Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neuntes Kapitel

Vier Wochen später, an einem schönen Junitag, Schlag ein Uhr mittags, lief die Toni Fähringer vor ihrer Wohnung über die Straße, um aus einer nahen Konditorei eine Torte und Nachtisch-Leckereien zu holen.

Toni mochte an das und jenes, an ihre Trinkgelder, an die leckeren Tafelabfälle oder auch an die Artigkeiten denken, welche ihr heute wieder von einigen »lieben alten Herren« heimlich zugeflüstert wurden; sie sprang recht munter dahin und war nicht selten im Falle, hier oder dort ein Weiblein oder Männlein streifend, um den Schwerpunkt der Haltung zu bringen.

Sie wäre auch mancher Zurechtweisung nicht entgangen, wenn der Anblick des in der Tat hübschen Mädchens die Getroffenen nicht sogleich beschwichtigt hätte.

So war Toni unbeirrt dahingezogen und wollte eben um eine Straßenecke biegen – als auch Justus Erdlein, das Blaumeisle, von der anderen Seite kommend, um die Ecke bog.

Statt seines langen, blauen Rockes hatte er eine Jacke von derselben Farbe an, trug einen langen Esskorb in der rechten Hand und schien »eilend mit Weile« seiner Wege zu gehen.

Er hatte in einem größeren Speisehause Beschäftigung gefunden, reinigte den einquartierten Gästen die Kleider und leistete ihnen Läuferdienste, den Abonnenten über die Straße aber trug er ihr Mittagessen in das Haus.

In letzterer Beschäftigung, nachdenklich vor sich hin gehend, ersah ihn nun die Toni Fähringer und lief mit großer Freude auf ihn zu.

»Ei, Justus Erdlein! Justus Erdlein!« rief sie: »Wollt Ihr denn nicht stille halten und auf ein Landsleut sehen? Seid Ihr stolz und ganz verändert? Guten Tag, Gott grüß' Euch!«

Justus blickte auf und nickte eben nicht freundlich mit dem Kopfe, indem er etwas ungeduldig stehen blieb.

»Ah«, sagte er, »Toni Fähringer. Wie kommen wir da zusammen? Wo bist du im Dienst, und wie geht es dir?«

Toni stellte sich heiter und triumphierend vor ihn hin, begann ihre bis Dato glückliche Laufbahn des Breitesten zu beschreiben und ihren Schlepp, die neue Kleidung, vor ihm auszubreiten.

Sie trug ein rosafarbenen Kattunkleid, hatte ihr ländliches Kopftuch mit gescheiteltem Haare vertauscht und unterließ besonders nicht, ihre Zeugstiefelchen unterm Kleide hervorzustrecken, indem sie bald mit der rechten, bald mit der linken Fußspitze im Pflaster bohrte.

Blaumeisle war ihr in diesem Augenblicke, wenn nicht der liebste, doch gewiss der erwünschteste Mann, der ihr begegnen konnte.

Ihm zu sagen, zu beschreiben, in wessen Hause sie sei, wie glänzend sie lebe, wie fräuleinmäßig sie gehalten werde – ihn ahnen zu lassen, was ihr noch alles, Hohes und Herrliches, bevorstehen könne, das gewährte ihr jetzt eine tiefe Befriedigung.

Ohnehin war bereits ein Dutzend jubelnder Depeschen nach der Heimat abgegangen; dem Justus Erdlein gegenüber hatte sie besondere Gründe, sich ihres günstigen Loses zu rühmen.

Jetzt konnte sie mit Vorteil eine Rechtfertigung ihrer Verschwörung an Mann bringen, da sie unter Erdleins Schutz wohl nimmer eine so hohe Freudenstellung einnehmen würde; jetzt konnte sie Minneles Anbeter die Seufzer, die Blicke, den verhängnisvollen Braten, die Klagen über das verlorene Minnele eintränken; denn unmöglich, dachte sie, könne Minnele in ihrem Alltagsrock dem alten Narren besser gefallen haben als sie jetzt, im hellen fräuleinhaften Stadtgewand.

Auch war ihr Justus Erdleins Redlichkeit jetzt eine höchst erwünschte und brauchbare Eigenschaft, denn sie konnte darauf rechnen, dass er, gegen Winter heimkommend, treulich berichte werde, wo und wie er sie gesehen; an seinem Zeugnisse lag ihr alles, es fand unbedingten Glauben, während sie stets besorgt sein musste, dass man ihre Briefe mindestens mit Vorsicht aufnahm.

