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Siebtes Kapitel

Toni Fähringer setzt die größte Ehre darein, den ersten anempfohlenen Dienst sogleich auch zu erhalten.

Sie war entschlossen, alle Kühnheit und Verschlagenheit daran zu wenden, um zu diesem Ziele zu gelangen.

Darum ging sie nicht aufs Geratewohl eine Treppe hoch zur empfohlenen Herrschaft hinauf, sondern trag erst unten rechts vom Tore in eine Wohnung, um sich bei der Frau Thorwart auf Kundschaft zu legen über die Verhältnisse, Vorzüge und Schwächen ihrer künftigen Herrschaft.

Es kam denn auch zur weitläufigen Erörterung über einen so wichtigen und vielseitigen Gegenstand.

Erst einmal sicher und vertraut gemacht, verhehlte die Frau Thorwart nichts von allem dem, was sie wusste oder wohl auch nicht wusste.

Der alte Herr Regierungsrat von Sutterland als Herr v. »Wangenkneiperle« bei jungen Dienstmädchen bekannt, wurde flüchtig und nur mit einigen heiteren Strichen gezeichnet; denn er gehörte eigentlich nicht in den Bereich der regierenden Hausmacht; man rief: »ZumSchluss!« und der zweite, den Ausschlag gebende Gegenstand der Tagesordnung kam zur Verhandlung: die Frau vom Hause, Ernestine Flodoarda von Sutterland, die Regierungsrätin selber.

Hier zog die Frau Thorwart unverweilt ihr Zungenschwert und hieb dem guten Namen derselben ein Ohr ab.

Die Regierungsrätin war ihr eine Dame, die vor Hochmut nicht wisse, wie sie reden, blicken, gehen, sitzen oder essen solle. Eine Nase habe sie, die durch eine Festungsmauer unterschied, ob jenseits adeliges oder bürgerliches Blut vorüber gehe; Lippen habe sie, die sich aufwerfen wie Schanzen vor Belgrad, wenn sie in die Lage komme, ein freundlich Wort zu bürgerlichen Leuten zu reden. Kurz und im Ganzen sei sie eine unausstehliche Standesperson, die zum Glück nicht viel zu sehen sei, indem sie meist zurückgezogen in ihrem »Kaminetchen« hocke oder in ihren Wagen gegossen ihren Vergnügungen nachfahre.

Der eigentliche und wahrhafte Hausdrach' der Herrschaft aber sei das gnädige Fräulein Kammermädchen; dieser Engel aus der Holzkammer führe den Regimentsbesen mit solcher Macht und Herrlichkeit, dass es ganz unmöglich sei, ohne ihre Gunst im Hause Fuß zu fassen.

Wer also Mut und Neigung habe, eine Stellung »bei's Regierungsrats« zu erobern, müsse schon ein Übriges tun und dem Bittermandelgesichte schöne Worte sagen, besonders einen unglücklichen Liebhaber bewundern, der in diesen sauern Liebesapfel gebissen.

»Das jetzige Küchenmädchen« fuhr die Frau Thorwart fort, »ist aus keinem andern Grund ihres Dienstes verlustig geworden, als weil sie nicht alle Tage einen Sack Schmeicheleine beizuschaffen und dem gnädigen Fräulein zu Füßen legen konnte!«

Nachdem nun auf diese Weise des reichen Hauses Sutterland des giftigsten und breitesten gedacht worden, ging die Frau Thorwart doch zum sonderbaren Schluss über: der Dienst bei Sutterland sei zu empfehlen, denn der Lohn sei groß, die Dienstboten lebten von guter und reichlicher Kost, es regne Trinkgelder, da man bald zu Mittag, bald am Abend Gesellschaft oben sehe. Ließe sich gar ein hübsches Kätzchen (Toni Fähringer sei das ja) von alten Herren ein zartes Kneipen in die Wangen gefallen, so könne mit der Zeit ein hübsches Ersparnis auch anwachsen.

Toni Fähringer nahm ihr Schnupftuch und wickelte eine Münze heraus, die sie dankbarlich der anfangs »zierigen«, dann aber gerne nehmenden Frau Thorwart reichte.

