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Elftes Kapitel

Ihre seligsten Stunden verlebte Minnele gewöhnlich sonntagmorgens.

Da war es ihr erlaubt, von acht bis zwölf Uhr ganz nach ihrem Wohlgefallen zuzubringen.

Minnele stand an solchen Tagen um eine Stunde früher auf, kleidete sich selber an, um sich die Zofe vom Leibe zu halten, verrichtete dann ihr Morgengebet, bestellte das Frühstück auf ihr Zimmer und ließ den Kutscher erinnern, sie gegen zehn Uhr in den Dom zu fahren.

War das Frühstück auf dem Tische und sonst das Nötige besorgt, dann eilte Minnele zur Türe, schloss sie ab und warf die Arme kindlich jubelnd gegen Himmel, weil sie nun gehen, stehen, sitzen, denken und reden konnte, wie es ihr behagte.

»Kommt, o kommt nun wieder, ihr Freuden und Leiden der Heimat, Bild meiner Mutter und all ihr Gestalten ferner Lieben, ich bin allein mit mir und darf euch hier empfangen und begrüßen!«

So ungefähr lautete der Jubel, in Worte übersetzt; und nun ging sie wie umringt von den Gerufenen im Zimmer auf und nieder, zeigte im Geiste ihrer Mutter ihr schönes Morgenkleid, ihre Gewänder von Samt und Seide, ihren Schmuck, ihre Damastschuhe, ihre Hüte mit wunderbar nachgemachten Feldblumen – und redete sich in eine Freude und Rührung hinein, dass es schwer zu unterscheiden war, welche dieser Empfindungen die Oberhand behalte.

Vor den halb herausgezogenen Fächern einer schönen Kommode kniend und die feinen Spitzen betrachtend oder ein Stück von ihrem Schmuck in Händen, konnte Minnele wieder mitten in ihrer Freude manchmal ernst und nachdenklich werden, so dass ihr schönes Haupt in ihre aufgestützte Hand betroffen niedersank.

Das Bild des jungen Granach war es dann, das traurig vor ihr Seelenauge trat.

Aber Minnele erholte sich bald und suchte des Bildes und des Angedenkens los zu werden; sie erhob sich, eilte zum Schreibtisch und fand Beruhigung in den Briefen an die Mutter, der sie jeden Sonntag schrieb und stets ein Geldstück schickte mit den Worten:

»Hier, liebe Mutter, wieder eine Kleinigkeit, die ich dir senden kann!«

Die Briefe Minneles waren eigentlich liebe Variationen über das Thema: »Ich habe jetzt das Himmelreich auf Erden und werde alles tun, was dein Gemüt erfreuen, dein Leben erleichtern kann!«

Was auf Minnele von Zeit zu Zeit auch Trübes lastete, davon natürlich sollte nichts verlauten.

Ohnehin war Minnele gehalten, jede Zeile an die Mutter in der Heimat erst der Mutter in der Stadt zu zeigen, was von selber schon den vollen Schwung und Ton der Seele mäßigte.

Erst um halb zehn Uhr ließ Minnele die Zofe kommen, um ihr bei der Toilette behilflich zu sein, dann griff sie nach dem vergoldeten Gebetbüchlein und stieg in den bereitstehenden Wagen, um in den Dom zu fahren.

An dieser Fahrt nahm sonderbarer Weise die Baronin niemals teil, auch die Baroness Eleonora war an Sonntagmorgen niemals sichtbar; es hatte fast den Anschein, als wären die Morgen nur bestimmt, sich von den Strapazen der Zerstreuungen der Woche zu erholen. Selbst die Zofe war um diese Zeit viel weniger gesprächig und suchte sich zurückzuziehen, sobald Minnele ihrer nicht bedurfte. ...

Wer sich in großen Städten umgesehen, muss bemerkt haben, wie an Sonntagmorgen gewisse Plätze und Straßen in der Nähe von Kirchen dazu auserlesen sind, Versammlungspunkte für die Gruppen der Provinzialbevölkerung abzugeben.