Leider war Justus Erdlein augenscheinlich nicht in der Laune, einen geduldigen und aufmerksamen Zuhörer abzugeben.

Sei es, dass er ohnehin ganz andere Dinge zu denken oder dass er Tonis Streiche von der Reise her keineswegs vergessen hatte, kurz, er nahm den Esskorb, den er, vor Wagen und Menschen sichernd, einige Augenblicke hinter einen großen Eckstein gestellt hatte, mitten in der schwungvollsten Schilderung der Toni wieder auf, rückte am Käppchen, ohne eine Miene zu ändern, nickte einmal leicht über die Schulter und ging seines Weges.

Aber die Fähringer-Toni war nicht gesonnen, ihn des Weges so ziehen zu lassen, sie sagte: »Ihr eilt wohl, Erdlein? Gut, so geh' ich noch zehn Schritte mit«, und fegte rührig neben ihm her.

Er musste nun zum Allgemeinen noch das Besondere hören, wie oft ihre Herrschaft Gäste im Hause sehe und was für seltene Gäste; dass unter diesen Gästen öfter auch jener vornehme, von wegen des Goldstückes unvergessliche Herr sich befinde, er was ganz Besonderes sein müsse, da er »Exzellenz« genannt werde und im Betragen und Trinkgelderzahlen gar zu exzellent sei. Von allen aber sei der gute, alte Herr von Sentis gar zu lieb und gut und gebe Trinkgelder, dass es nicht erhört sei und behandele sie (die Toni) wie ein Vater und mache alles wieder gut, was manchmal die Migräne und der hochnäsige Stolz der gnädigen Frau und – die Zuchtrute von Kammermädchen verderbe, denn dieser müsse sie immer zwei Drittel von allen Trinkgeldern geben, müsse Wache stehen, wenn bei Abwesenheit der Herrschaft ihr Liebhaber, der »überflüssige oder überzählige« Herr Konzipient sitze, wo er gewöhnlich bis zum Augenblick der höchsten Gefahr nicht aus dem Hause zu bringen sei –

Justus Erdlein trat in das Tor eines Hauses, sagte: »Hier muss ich das Essen abliefern« – rückte wieder flüchtig an der Kappe und schwenkte ruhig und halb in Gedanken der Treppe des Hauses zu.

Er hatte auch schon einige Schritte in dieser Richtung getan, als er plötzlich, wie sich besinnend, wieder stehen blieb und gesenkten Blickes beinahe traurig fragte:

»Wo ist denn Minnele? Hast du nichts von ihr erfahren? Wie mag es ihr ergehen?«

Toni Fähringer, welche der Meinung gewesen, Justus Erdlein sei nur deshalb stehen geblieben, um nun seine Freude und Verwunderung über ihr Glück auszudrücken, glaubte bei dieser unerwarteten Frage Blaumeisles in den Boden zu sinken; alle Blut, welche ihr Übermut und Beredsamkeit auf Stirn und Wangen getrieben, stürzte sich häuptlings in die Tiefe ihres Gemütes zurück, und mit einer Stimme, die vor Galle bebte, sagte sie:

»Was die! Was soll denn dieser fehlen? Die kann überall von ihrer Schönheit leben! Behüt' Euch Gott, Blaumeisle!«

Da!

Nach diesem Triumphe ging sie fort und versüßte sich im Zuckerbäckerladen die Galle durch einige Näschereien, bevor sie der Herrschaft Torte und Konfekt nach Hause brachte.

Erdlein aber vertiefte sich jetzt ebenso wenig in Tonis letzte Worte als in ihre früheren Ruhmreden pro domo.

Er ging ruhig und nachdenklich die Treppe hinauf, bis er in dieser aufsteigenden Linie den Stammesrest einer sonst zahlreichen Bürgerfamilie, einen jungen Maler, erreichte, der im Dachstübchen seiner Kunst und seinen Idealen lebte; hier gab er in die Hände des bescheidenen Kunstjüngers den Esskorb ab, mit dem gewöhnlichen Wunsche: »Wohl bekomm's Ihnen, lieber Herr«, empfing dann den geleerten Korb wieder zurück und entfernte sich, wie er gekommen war.

Der gute Alte war allen Ernstes der letzten Reiseerlebnisse und namentlich des verloren gegangenen Minneles willen trübsinnig geworden.

Er wusste die ganze Sachlage heute noch nicht anders, als dass Minnele sich an jenem Morgen freiwillig von der Gesellschaft getrennt und ihr vorausgeeilt sei, um nicht ferner die Plackereien der vorhergehenden Tage erleiden zu müssen.

