Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.
Der rechte Weg

»Ehen werden im Himmel geschlossen!«

»Aber auf Erden müssen sie ausgestanden werden!«

Das waren die Schlusssätze einer langen Unterredung, welche eine Stunde später die zwei jungen Fremden, in einem Fenster der Sonne liegend, miteinander geführt hatten.

Lenhold fühlte sich durch die letzten Worte des Freundes etwas verletzt und zog sich aus dem Fenster in das Zimmer zurück; Hardenfels lachte und suchte ihn durch einen milderen Zusatz wieder zu versöhnen.

»Ich zweifle ja nicht«, sagte er, ihm durch das Zimmer folgend, »dass Deine Arabella ein Engel ersten Ranges ist! Schön, arm, liebenswürdig – alles trifft zu, um ihren Wert auf die Spitze zu treiben; aber was ich Dir ans Herz legen wollte, war ja nicht ein Aufgeben der Heirat überhaupt, sondern nur ein Wunsch, mit dieser Heirat nicht zu eilen! Noch ist das Haus nicht gebaut, das Du bewohnen sollst, das Geschäft nicht im Gange, das den Hauptteil Deines Einkommens herbeischaffen soll; Du hast keine Zeit zum Heiraten, das ist alles, was ich sagen wollte!«

»Gut, gut«, sagte Lenhard etwas besser gestimmt, »wenn ich auch ernsthafte, als es der Fall ist, an die Heirat gedacht hätte, Du würdest mir den letzten Entschluss sauer genug gemacht haben! Lebe also wohl und sei gewiss, dass ich als Junggeselle wiederkomme, wie ich jetzt von Dir scheide!« Er nahm eine Reisetasche um und reichte seinem Freunde die Hand.

»Ein Mann, ein Wort!« rief Hardenfels dem Scheidenden nach – »Grüß Deinen Vater und geb' durchaus nicht zu, dass er das Knausern beim Arbeitslohn anfange!«

Ein durchdringender Pfiff der Lokomotive verkündete die Ankunft eines Zuges, und Lenhold eilte dem Bahnhofe zu; er sollte nach der Hauptstadt reisen, um die Beschaffung der nötigen Papiere und Gelder für die Fabrik zu betreiben …

»Was nun?« sagte Hardenfels, eine neue Zigarre anzündend und sich wieder in das Fenster legend. »Alles Wichtige ist vor der Hand abgetan. Was fange ich an, bis Lenholf wieder zurück ist?«

Ohnehin hatte Hardenfels den letzten Nachmittag bereits ziemlich untätig hingebracht und besorgte nun das drohende Heranrücken eines Zustandes, der ihm über die Maßen verhasst war – er besorgte sich langweilen zu müssen. Ein Gedanke, wie er diesem Zustande jedenfalls glücklich entrinnen könnte, beschlich ihn zwar und machte ihn beifällig lächeln, allein er schüttelte ihn doch bald wieder aus dem Haupte und sagte hinter einer dichten Zigarettenwolke her:

»Nein, besser, ich bleibe dem Alten ferne wie bisher – seine Narrheit ändert sich doch nicht mehr!«

Eine Harfe, die unten in der Gaststube anschlug, veranlasste Hardenfels hinabzugehen und sich unter die Abendgäste zu mengen.

Diese waren bereits zahlreich versammelt; auch der Weringer mit Schwäher und Schwiegersohn war bereits da; um ihn namentlich hatte sich ein dichter Kreis von Freunden und Bekannten versammelt. Wie sich nicht anders erwarten ließ, waren die Fabrik in Ettwangen und die Eisenbahn über das Gebirge fast ausschließlich Gegenstände des Gespräches. Anfangs ernst und schweigsam, hatte sich der Weringer endlich in die Unterredung eingelassen und versetzte seine alten Freunde in Erstaunen, Beck Vater und Sohn aber in wahres Entzücken. Denn er sprach sich nicht nur über die neue Eisenbahn billigend aus, sondern wusste zu den wichtigen Gründen dafür, die auch schon die Zeitung brachte, manche ganz neue hinzuzufügen, die aus seiner genauen Kenntnis der Verhältnisse im Gebirge entsprangen.

