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Zehntes Kapitel

Minnele lebte seit einigen Wochen in der Tat als angenommenes Kind der Frau Baronin von Seltern.

Noch am Tag der Aufnahme in ihre Haus schien die Baronin ihrer Neigung zu dem schönen Kindes nicht widerstehen zu können, sie kündigte mit ausgesuchten Worten an, was ihrem Herzen Edles begegne und führte Minnele ohne Verzug als Baroness von Seltern, wenn nicht dem Namen, doch der Tat nach auf den Schauplatz ihres häuslichen, später auch öffentlichen Lebens.

Wie es einem Seligen zu Mute sein mag, der plötzlich aus dem Dunkel dieses Lebens in die Gefilde der Verklärung übertritt, so mit den Gefühlen der seligsten Rührung folgte Minnele dem Rufe ihrer zweiten Mutter auf den Boden ihres neuen Lebens.

Das Erste war, dass Minneles ländlicher Anzug den neuen Verhältnissen zum Opfer fiel.

Die Hülle und Zierde der Schönheit sollte von Grund aus eine andere werden; der äußeren Verwandlung sollte dass die innere auf dem Fuße folgen.

Als Schön-Minnele im Kämmerchen ihre längliche Kleidung ablegte, da glaubte sie, ihr halbes Wesen trenne sich von ihr und ziehe mit der lieben, gewohnten Tracht von dannen.

Als sie dann heraustrat in dem neuen Schmuck, da glaubte sie im Spiegel gegenüber ein anderes, ach so verschiedenes Wesen zu sehen, schön zwar über alles, aber fremd, so fremd, so über alle Maßen anders; es war ihr, als könne sie nie und nimmermehr zurück zu ihre hingeschiedenen Wesen und dürfe auch nicht vorwärts, um mit ihrem Spiegelbilde eins zu werden.

Aber Minnele sollte in ihrem neuen Verhältnis keine Zeit behalten, um ihr Herz unnötig mit Betrachtungen zu quälen.

Denn da war ihr gleich ein Kammerzöfchen zur Seite gegeben, eine lebendige Plaudermühle, welcher die Natur für ein hundertjähriges Leben den nötigen Vorrat Klapperkorn aufgeschüttet; die Zöfchen, selber verzweifelt hübsch, empfing am ersten und jeden folgenden Morgen Minnele aus den Armen des Schlafes, war kaum zu bewegen, ihr Zungenrad so lange zu hemmen, bis Minnele ihre Morgenandacht verrichtet hatte, holte das Versäumte dann fleißig nach und probierte unter tausend Tiraden über Moden und Minneles schöne Form bald dieses, bald jenes Kleid an, wobei nicht außer Acht gelassen wurde, Minneles Fantasie mit Vorstellungen über Putz zu bereichern und in ihrem Herzen manche Eitelkeiten wach zu rufen.

Aus den Händen dieser Zofe gelangte Minnele direkt in die Mutterarme der Baronin.

Diese befand sich gewöhnlich um zehn Uhr früh schon sorgfältig gekleidet im sogenannten Frühstückzimmer und empfing in Gesellschaft einer fernen Verwandten – Baroness Eleonora – Schön-Minnele stets mit freundlichem Zuruf.

Es wurden Minneles Aussehen und Toilette mit Eifer besprochen und über Kapitel der Schönheit und Mode des Breitesten verhandelt.

Gegen elf Uhr ließen sich gewöhnlich einige Freundinnen Eleonorans melden, und das Gespräch nahm Wendungen und verfocht Tendenzen, welchen Minnele gewisse nur mit Missbehagen zugehört hätte, hätte sie überhaupt ein eigentliches Verständnis derselben gehabt.

War auf diese Weise ein Kreis von Freundinnen um Minnele versammelt, dann pflegte sich die Baronin zu entfernen, um die Kinder einer freien Morgengeselligkeit zu überlassen.

Es wurde gescherzt, gespielt, gelacht und mitunter ein Witzlein nicht zu feiner Art zum Besten gegeben; auch fehlte es nicht an häufigen Versuchen, Minnele für seltsam-fremdartige Tänze einzunehmen.