Dass Minnele mit diesem unerwarteten Entschluss auch ihn, den wohlmeinenden Freund, umging und dass er sie später in der Hauptstadt nicht mehr traf, um sich ihr angenehm und nützlich zu machen, das legte sich dem alten Manne schwer aufs Herz.

Wo war nun Minnele? Mit welchen Ängsten und Nöten rang sie im Gewirre der großen, lauten Stadt?

Nein, eine solche Pilgerfahrt nach der Hauptstadt hatte Erdlein nie gemacht: unter seinen anvertrauten Schäflein Meutereien ausgebrochen! Und das liebste, süßeste Lämmlein verloren gegangen, verschollen – und weinte und verzagte vielleicht in einem Winkel der Hauptstadt alleine!

Um solcher Gedanken willen ernsthaft bekümmert, ging Erdlein seines Weges nach dem Speisehause zurück, um neu beladen anderen Abonnenten ihr Mittagesen in das Haus zu bringen.

Von der Ecke der Straße aus, welche er eben verließ, bis zur Mündung der gegenüber liegenden Nebenstraße hatte er eine der belebtesten Stellen der Hauptstadt zu durchschreiten.

Da nun hier den ganzen Tag das Donnern der Wagen und das Gedränge geschäftiger Menschen nicht endet, so musste Erdlein wohl überlegen, wie er diese Lebenswogen schnell und gewandt durchschneiden könne. Er stand einige Augenblicke stille, ließ seine Flügeladjutanten, ein Paar trefflicher Augen, des Gedränges Gewalt und Tiefen scharf ermessen, und sie hatten bald eine Furt zum Passieren entdeckt; – Erdlein besann sich keinen Augenblick, den günstigen Umstand zu benützen, und in Kurzem stand er an der Häuserreihe drüben außer Gefahr.

Nun war er glücklich und gedachte gemächlich seines Weges zu gehen.

Aber es schien, als gefiele es dem Meere des Lebens heute, seine Wogen ungewöhnlich aufzuregen und für das einzelne Schifflein ungeahnte Klippen zu türmen.

Statt die Nebenstraße, welcher Erdlein zusteuerte, freier als die Hauptstraße zu finden, fand unser Wanderer ihren Eingang namentlich von jungen und alten, eleganten Herren angefüllt, ja, im vollen Sinne des Wortes abgesperrt.

Nicht weit von der Ecke der Nebenstraße stand ein vornehmer Wagen mit zwei feingebauten Braunen in Silbergeschirr; aus demselben waren zwei Damen, eine bejahrte und eine ganz jugendliche ausgestiegen und in das Eckgewölbe »zur schönen Pariserin« eingetreten.

Im Laufe einiger Minuten hatten sich um den Wagen und vor dem Luxusladen einzelne Gruppen von Herren gesammelt, die, immer noch anwachsend, eine undurchdringliche Masse bildeten.

Während die Neuankommenden fragte, was da zu sehen sei, waren aller Augen durch die Glastüre oder das Schaufenster nach dem Inneren des Ladens gerichtet, wo in diesem Augenblicke unmöglich etwas anderes als die Erscheinung der beiden Damen interessieren konnte; denn die Shawls, die Spitzen, das Arrangement der Kleiderstoffe im Laden waren dieselben wie in jedem Luxusladen, und außer den zwei Damen befand sich nur eine umfangreiche Ladenfrau im Innern des Gewölbes.

Justus Erdlein, der nur die Wahl hatte, entweder durch diese Nebenstraße auf kurzem Wege nach seinem Speisehause zu gelangen oder auf einem sehr großen Umwege die für seinen Esskorb wahrhaft von Gefahren strotzende Hauptstraße zurückzulegen, versuchte hier und da, ein zweiter Winkelried, seine Brust vielen vereinten Lanzenspitzen von Ellbogen und Spazierstäbchen entgegen zu werfen, um sich nach der Nebenstraße durchzuarbeiten; allein vergebens, er vermochte nicht den Phalanx heißbeherzter Ritter zu durchbrechen, prallte immer unverrichteter Sache zurück und musste manche raugräfliche Lanze der Verwünschung über sein beängstigtes Haupt hinsausen hören.

Was war zu tun?

Ehe Justus Erdlein sich's versah, hatten sich auch hinter ihm bald Neugierige in erklecklicher Zahl gesammelt, so dass er, ringsum eingeschlossen, sich auch nicht mehr nach der Hauptstraße durchzukämpfen wusste.

