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XI.
Die Gründlimühle

Nichts kann trauriger scheinen als die »Gründlimühle« tief in einem Tale des Gebirges

Von Flieder und Apfelbäumen umringt, sendet sie ihr Klappern und Rauschen rings durch eine Wildnis von Tannen und wird erst selbst erblickt, wenn von oben, wo die Straße schwindelnd am Abhang dahinführt, das Auge in die Tiefe fällt.

Wie mancher Wanderer steht hier stille und betrachtet mit Behagen dieses kleine Bild des Lebens, lange in der Irre gegangen, ist er durch die Stimme der Mühle wieder auf gebahnten Weg geraten und sieht nun mit verstärkter Freude unten die flatternden Tauben auf dem Dach, die schäumenden Wellen auf dem Rade; dann und wann schreitet auch ein Mühlknecht oder ein Haushund über den Hof, und ein Hahn verkündet den Wechsel des Wetters auf dem Zaune …

So friedlich sah vor vielen Jahren auch die Mühle einmal aus, als eines Morgens ein Weib von mittlerem Alter in den Hofraum trat und einen Knaben mit sich führte.

Das Weib schritt lebhaft aus und redete zürnend vor sich hin; der Knabe aber war still und zuckte dann und wann wie jemand, der schmerzlich bewegt ein Schluchzen unterdrückt; eine rote und eine blasse Wange ließen wohl erraten, dass kein sanfter Augenblick vorhergegangen.

Beide waren nach wenigen Schritten in das Dunkel des nahen Waldes verschwunden, als die Türe des Hauses wieder aufging und eine andere Gestalt hervortrat.

Es war ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren; sein Anzug von lichtblauem Leinen und mehlbestaubt von oben bis unten zeigte augenblicklich, wessen Amts er sei; nicht ganz so schnell war aus dem Angesicht des Mannes auf sein Herz zu schließen.

Hager und faltenreich, mit schmaler Stirn und hervortretendem Kinn gab es den wasserblauen Augen, zwischen denen eine lange, dünne Nase hervortrat, keine angenehme Umgebung, und der unstete Blick verscheuchte vollends jeden besseren Eindruck.

War der erste Anblick dieses Mannes nicht erbaulich, so war es noch viel weniger sein Tun und Treiben.

Er ging mit gesenktem Kopf herum, die Augen immer am Boden, auch wenn er jemand sprach; wurde er nicht sogleich verstanden oder gelang ihm eine Arbeit nicht alsbald, so spuckte er heftig aus, ließ keinen Laut mehr hören und machte sich ganz einfach anderwärts zu schaffen.

Leute von weiter her, die ihr Getreide in die Mühle brachten und sich wenig an die düstere Unart dieses Mannes kehrten, waren sonst gar wohl mit ihm zufrieden; er bediente jedermann getreulich, und auch nicht der kleinste Unterschleif war je erhört.

Anders freilich verhielt es sich mit jenen, die ihm stündlich nahe standen. Namentlich seine Schwester, die er, weil er Junggeselle war, im Hause hatte, und der Waisenknabe eines fernen Anverwandten wussten manches Trübe zu berichten; denn konnte er auch Tage und Wochen ziemlich friedlich sich verhalten, so traten doch die Launen und Seltsamkeiten dann so rascher und greller auf …

Eine ziemlich ruhige Woche war eben wieder vorüber, als heute Morgen der Knabe Gottlieb, zur Schulprüfung sonntäglich geputzt, vor das Kruzifix in der Stubenecke trat und sein Morgengebet verrichtete.

Die klare Kindesstimme und die schönen Worte des Gebetes klangen rührend, und die Schwester des Müllers, welche den Knaben wie ihren Augapfel liebte, stand erbaut und bewegt in der Ferne, um die Andacht leise mitzusprechen.

Bei den Schlussworten des Gebetes: »Sei uns und allen armen Sündern gnädig, Herr!« trat der Müller in die Stube; aber die letzten Worte hören, wie von einer Tarantel gestochen aufzucken – hinfahren und dem Knaben eine furchtbare Ohrfeige geben, war das Werk des nächsten Augenblicks.

Der Knabe stand da und zuckte kaum, von mancher argen Misshandlung heimgesucht, hatte er eine Selbstüberwindung gewonnen, die weit über seine Jahre ging; leider fiel ihm heute wieder seine hingeschiedene gute Mutter ein, und er konnte seine Wehmut und ein aufzuckendes Schluchzen nicht ganz unterdrücken.

