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VI.
Einkehr

Ettwangen hatte indessen wieder manches Bedeutsame erlebt; die Gemüter kamen hier selten zur Ruhe. Waren es nicht Neuigkeiten aus der Ferne, welche die Erwartung rege machten, so waren es heimische Interessen, welche bei erhofften Neuerungen zur Verhandlung kamen. In den letzten Tagen traf es sich nun, dass zwei Ereignisse von ganz besonderer Wichtigkeit den Ort auf einmal in Bewegung setzten und darin auch noch erhielten.

Das eine dieser Ereignisse war die Nachricht von der in Antrag gebrachten Eisenbahn über das Gebirge; kam dieser Antrag in Ausführung, so war Ettwangen (wie auch die Zeitungen übereinstimmend zugaben) der einzig mögliche Ausgangspunkt der neuen Bahn; dies machte vor allem in Ettwangen eine bedeutende Erweiterung des Bahnhofes, Vermehrung des Beamten- und Arbeiterpersonals nötig und gab auf lange Zeit einer großen Anzahl Handwerker Verdienst.

Das zweite wichtige Ereignis war die endliche Feststellung einer bestimmten Fabrikstätigkeit in Ettwangen.

Wir entsinnen uns jener zwei jungen Fremden, welche zur Zeit von Weringers Anwesenheit im Gasthof zur »Sonne« abstiegen und nicht geringe Aufmerksamkeit erregten. Sie hatten seitdem hier förmlich Wohnung bezogen, brachten die Tage meist im Freien hin, durchstreiften die Gegend weit und breit und erkundigten sich nach Dingen, deren Nutzbarkeit für sie von niemand in Ettwangen recht begriffen werden konnte. Die Spannung auf die Absichten dieser Fremden wurde umso größer, als dieselben ihre Tätigkeit endlich nur noch in die Nähe von Ettwangen verlegten, den Fluss und die Ufer desselben ihrer Aufmerksamkeit unterwarfen, die Geschwindigkeit des Wassers ermittelten, das Stromprofil maßen, Wassermenge und Stoßkraft derselben berechneten und die Gefälle der Ufer feststellten. Schon kraute sich der Müller hinter den Ohren und wollte einen Rechtsfreund zum Schutze seines Gewerbes befragen – als die Finsternis des Geheimnisses durchbrochen ward und Licht zu allen Fenstern hereindrang.

Denn heute Morgen sah der Sonnenwirt an einer Stelle des Flusses, wo das Wasser eine Senkung des Bettes ziemlich scharf herunterkommt, die beiden Fremden wieder lebhaft auf und nieder gehen, den Fellmer in ihrer Mitte, der gerade dort an beiden Ufern Grund besaß. Die Unterredung musste lebendig genug geführt werden, das bemerkte man besonders an den Bewegungen der Arme, auch hatte der Fellmer seinem Hut in kurzer Zeit alle verwegenen Stellungen gegeben, welche einer wachsenden Aufregung entsprachen.

Gegen zehn Uhr hatte die wunderliche Unterredung ihren Höhepunkt erreicht, die Gebärden wurden hitziger, der Fellmer stieß Töne aus von der Stärke eines brüllenden Stieres, auch rückten Zeugen aus dem Orte an – er wurde offenbar die Hauptschlacht eines Kaufes geschlagen.

Eben wollte sich der Sonnenwirt gleichfalls an Ort und Stelle begeben, als plötzlich eine kurze stille eintrat und die Hände der Streitenden gewichtig in einander sanken.

Ruhig und gemessen, als wäre nichts geschehen, kamen hierauf die Männer nach der »Sonne« zumarschiert, wo der Fellmer, in die Gaststube tretend und die Stirne wischend, sagte:

»Ist mir doch, als hätt' ich Heu abgeladen!«

Der eine der Fremden aber ging munter auf den Gastwirt zu und sagte:

»Wirt, hab ihr Lumpen im Ort?«

»Gegenwärtig keinen«, erwiderte dieser ungewiss, was damit gemeint sei.

