Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die deutsche Reformation.

Solange der Krieg dauert, keine »Neuorientierung«, keine inneren Reformen – erklärte bisher die deutsche Regierung. Tiefer greifende Reformen müssen den schärfsten Kampf der Parteien hervorrufen, denn wenn man dem einen gibt, so muß man dem andern nehmen. Solche Kämpfe sind aber dem Burgfrieden, der Einheit der Nation nicht bekömmlich, und ohne Burgfrieden wiederum kann man keinen Krieg führen. Diese Argumentation der deutschen Regierung fand volle Zustimmung bei den Konservativen, Freikonservativen und Nationalliberalen, d. h. bei den Vertretern der schweren Industrie und des Agrariertums. Nur die Freisinnigen, die Vertreter der Handelsbourgeoisie, wagten sofortige Reformen zu fordern, ohne jedoch den Kampf um sie zu entfalten. Und vom Standpunkt des Imperialismus ließ sich gegen die Vermeidung der Kämpfe um die Reformen so wenig sagen, daß auch die Sozialpatrioten keinen stärkeren Druck auf die Regierung riskierten, obwohl ihnen bei ihrer Abhängigkeit von breiteren Volksmassen in erster Linie diese Beruhigungsmittel notwendig erscheinen mußten.

Auf einmal setzte ein neuer Wind ein. Im Reichstag trat nicht nur der Freisinnige Müller-Meiningen mit einer Philippika auf, in der er in energischsten Tönen sofortige Reformen forderte, in der er rief: öffnet die Ventile!, auch der Nationalliberale, Syndikus des Industriellenverbandes, Herr Stresemann, donnerte in flammenden Worten gegen die Herrschaft des Militärabsolutismus und drohte, daß, wenn die Regierung nicht sofort zu Reformen schreite, der Reichstag das Werk in die Hand nehmen müsse. Und die Sozialpatrioten Noske und David wandten sich zwar gegen alle Versuche, die deutschen Verhältnisse mit den russischen zu vergleichen, aber sie beschworen den Reichstag und die Regierung der Volksstimmung Rechnung zu tragen; sie verlasen eine ganze Litanei von Reformen, deren Durchführung sie sofort forderten. Das Wunder geschah, daß der Reichstag mit allen Stimmen gegen die der Konservativen die Einsetzung einer Verfassungsreformkommission beschloß, die sich die notwendigsten Reparaturen am stolzen Bau des Reiches ansehen soll.

Die Regierung erklärte durch den Mund des Reichskanzlers, daß sie auch für eine Neuorientierung sei, aber sie könne nicht so ohne weiteres ihre Meinung über die Gefahr solcher Neuorientierungen im Kriege ändern, eine Meinung, die bisher die Mehrheit der bürgerlichen Parteien teilte. Aber ein schroffes Nein hat Herr Bethmann Hollweg nicht ausgesprochen.

Nun mag die Regierung nachgeben oder nicht, wenn die Herren Freikonservativen, Nationalliberalen, Freisinnigen und Sozialpatrioten sich zusammentun, so werden sie ganz gewiß kein Werk zusammenbauen, das den Volksmassen auch in »normalen« Zeiten munden könnte. Sie können weder die Ungleichheit der Reichstags-Wahlkreiseinteilung aufheben, noch das preußische Wahlunrecht wirklich abschaffen, sie können weder die Verantwortung der Regierung vor dem Parlamente, noch die Demokratisierung des Heeres beschließen. Selbst wenn der Hohe Bundesrat all diesen Herrlichkeiten zustimmen würde, die Vertreter des Kapitals würden sie ihm nicht vorschlagen. Aus dem einfachen Grunde, weil niemand neben seinen eigenen Schatten springen kann, und die Vertreter des Kapitals dem arbeitenden Volke in Deutschland keine demokratischen Rechte gewähren können. Demokratische Rechte bedeuten in einer so kapitalistisch zerklüfteten Nation wie der deutschen und besonders bei der ungeheuren Zuspitzung der sozialen Gegensätze, wie sie der Krieg mit sich brachte, eine Auslieferung der Kampfpositionen an die Volksmassen, auf die man eben 1½ Milliarden Mark Steuern lädt. Wenn die Herren bürgerlichen Abgeordneten und die Sozialpatrioten so furchtbar nach der Neuorientierung schrien, so ist ihre Anstrengung viel mehr darauf zurückzuführen, daß sie sich von ihrem lauten Geschrei wunder was versprachen, als daß sie in diesem Geschrei ihre Sehnsucht nach Demokratie ausdrückten.