Desto heftiger brachen der Schmerz und die zürnende Abwehr bei der Schwester des Müllers hervor. Sie sagte ihrem Bruder ziemlich ohne Vorbehalt, was sie von dem barbarischen Gewaltakt halte, den er eben gegen den Kleinen begangen; zog diesen dann begütigend ans Herz, brach in Tränen aus und sagte:

»Sei ruhig und ertrag's noch diesmal, Gottlieb! Der Himmel wird Dir noch vergüten, was der Wilde da an Dir gesündigt!«

Hierauf warf sie ihr Kopftuch über, nahm des Knaben Bücher und Schriften vom Gestelle und ging mit ihm wehklagend und zürnend aus der Stube; sie hatte den Knaben stets zur Prüfung begleitet und wollte es auch heute nicht versäumen.

War das Behagen des Müllers immer seltsam gewesen, so erschien es jetzt besonders rätselhaft.

Gleichsam erleichter durch den Schlag nach dem Knaben, war er ruhiger geworden, erwiderte die heftigen Worte der Schwester mit keiner Silbe, lächelt nur stille vor sich hin und nagte an einem Hobelspan, während er unter allerlei Werkzeug an der Stubenwand herumgriff.

Als die Schwester mit dem Knaben fortgegangen war, schritt er wie zerstreut durch die Mühle, schien sich besonders gerne zwischen den donnernden Rädern aufzuhalten, wo er auf dünnen Leitern und schwanken Brettern wie ein Traumwandler herumstieg; nach einer halben Stunde kam er wieder aus der Mühle heraus, trat vor einen Mahlknecht hin und sagte halb zwischen den Zähnen:

»Hab' mir acht auf die Mühle, Vinzenz; ich hab' einen Gang und komme vor nachts nicht wieder«, doch als er von dem Knechte nicht sogleich verstanden wurde, spuckte er aus, wiederholte seine Worte nicht mehr, kam in die Stube zurück, legte bessere Kleider an und schritt, nachdem er Kammer und Stube wohl verschlossen, auch dem Walde zu.

Es war ein schöner Frühlingsmorgen, auf den Gräsern funkelte der Tau, und von den Zweigen der Bäume jubelte tausendstimmig der Chor der Vögel. Der Betrübte und der Frohe, der Schuldige wie der Unschuldige konnten unmöglich durch den grünen Dom des Waldes schreiten, ohne sich mit Wonne oder Schauer zu erinnern, was sein Herz zumeist anging.

Herwald, der Müller, schritt mit gesenkten Blicken dahin und wechselte manchmal die Farbe; er suchte den Vergnügten zu spielen und begann sogar ein Liedchen zu summen, es misslang indessen arg; je tiefer er in die Waldesnacht geriet, desto straffen stieß er den Wanderstock in die Erde, desto sichtbarer beflügelte er seine Schritte, um ins Freie zu gelangen.

Wo der Weg sich nach Erdingen und Saalfeld scheidet, steht ein Kreuz errichte, mit lebensgroßem Heiland, reich verziert, auf festem Postamente. Wer vorüberkommt, erhebt das Auge ehrfurchtsvoll, der Gläubige zieht den Hut, der Bedrängte stürzt mit Bitten vor ihm nieder; – als heute Morgen Herwalds Schwester mit dem Knaben vorüberkam, knieten sie beide hin und beteten mit Inbrunst zu dem Herrn; – der Müller aber wechselte die Farbe, griff mit großen Schritten aus, dem Bild des Herrn Gebet und Gruß versagend. Wie einer, der eben mancherlei Gefahr entgangen, kam er endlich an den Rand des Waldes, trat ins Freue und atmete erleichtert auf.

Herwald war auf dem Wege nach Saalfeld, um sich einen Mühlstein zu bestellen; er musste durch Talfurt, wo eben die Prüfung der Dorfkinder abgehalten wurde.

Indem der Müller durch den Ort ging und in die Nähe des Schulhauses kam, sah er die Straße von seltsamen Gruppen förmlich abgesperrt.

Alles blickte und horcht nach den offenen Fenstern des Schulgebäudes, wo die Fragen der Lehrer und die Antworten der Schüler in vollem Gange waren.