Man beschloss nun, wenn es mit dem Dienste glücke, in dicker Freundschaft zu leben, und sooft es tunlich sei, auf Treppen oder im Keller oder in einem Winkel des Hofes geheime Konferenzen zu pflegen.

Vor der Türe fügte die Frau Thorwart schnell noch hinzu: Toni Fähringer solle ja in Gegenwart des Kammerfräuleins dem aus dem Dienste tretenden Mädchen kein freundlich Gesicht zeigen, eher sich kurz angebunden und impertinent erweisen.

Also mit Vorstudien ausgestattet, stieg Toni Fähringer zwei Treppen hinauf und zog am Glockenzuge.

Es wurde geöffnet, und die Fähringer sagte:

»Ist das gnädige Fräulein nicht zu sprechen?«

Das Dienstmädchen erwiderte:

»Hier ist kein gnädiges Fräulein, die Herrschaft hat keine Kinder!«

Toni Fähringer sah hinter einer Glaswand des Vorzimmers das horchende Kammermädchen und fuhr noch lauter fort:

»Ich meine das gnädige Gesellschaftsfräulein der gnädigen Frau Regierungsrätin!«

In diesem Augenblicke flog ein Glastürflügel auf, und heraustrat und näherte sich zorn- und freudeglühend das Kammermädchen.

Heftig rief es dem Dienstmädchen zu:

»Geh' sie hinein, sie ungebildete Person!«

Und freundlich zur Fähringer-Toni gewendet, sagte sie:

»Was wünscht sie denn, sie liebes Kind?«

Toni erwiderte:

»Ich habe gehört, es müsse hier ein Mädchen aus dem Dienst, und ich komme bei dem gnädigen Fräulein bitten, für mich vorzusprechen und mir den Dienst zu schaffen!«

Das Kammermädchen sagte, dass sie ihr folgen und bis auf Weiteres in ihrem Zimmer warten möge, denn es sein vornehmer Besuch bei der Herrschaft und im Augenblicke keine Zeit, sie der Rätin zu empfehlen.

Toni Fähringer folgte und im Laufe einer Stunde hatte sie so viele Liebenswürdigkeit und Schmeichelei entwickelt, dass ihre Schutzpatronin endlich sagte:

»Liebe Toni, du sollst den Dienst hier haben!«

Und so war es auch.

Die Frau Regierungsrätin sagte bloß: »Machen Sie es ab mit dem Mädchen, Sie müssen das verstehen«, damit war der Pakt geschlossen.

Das andere Mädchen benutzte das Anerbieten sogleich zu gehen, und die Toni Fähringer rückte an dessen Stelle.

Nach einer halben Stunde ihres Amtsantritts erlebte Toni schon ein seltsames Abenteuer.

Der vornehme Morgenbesuch der Herrschaft war, wie sich zeigte, kein anderer – als jener Fremde im Reisewagen, welcher vor Minnele den Shawl hatte fallen lassen und ihr das blanke Geldstück angetragen.

Sehr erfreut über diese Entdeckung, fühlte sich Toni glücklich in ihrer neuen Lage und dachte:

»Schön-Minnele, wie will ich dir den vorm Maul wegfangen; sieht er dich nicht, so bin ich hier doch immer noch die Schönste! ...«

Indessen war auch Minnele ihres Weges gegangen, um ihr Glück zu suchen.

Nach der ersten Adresse war sie an die Frau eines Hofadvokaten gewiesen, und dahin begab sie sich auch.

Der Advokat bewohnte, nicht weit von einem Nebentore der Stadt, in einem neuen palastähnlichen Hause den ganzen ersten Stock; Minnele erschrak beim Anblick des Hauses über ihren kühnen Versuch, daselbst ein Unterkommen zu finden, denn es schien ihr, dass in einem solchen Gebäude auch das letzte Dienstmädchen noch ein vornehmes Fräulein sein müsse.

Was half es aber zu erschrecken? War sie doch von der Mutter Eulalia dahin gewiesen; so folgte sie denn der Weisung.

Auf der breiten, blanken Marmortreppe bis vor die Türe der Wohnung gekommen, suchte sie an derselben herum, wo ein Schlüssel oder ein Drücker zum Öffnen zu finden sei.