»Das ist schade!«

»Warum?«

»Jetzt könntet ihr alle auf einmal los werden; unsere Papierfabrik wird mit Wasserkraft und Dampf dies Gesindel aus der Welt befördern!«

Eine Papierfabrik also sollte den nächsten Grundstein zu Ettwangens wachsender Größe legen! Die Nachricht lief alsbald von Mund zu Mund und beschäftigte den ganzen Tag fast ausschließlich die Gemüter; – selbst die Kinder des Ortes fingen an, die Neuigkeit auf ihre Spiele zu übertragen und bauten, wo nur immer ein Faden Wasser ablief, eine klappernde Mühle hin …

Gegen sechs Uhr abends spielten auch die drei Kinder des jungen Beck am Röhrbrunnen ihres Elternhauses, als sie plötzlich Fußtritte hörten, eine Weile nach dem Gartenwege starrten, dann ihr Spielzeug fallen ließen, aufsprangen und, einem Manne entgegen eilend, riefen:

»Großvater! Großvater!«

Bärbl stand eben am Fenster und lockte Hühner und Enten; beim Ruf der Kinder steckte sie den Kopf zum Fenster heraus und wollte ihren Augen nicht trauen – »Ei, um Gott und Jesu willen, der Vater!« rief sie und streckte dem Kommenden die Hand entgegen.

»Gelt, gelt«, sagte der Weringer rüstiger, als er vor kurzer Zeit von hier geschieden, »ich bin bälder wieder da als Du gedacht!« Er sprach noch mit der Tochter am Fenster, als auch deren Mann herbeikam und den Schwiegervater nach frohem Gruße ins Haus führte.

»Das ist aber gerade recht, dass Ihr kommt«, sagte er, in der Stube neben Weringer am Ecktisch Platz nehmend: »Wir haben einen guten Tag gehabt, es wird am Abend munter werden in der Sonne.«

»Wieso?« fragte der Weringer, den Hut ablegend und die Kinder neben sich gruppierend.

Bärbl ging nach Kammer und Küche, um einen Imbiss für den Vater zu besorgen, während ihr Mann nicht ohne Befangenheit erzählte, dass Ettwangen so glücklich sei, einen neuen geschäftlichen Aufschwung zu nehmen.

»Und das ist?« fragte der Weringer mit einer Teilnahme, die seinen Schwiegersohn überraschte und ermutigte.

»Eine Papierfabrik mit Wasser- und Dampfkraft wird errichtet!« sagte er etwas kostbar betonend.

»Wer errichtet sie?«

Wolfgang erinnerte an jene zwei Fremden, welche zur Zeit von Weringers erster Anwesenheit in der Sonne ankamen; er wollte seinen Bericht eben ausführlicher mitteilen, als er zufällig durch das Fenster blickte und in seltsame Verlegenheit geriet. Sein Vater kam das Dorf mit langen Schritten herauf und hatte ein Zeitungsblatt in den zitternden Händen; Wolfgang wusste wohl, was das bedeuten sollte. Seitdem die Zeitungen nicht müde wurden, von der Eisenbahn über das Gebirge zu reden, war dieser Gegenstand das Steckenpferd des alten Beck geworden; er schwärmte dafür und wollte alles um sich ebenso begeistern. Und da er den Weringer noch immer für einen Gegner der Eisenbahn hielt und ihm zutraute, dass er ihretwegen auch seine neue Heimat wieder verlassen könnte, so hatte er geschworen, den Weringer um jeden Preis auf andere Gedanken zu bringen.

Wahrscheinlich hatte nun der alte Beck wieder einen feurigen Artikel für die Gebirgseisenbahn gefunden und eilte damit zu seinem Sohne heim. Wolfgang bangte für den Eintritt seines Vaters, da er leicht, ehvor er noch den Gast gewahrt, in anzügliche Äußerungen gegen denselben ausbrechen konnte; um dieses Äußerste zu verhüten, unterbrach daher Wolfgang seinen Bericht über die Papierfabrik, machte das Fenster auf und rief hinaus:

»Besuch ist da! Der Schwiegervater aus Dobbl ist gekommen!«

Betroffen schaute der alte Beck empor, mäßigte seine Schritte und steckte die Zeitung mit einiger Hast in die Tasche. »Hmphmm«, hörte man ihn draußen einige Male Fassung erhusten; damit trat er in die Stube, grüßte seinen Schwäher achtbar und nahm ziemlich ruhig an dem laufenden Gespräche teil. Aber kaum erschien Bärbl mit einem Imbiss für den Schwäher, als er aufstand und seinen Sohn bei Seite winkte.

