber war in reizender Biegung halb um den Hinterkopf geschlungen und Zeige- und Mittelfinger berührten sich so, als wollten sie eben auf das Lustigste nach dem Takte schnalzen; ein polnischer Rock, eine prachtvoll geschmückte polnische Mütze und andere wunderliche Gegenstände lagen in musterhafter Verwirrung dort und hier auf dem Boden.

Minnele erstarrte vor Verwunderung. Ohne zu ahnen, was die Maskerade zu bedeuten habe, blickte sie eine Weile regungslos auf die Zofe und ihre Umgebung und zog sich dann in aller Stille wieder zurück, begab sich auf ihr Zimmer und wollte mit bangen Gefühlen und zerstreutem Köpfchen ihre Arbeit wieder aufnehmen.

Aber es ging nicht. Was Minnele eben gesehen hatte und der Umstand, dass die unheimliche Stille durch das ganze Haus noch immer dauerte, trotzdem es elf Uhr morgens war, ließen dem erschrockenen Kinde zu wenig Ruhe; es sprang wieder auf von seiner Arbeit, trat ans offene Fenster und suchte die seltsam beschwerte Brust zu erleichtern, indem es sich zum Fenster hinauslehnte und des Morgens würzige Sommerluft genoss.

Auf den Pflanzen und Blumen des Gartens, welche im Schatten standen, hing der kühle Morgentau noch in großen Tropfen, während das Laub der Bäume schon trocken im Luftzuge wankte.

Auf einmal störte Minneles Betrachtungen ein Geräusch in der Nähe.

Sie blickte auf und hin und her; endlich entdeckte sie die Ursache des Geräusche.

Das fünfte Fenster der Gartenfronte des Hauses war leise aufgegangen, und nun stieg ein junger Mann, der auf dem Balle gewesen, aus dem offenen Fenster und ließ sich an einem Seile, das in Zwischenräumen dichte Knoten bildete, sachte in den Garten hinab. Der junge Abenteurer hatte noch nicht die Hälfte des Seiles erreicht, als droben im Fenster der Kopf und Nacken der Baroness Eleonora sichtbar wurde, die ihrem Romeo süße, leise Worte und Abschiedswinke – endlich, als er den Boden des Gartens erreicht hatte, auch einen Schlüssel zum Gartenpförtchen zuwarf, dessen sich der Scheidende schnell bemächtigte, worauf er im Gebüsche und durch das Gartenpförtchen verschwand.

»Es war die Nachtigall und nicht die Lerche« –

Nein; so durfte es beim Abschied dieses Romeo und dieser Julie nicht heißen; es war bereits um die Zeit, wo die Sperlinge auf den Dächern und die Kinder auf den Straßen schrien, es war um die Zeit, wo der Landmann heimwärts zieht, sein wohlverdientes Mittagessen einzunehmen!

Schön-Minnele hatte den ganzen Auftritt gesehen und stand zitternd am ganzen Leibe da; voll Entsetzen und Wehmut über ihren zerstörten Glauben an Eleonorens sittlichen Charakter ließ Minnele ihre schöne Stirne sinken – wankte vom Fenster weg auf ihren Stuhl zurück, und zum ersten Male kam ein tiefes, unüberwindliches Heimweh über sie.

»Heimat, Mutter, Mutter!« rief es durch ihr Herz, sie legte ihr bebendes Gesicht in die Hand und ließ den bitterlichsten Tränen freien Lauf ...

Baroness Eleonora schien indessen den zweiten Teil ihrer Ruhe zu beginnen; denn sie hatte kaum das Knotenseil beseitigt und sich in ihr Schlafgemach zurückgezogen, als auch dort die tiefste Stille eintrat.

Dagegen regte sich's nach einer halben Stunde am Ende des Korridors, und Sabine kam schlaftrunken langsam zum Vorschein.

Sie hatte sich schnell in einen Morgenüberwurf gekleidet und, wahrscheinlich erschrocken über die späte Stunde, sich nicht Zeit genommen, Pantalon, Stiefeln und Sporen abzulegen; das lange, weite Morgenkleid sollte diese verräterischen Zeichen einer lustigen Nach zur Not verhüllen.