Hatte die Prüfung im Ganzen einen erfreulichen Erfolg, so erregte doch die Art, wie namentlich ein Knabe jede Frage zu beantworten, jede Aufgabe sogleich zu lösen verstand, die höchste Bewunderung. Gleichsam mit seinem Nachdenken schon im Reinen, bevor eine Frage ausgesprochen war, hielt er mit seiner Erwiderung nur so lange zurück, bis sie auf seiner Zunge abgerundet war; und wie der Geist seiner Worte, so erquickte und rührte seine Stimme.

Wiederholt erhob sich ein und der andere Schulvorstand, um den prächtigen Knaben lobend anzusprechen und ihm freundlich die Hand aufs Haupt zu legen.

»Fahre so fort, mein Kind«, sagte der Vikar zu wiederholten Malen, »und es wird in diesem und in jenem Leben Dir zum Segen werden!«

»Dass Deine guten Eltern noch lebten! Welche Freude würden sie haben!« bemerkte unter anderem der Schulrat auch einmal.

Ein leises Schluchzen wurde nach diesen Worten gehört; die Schwester des Müllers, die unter den Zuschauern stand, weinte vor Freude und Wehmut, denn der gelobte und bewunderte Knabe war ihr kleiner Gottlieb, ihr lieber Ziehsohn, ihr Herzpunkt.

Den schönsten Teil der heutigen Feier gab indessen doch der Schluss der Prüfung!

Gottlieb hatte nämlich noch einen »Spruch« zu sagen, der mit einfachen und herzlichen Worten den Vorgesetzten für ihre väterliche Sorge um den Unterricht, dem Lehrer für seinen Eifer und die vielfache Geduld mit den Schwächen der Jugend, den Eltern für Pflege und zahllose Mühen dankte, welche die Ernährung, Kleidung und Erziehung der Kinder verursachen. Gegen den Schluss der Anrede hin hatte der kleine Sprecher auch der armen Waisen zu gedenken, welche an Verwandten und Fremden ihre Wohltäter gefunden, die nun gebeten wurden, ferner Geduld zu haben mit den verlassenen Wesen, deren sorgende Väter und Mütter zu früh aus diesem Leben geschieden!

Gottliebs Stimme wurde bei den letzteren Worten bebend, seine Augen trübten sich, und die linke Wange, die bis jetzt noch immer etwas röter als die andere war, erblasste rasch und sichtlich. Doch vollendete der Knabe standhaft, was er zu sagen hatte und erhöhte so die Rührung und Teilnahme, welche ihm heute schon so reichlich zuteilgeworden …

Nach Beendigung der Prüfung schlugen drei Männer unter den sich zerstreuenden Zuschauern die Straße nach Saalfeld ein. Zwei derselben konnten nicht fertig werden, von dem Eindruck zu reden, den ihnen der Knabe gemacht hatte, und sie priesen ihren Begleiter glücklich, dass ihm der Himmel ein so vorzügliches Kind zur Pflege und Leitung in die Hände gegeben.

»Halt' und ehr' es wohl, Herwald«, sagte der eine der Männer wiederholt – »Du wirst noch große Freude mit dem Kind erleben!«

Der zweite Begleiter stimmte mit Wärme in diesen Rat und erinnerte noch einmal daran, als er bei Auern »guten Tag« sagte und abwärts seines Weges ging.

Herwald, der Müller, hatte die Reden der Männer stumm gehört und schritt wortlos seines Weges, als er endlich wieder ganz allein war. Aber hinter diesem Schweigen entwickelte sich offenbar ein Wunderbares, dem noch Wort und Zeichen fehlten …

Es war schon gegen Mitternacht, als sich im Hofraum der Gründlimühle Schritte hören ließen und Herwald von seinem Gange nach Saalfeld zurückkam.

Niemand als der große Hofhund, der schweigend den Kopf aus der Hütte steckte und wieder zurückzog, sah ihn kommen; er trat auch nicht lärmend wie sonst auf, um seine Gegenwart bemerkbar zu machen, ja selbst den Gang durch die Mühle, den er sonst niemals versäumte, unterließ er heute und begab sich graden Weges nach dem Hinterstübchen, wo er sonst zu schlafen pflegte.

Schon war er halb entkleidet – als er wie von einem Gedanken ergriffen stehen blieb, die Fläche der rechten Hand auf den Wirbel legte und eine Weile regungslos vor sich hinsah; – dann – ging er auf den Zehen wieder aus der Stube, schritt einen langen Hausgang dahin und blieb am Ende desselben vor einer kleinen Türe horchend stehen.