Man kann da vom frühen Morgen an ein Sammeln und Wogen von Trachten sehen und eine Blumenlese von Volksmundarten studieren.

Seit Menschengedenken sind diese Punkte wie die Standplätze für Messbuden bestimmter Eigentümer, z.B. den ehrenwerten Trägern blauer Blusen oder spitziger Hüte und langer Röcke oder kurzer Röcke und runder Hüte angewiesen, und dieses Anrecht wird mit großer gegenseitiger Achtung aufrecht erhalten

Man pflegt sich hier am Sonntagmorgen in bestimmten Landsmannschaften zu versammeln, um sich seine Freuden und Leiden der Woche zu erzählen und das Neueste aus der Stadt und Heimat mitzuteilen; namentlich an das heimatliche Volksleben durch das Sprechen der Mundart und den Anblick der Tracht erinnert zu werden, freut man sich von Herzen.

Bevor man scheidet, wird dann gewöhnlich Ort und Stunde bestimmt, wo man sich des Sonntagnachmittags in einem Garten bei Bier und Musik wieder finden könne.

Schön-Minneles Landsleute hatten in der Hauptstadt auch ihren »Sonntagsstand«, und zwar auf dem Domplatz zwischen der Mündung der Reichsstraße und einem Nebenportale des Domes.

Weil aus Minneles Heimat überwiegend mehr Mädchen als Burschen nach der Hauptstadt kamen, so war auf diesem Sonntagsstande auch die heimatliche Mädchentracht die hervorstechende, und man pflegte den Platz, wo sie sonntäglich zu sehen war, den Stand der schwarzen Mieder und braunen Röcke zu nennen.

Die Achtuhrmesse war für Minneles Landsleute der gewöhnliche Gottesdienst; nachdem man dieser beigewohnt, trat man vor dem Seitenportale des Domes wieder gesellig in eine Gruppe zusammen und blieb bis gegen zehn Uhr morgens versammelt, worauf man sich dann in größeren und kleineren Zügen nach allen Richtungen zerstreute.

Obwohl nun Minnele auch jeden Sonntag morgens um zehn Uhr nach dem Dome fuhr und aus früheren Erzählungen wusste, dass ihre Landsleute in der Nähe des Domes ihren »Stand« hatten, so wusste sie es bisher doch nicht einzurichten, wie sie ihre Landsleute sehen und sprechen könne.

Denn von der Baronin war ihr die Stunde, der Weg und die Ordnung der Kirchenfahrt auf das Genaueste vorgeschrieben, ein Diener in Livrée musste Minnele, rückwärts auf dem Wagen stehend, begleiten, musste vor dem Dom den Wagentritt herunterlassen, mit dem Gebetbuch Minnele in den Dom folgen und so lange wachsam hinter ihr stehen, bis nach vollendeter Messe Zeit war, wieder vorzutreten, Minnele das Gebetbuch abzunehmen, sie ehrfurchtsvoll einige Schritte voranzulassen, dann ihr bis zum Wagen zurückzufolgen, ihr in den Wagen zu helfen, den Kutschenschlag zuzuwerfen, rückwärts auf den Sitz zu springen und auf und davon zu eilen.

Der Kutscher musste genau und ohne Aufenthalt die Richtung zurück nach dem Hause fahren, welche er gekommen war.

Erst eines Sonntagmorgens Anfangs Juni sollte ein Zufall das Wiedersehen Minneles und einiger Landleute veranlassen, und zwar auf folgende Weise.

Es mochte drei Viertel auf zehn Uhr sein, der »Schwarzmiederstand« am Seitenportal des Domes war zahlreich besetzt, von bekannten Wanderinnen waren die meisten auf dem Platze, darunter die Halter-Franziska und die Zähring-Regi weiland Verschworene in Unteroffiziersrang; diese trugen alle noch ihre heimatliche Tracht zum Zeichen, dass sie ferne in den Vorstädten oder gar außerhalb derselben in unbedeutenden Diensten standen oder bloße Handarbeiten um Tageslohn verrichteten.