Ein Zufall wollte, dass er diese Verteidigung der Eisenbahn auch noch lebhafter führen musste, als er selber wollen konnte.

Denn es hatte sich an Weringers Tisch nach einer Weile auch ein Wirt aus Wappeln gesellt, der, allerdings ein trauriges Opfer der Ettwanger Eisenbahn, durch nutzlosen Starrsinn und vollständiges Aufgeben aller Selbstrettung von Stufe zu Stufe in Verwahrlosung gesunken war und nun als lebendes Schreckbild der Zeit herumging; auf ihn wiesen die Freunde des Neuen als warnendes Beispiel, wohin ein Feind der Neuerungen geraten müsse, auf ihn wiesen die Feinde des Neuen zum Beweise, was der fluchwürdige sogenannte Fortschritt an Gottes Ebenbilde, dem Menschen, verschulde. Der Wirt aus Wappeln, seine Schuld weder sich noch andern gestehend, ließ es natürlich nie und besonders heute nicht an heftigen und mitunter gottlosen Anklagen der Neuerungen fehlen, denn er hoffte an dem Weringer einen mächtigen Freund und Kampfgenossen zu finden; aber er täuschte sich gar sehr. Mit einem Ernst und einer Heftigkeit, die mächtig überraschten, trat der Weringer gegen diese Herausforderung auf und lehnte jede Gemeinschaft solcher Gesinnungen von sich ab.

Das Neue zu hassen, meinte er, müsse einem jeden freistehen, welcher durch dasselbe an seinem Vermögen und seiner Ehre Schaden leide; aber etwas anderes sei es, wie man sich aus Hass dem Neuen zu entziehen suche; er selbst (und er sah fest um sich) habe abgespannt und seiner alten Heimat sich entrissen, als das Neue gegen ihn hereingebrochen; aber er sei mit Weib und Kindern deshalb nicht ins Elend gezogen; er habe nur eine neue Heimat für sich und die Seinen gesucht und habe die Mittel gehabt, sie gut und achtbar auszustatten; wer aber seins Hasses willen gegen alles Neue sich und die Seinen fallen und verfallen lasse, der sei weder des Alten noch des Neuen wert und verdiene das Schicksal, das ihn strafe!

»Hätt' ich bocken wollen«, sagte der ebenfalls gegenwärtige Wirt aus Mengern, »so könnt' ich's jetzt grad' auch haben wie der Herr Nittler aus Wappeln. Mir hat die Eisenbahn auch Schenke und Vorspann genommen; da war ich kurz resofiert, hab' auf meine Wirtschaft mehr Fleiß und Geld verwendet, und so nehm' ich jetzt mehr ein als sonst!«

Das Hin und Wider des Gespräches wurden durch einen Künstler unterbrochen, der sich jetzt dem Tische näherte und mit Erlaub der Gesellschaft allerlei Karten- und Zauberstücke ausführte; diesen ließ er dann seine Rauchkünste folgen, welche die Ehre hatten, ganz vorzüglich gewürdigt zu werden.

Es war derselbe Wundermann, der einst im »weißen Bären« sich auch vor dem Weringer mit großer Anerkennung produziert hatte. Abgesehen von seinem vorgerückten Alter, war er so ziemlich unverändert aus der alten Zeit in die neue übergegangen und hatte nur in einem Stücke dem Fortschritt des Jahrhunderts Rechnung tragen zu müssen geglaubt, indem er jetzt neben seinen Künsten noch das Geschäft eines Bücherhausierers besorgte.