»Verzeihung, Fräulein«, sagte sie, zu Minnele ins Zimmer tretend und das Frühstück bringend – »ich habe lange geschlafen. Die Frau Baronin ist noch nicht wach; für diesen Fall hat sie mir schon gestern aufgetragen, Ihnen das Frühstück besonders auf das Zimmer zu bringen. Es geschieht spät, aber Verzeihung, ich habe schwer, sehr schwer geschlafen. – Guten Morgen, Fräulein, wie hat der Ball angeschlagen?«

Minnele suchte sich zu fassen und gab nur kurze, aber immerhin freundliche Antworten.

Sabine war damit zufrieden und entfernte sich bald, um ihren Anzug etwas mehr mit Muße zu ordnen.

Minnele frühstückte also allein.

Dies war zum ersten Male der Fall, seitdem sie im Hause der Baronin lebte.

Sonst wäre es ihr vielleicht unangenehm gewesen, die Gesellschaft ihrer zweiten Mutter beim Frühstück zu vermissen, heute war es ihr sehr willkommen. Wie hätte sie auch vor der Baronin ihrer Verwirrung und Sorge verbergen sollen? Minnele wurde auch nach dem Frühstück noch lange nicht in ihrer Einsamkeit gestört. Selbst die Gouvernante schien heute ihre Stunde vergessen zu haben. Sie kam nicht und ließ auch nicht absagen.

Erst gegen ein Uhr bemerkte Minnele, dass es in den Zimmern der Baronin und der Baroness lebendig wurde. Dienerschaft ging ab und zu. Bald sollte dieses Regen und Bewegen sogar in seltsames Lärmen übergehen, das Minnele erschreckte.

Plötzlich rief die Stimme Sabines von der linken Seite des Korridors: »Hilfe! Hilfe! Und die Stimme des Dieners sekundierte: »Um den Doktor! Um den Doktor!«

Fliehende Fußtritte und wiederholte Rufe des Schreckens hallten durch das Haus.

Minnele sprang von ihrer Arbeit auf und eilte hinaus.

»Was gibt es? Ist die Baronin nicht wohl?« rief sie der bestürzt aussehenden Zofe entgegen.

»Ach Gott! Ach Gott!« erwiderte diese – »leider nicht wohl! Zum Sterben, liebes Fräulein! Zum Sterben!«

»Dann muss ich zu ihr!« sagte Minnele mit aufrichtiger Heftigkeit des Schmerzes und wollte nach der Türe der Baronin eilen.

Die Zofe hielt sie aber zurück und sagte:

»Nicht doch, Fräulein, es ist ausdrücklich der Befehl, dass niemand über ihre Schwelle komme, bis sie es verlange.«

»Mein Gott, so kann ich gar nichts für sie tun?«

»Jetzt nicht, mein Fräulein. Wenn der Geistliche und der Doktor Rat und Hilfe gebracht haben, werden Sie Ihre Pflichten auch erfüllen dürfen.«

»Aber das Übel der Baronin – was ist es denn? Wie ist sie plötzlich so unwohl geworden?«

»Stille! Da kommt die Baroness. Von ihr werden Sie das Nähere erfahren!«

Die Zofe eilte weiter, und Baroness Eleonora kam aus dem Schlafzimmer der Baronin.

Die Baroness war bereits sorgfältig angekleidet, aber ihre ganze Erscheinung zeigte Kälte und Abspannung; ihr Eifer, mit dem sie Minneles Hand ergriff, und die Hast, mit welcher sie sagte: »Kommen Sie, dass ich Ihnen sage, was die Baronin betroffen hat«, waren offenbar erkünstelt.

Indessen war Minnele so von Sorge und Schrecken erfüllt, dass sie all dies übersah und nur ein Ohr hatte für die Nachricht, was geschehen sei.