Den Umständen Rechnung tragend, beschloss er daher, weder vor noch zurück zu dringen, sondern sich vom Zufall selber führen und befreien zu lassen; so ergeben in seine unfreiwillige Lage, eroberte Erdlein wenigsten einen Platz vor der Glastüre des Luxusladens, und da er größer war als die meisten vor ihm Stehenden, auch treffliche Augen hatte, so konnte es nicht fehlen, klar zu sehen, was im Laden vorging.

Es war im Grunde nichts Besonderes.

Die Ladenfrau häufte von ihren Luxusstoffen Muster auf dem schön polierten Vorlagbrette und entfaltete ein Stück von jedem; die junge Dame stand in schüchterner Entfernung von den Stoffen, und es schien, als habe sie Respekt, ja Angst vor alle den Herrlichkeiten; nur wenn ihre Begleiterin, die ältere Dame mit der Ladenfrau zu reden aufhörte, um sich rechte und links im Laden umzusehen, dann suchte der jungen Dame schönes Auge gleichsam Hilfe bei dieser und irrte ängstlich weiter durch die Räume des Ladens.

Aber der älteren Dame, einer stattlichen, reich gekleideten Erscheinung mit großen Feueraugen und länglich vollem, ehrwürdigem, nur etwas zu gerötetem Gesichte, schienen Waren und Kind nur nebenher beachtenswert; ihre Blicke machten sich mehr mit einzelnen Zuschauern vor dem Schaufenster und der Glastüre zu schaffen.

Endlich aber musste des Aufsehens halber der Szene ein Ende gemacht und irgendein Kauf abgeschlossen werden.

Ohne die Farbe oder Güte eines Moirestoffes besonders zu prüfen, ließ nun die ältere Dame sich einige Längen vom Stücke schneiden, legte ihre Adresse hin und machte Miene, aus dem Laden zu treten und sich nach ihrem Wagen zu begeben.

Alsobald bildete das Volk von Kavalieren draußen eine schmale Gasse und pflanzte Zwicker und Lorgnetten vor die Augen, um genau zu sehen.

Die »Alte«, welche zuerst aus dem Laden trat, erhielt höchstens von einige bekannten Herren flüchtige Blicke, allein das Engelsgesicht des Kindes, welches hinter ihr kam, fesselte im nächsten Augenblick die Sehkraft aller Versammelten so vollständig, dass man sagen durfte: Alles war um sie verschwunden und sie nur, die Erscheinung einer schöneren Welt, gehe still und unnahbar vorüber.

Einige Sekunden war es atemlos stille; dann regte sich lebhaft und rasch ein Flüstern und Fragen: die Versammlung, aus ihrer früheren Stellung rückend, suchte den Kern ihrer Masse zu lösen, schon ihn aber ungelöst den beiden Damen nach, die übrigens schneller, als man dachte, in ihrem Wagen saßen und brausend von dannen fuhren – der grüne Schleier des schönen Kindes wehte noch an der nächsten Straßenecke duftiglich zurück, an den süßen Frühling erinnernd, den das Herz dieses Kindes wohl noch zu vergeben habe.

Zwei Kavaliere, gewohnt und geübt, ein Abenteuer zu verfolgen, sprangen unverweilt in eine Fiaker, der die Damen hatte fahren sehen, und befahlen, es koste auch Wagen und Pferde, der Equipage auf dem Fuße zu folgen.

Von den Übrigen begab sich jeder nach seiner Weise resigniert auf seinen Weg.

Der eine klopfte sich, indem er weiter ging, mit dem Knopfe seines Stäbchens fast die Schaufelzähne aus dem Munde.

Der andere brummte den Text von Goethes Fischer zur Melodie: »Ein Schütz bin ich!«

Ein dritter stieß das Fenster eines Bücherladens ein, indem er glaubte, in ein Gasthaus zu treten.

Wie viele Kinder man zu dieser Stunde den Wärterinnen übern Haufen rannte, wäre wohl der Mühe wert zu hören.

Doch sei so viel nur noch erwähnt, dass fünf Minuten nach dieser Szene vor dem Luxusladen, außer einem einzigen Zuschauer, alle anderen verschwunden waren.

Jener eine Zuschauer aber war Justus Erdlein.

Er hatte nicht so leicht resignieren und sich entfernen können, denn wie eine Salzsäule unbeweglich stand er da und konnte sich nicht fassen.

Jenes engelschöne »Fräulein« im Violettkleide, schwarzer Samtmantille und grünem Schleier auf dem Hut war Minnele gewesen – Schön-Minnele – sein verlorenes Schäflein und sein anvertrautes Wanderkind! ...


 << zurück weiter >>