Sie suchte vergebens.

Wahrscheinlich würde sie lange ratlos vor der Tür gestanden haben, wenn nicht ein Mädchen, die Treppe heraufkommend, sie aufmerksam gemacht hätte, dass man hier nicht aufsperre oder klopfe, sondern dort am Glockengriffe ziehen müsse.

Schüchtern und vorsichtig versuchte Minnele nun zu läuten, und als drinnen eine Glocke anschlug, meinte sie nicht anders, als die gesamte Bewohnerschaft des Hauses würde erschreckt und mit Vorwürfen kommen, um sie über diesen Eingriff in den Frieden des Hauses zur Rechenschaft zu ziehen.

Kurz darauf flog auch der eine Flügel der Vortüre auf, und ein Diener in dunkelblauer Livrés stand an der Schwelle, fragend:

»Was gibt's? Was will man hier?«

Minnele erwiderte, dass sie eines Dienstes wegen hergewiesen seu und bitte, ihr zu sagen, ob die gnädige Frau schon jemand habe.

Der Diener, durch Minneles Anblick sozusagen im Fluge versteinert, sah wie selbstvergessen eine Weile starr auf die Erscheinung des Mädchens und sagte dann, die Türe wieder schließend:

»Ich will es Ihrer Gnaden melden.«

Bald darauf entstand ein Zusammenlauf im Vorgemach, und Minnele hörte deutlich den Diener wie verrückt ausrufen:

»Ich geh' in ein Kloster! In ein Kloster geh' ich! Draußen steht die heilige Titania oder Ambrosia!«

Einige Mädchenstimmen lachten, dann ging der äußere Türflügel wieder auf, und das Stubenmädchen, noch die volle Heiterkeit im Gesicht, guckte heraus, als wolle sie sagen: »Da muss ich ja das Wunder auch angucken!«

Sie wurde bei Minneles Anblick plötzlich ernsthaft, blickte eine Weile unstet vor sich hin, trat zurück und sagte, die Türe offen lassend:

»Kommen Sie herein, die gnädige Frau wird gleich erscheinen!«

Minnele trat ein.

Im Vorzimmer wurde ihr vom Diener ein Stuhl hingerückt mit dem artigen Bemerken, sie wolle nur gefälligst Platz hier nehmen.

Minnele, befangen und klopfenden Herzens, tat wie ihr gesagt wurde, sie setzte sich und wartete, während sich an der Küchentüre einige Mädchen neugierig drängten.

Zum Glücke dauerte es nicht lange, so kam die Frau des Hauses aus dem Boudoire, um das Mädchen zu sehen, das in ihre Dienste treten wollte.

Im geschmackvollsten Morgenkleide, eine schöne, üppige, junge Frau, trat sie heraus und stellt sich wohlwollend heiter vor das schnell aufstehende Minnele hin.

»Wo kommst du her, mein Kind, und wer empfiehlt dich mir?« fragte sie etwas zerstreut, und ohne Minnele näher anzusehen.

Minnele gab eine gefasste und einfache Erklärung und blickte erwartend zu der schönen Frau empor; sie mochte wohl denken:

»Hier möchte ich bleiben, hier ist es groß und freundlich, und die Frau ist lieb und gut.«

Indessen hatte auch die Frau des Hauses schärfere Blicke auf dem Angesichte Minneles ruhen lassen, wurde schweigsam, nachdenklich.

Nach einer Weile sagte sie mit gerührtem Blick:

»Mein liebes Kind, ich kann dir sagen, mir ist leid, recht leid, dass ich dich nicht nehmen kann; du gefällst mir wohl, ganz wohl, allein ich muss – ich muss die weiter ziehen lassen!«

Sie schwieg und überlegte die bedauernswerte Schwäche ihres Mannes für das zartere Geschlecht.

»Dieser Engel und sein wildes Blut«, bedachte sie – »es geht nicht, ich kann die Arme ihrer Schönheit wegen nicht behalten!«

Sie reichte Minnele zwei Silberstücke hin und sagte:

»Leb' wohl, mein Kind, beschirme Gott dich in der großen, schlimmen Stadt; du wirst ja wohl ein gutes Haus noch finden.«

Minnele nahm ihr weißes Bündelchen wieder und wollte danken, konnte aber nicht reden; vor Wehmut drückte sie's im Halsgrübchen, und so mussten schon zwei große Tränen sagen, was sie fühlt' und dachte.