Hardenfels, der mit einigen Gästen seitwärts an einem Tische saß, war für diesen Abend der erste Mann des Vertrauens, an den sich der Künstler nach Beendigung der Produktion mit einem Angebot seiner kostbaren Druckwerke wendete.

»Stimmen aus der anderen Welt; – Kann sich der Mensch anderswo selbst sehen? – Vom dreibeinigen Hasen und den dreiundsechzig Bergmännlein; – Vom Blut-90 und dem Schwefelregen als Wirkungen der Teufelsmacht, beschrieben und bewiesen von Asmodeos; – Wiederholte und wahrhaftige Erscheinungen der Toten und deren Aussagen über das Jenseits« und dergleichen Werke waren es, welche das Paket des ehrenwerten Verkäufers ausschließlich enthielt.

Hardenfels machte anfangs ein ziemlich verdrießliches Gesicht, aber lachend fragte er dann:

»Wie könnt Ihr nur glauben, dass ich solchen Unsinn kaufen werde?«

Der Tausendkünstler erwiderte ganz unbetroffen, das sei natürlich, das gerade neuester Zeit wieder viele Gebildete und hohe Herrschaften mit Vorliebe nach solchen Offenbarungen griffen. Freilich, fügte er leise hinzu, sei im Ganzen jetzt hier herum wenig mehr zu machen, denn Eisenbahn und Industrie nehme den Leuten alle Phantasie, trockne ihnen förmlich das Hirn aus; all ihr Dichten und Trachten ginge nur auf Handgreifliches aus, Geld und Gut zu verdienen!

»Da ist's höher im Gebirge noch etwas besser«, schloss er seinen ausführlichen Bericht – »dort hat der wahre Glaube noch seinen Schnappsack für Wunder aus diesem und jenem Leben an der Seite. Hier«, und bei diesen Worten zeigte er auf ein zweites umfangreiches Paket – »diese Sammlung z.B. ist bereits im Voraus dort an Mann gebracht; – den größten Teil erhält der Baron von Scharfeneck, und den Rest nehmen andere gute Kunden im Gebirge!«

Hardenfels war wieder ernsthaft geworden und sagte jetzt dem Manne trocken heraus:

»Wenn ich Euch guten Rat geben soll, so packt Eure Ware schleunigst wieder ein und bietet sie wenigstens hier niemandem an; denn ich schwöre Euch, dass ich der erste bin, der Euern ganzen Kram ins Feuer wirft, sofern Ihr meinen Rat nicht wohl beachtet!«

Der Künstler ließ sich diese Warnung nicht zweimal sagen und packte in aller Eile sein gedrucktes Giftpapier wieder ein; Hardenfels aber fühlte seine gute Laune durch diesen Zwischenfall so sehr gestört, dass er bald darauf die untere Gaststube verließ und wieder auf sein Zimmer zurückkehrte.

»Er fährt fort, sein armes Alter mit diesen Ausgeburten des Betruges und Wahnes zu verdüstern«, sagte er mit steigender Unruhe, hin und wider gehend – »Mein ganzes Mitleid, mein ganzer Zorn wird wieder lebendig, wenn ich denke, was ich einst von diesem Unheil sehen und leiden musste!«

Er schwieg einen Augenblick, dann setzte er hinzu:

»Die Tante ist tot … Es wäre am Ende ein Akt der Nächstenliebe, wenn ich die paar freien Tage benutzte, um zu sehen, in wessen Händen der arme Greis jetzt ist und ob die Vernunft unter keiner Bedingung mehr Eingang bei ihm findet!«

Noch denselben Abend reifte der Entschluss, einige Tage ins Gebirge zu wandern und jenen »Geisterbaron« zu besuchen, dessen Namen wir wiederholt gehört und dessen Schlösslein, wie wir wissen, in der Gegend von Dobbl sich befand …