Beide traten in Minneles Zimmer, und Eleonora sagte:

»Hören Sie, Minnele. Ich habe mich vor einer Viertelstunde zur Frau Baronin begeben wollen, um zu sehen, wie ihr die gestrige Unterhaltung angeschlagen, als ich hörte, dass sich eben auch ein Geistlicher habe anmelden lassen, der bereits vorgelassen sei. Ich wollte den Besuch nicht stören und ging auf mein Zimmer zurück. Nicht lange darauf höre ich einen dumpfen Schrei der Frau Baronin; ich horche erschreckt, ein zweiter Schrei folgt dem ersten. Ich eile aus meinem Zimmer auf den Korridor und horche an der Türe der Baronin – da höre ich das Stöhnen tiefsten Schmerzes schwächer und schwächer werden; der Priester spricht Worte des Trostes, er bittet, er beschwört, sich in Geduld und Gottes Ratschluss zu ergeben; er nennt den Namen des Onkels der Baronin und erwähnt in abgerissenen Worten eines Vorfalles, den ich aber nicht verstehen konnte. Endlich wurden die klagen und Seufzer der Baronin ganz stille; da, auf einmal häre ich die schnellen Fußtritte des Priesters nach der Türe eilen, diese wird heftig aufgetan, blass und bebend ruft der geistliche Herr: Die Frau Baronin ist unwohl! Wasser! Schickt nach dem Doktor! Damit kehrt er in das Zimmer zurück, die Türe hinter sich offen lassend. Ich rufe die Dienerschaft und dringe dann dem Priester nach in das Zimmer. Die Baronin lag ohnmächtig in dem Lehnstuhl, eine Gestalt des Jammers. Was hat sie in diesen Zustand gebracht? frug ich den Priester mit Entsetzen. Ich warf mich vor der Ohnmächtigen nieder, umschlang ihre Knie, bat, flehte, schrie – es war vergebens, die Totscheinende zu wecken, bis Wasser kam und ihr benetztes Angesicht zu zucken begann und ihr Atem wiederkehrte. Matt ihre Augen öffnend und ihre mütterliche Hand zärtlich auf meinen Scheitel legend, sagte sie mit gebrochener Stimme: Eleonore, der Onkel – der Onkel stirbt oder ist bereits gestorben! Nun fiel mir der Schleier von den Augen. Diese Nachricht war es, welche eine so traurige Wirkung auf die Baronin geübt hatte; und mit Recht, liebes Minnele, denn Sie müssen wissen, dass der Onkel ein Heiliger an Großmut, an Frömmigkeit und Sanftmut ist, dass er mit ganzer Seele an der Frau Baronin hängt, alle ihre Ausgaben allein und gerne bestreitet und nichts sehnlicher wünscht, als zu leben und sie glücklich zu machen. Dieser Mann soll nun sterben und die Baronin wie eine Waise hinterlassen!«

Bei diesen Worten hörte man die Hausglocke heftig ziehen.

Minnele und Eleonora eilten vor die Türe.

Der Doktor kam und ging mit schnellen Schritten nach dem Zimmer der Baronin.

»Wird jetzt erlaubt sein, auch hineinzugehen?« fragte Minnele, tief ergriffen von dem Bericht der Baroness.

»Nein, noch nicht«, erwiderte diese, »die Baronin, welche Sie so sehr liebt, würde bei Ihrem Anblick in neuen Jammer ausbrechen und den anstrengenden Versuch machen, Ihnen ihren Trauerfall zu erzählen. Bleiben Sie also und lassen Sie erst mich noch einmal zur Baronin, ich werde Ihnen Nachricht bringen, wie es gehe und ob der Doktor Ihre Gegenwart gestatte.«

Sorge und Kummer um die Baronin hatten von Minneles Gemüte so sehr Besitz genommen, dass der Eindruck aller sonstigen Erlebnisse für diesen Augenblick ganz verlöscht war.

Das arme Kind ging, aufs Äußerste bestürzt und Nachricht erwartend, im Zimmer auf und nieder.

Es dauerte lange, bis Eleonora zurückkam; sie brachte einen »wehmütigen Gruß« von der Baronin und ihr Versprechen, Minnele rufen zu lassen – wenn sie von einem Besuche bei dem Sterbenden zurückkommen würde, zu dem sie mit Erlaubnis des Doktors in einer halben Stunde fahren dürfe; indessen sollte Eleonora einen Wagen kommen lassen und Minnele durch eine Spazierfahrt eine Stunde lang zerstreuen ...

 


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