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Fünftes Kapitel

Wenn in der Seele des Menschen eine Zeitlang die Töne des Schmerzes regellos und ohne Maß gewühlt haben, dann geschieht es zuweilen wie bei einem musikalischen Meisterstück, dass aus der Tiefe des verworrenen Tönestromes sich gleich einem Engel des Lichts ein verklärter Akkord entwindet, der sich ordnend und siegreich durch die Nacht und Wirrsal ausschwingt und das Menschenherz mit sich nimmt ohne Widerspruch ins Reich der Wonne und Verklärung.

Ein solches Wunder im Gemüte erlebte auch Minnele an jenem Morgen, als zu allen den Erlebnissen jüngster Tage auch noch die herzlose Anfeindung der Verschworenen kam, so dass sie plötzlich sich geflohen, verlassen und mutterseelenallein in der Fremde sah.

»Selbst Justus Erdlein – auch er«, dachte Minnele, »hat mich verlassen – ohne Wink und Warnung, bei Nacht und Nebel verlassen können!«

Nun – so nahm sie denn ihr weißes Bündelchen wieder in die Hand und schritt geräuschlos durch das Tor des Wirtshauses in das Freie und folgte der Straße in der Richtung nach der Hauptstadt. ...

Es war ein kühler, klarer Morgen, die Sterne standen noch am Himmel; ein Dämmerlichtstreif gegen Osten zeigte schwach nur an, es sei der Tag im Nahen.

Minnele nahm ihr ganzes Herz zusammen, um ein rechtes Morgenandachtsopfer gegen Himmel zu senden – und in der Tat, der Herr der Heerscharen mochte mit der Andacht wohl zufrieden sein, welche Minneles Gebet und Wesen hob.

»Lasset die Kindlein zu mir kommen«, war einer der holdeste Sprüche des Erlösers – und hier kam ein Kindlein, schön und rein wie wenige, ein Kindlein ganz und gar im Sturm und Drang des Lebens.

Und Minneles Andacht musste erhört worden sein, denn bis auf einen wehmütigen Nachklang war aus ihrem Herzen Pein und Sorge verschwunden und klare Ruhe in dasselbe eingezogen.

Minnele gedachte der wenigen Lieben und Getreuen ihres Lebens, gedachte vor allem ihrer armen Mutter daheim und freute sich im Voraus schon der Kindeshilfe, die sie zu erweisen bald im Stand sein werde, von so irdisch-löblichen Gedanken stieg ihr Herz zum Lenker der Geschicke auf und vertraute dessen unsichtbaren Händen ihre Zukunft freudig an.

Also vom Himmel zur Erde und von ihr wieder auf zum Himmel strebend, ließ Minnele ihr Herz im süßen Wandel der Empfindung schwelgen, vergaß die eben noch heftigen Leiden der Erde und übersah, obwohl das herrliche blaue Auge starr darauf gerichtet war, den eben in voller Pracht sich entfaltenden Aufgang der Sonne.

Der anbrechende Tag und die näher rückende Hauptstadt belebten nach und nach die Straßen immer mehr.

Es konnte nicht fehlen, dass Minneles Erscheinung auch auf der offenen Heerstraße die Blicke auf sich zog und nicht geringes Aufsehen machte.

Minnele merkte das erst, als hier ein unfeiner Fuhrman, dort ein Kutscher vom Bock oder auch ein Reisender aus dem Fenster eines Postwagens mit großen Augen oder ungeschliffenen Worten ihre Verwunderung zu erkennen gaben.

Sogleich bedachte sie nun, wie solchen Belästigungen zu entrinnen sei; sie warf ein Tüchlein über den Kopf und auch so weit über ihr Gesicht, dass nicht leicht zu sehen war, ob sie schön oder wüst sei, und als sie in der Ferne einige weibliche Wanderinnen entdeckte, beeilte sie sich, denselben nahe zu kommen und durch ihre Nähe geschützt die Hauptstadt zu erreichen ...

Wanderer, Wagen, Reiter in immer gedrängteren Reihen, endlich die Türme und das dumpfe Getöse eines tausendfachen Lebens verrieten und zeigte gegen Abend die Nähe der Hauptstadt an.

Eine Erscheinung sollte Minnele noch mächtig erschüttern, bevor sie das Tor der Stadt erreichte.

Einer starken Biegung der Allee folgend, hatte sie plötzlich die schnurgerade Richtung der Straße nach der Stadt vor sich und erblickte in einiger Entfernung – ihre treulose Landsmänninnen und Justus Erdlein, das Blaumeisle, an ihrer Spitze.

Sie schritten alle mit einer gewissen Hast ihres Weges, als wäre Gefahr vorhanden, dass sie von derjenigen, der sie unter so wohlbedachten Umständen entflohen, noch in der letzten Stunde könnten eingeholt werden.

Minnele konnte sich einer tiefen Wehmut nicht erwehren.

»O eilet nicht so sehr«, dachte sie im Stillen, »meinet ihr, ich werde euch verfolgen, wo ihr mir entflohen seid? Ich seh', ihr kennt mich nicht!«

Am meisten freilich ging ihr des Blaumeisles Flucht zu Herzen; dieser alte Mann, vor Kurzem noch ganz Ohr und Auge, ganz Bewunderung und Anbetung für sie – ging er nicht dort mit Schritten eines versprengten Felddiebs dem Tore zu, um seiner eben noch angeseufzten Heiligen zu entgehen?

Leider wusste sie nicht, dass der arme Justus so in voller Hast der Stadt zueilte, um seine liebe Heilige, die er vorausgeeilt glaubte, noch zu erreichen, bevor sie vom Strom einer halben Million Menschen ergriffen und für lange verschlungen sein würde.

Noch einmal bewegte es Minnles Gemüt, und ihre Lippen zuckten vor Weh; – aber sie fand ihre Fassung und Ruhe wieder – hatte sie doch einige Übung im Verzichten und Entsagen schon erlangt, die Menschen hatten so viel für diese Übung ihres Herzens getan!

Wer war ihr Justus Erdlein?

Er war's ja eigentlich nicht, dessen Verlust ihr wehe tat; – aber ein redlicher und anhänglicher Mensch war wieder über Nach zum Abtrünnigen geworden, er trabte, weiß Gott, welchem Eigennutze nach; so schien es Minnele, und das war's, was ihr eigentlich zu Herzen ging.

»So fahret hin, wer mich verlassen will«, waren Minneles letzte Gedanken in dieser Sache, »ich will mich an nichts mehr hängen und halten, als was mir fest und treu ist wie das Herz der Mutter!«

Und in diesem Augenblicke trat sie durch das Tor der Stadt.

Das hunderttausendfache Getöse derselben drang um sie her und schlug über ihr zusammen, und wie sie selber im dichten Menschenstrom verschwand, so umschlang das Meer von Millionen Wünschen, Bestrebungen und Leidenschaften anderer Menschen auch die stillen Regungen ihrer Seele.

Wir lassen sie eine Weile verschwinden, um sie von der Woge eines neuen Lebens gelegentlich wieder auf die Oberfläche gelangen zu lassen.


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