Die Räder der Mühle donnerten viel zu laut, als dass er irgendein Gespräch oder sonst welche Töne innerhalb der Türe hätte hören können, dennoch neigte er näher und näher sein Ohr an das Schloss, drückte sogar die Türe ein wenig auf und blieb in horchender Stellung eine gute Weile stehen.

Der Mond durchbrach in diesem Augenblicke eine Wolke, warf einen hellen Schimmer durch das Fenster und beleuchtete ein holdes Knabenantlitz, welchen schlummernd auf dem schlichten Lager ruhte.

Es war das Antlitz Gottliebs. Angenehm und traumlos schlief der wackere Knabe nach des Tages Mühen und Ehren; – still und zufrieden hatte er die Rührung und Freude seiner Pflegemutter hingenommen, still und zufrieden hatte er sein Nachtgebet verrichtet und war eingeschlafen.

Was suchte Herwald hier? Wollte er vernehmen, ob der Knabe den Schmerz über die erlittene Misshandlung erst in einsamer Mitternacht ausweine? Wollte er sehen – indem er jetzt bis an das Lager des Knaben hinschlich – ob die misshandelte Wange noch gerötet sei – ob die Stirne des Kleinen auch im Schlummer noch Spuren der Trauer zeige?

Es war ein furchtbar-schönes Bild: im grellen Mondlicht die gespenstig-hässliche Gestalt des Müllers über dem Bette und darunter das schöne Angesicht des schlummernden Knaben!

Aber keine Spur von Trauer lag auf der Stirne des Knaben; – die Wangen hatten beide eine gleich sanfte Färbung; – aus diesen Zeichen schien hervorzugehen, dass in den Schlummer des Kleinen kein Schmerz und keine Erinnerung an erlittene Unbill hinüber reiche.

War es diese Betrachtung, die den Müller leichter atmen, heiterer aufblicken machte?

Er raffte sich wieder empor, eilte auf den Zehen aus dem Kämmerlein, drückte die Türe wieder sachte und sorgfältig zu – und suchte nun sein eigenes Lager.

Andern Morgens war der Müller seltsam ruhig und sichtbar verlegen, aber auch milder als je. Seine Schwester war nicht wenig verwundert, als er einen Pack neuer Kleidungsstoffe für den Knaben auf den Tisch hinlegte; sie glaubte zu träumen, als er im Verlaufe des Tages wiederholt sich angelegen sein ließ, dem Knaben durch Worte und Achtsamkeiten angenehm zu werden.

Diese Art sich zu benehmen, schlug auch in den nächsten Tagen nicht um; sie machte im Gegenteil von Tag zu Tage guten Fortschritt.

Des Knaben Schlaf, seine Arbeiten und Schulgänge, Erlebnisse uns Spiele zogen die Teilnahme des Müllers auf sich, und er war mit freundlichen Fragen, Erkundigungen und Ratschlägen unablässig bie der Hand.

Gottlieb, das Gute wie das Schlimme stets mit sanfter Fassung duldend, ward bei dieser neuen Handlungsart des Vetters doch verlegen und wusste kaum, war er sagen, wie er alles nehmen solle. Auch die Schwester des Müllers, anfangs so angenehm überrascht, war in Kurzem neuen Zweifeln heimgefallen; – als sie aber merkte, dass ihr Bruder sich gar um die Morgen- und Abendandacht ihres Gottliebs warm bekümmere, da erhielt ihr Vertrauen zu der Änderung des Bruders feste Zuversicht.

Daher sagte sie eines Morgens, als der Knabe zum Schulgang gerüstet sein Gebet gesprochen hatte:

»Bruder, wie bist Du besser worden! Bleib' nur so, und wir haben dann den Himmel schon auf Erden!«

»Den Himmel auf Erden« – wiederholte der Bruder langsam und mit stockender Stimme; – vollendete aber nicht, was er weiter sagen wollte, nahm den Hut von der Wand und machte sich selbst mit dem Knaben auf den Weg nach der Schule.

