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Staat, Nation, Imperialismus und Sozialdemokratie.

Die Fragen.

Für die west- und mitteleuropäische Arbeiterklasse schien es vor dem Kriege keine nationalen Fragen mehr zu geben. Mitleidig schaute man auf die Österreicher und Russen, bei denen es national rumorte. Man fragte sich, warum sich die Proletarier dieser Länder eigentlich noch mit dem »nationalen Spektakel« soviel abgaben. Nun hat der Weltkrieg auch das Proletariat Mittel- und Westeuropas vor die nationalen Fragen gestellt. Wenn es auch eine historische Legende ist, daß der Zusammenbruch der zweiten Internationale in der Überwältigung der Parteien durch nationale Gefühle besteht, beginnt und endet jetzt in den geistigen Kämpfen um eine neue Politik der Internationale jede Auseinandersetzung mit der Frage: alles schön und gut, aber wie stellt ihr euch zur Frage der Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit? Wenn das in der Arbeiterklasse der Nationen der Fall ist, die staatlich frei sind, so hat der Krieg im Osten eine Reihe schon in Gärung begriffener Völker von unten auf aufgewühlt, das internationale Proletariat hat zur Frage der Bildung von Nationalstaaten Stellung zu nehmen. Gleichzeitig ist die Existenz von Kleinstaaten in Frage gestellt und wieder ist es die Frage ihrer Wiederherstellung oder Einverleibung, die eine Klärung erfordert. Und neben der Tendenz zur Einverleibung fremdnationaler Gebiete ist eine andere zum Zusammenschluß großer imperialistischer Staaten in mehr oder minder klarer Form sichtbar.

Flinke Geister haben für die Beurteilung aller dieser Fragen die Losung: Selbstbestimmungsrecht der Völker, die auch, wenn sie richtig und ausführbar wären, nur den Vorbehalt ausdrücken würden, daß den Völkern selbst die Lösung der Fragen ihrer Existenz vorbehalten werden muß, daß keine fremde Gewalt sie willkürlich lösen darf. Aber für welche Lösung der Fragen die Sozialdemokratie vor dem Forum der Völker eintreten, welches Banner sie selbst aufpflanzen soll, das besagt diese allrettende Losung nicht. Andere flinke Geister klammern sich an die Erkenntnis, daß jetzt nicht der Wille der Völker ihre Geschichte regiert, sondern daß es die Kanonen sind, die darüber entscheiden, und sie halten jedes weitere Nachprüfen des Urteils der Kanonen für Kinderei.

Was brauchen die Cunow, Lensch, Winnig, Cohen »Grundsätze« zu haben, wenn die Kanonen brüllen! Wenn es trotzdem manchmal scheint, als hätten sie mit ihrem Gepolter recht gegen das Gejammer der Ledebour und Haase über das vergewaltigte Selbstbestimmungsrecht, so weil jeder denkende Arbeiter fühlt, daß man bei großen historischen Entscheidungen, wie sie der Weltkrieg mit sich bringt, mit dem Pochen auf allgemeine Rechte nicht auskommt, daß die Arbeiterklasse ein historisch begründetes Urteil haben muß, und erst von ihm ausgehend zu den konkreten Fragen Stellung nehmen kann. Die Grundsätze, die sie in nationalen Fragen zu wahren hat, sind nichts anderes als die Erkenntnis ihrer jeweiligen internationalen Interessen. In erster Linie handelt es sich also um die Erkenntnis des allgemeinen Charakters einer historischen Epoche, die die Arbeiterklasse vor gewisse Aufgaben stellt. Diese Erkenntnis wird uns gleichzeitig den Weg zur Lösung der gestellten Aufgaben zeigen.

Die Bildung des Nationalstaates und die Sozialdemokratie.