Etwas außerhalb der Peripherie der Gruppe trieb sich Justus Erdlein, das Blaumeisle, mit einem Bekannten hin und wieder, wahrscheinlich noch gekränkten Herzens gegen jene Exverschworenen.

Er hatte sich einige Augenblicke früher den Versammelten genähert, nur um eine Nachricht des Triumphes unter sie zu werfen und dem Neide mancher Verschworenen Zahn- und Herzweh zu bereiten.

Er sagte, dass er letzter Tage Schön-Minnele im Samt und Seide an der Seite einer vornehmen Dame gesehen, wie beide aus einem Kaufladen traten, in eine Herrschaftskutsche stiegen und dann davon fuhren; wie er sich hernach erkundigt, habe er erfahren (dieses war Blaumeisles Erfindung): Minnele sei »Gesellschaftsdame« einer »hochfürstlichen Freifrau« worden und lebe in Hülle und Fülle wie eine Prinzessin.

Nach diesem Staatsbericht entfernte sich Blaumeisle wieder von der Landsmannschaft und dachte:

»Titel habe ich der Sache angehangen, dass die Äste biegen!«

Und in der Tat war diese Nachricht geeignet, der weiblichen Landsmannschaft ein großes Interesse einzuflößen und eine arge Farbenverwüstung auf den Wangen derselben anzurichten.

Zum Glück für manche schwache Seele erschien alsbald die Seele der Verschworenen, die Fähringer-Toni, unter der Landsmannschaft und richtete den ohnmächtigen Mut der Treuen wieder auf.

Die Fähringer-Toni erschien – wie soll man nur gleich sagen? – erschien im Anzug einer verrückten Seejungfrau, die, ihrem Wogenpalast entspringend, in aller Eile einen Anzug von Meergras um sich wirft und in diesem Staate der erstaunten Menschenwelt vor Augen tritt.

Denn grasgrün war das Kattunkleid der Fähringer-Toni, grasgrün war ihr Band um den Hals, grasgrün war ihr Hut mit Schleier, und grasgrün waren ihre Zeugschuhe, die sie nebst den übrigen Stücken ihrer Kleidung offenbar heute zum ersten Male angetan hatte.

So kam sie daher, und zwar triumphglühenden Auges.

Es war das erste Mal, dass sie auf dem Domplatz ihren Landsleuten sich zeigte; in ihrem Kleiderstaat sollte erst eine außerordentliche Verwandlung vorgegangen sein, bevor es der Stolz ihres Herzens angemessen fand, sich der versammelten Landsmannschaft zu zeigen.

Die Fähringer-Toni war kaum erschienen, als ihre Landsmänninnen einen Halbkreis bildeten und sie mit freudiger Bewunderung aufnahmen.

Die Heldin des Augenblicks musste sich nun drehen und wenden und besehen und bestaunen lassen, dass es eine Art hatte; das Gesicht der Fähringer-Toni hätte die Finsternis einer Novembernacht erleuchtet, so von geschmeichelter Eitelkeit erglänzte es.

Während nun Toni das Ziel aller Augen war, sollte auch das Ohr der Landsmannschaft sein Teil erhalten, denn indem sich die Fähringerin drehte und schwenkte, redete sie in einem Atem von sich und ihrer reichen Herrschaft, von sich und von den vielen Gastereien in dem Haus, von sich und den vielen Trinkgeldern, die gegeben würden, von sich und ach, von den gar zu lieben alten Herren, welche bei der Herrschaft aus und ein gingen.

Mitten in diesem Redeschwall erscholl der Glockenschlag zehn Uhr vom Dome – und ohne sich nur mit einer Silbe nach dem Schicksal ihrer Landsmänninnen erkundigt zu haben, sagte Toni:

»Aber jetzt muss ich fort, ich muss um elf Uhr daheim sein und hab' noch früher einen Gang zu machen!«

Sie schwenkte nach diesen Worten mit eitel emporgestrecktem Nacken und ging davon, dass das lange, faltenreiche Gewand hinten mächtig hin und wieder wogte.