Vor dem Tore auf der Straße stehend, konnte Minnele noch immer nicht anders als mit schwimmenden Augen auf das Blättchen sehen, welches ihr den Weg zu den beiden anderen Herrschaften vorzeichnete.

Die zweite Adresse lautete auf die »Frau Bank-Gouverneurswitwe Maria Sophia Ettersheim« in der Großangerstraße Nr. 8, an der neuen Münze; die dritte Adresse nannte eine »Frau Frau Brettenheim, Seidenfabrikantens-Gattin« am Eingange in der Hauptstraße der Vorstadt Katharinengrund Nr. 15.

Minnele beschloss, die Frau Bankgouverneurswitwe zuerst aufzusuchen; Mutter Eulalia, dachte sie, hätte ihr diese Adresse nicht in zweiter Reihe aufgeschrieben, wenn sie davon nicht mehr gehalten hätte als von der dritten.

Auch die Bezeichnung »Witwe« zog sie an, in dem sie sich dazu ein stilles, häusliches, anziehendes Leben dachte; überdies war auch der Weg zur Bankgouverneurin viel kürzer als zur Fabrikanten-Gattin, weil diese in einer fernen Vorstadt wohnte.

Also machte sich Minnele auf den Weg, und nicht ohne Zagen nach dem Fehlschlagen ihrer ersten Hoffnung.

Um allen Belästigungen auf der Straße zu entgehen, hing sich Minnele ein Tüchelchen wieder um den Kopf und fragte hier und dort nur bejahrte Frauen nach der Großangerstraße und der neuen Münze.

Nach einer Viertelstunde Weges stand Minnele vor dem Tore des Hauses Nr. 8, nahm ihr Tüchelchen vom Kopfe und ging durch das Tor nach der Treppe.

Unglücklicherweise sprang eben knapp hinter ihr singen und pfeifend auch ein junger, elegant gekleideter Herr ins Haus, der mit reich beringter Hand ohne Unterlass ein Spazierstöckchen schwang und noch vor Minnele die Treppe hinaufzukommen suchte.

Wahrscheinlich gewohnt, kein Frauenzimmergesicht unbesehen zu lassen, blickte er im Vorübereilen auch nach Minnele zurück; aber das leichtfertige Auge des Jünglings schien sich unvermutet ernster zu verfangen, als es eigentlich vermeint war.

Wie von einem elektrischen Schlage berührt, und einen leichtgestöhnten Ausruf auf den Lippen, blieb der junge Herr wie angewurzelt stehen und ließ Schön-Minnele an sich vorübergehen.

»All ihr seligen Wunder und Wundertäter übereinander, was ist das?« rief er mit komischer Bestürzung und folgte dann, schnell sich fassend, dem erschrockenen Kinde, das in Sorgen vor dem keineswegs blöden Menschen, in halber Flucht die Treppe hinauf zu entkommen suchte.

Eine Art unwillkürlichen Respekts vor einer bisher nie ersehenen, engelhaften weiblichen Schönheit ließ den jungen Herrn die Treppe hinauf noch Anstand und Sitte beachten; allein kaum merkte er, das schöne Kind verirre sich vor dieselbe Türe im zweiten Stock, welche das Ziel seiner eigenen Wanderung war, so erwachte auf einmal der ganze Jugendteufel in ihm, und sein Betragen drohte die Grenzen des Gebührlichen zu überschreiten.

Minnele wehrte sich tapfer gegen das Drängen eines junge, dreisten Stutzers und war eben daran, ich siegreich von ihrer Seite zu treiben, als sich die Vortür der Wohnung auftat – und die Frau Gouverneurswitwe, schwarz gekleidet, Ernst und Strenge im kreideblassen Angesicht, heraustrat, eben im Begriffe nach der Kirche zu gehen und ihre Andacht zu verrichten; ein Diener trug ihr das Gebetbuch nach.