Es war wieder ein schöner, warmer Morgen, und die Sänger des Waldes hielten ihre Lieder, die den Schöpfer preisen und die Menschen erfreuen sollten, nicht zurück. Herwald führte den Knaben mit leiser Fieberhast an der Hand und sprach auch etwas bewegter als sonst; so kamen beide bis zum großen Krzuifix im Walde, und der Vetter sagte plötzlich:

»Dort geh' hin, Gottlieb; – knie hin und bete zum himmlischen Vater, dass er Dir gnädig sei von jetzt an und Dich erleuchte; – tu' so, geh' hin und knie nieder!«

Der Knabe kniete und betete still, während Herwald, den Hut in der Hand und vom Bild des Erlösers halb abgewendet, vor sich in den Wald hineinstarrte.

»Ist getan, was ich gesagt habe?« rief er nach einer Weile.

Der Knabe machte ein Kreuz, stand auf und sagte:

»Ja, Vetter!«

»Gut – so komm jetzt weiter!«

Und so wie sie gekommen waren, gingen sie weiter nach der Schule.

»Du musst mir jetzt sagen«, fuhr der Müller nach einigem Schweigen fort – »Du musst mir sagen, was Du am liebsten werden möchtest.«

Mit seltsamer Bewegung harrte er auf die Antwort des Knaben.

Dieser war etwas überrascht von der Frage und wusste eigentlich nicht gleich, was er antworten sollte, sagte aber bald mit einiger Entschiedenheit:

»Lasst mich geistlich werden, Vetter!«

Ein Blitz hätte den Müller nicht rascher zu Boden werfen können, als er jetzt auf die Knie fiel; das Angesicht mit beiden Händen bedeckend, blieb er eine Weile schweratmend und sprachlos also liegen, bis der Knabe, erschreckt von dem Anblick und in der Meinung, er habe etwas Unliebsames begehrt, mit bebender Stimme sagte:

»Ich kann auch werden, was Ihr wollt, Vetter; – sagt es nur, sagt es nur selber!«

Aber heftig aufstehend und fieberhaft den Kleinen weiterführend, rief der Müller:

»Nein, nein; – das hat Dir Gott eingegeben; – werde geistlich, werde es; – es ist auch mein Wusch, ich will Dir einmal sagen, warum.«

Der Lehrer von Talfurt war nicht wenig überrascht, den Müller im Schulhause erscheinen zu sehen, wo er sich sonst nie hatte blicken lassen; noch höher stieg seine Verwunderung, als Herwald bat, dem Knaben dreimal die Woche besonderen Unterricht erteilen zu wollen, er werde gerne zahlen, was es koste!

Vom Lehrer begab sich Herwald zum Pfarrer in die Wohnung und fragte an, ob es Sr. Hochwürden nicht möglich wäre, seinen Ziehsohn im Latein vorzubereiten, da er beschlossen habe, ihn studieren zu lassen.

Der Pfarrer nahm den wunderlichsten Christen seiner Gemeinde ebenfalls mit Überraschung auf, besprach sich ausführlich über die Kosten des Studierens, und als der Müller mit einiger Heftigkeit bemerkte, die Kosten seien das Wenigste, die wolle er gerne tragen – fragte er nur noch, auf welches Ziel hin der Kleine studieren solle.

»Er soll geistlich werden!« hieß die Antwort.

Das war denn auch dem Pfarrer endlich recht, und so begann schon in den nächsten Tagen der Vorbereitungsunterricht. Gottlieb enttäuschte die großen Erwartungen nicht, welche man auf seinen Geist und sein Herz gesetzt hatte. Mit jedem Tage nahm er zu an Kenntnissen, Wohlsein und guten Sitten; es bedurfte keines ganzen Jahres, um ihn für den Eintritt in das Gymnasium tüchtig zu erklären. Einmal auf gebahntem Wege des Studiums schritt er auch stetig vorwärts, kam vom Gymnasium auf die Universität und schien hier ohne Kampf des Herzens den heißen Wunsch sowohl seines Vetters als seiner Ziehmutter zu erfüllen, indem er Theologie zu seinem Lebensberufe wählte …

Hatte der Müller den Studienweg seines Pflegesohns mit den sorgsamsten Augen verfolgt und es weder an Opfern noch Aufmerksamkeiten jeder Art fehlen lassen, um den Knaben und Jüngling über die Beschwerden und Sorgen des Lebens so gut als möglich hinwegzuheben, so erreichte diese rastlose und freudige Aufopferung der Müllers jetzt, wo der wohlgeratene Zögling endlich dem eigentlichen Ziele immer näher kam, die wahre Spitze. Er ließ es sich nicht nehmen, jährlich einige Male, mochte das Wetter sein, wie es wollte, zu Fuß nach der fernen Universität zu wandern, seinen Liebling zu sehen, zu sprechen, ihm an den Augen abzunehmen, ob er wohl sei, froh sei, einen besonderen Wunsch habe und ja noch recht zufrieden sei mit der Wahl seines Standes. Wie ein Pilger, bestäubt und müde kam er oft an, hatte seine Schuhe durchgegangen und auf dem Wege Hunger gelitten, ohne darauf zu achten; – wenn er sich nur sagen konnte, dass er Geld genug bei sich trage, um etwaige unerwartete Wünsche des Ziehsohnes befriedigen, ein namhaftes Geschenk zurücklassen zu können!