Der Weringer aber blieb mit seiner Gesellschaft bis nach Mitternacht in der Gaststube beisammen. Ein neuer Geist schien über ihn gekommen, ein jugendlicher Geist der Hoffnung und Tatkraft; er nannte es geradezu eine willkommene Aufgabe seines Lebens, im Gebirge für die neue Zeit zu wirken. Der Mensch müsse ein Ziel vor sich haben, sagte er, sei es auch ferne und noch so schwer zu erreichen; Müßiggang und Behagen seien der Ruin des besten Teils in uns. Er habe an sich selbst erfahren, setzte er hinzu, wie auch die gewohnte Arbeit allein noch nicht ausreiche, das Herz eines Menschen auszufüllen; es müsse auch durch Wünsche erquickt, durch Erwartungen gespannt, durch Hoffnungen angefeuert werden, und der Schöpfer habe es weise eingerichtet, dass in der Welt, wenn sie auch noch so vollkommen wäre, doch immer Verbesserungen möglich, ja notwendig blieben. Darum (und er halte es für Pflicht, seine Gedanken frei herauszusagen) darum habe jeder unrecht, der vom Gewohnten keinen Fußbreit weichen, nur immer das Alte gelten lassen wolle! Vom Alten das Brauchbare und vom Neuen das Beste – das halte er nach seinen Erfahrungen für den richtigen Grundsatz eines Mannes!

An der aufmerksamen Art, wie man ihm das erste Wort ließ und seine Aussprüche aufnahm, konnte der Weringer deutlich sehen, welche Macht seine Gegenwart noch immer auf seine früheren Nachbarn übte. Indem er freimütig seinen Irrtum eingestand, schnitt er ein für alle Mal selbst dem böswilligen Gegner jede verletzende Macht gegen sich ab, und indem er die Vorzüge des Neuen in Ettwangen offen anerkannte, befriedigte er alle Gemüter auf die angenehmste Weise. Aber auch ein Zeichen, dass er, wo es ihm ernst sei, immer noch tiefer blicke als alle um ihn her, wollte er heute seinen Freunden geben; er warnte dringend vor der Absicht, all' ihr Hab' und Gut aufs Spiel einer veränderlichen Industrie zu setzen. Dass die meisten Grundbesitzer eines augenblicklichen Vorteils wegen an die Stelle des Getreidebaues Tabakpflanzungen anlegen wollten, missbilligte er ganz und gar und wusste sehr überzeugend darzutun, dass eine Gegend wie um Ettwangen allen Grund habe, die notwenidgsten Lebensbedürfnisse zuerst und ausreichend hervorzubringen und der Industrie künstlicher Bedürfnisse nur behutsam Raum zu geben; denn nichts in der Welt sei ängstlicher als gehäufte Industrieanlagen, ein einziger Stoß habe hingereicht, ganze Distrikte in endlosen Jammer zu stürzen, während ein tüchtig Brotland die schlimmsten Unfälle überdauern und von Vornherein, wenn nicht eine unvernünftige Güterzersplitterung stattfinde, keine lange Not und keine Überbevölkerung aufkommen lasse …

Wie ganz anders schritt der Weringer diesmal zur alten Heimat hinaus! Er sah wieder eine Lebensaufgabe vor sich, und sie regte seine Kräfte umso mächtiger an, als er die Kämpfe voraussah, welche eine neue Zeit im Gebirge hervorrufen musste.

Wer je eine Würde trug, eine Macht auf die Mitwelt übte, findet nichts Süßeres als die verlorene, sei es auch in neuer Gestalt, wieder zu erringen. Sich als hervorragenden Streiter des Neuen im Gebirge zu sehen und auch in der alten Heimat wieder sein verblasstes Ansehen durch Rat und Tat aufzufrischen – das war es, was dem Weringer, als er am nächsten Morgen zu Ettwangen hinausschritt, Körper und Seele frisch und froh emporhob und ihn fast vergessen ließ, was er seiner Ehre wegen schon gelitten!


 << zurück weiter >>