Aber nehmen wir einmal an, daß die Herren ernste politische Reformen durchzuführen geneigt wären und daß die Junker und die Bureaukratie sich ohne Gegenwehr in so freundlich parlamentarischer Weise das Genick brechen ließen, wie sie es nebenbei gesagt – niemals und nirgend in der Geschichte getan haben. Politische Reformen – auch die gründlichsten – bedeuten die Öffnung des Weges zu sozialen Reformen. Ihr Zweck ist, den Volksmassen zu zeigen, daß sie zwar langsam, aber friedlich, ihre Lage bessern können. Kann dieser Zweck in den durch den Krieg geschaffenen Verhältnissen erreicht werden?

Und wie denken die Herren eine Staatsschuld von 100 Milliarden Mark zu reformieren, gerecht zu zerlegen? Wir fanden bisher in der finanzpolitischen Literatur keine Vorschläge dafür. Alle die gemacht werden, drehen sich nur um die Erfindung neuer Lasten. Denn wenn die schönste Frau nicht mehr geben kann als sie hat, so kann auch der beste Finanzkalkulatur 100 Milliarden Staatsschulden nicht verzinsen – von anderen Folgen des Krieges, die schwere Milliarden jährlich schlucken werden, gar nicht zu sprechen – ohne die breitesten Volksmassen schwer zu belasten.

Wie man die Sache auch dreht und wendet, die Reformatoren sind etwas spät aufgestanden. Die preußische Wahlreform konnte Anno 1911, als die Herren Revisionisten und Zentrumsleute den Kampf um sie unterdrückten, ein Schlachtruf sein. Heute sie auf das Banner des Kampfes zu setzen, ist lächerlich. Der Organismus der Staaten und der Gesellschaft fordert ganz andere Heilmittel.

Wir glauben keinen Augenblick, daß die Staatsmänner der Bourgeoisie und die Scheidemänner des Sozialpatriotismus dies verstehen werden. Niemand kann »verstehen«, daß er sich den Grund unter den Füßen weggraben soll. Aber es ist ein Zeichen der Zeit, daß die Arbeitsgemeinschaft mit einem »Reformprogramm« in dem Moment auf den Plan gerückt kam, als der Schrei nach Reformen von allen bürgerlichen Parteien und den Sozialpatrioten ausgestoßen wurde. Nicht einmal darum handelt es sich hier in diesem Moment, daß dieses Programm der Arbeitsgemeinschaft, das wir noch analysieren werden, jedem wahrhaft demokratischen Grundsatz ins Gesicht schlägt, daß es rein politisch ist, während die soziale Frage die brennendste ist.

Das Charakteristische ist, daß die alten und jungen Herren von der Arbeitsgemeinschaft die Möglichkeit der schmerzlosen Reform unterstützen, daß sie direkt erklären, sie drohen nicht. Das beweist, daß sie nur der linke Flügel des bürgerlichen Reichstages, nicht seine sozialistischen Antipoden sind, daß sie nicht einmal die Harfe sein können, auf der der neue Wind der Geschichte sein Sturmlied singt, geschweige denn, daß sie selbst das Lied der Zeit verstünden. Reformation! Reformation! Wohl bekomm's, ihr Herren!

*


 << zurück