So rückte denn endlich auch die Zeit heran, wo Gottlieb die letzte Weihe als Priester erhalten sollte – und sie erhielt. In der heimatlichen Dorfkirche war es, wo der junge Geistliche unter großem Zulauf seinen ersten feierlichen Gottesdienst hielt und vierzehn Tage lang den üblichen Priestersegen den zahlreich herzu strömenden Gläubigen erteilte.

Wundersam genug wurde jetzt der Müller in demselben Maße stiller, verschlossener, ja zurückgezogener, als die Schwester und die fremden Leute sich dem jungen Priester froh und verehrend näher drängten. Zwar ging aus seinem Betragen die außerordentliche Verehrung und Liebe zu dem geweihten Pflegesohn immer noch deutlich hervor, aber irgendein Geheimnis, eine schwere Belastung des Gemütes schien Gewicht an Gewicht zu hängen und die Freude des Mannes tiefer und tiefer zu Boden zu ziehen.

In einer Nacht erwachte einst die Schwester des Müllers und hörte mit Entsetzen die Stimme ihres Bruders ächzen und wüten, dann jammern und röcheln.

Sie stand auf und näherte sich der Schlafstube des Bruders, als im nämlichen Augenblicke die Türe aufging und dieser selbst heraustrat.

Er war ganz angekleidet und hatte ein Licht in der Hand; – aber die starren Augen, der unsichere Gang hätten fast vermuten lassen, dass er im Traume wandle, wen er die Schwester nicht wohl erblickt und mit bebender Stimme angeredet hätte.

»Lauf' zu Gottlieb«, sagte er oft unterbrochen – Bitt' ihn um Gott und des Erlösers willen her, o Schwester; – ich bin krank, krank, krank; – Gottlieb möge kommen – die Beichte abnehmen; – ich kann's nicht länger tragen …«

Der junge Priester wohnte im Pfarrhof zu Talfurt und war also nicht gleich zur Hand; aber die Schwester war vom Jammer des Bruders so sehr hingerissen, dass sie sich trotz Nacht und Regen aufmachte, um den Geistlichen zu holen.

Drei Uhr des Morgens mochte es sein, als der junge Priester in der Gründlimühle erschien. Der Müller lag angekleidet, wie er war, auf seinem Bette und bedeckte beim Eintritt Gottliebs lautlos sein Gesicht.

Nachdem der Priester einige teilnehmende Fragen an den Gemütsleidenden gerichtet, winkte er seiner Ziehmutter, sich eine Weile zu entfernen, nahm die Stola um, verrichtete ein kurzes Gebet, schlug ein Kreuz über den Vetter und sagte:

»Nun vertraut mir: Was belastet Euer Herz?«

Der Müller erhob sich, fasste zitternd die beiden Hände des Ziehsohnes, kniete vor ihm nieder und begann nach einer Pause:

»Ich bin gefallen – gefallen, dass es fast kein Heil, keine Verzeihung mehr gibt! … Seit Jahren habe ich gesucht und gesucht, um einen Retter und Erlöser für mein Vergehen zu finden und habe keinen gefunden. Ich habe die Schwächen und Fehler aller Priester hier herum gesehen, keiner schien mir Gottbegnadigt und mächtig genug, um mich von der blutigen Tat loszusprechen, die ich begangen habe … Da hab' ich Dich, o Gottlieb, an dem Morgen, wo ich Dich beim Gebet misshandelt, in der Schule wieder gesehen, hab' Deine Antworten und die Lobsprüche gehört, die Dir zuteilgeworden; – wie ein Bote des Himmels bist Du mir erschienen, rein und lieblich und auf die Welt gesandt, als Priester über mich und mein Verbrechen zu richten und mich zu erlösen; – darum bin ich auf einmal so ein anderer geworden, habe Dich gehegt und geliebt, zum Studieren gebracht und Priester werden lassen; – und die Zeit ist jetzt da, wo Du – Du allein zwischen mir und dem Himmel binden und lösen sollst, was zu binden und zu lösen ist!«