Gegen zwölf Uhr ließ die Gouvernante fragen, ob Schön-Minnele aufgeräumt sei, um einigen Unterricht im Lesen, Schreiben und in Sprachen zu nehmen. Minnele war immer schnell bereit, den Unterricht anzunehmen; er dauerte ihr leider zu kurze Zeit, denn von zwölf bis ein Uhr kamen zwei bis drei Gegenstände flüchtig uns spielend zum Vortrag.

Aber die Baronin litt es nicht anders.

»Mein Kind«, pflegte sie zu sagen, »soll sich nicht blass und hager studieren wie ein Professor, was es braucht, das wird es noch lernen und erfahren!«

Desto mehr Muße sollte dem Tanz- und Zeremonienmeister gewidmet werden.

Er war der erste unter den Meistern, der für Minnele ins Haus gerufen wurde.

»Ich habe ein liebes Töchterlein angenommen«, rief die Baronin, da der Zeremonienmeister zum ersten Mal erschien, »dies Kind soll nun stehen, gehen und sitzen lernen!«

Und Minnele lernte mehr als das.

Wie sich unter den Händen eines Genius alles veredelt, so gibt es eine Schönheit, welche jeder Bewegung den Reiz der Anmut verleiht.

Nicht nur im Stehen und Gehen, auch in den Wendungen des Tanzes entwickelte Minnele so viel Grazie, dass der Tanzmeister bald bescheiden eingestand, was er zu lehren im Stande sei, bedeute wenig gegen den wunderbaren Reiz, welchen Minneles holde Natur ihren Bewegungen verleihe.

Sticken und Klavierspiel mussten natürlich in die neue Tagesordnung aufgenommen werden.

Den Unterricht in diesen Gegenständen leitete dieselbe Gouvernante, welche Minnele im Lesen, Schreiben und Sprechen unterrichtete.

Es war eine kleine verwachsene und äußerst schüchterne Person von dreißig Jahren, welche nicht im Hause wohnte, sondern nur für einige Stunden zum Unterricht erschien; man hatte sie Schön-Minnele als letzte Sprossin einer herabgekommenen Adelsfamilie vorgeführt, der aus Rücksicht ein bescheidener Lebensunterhalt gewährt werde.

Es hätte dieser Beileid erregenden Mitteilung nicht bedurft, um Minneles Gemüt der Armen zuzuwenden.

Sooft die Gouvernante kam und ging, wusste Minnele etwas zu sagen oder zu tun, was ihr angenehm war, und im Erfüllen ihrer Aufgaben suchte sie den Wünschen der Lehrerin auf das Gewissenhafteste nachzukommen.

Wie gerne hätten beide, Zimmer an Zimmer, neben einander gewohnt, Musik, Sprachen und andere Übungen getrieben!

Aber die Gouvernante sagte ängstlich um sich blickend: »Die Frau Baronin will es nicht«, und Minnele sagte ohne Vorwurf lächelnd:

»Einer Mutter muss man allweg folgen.«

So blieb's denn, wie es war.

Mit diesem Zeit-Budget zur Weiterbildung Minneles stand die Geld- und Zeitverschwendung, welche »dem Leben«, d.h. den Zerstreuungen gewidmet wurden, nicht entfernt im Verhältnis.

Regelmäßig um ein Uhr mittags hielt die Equipage der Frau Baronin mit den Braunen im Silbergeschirr vor dem Tore.

Die Baronin fuhr mit Minnele nach dieser oder jener Richtung in der Stadt spazieren.

Es wäre kaum möglich, Minneles Empfindungen zu schildern, welche sie bewegten, wenn sie so im offenen Wagen und herrlich gekleidet, erhaben über die Sorgen und Beschwerden des Menschenlebens dahinflog.

Mit wehmütigen Augen blickte sie nieder auf die drängenden Menschlein in den Straßen, die sich ängstigten und jagten ihres Daseins halber; mit Schauder und Weh gedachte sie an den Tag, wo sie selber eben ankam und, ohne zu wissen, wo ihr müdes Haupt hinlegen, durch die Straßen eilte!

Wo war nun Justus Erdlein, der gute, alte Führer auf der Reise? Wo waren ihre Landsmänninnen, die Toni Fähringer und die anderen?