»Da guck Dir heut' wieder die Zeitung an«, sagte er vor Eifer zitternd und dem Sohn das Blatt in die Hände drückend: »So ein Wort putzt einem den Kopf aus und wirft alle anderen Gedanken zu Tür und Fenster hinaus!«

»Gut, gut, Vater; nehmt nur Achtung jetzt auf ihn!« erwiderte Wolfgang, nach dem Weringer deutend; dann gab er vertraulich zu verstehen, dass er den Schwiegervater schon etwas zu Gunsten der neuen Zeit verändert finde; mit Vorsicht zu Werke gegangen, könne vielleicht noch viel an ihm gebessert werden!

»Ja, das muss auch sein!« Er soll mir nicht mehr fort, wie er gekommen – weißt Du was? Er mag wollen oder nicht, den Abend muss er mit in die Sonne! Da wird er von anderen hören, was wir selbst nicht sagen dürfen; Stand halten muss er in Dobbl der neuen Eisenbahn, kost' es, was es wolle!«

Im Eifer hatte der alte Beck diese Worte etwas lauter gesprochen, als er eigentlich gewollt; der Weringer schnitt sich lächelnd ein Stück Eierkuchen ab und sagte dann ganz ruhig:

»Schwäher!«

»Ja«, erwiderte dieser, an den Tisch zurückkehrend.

»Wie ich höre, wird es heute lebhaft werden in der Sonne – wollen wir mitsammen hin?«

Der alte Beck war natürlich gern dazu bereit. »Wenn Du ausgeruht hast und sonst auch manches Neue hören willst« – fügte er hinzu.

»Warum nicht?« bemerkter der Weringer und schob die Kuchenpfanne mit einem dankenden Blick auf Bärbl von sich – »Ich höre ja von wunderlichen Dingen … Man will die Eisenbahn durchs Hochgebirge führen – und bei Dobbl soll sie vorüberkommen … Ich möchte hören, was man von der Sache hält und sagt.«

Dem alten Beck verschlug es fast die Stimme; er hätte es nicht für möglich gehalten, seinen Schwäher in diesem Tone, so ruhig und würdevoll von seiner großen Feindin, der Eisenbahn, sprechen zu hören, namentlich jetzt nicht, da sie ihn bis ins Hochgebirge verfolgte.

»Freilich, freilich«, bemerkte er halb stockend – »Manches ist auch gut, was andere sagen; – aber willst Du etwas Rechtes wissen, so lies die Zeitung, sie beweist Dir doch das Beste!« Er hatte dem Sohne bei diesen Worten das Blatt wieder aus der Tasche gezogen und reichte es dem Weringer hin, der es äußerlich ruhig, innerlich aber mit Erschütterung las. Denn das Blatt enthielt jener seltenen Artikel, welche nicht nur durchschlagende Wahrheiten enthalten, sonder auch mit wohltuender Klarheit und mit leisem, poetischem Anflug geschrieben, ihre Wirkung nie verfehlen. In verhältnismäßig engem Rahmen waren die Vorteile der Gebirgseisenbahn so scharf und einleuchtend zusammengestellt, dass durchaus kein vernünftiger Einwand dagegen erhoben werden konnte.

Beck Vater und Sohn blickten einander an und schienen mit Spannung den Eindruck des Artikels zu erwarten; der Weringer aber legte endlich die Zeitung bei Seite und sagte nach einer kurzen Pause nur:

»Ettwangen kann sich freuen; es wird den größten Nutzen davon ziehen.«

»Und Ihr im Gebirge nicht? Ihr nicht?« bemerkte der alte Beck etwas hitzig.

Die Frage war für jetzt umsonst getan; denn ein ernstes Nachdenken ließ den Weringer eine Weile überhören, was geredet wurde. Fast unwillkürlich legte er dann seine Hand auf das blonde Haupt des ältesten Enkels, bog es sanft zurück, und indem er lange in die blauen Augen des Knaben blickte, sagte er mit einem Anflug von Bewegung:

»Was wird die Welt noch alles sehen; – was werdet ihr Kleinen noch alles erleben!«

Aber als ertappte er sich auf einer unwürdigen Schwäche, hob er sein Haupt wieder straff empor, stand auf und gab selbst das Zeichen, dass er bereit sei, nach der »Sonne« zu gehen.


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