Mit heftiger Bewegung halb sich wegwendend, die linke Hand über die Augen drückend und den Zeigefinger der rechen auf die Stelle des Bodens gerichtet, rief er dann:

»Hier – hier liegt er eingegraben – der Fremde, den Nacht und böses Wetter unter mein Dach gelockt und den ich nicht mehr lebend von dannen gelassen … Sein Geld ist neben ihm begraben – ich habe nach der Tat nichts davon behalten können!«

Er fiel auf sein Angesicht und fuhr dann fort:

»Hier bin ich, Gottlieb – hier lieg' ich im Staub; sag' es nur offen – sag': es ist aus mit mir, auf für jetzt und alle Ewigkeit!«

Der Priester suchte ihn durch einige Trostworte so weit aufzurichten, dass er die Umstände seiner Untat näher anzugeben vermochte; – nach dieser Erzählung stellte sich heraus, dass Herwald während einer stürmischen Nacht den bei ihm eingekehrten Wirt aus Angern erschlagen und in den Fußboden seiner Kammer vergraben hatte. Die früher so eifrig betriebenen Nachforschungen waren fruchtlos geblieben – eine wundersame Fügung hatte endlich jetzt erst das Geheimnis aufgeklärt.

Aber war der Priester an Trost und Ermutigung dem Gepeinigten zu sagen hatte, erreichte jetzt nur noch ein zerrüttetes Gehirn; – Herwald sank geistesirre zu Boden und erhob sich nicht mehr; ein Gehirnschlag hatte ihn getroffen.

Die Nachsuchung bestätigte, was der Müller ausgesagt; man fand die irdischen Reste des Wirtes aus Angern und neben ihm die ganze Summe seiner damaligen Barschaft. Die Gebeine wurden nach Angern gebracht, eingesegnet und feierlich in geweihte Erde bestattet; dies geschah an demselben Tage, an welchem Herwalds unseliger Leib in aller Stille, fern von den sterblichen Resten der Mitwelt, eingescharrt wurde.

Gottlieb führte trauernd und tröstend seine gute Pflegemutter nach der Mühle zurück und weihte das Haus für bessere künftige Tage. Dann zog er fort, um seine erste Priesterstelle anzutreten und kam nur von Zeit zu Zeit wieder zu Besuch …

Es war eines schönen Herbstnachmittages, die Gründlimühle stand wie in ihren friedlichsten Zeiten in der Tiefe des Tales, schickte ihr Klappern und Rauschen durch die Wildnis von Bäumen, Tauben girrten auf dem Dache, und im Hofraum schritten Müllerknechte hin und her – als sich auch wieder jene bekannte Priestergestalt der Mühle näherte und in den Hofraum trat mit den Worten: »Friede sein mit Euch!«

Eine alte Frau hatte sich eben eine Last Scheiter auf die Arme geladen, um sie in die Küche zu tragen; – aber die Stimme hören – das Holz von den Armen werfen und sich nach der lieben Stimme wenden, war das Werk eines Augenblicks.

»Gottlieb! Gottlieb!« rief die alte Frau – »Ach, dass Du wieder einmal kommst, dass Du wieder da bist!«

»Ja, ja, Mutter«, sagte der würdige Priester – »Diesmal hat es lange gedauert; dafür aber werde ich umso länger bleiben – mir ist ganz in der Nähe hier ein Pfarramt angetragen, und ich habe es angenommen!«

»Wo, wo?« rief die alte Frau hoch erfreut –

»In Buchberg bei Dobbl!«

Die Matrone schlug die Hände zusammen vor Freuden und sagte dann:

»Jetzt will ich mit dem Wirtschaften hier auch Amen machen, alles verkaufen und meine letzten Tage bei meinem Gottlieb verleben!«

Dies geschah denn auch – und vierzehn Tage später hielt Gottlieb Heylwart in Dobbls Pfarrdorfe Buchberg seinen feierlichen Einzug; – der Weringer erkannte in ihm zu seiner höchsten Überraschung und Freude – jenen wackeren geistlichen Herrn, der ihm während seiner Pilgerfahrt zum Passionsspiele so wundersam bekannt und von ganzem Herzen wert geworden war …


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