Sie hielt beim Anblick dieser Szene voll Entsetzen inne, prüfte bald den jungen Mann, der nun verlegen und kleinlaut seitwärts stand, bald wieder Schön-Minneles verwirrtes, hochglühendes Gesicht und sagte endlich:

»Was will die fremde Dirn' im Haus? Mein Sohn, du hast mich sehr betrübt – geh' augenblicks hinein! Wir reden noch davon!«

Das liebe Söhnchen schlüpfte schnell und folgsam in die Zimmer und verschwand.

Zu Minnele gewendet, fuhr die fromme Gouverneurin fort:

»Was steht sie länger da? Was führt sie her? Will sie mir mein gut geartet Kind verführen?«

Minnele glaubte, es drehe sich der Boden unter ihr, und die Decke über ihr müsse über ihr zusammenstürzen; schmerzlich und verwirrt gestand sie, was sie hergeführt – worauf sie kurz, streng, herzlos mit den Worten abgefertigt wurde:

»Fort mit ihr! Niste sie unter ihres Gleiche und verderbe sie Kinder schlechter Eltern, nicht die meinen!«

Kaum wissend, ob sie wache oder träume, wankte Minnele die Treppe hinunter und auf die freie Straße hinaus.

Gegenüber dem Hause Nr. 8 steht eine Marienkirche; Minnele schien versucht zu sein, ihrem Schmerz und ihrer Verwirrung dort durch Beten und Weinen Luft zu machen, allein wie geblendet fand sie den Eingang in die Kirche nicht, lehnte sich daher nur am Endes des Baues in einen Winkel, zitterte wie ein flüchtig Reh im Walde, versuchte zu beten, aber vermochte es nicht.

Das brausende Leben der Straße, welches kalt und rastlos an ihr vorübertrieb, erfasste endlich auch Minnele wieder und riss sie mit sich fort, ihr den Mut der Verzweiflung gebend, der schon manches Menschenschicksal hart am Abgrund rettete.

Minnele wollte nicht des Vorwurfs schuldig werden, dass sie durch zu früh ermüdeten Eifer oder durch unzeitiges Verzagen ein übles Los sich selber zugezogen.

Sie las entschlossen die dritte Adresse noch einmal, umhüllte dann ihr schönes Angesicht mit ihrem Tüchlein und suchte in Gottes Namen durch Straßen, Menschengewühl und Tore den Weg nach der Vorstadt Katharinengrund.

Mit Fragen und Irregehen brauchte Minnele eine volle Stunde bis an Ort und Stelle; dafür sollte sie umso schneller das Haus Nr. 15 am Eingang der Straße selbst auffinden.

Gleich rechts eröffnete die breite und sehr belebte Straße eine hohe Gartenmauer, über welche das üppige, junge Grün von Kastanien und Linden hervorsah, an die Gartenmauer schloss sich dann das Haus Nr. 15, nur ein Stockwerk hoch und, wie es schien, bloß zum Bewohnen einer wohlhabenden Familie eingerichtet.

Aus dem Garten hörte Minnele die heiteren Stimmen einer Gesellschaft von Kindern und Erwachsenen, die Familie Brettenhelm mochte ihr Gabelfrühstück im Garten nehmen.

Es war auch so.

Minnele hatte kaum die Glocke des Tores gezogen, als ein sehr bejahrter Diener, der zugleich das Amt eines Torwarts zu versehen schien, einen Torflügel öffnete und Minnele fragte, was sie Gutes bringe.

Äußerlich gefasst, im Innern aber voll Besorgnis, sagte Minnele den Grund, weshalb sie komme.

Der Diener blickte nachdenklich zu Boden und sagte:

»Hm, soviel ich weiß, hat die gnädige Frau noch niemand aufgenommen.«

Dann winkte er, dass Minnele in der unteren Halle bleiben möge, und bemerkte weitergehend:

»Melden will ich sie also; aber ich weiß nicht – die Familie ist mir dem Bräutigam im Garten, vielleicht kommt sie da nicht ganz gelegen.«

Minnele blieb so ruhig auf ihrem Platze stehen, als ob sie fürchtete, die leiseste Bewegung könne ihrem Glücke schaden.