Ach, Minnele hatte die Beleidigungen längst vergessen, es wäre ihr so lieb gewesen, eines von ihnen, wenn auch nur von Weitem zu erblicken!

Aus solchen Gedanken wurde Minnele immer aufgeweckt durch die bunten Szenen der Straßen und Plätze, welche mit ihren himmelhohen Häusern und ihren prachtvollen Schaufenstern stets einen tiefen Eindruck auf den Neuling machen.

»Mutter! Mutter!« rief es dann in Minneles Herzen – »Mutter daheim, o könntest du das alles sehen!«

Die Baronin pflegte bei solchen Fahrten ihren Wagen gewöhnlich an einer der belebtesten Stellen der Stadt halten zu lassen, mit Minnele auszusteigen und eine Weile dort auf und ab zu gehen, so sich die elegante Welt am zahlreichsten zu versammeln und zu sehen liebte.

Es fehlte nie an großem Aufsehen, sooft Schön-Minnele an der Seite der Baronin erschien und auf und nieder ging; ja, seitdem dieses Erscheinen mit einer gewissen Regelmäßigkeit wiederkehrte, konnte man bemerken, dass die Stunde des Erscheinens schon im Voraus neugierige Gruppen stellte, die mit Spannung das »Mädchen aus der Feenwelt« erwarteten.

Schön-Minnele, durch den Glanz der sie umgebenden Welt geblendet, hielt es kaum für möglich, dass jemand unter solchen Herrlichkeiten ein Auge »für ihr bisschen Gesicht« haben könne; aber die Baronin sammelte um so eifriger mit stolzen und triumphierende Blicken die Eroberungen Schön-Minneles.

Das Lächeln der Baronin, ihr großes, unruhiges Auge, das Zucken ihrer Wimpern, ihr ganzes Mienenspiel schien eine vielsagende Korrespondenz nach allen Seiten zu unterhalten.

Punkt drei Uhr war die Baronin wieder zu Hause, überließ Minnele noch eine Stunde der Gouvernante während sie selber Besuche empfing, dann ging man zu Tische.

Das Mittagessen pflegte sonst regelmäßig um vier Uhr aufgetragen zu werden; seitdem nun aber Minnele im Hause war, sah man den Zeiger auf fünf und sechs Uhr vorrücken, bevor dir Baronin den Befehl zu Tische gab.

Bei Tische erschien außer der Baronin und Minnele anfangs nur noch die Baroness Eleonora; seit den letzten acht Tagen aber war auch noch der Doktor des Hauses gewöhnlicher Tischgenosse.

Dieser war ein breiter, behaglicher Mann mit rotem Weingesicht und schwarzen, listigen Augen.

Er schien so vertraulich in den kleinen Familienkreis gezogen zu werden, weil er eben, wie es hieß, einen Onkel der Baronin in Behandlung hatte, an welchem ihr außerordentlich viel lag.

Denn die erste Frage der Baronin, sooft der Doktor in das Speisezimmer trat, war stets:

»O, sagt mir, lieber Doktor, wie geht es heut? Was macht der Kranke?«

Der Doktor gab sodann sein Tagesbulletin zum Besten und schloss regelmäßig den Bericht mit Worten wachsenden Bedenkens.

Die Baronin klagte dann laut und lebhaft über den möglichen Verlust des braven, unglücklichen Mannes und gab sich nicht eher einem geselligen Tischgespräche hin, als bis der Doktor und Eleonora ihre Tröstungen aufgeboten hatten und aus Minneles Augen eine Träne der Teilnahme fiel.

War die Lage der Dinge so weit gediehen, dann allerdings sprach die Baronin wieder so geruhsam und heiter, dass der liebe Onkel nicht schöner hätte vergessen werden können.

Namentlich die Erlebnisse der letzten Spazierfahrt bereicherten die Zunge der Baronin ungewöhnlich mit Stoff zu Ausfällen, Witzen und Bemerkungen.

Es wimmelte dabei von fürstlichen und gräflichen Namen – ihre Verhältnisse, ihre Liebschaften, ihr Aussehen, oder namentlich die Toilette der Damen wurden ernst und ergötzlich durchgesprochen.