Die Halter-Franziska, die Zähringer-Regi und noch einige Landsmänninnen ließen sich's nicht nehmen, noch einige Schritte ihr zu folgen und führten dies, stolz auf ihre Heldin, wirklich aus.

Man kam bis an die Hauptfronte des Domes, wo die Fähringer sodann noch einmal stille hielt und die Begleitung um jeden Preis loszuwerden suchte.

In diesem Augenblicke hielt eine Equipage in der Nähe, ein Diener in Blau und Rot sprang herunter, öffnete den Wagenschlag, ließ den Tritt herab und half einem reizenden Fräulein aus dem Wagen, das, kaum einen flüchtigen Blick um sich werfend, dem Tor des Domes zuschritt und im Inneren des Heiligtums verschwand.

Der Diener folgte der jungen Dame mit einem vergoldeten Gebetbuch in der Hand, während der Kutscher den Wagen langsam einige Schritte weiter lenkte, hierauf eine gemächliche Wendung machte und in dieser Richtung dann stille hielt, bis zum Augenblick der Heimfahrt aus der Kirche.

Die holde Andächtige war niemand anderes als Minnele gewesen.

Sie hatte zwar ihre Landsmänninnen nicht gesehen, aber sie war von diesen gesehen und erkannt worden.

Die Fähringer-Toni traf der Anblick Minneles wie der Blitz und verschlug ihr den besten Teil der Rede; die Halter-Franziska fuhr mit beiden Händen nach ihrer linken Seite wegen eines mörderischen Stiches, den der Schreck ihr beigebracht; die Zähring-Regi ließ ihre Unterlippe hängen wie den Zweig einer Trauerweide und sah fortwährend von dem Angesichte ihrer grasgrünen Freundin auf das Pflaster und vom Pflaster auf das Angesicht ihrer grasgrünen Freundin.

Glücklicher und trefflicher hätte das Schicksal keinen Schlag nach dem Herzender strafbaren Toni führen können als in diesem Augenblicke, wo deren Triumpf bei ihren Landsmänninnen festzusehen schien, auf einmal aber welk hinsank beim Anblick Minneles.

Schön-Minnele hatte unter einer schwarzen Spitzenmantille ein Kleid an von himmelblauem Glacé mit Volants, von denen jeder mit einer eingewirkten Kornblumengirlande in Atlas garniert war; die langen, weiten Ärmel, mit Volants garniert, hatten Spitzen-Unterärmel; Minneles reiches, dunkelblondes Haar bildete wellenförmige Rollen zu beiden Seiten der Schläfe und war von einem weißen Spitzenhute mit blauen Phantasieblumen auf das Reizendste umrahmt.

War Minneles Schönheit, so geschmückt, schon reizend genug, so musste sie durch die augenfällige Bescheidenheit des Kindes noch unwiderstehlicher werden; Pferd und Wagen, Kutscher und Diener in Livrée verfehlten auch nicht als Gefolge ihre Wirkung zu tun.

Und so war denn Minnele längst im heiligen Schatten des Domes verschwunden, nichts ahnend von der Gemütsverwüstung, welche ihr Anblick im weiland verschworenen Generalstab ihrer Landsmänninnen angerichtet, als die Fähringer-Toni mit ihren Freundinnen noch da stand, sprachlos, starr, von Wut und Missgunst ganz durchwühlt.

Es sollte auch ferner zu keinem Gefühlsaustausch zwischen Toni und ihren Getreuen kommen; denn bevor die Halter-Franziska ihren Seitenstich verschmerzen und die Zähring-Regi ihre Unterlippe wieder in natürliche Position bringen konnte, hatte es der Toni schon beliebt, den Knoten der peinlichen Verwicklung zu durchhauen und durch ein schnelles Zurückziehen vom Schauplat die erträglichste Lösung hervorzubringen ...


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