Nach einer Weile kam der Diener bis ans Gartenpförtchen zurück, öffnete es und winkte Minnele näher.

»So«, sagte er, »trete sie nur herein; die gnädige Freu wird gleich erscheinen.«

Minnele trat in den Garten; der alte Diener schloss das Pförtchen hinter ihr und begab sich wieder auf den Posten an dem Tore.

»Das ist aber ein sauberes, sauberes Stück Weiblein, sozusagen ein würziges Stück von einem Weiblein«, sagte er ganz ernsthaft vor sich hin.

Um Minnele aber sammelte sich bald ein reger Kreis von Menschen, und es wurde mit Staunen und Entzücken an dem schönen Kinde herumgesehen.

Unter den vergnügten Betrachtern war Frau Brettenhelm selber.

Sie war eine hochgewachsene, schlanke, lebhaft-freundliche Frau mit jenen groß-braunen, gutmütigen Augen, in denen auch kein Fünkchen Unedles leuchtet und die stets mit vollem, offenem gleich das ganze Vertrauen mit einem gewinnenden Blicke zu schauen pflegen.

Minnele hatte kaum ihr Anliegen vor der bewegten Versammlung ausgesprochen, als die Frau des Hauses zustimmend sagte:

»Wir sind einig, Kind; geh' gleich hinauf und sieh', wie du behilflich sein kannst in der Küche. Ich habe mit Sehnsucht auf ein braves Mädchen gewartet, das scheinst du mir zu sein.«

Wie von unsichtbaren Armen getragen, verließ Minnele den Garten und begab sich eine Treppe hinauf, um zu tun, wie ihr geheißen war.

Vor der Türe zur Wohnung überfiel sie ein Schwindel wie nach glücklich überstandener großer Gefahr, sie hielt sich eine Weile mit beiden Händen an der Wand, bis der Anfall sich verlor; leicht und fröhlich im Gemüte, zog sie dann die Glocke, trat ein und sagte, ihr schneeweißes Bündelchen hinlegend:

»Die gnädige Frau schickt mich herauf, ich bin in Dienst genommen.«

Sie hatte in Kurzem die Gunst einer bejahrten Köchin gewonnen, welche seit vierzehn Tagen alle Küchenarbeit fast allein verrichten musste, indem das zu entlassende Dienstmädchen, wie es zu geschehen pflegt, aus Trotz ihre Pflicht kaum halb mehr tat.

So hatte Schön-Minnele eine Stunde sich des Lebens wieder gefreut, hatte rüstig Teller ausgeschwenkt und getrocknet, das Vorzimmer mit feuchtem Leinen »aufgezogen«, zwei Fenster der Halle blank gewaschen und wollte sich eben zu einem Schüsselchen Frühstück, das ihr die Köchin aus freundlichem Antriebe hingestellt, voll Verlangen niederlassen, als auf einmal die Glocke lebhaft gezogen wurde und nach einigen Sekunden das älteste Fräulein des Hauses, die Braut, hereintrat.

Minnele selbst war aufgesprungen und hatte dem Fräulein die Türe geöffnet; dies schien der aufgeregt Hereintretenden eben recht; dann beinahe fieberhaft ergriff sie Schön-Minneles Hand, sagte: »Komme sie mit mir ins Zimmer«, und zog sie, ohne eine Erwiderung abzuwarten, hinter sich durchs erst, zweite bis ins dritte Zimmer.

Dort warf sie sich etwas phantastisch und voll Leidenschaft auf ein Ruhebett und ließ auch da noch Minneles Hand nicht los, bis das erschrocken Kind sich neben ihr niederließ.

»Ich komme aus dem Garten, mein Kind«, sagte sie nicht ohne Verwirrung und Stocken, »ich komme – die Mutter schickt mich – damit ich ihr sage« – sie strich bei diesen Worten die schwarzen Locken ihres Tituskopfes hinter das rechte Ohr und wechselte die Farbe – »ich komme, dass ich ihr sage, es habe sich ein Irrtum ereignet – und der Dienst ist vorhin nicht mehr zu haben gewesen, er ist schon gestern vergeben worden. Die Mutter hat es vergessen gehabt; aber eben ist die Frau drunten, eine Dienstzubringerin, der hat die Mutter Auftrag gegeben, ihr ein Mädchen zu suchen, gestern hat sie schon sagen lassen, sei habe eins, so eben bringt sie es wirklich ins Haus – und nun, nun ist es nicht zu ändern – der Mutter – uns allen ist's leid; aber sie muss unser Haus verlassen, mein Kind, sogleich und in aller Stille; die Zubringerin darf von allem nichts wissen.«