Der Doktor hing dann auch wie ein chinesischer Glockenturm voll schallender Stadtgeschichten von Ministern, Bankiers und schönen Frauen, so wie auch Baroness Eleonora manches Wörtlein frei hatte an das Schicksal dieses und jenes guten Namens.

Nach Tische zog sich die Baronin nach ihrem Kabinette zurück, und der Doktor pflegte ihr zu folgen.

Minnele aber durfte, von der Baroness Eleonora begleitet, nach dem Garten gehen, wo sich bald noch eine oder die andere Freundin der Letzteren einfand, um ihnen mit Ball- und Versteckspielen, mit Scherzen und Lesen wunderlicher Bücher die Zeit zu vertreiben.

Schön-Minnele war zu kurze Zeit von dieser Welt umfangen, hatte jüngst noch zu schwer die Hand des Schicksals auf sich lasten gefühlt, um schon jetzt mit klaren Blicken oder mit ruhiger Seele dieses neue Leben zu prüfen und ermüdend zu finden; Minnele folgte daher den Sitten und Weisungen, den Spielen und Ergötzungen des Hauses wie eine Traumwandelnde, weder rechts noch links sehend, weder Gefahren, Unziemlichkeiten oder Abgründe neben ihren Füßen bemerkend.

Punkt halb sieben Uhr hielt die Equipage wieder vor dem Hause.

Die Baronin und Minnele erschienen in neuer Toilette und fuhren entweder nach einem der öffentlichen Gärten, wo die berühmtesten Orchester spielten und das zerstreuungssüchtige Publikum sich reichlich einfand, oder sie fuhren nach einem der Theater. Ballett, Oper und Posse – diesen drei Gattungen der Bühne gab die Baronin entschieden und ausschließlich den Vorzug.

In der Oper war es eines Abends – man gab den »Don Juan« – wo Schön-Minnele außer den mächtigen Eindrücken der Oper noch eine gewaltige Überraschung erlebte.

Auf der Bühne wurde eben die Nachtszene dargestellt, in welcher Don Juan die Statue des Gouverneurs zum Feste ladet und dieselbe bei dem grauenhaften Schalle der Blechinstrumente geisterhaft das Haupt senkt und die Einladung annimmt.

Minnele war dem Verlaufe der Szene mit jener außerordentlichen Spannung eines Theaterneulings gefolgt, dem Dichtung und Wahrheit denselben Eindruck machen; aber das Nicken der Statue und die Schauertöne geisterhafter Instrumente scheuchten Minneles Blicke entsetzt von der Bühne nach den Räumen der Zuschauer zurück, um Trost und Beruhigung im Anblick der versammelten Mensch zu finden.

Leider sollte diese Zuflucht einer unerwarteten Entdeckung halber wenig Erleichterung schaffen.

Denn als Minneles Blicke von der Bühne zurück sich zu der ersten Logenreihe erhoben, da bebten sie aufs Neue vor dem Haupte eines Mannes zurück, der in der gegenüber befindlichen Loge saß und mit starren Augen durch eine goldene Lorgnette nach ihr blickte.

Der Mann war jener fremde Herr im Reisewagen, dessen Shawl und Goldstück Minnele so unvergesslich geblieben.

Seine »Exzellenz« sah, wie Minnele bemerken wollte, dem Geister-Gouverneur der Bühne ganz erschreckend ähnlich, so dass ihre zuckenden Blicke schnell hinweg und zur Baronin flüchteten, die ihrerseits nicht wenig getroffen war, indem ihre Augen eben auch mit der Geister-Exzellenz gegenüber beschäftigt waren, freilich in ganz anderer Weise.

Dem Minnele entging zwar dieser Umstand, aber das widerwärtige Gegenüber haftete den ganzen Abend beunruhigend an ihren Gedanken; – ja, im Traume derselben Nacht erschien ihr »Seine Exzellenz« vollständig in der mondscheinblassen Geisterrüstung des Gouverneurs, wie dieser mit Grabesstimme singend zu Don Juan eintritt; nur hielt er statt des Kommandostabes einen Reiseshawl in der Hand.

In Schweiß gebadet, erwachte Minnele am nächsten Morgen, wagte aber niemand von dem Erlebnisse zu sagen.


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