Sie stand auf und setzte dann ebenso hastig hinzu:

»Hat sie Gepäck? Wo hat sie es? Ich will's ihr selber holen. Sie darf nicht mehr aus dem Zimmer, bis sie ihr Gepäck in Händen hat, und sie muss sich gleich und in aller Stille über die zweite Treppe hinunter entfernen.«

Minnele saß da, von Schrecken und Weh erdrückt, kaum vermochte sie auf wiederholte Fragen mit der Hand ein Zeichen zu geben, dass ihr Bündelchen in der Küche liege.

Das Fräulein aber, eine große, schöne Erscheinung, kaum achtzehn Sommer und sehr leidenschaftlich, war ohne Zögern hinausgeeilt und brachte Minneles Bündelchen wirklich.

»Jetzt komm, komm, mein Kind«, fuhr sie dringlich fort – »es ist kein Augenblick zu verlieren, folge mir, du darfst im Hause nicht mehr gesehen werden!«

Beide gingen durch ein Zimmer nach einem Korridor, von da erreichten sie eine Hintertreppe, die sie eiligst hinuntergingen; drunten ein Pförtchen öffnend und Minnele auf die Straße lassend, sagte das Fräulein:

»Geh mit Gott, mein Kind, und vergib uns das Versehen; wir können nicht anders!«

Nach diesen stürmisch und nicht ohne aufrichtige Wehmut gesprochenen Worten warf sie rasch die Türe zu, drehte den Schlüssel um und eilte glühend von Aufregung nach dem Garten zurück.

Ihr Bräutigam, ein hübscher, eleganter junger Mann mit blauen Augen, braunem Bart und Haare, begrüßte sie, aus einer Kastanienallee vortretend, mit der Frage:

»Wo steckst du denn, Sophie? Warum so stürmisch und bewegt?«

Die Angeredete drückte ihm verlegen die Hand, suchte ohne weitere Antwort ihre Mutter auf, die sie seitwärts allein in einer Laube fand, fiel ihr um den Hals, küsste sie weinend und sagte dann zu ihren Füßen niedergleitend:

»Mutter! Mutter! Vergib mir und vergiss, was ich getan habe; ich weiß, es war nicht wohl getan, es war hart, herzlos, ein halbes Verbrechen; – aber ich habe mir nicht helfen können!«

Und nun gestand sie, dass sie das neue Dienstmädchen, das schöne Wesen, wieder fortgeschickt habe, weil die Nähe desselben ganz gewiss die Treue ihres Bräutigams erschüttert hätte. Ihres Bräutigams willen, den sie ganz haben müsse, dessen geringste Untreue ihr Tod sein würde, habe sie das gefährliche Kind entfernt, und das zwar eilends, weil sie wohl gemerkt, welchen Eindruck das Mädchen auf ihren Eduard bereits gemacht, denn nicht nur Blicke, auch Worte hätten seines Herzens Schwäche schon verraten!

Frau Brettenhelm hörte diese Nachricht mit Betrübnis.

»Steh auf, Sophie«, sagte sie dann, »es wär' doch zu wunderlich, wenn du so gesehen würdest! Was soll aus deiner Leidenschaft, aus deiner unseligen Eifersucht noch werden? Ich weiß nicht, soll ich dich mehr bedauern oder schelten. Mein Gott! Das arme Kind schickst du fort, das so glücklich schien, hier bleiben zu dürfen! Nimm dich in acht, dass dein Bräutigam diesen Streich nicht auch erfährt, er würde ihm sehr missfallen!«

Ja, ja – das arme Kind, das schwergeprüfte Minnele!

Da stand es wieder ohne Obdach auf der freien Straße, gebeugter und bekümmerter als je, ihr schneeweißes Bündelchen in der Hand – und verlassener als je! ...


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