1. Die Einigung Frankreichs und Englands.

Die nationale Frage stand vor den Denkern der jungen europäischen Arbeiterklasse in der Mitte des 19. Jahrhunderts als Frage von dem Kampf um die nationale Unabhängigkeit Deutschlands. Diese Frage war ein Überbleibsel, ein Spätling der seit dem 15. Jahrhundert mit dem Aufkommen des Kapitalismus sich durchsetzenden Tendenz zur Bildung großer wirtschaftlicher Territorien. »Die Bourgeoisie hebt mehr und mehr die Zersplitterung der Produktionsmittel, des Besitzes und der Bevölkerung auf. Sie hat die Bevölkerung agglomeriert, die Produktionsmittel zentralisiert und das Eigentum in wenigen Händen konzentriert. Die notwendige Folge hiervon war die politische Zentralisation. Unabhängige, fast nur verbündete Provinzen mit verschiedenen Interessen, Gesetzen, Regierungen und Zöllen wurden zusammengedrängt in eine Nation, eine Regierung, ein Gesetz, ein nationales Klasseninteresse, eine Duanenlinie (Zollinie).«

So stellte Karl Marx im Jahre 1847 im Kommunistischen Manifest die Tendenz zur Bildung des »Nationalstaates« dar, wie sie in England und Frankreich bereits verwirklicht war. Die Grundlage dieser Tendenz bildete das bürgerliche Interesse an einem großen einheitlichen Produktions- und Absatzgebiet. Daß die Menschen, die auf diesem, gewöhnlich geographisch geschlossenen Gebiete eine und dieselbe Sprache sprechen, war für die Bourgeoisie Frankreichs und Englands in der Zeit, in der sich die Bildung ihres Staatswesens zuerst unter der Leitung des absoluten Königtums, dann durch die Revolution vollzog, keinesfalls eine unumgängliche Notwendigkeit. Die englische Bourgeoisie ließ sich durch die fremde Nationalität der Iren von ihrer Einverleibung nicht abhalten, als einerseits das Interesse der stark verbürgerlichten Junker an dem irischen Grund und Boden, andererseits die Angst vor der Existenz eines Staates, der, im Rücken Englands liegend, die Herrschaft der englischen Bourgeoisie über die Seewege bedrohen würde, die Eroberung Irlands als vorteilhaft erscheinen ließ. Und weder der französische Absolutismus noch die französische Bourgeoisie nahmen Anstoß an der deutschen Nationalität von Elsaß-Lothringen, ja des ganzen linken Rheinufers, die sie für eine bessere strategische Grenze hielten, als die Vogesen.

Überhaupt handelte es sich für die junge Bourgeoisie nicht um die Bildung des nationalen Staates, sondern des Staates überhaupt, als eines Instrumentes zur Förderung ihrer Entwicklung. Daß dieser Staat in England und Frankreich Menschen beherbergte, die in ihrer Mehrheit ein und dieselbe Sprache sprechen, war das Resultat der Tatsache, daß während der Völkerwanderungen die Stämme Gebiete, die eine geographische Einheit bildeten, auszufüllen, ganz zu besetzen suchten; nicht aus Einsicht in die Vorzüge des zukünftigen Nationalstaates, sondern dem Drucke der Ereignisse folgend: die natürlichen Grenzen waren auch die besten Abwehrgrenzen. Natürlich war die Gleichsprachigkeit der Bewohner eines Gebietes ein wichtiges Moment der wirtschaftlichen Entwicklung: sie förderte den Verkehr. Wo er aber über diese Sprachgrenze hinausging, oder die Sprachgrenze sich mit der Zeit nicht als die beste strategische Grenze herausstellte, da suchte sich die Bourgeoisie schon in diesen Muster-Nationalstaaten über die Grenzen der Nation hinaus auszubreiten. Der Begriff der Nation bildete sich überhaupt erst viel später heraus, als die kapitalistische Wirtschaftsweise wirklich das ganze Gebiet des Staates durchgeackert hatte, als die Mehrheit der Bewohner an der Politik teilzunehmen begann.

Wie war die Haltung des Proletariats der Bildung des Nationalstaates in Frankreich und England gegenüber? Die Bourgeoisie war erst im Entstehen begriffen, der zentralisierte Staat sollte doch ihre Stütze sein. Der erst entstehenden Bourgeoisie entsprach ein völlig unentwickeltes Proletariat, ein Proletariat, das erst im Entstehen begriffen war. Es entstand aus Bauern, die vom Grund und Boden vertrieben waren, aus Lehrlingen, die die Hoffnung, einmal Meister zu werden, verloren hatten, aus Häuslern, die sich von ihrem kleinen Stückchen Erde nicht ernähren konnten und sich deswegen von dem Verlagskapitalisten als Hausarbeiter ausbeuten lassen mußten.

Worin bestand für sie die Bildung des »Nationalstaates«? Darin, daß an Stelle der geregelten kurzen Arbeitszeit im Handwerk, des gemeinsamen Tisches mit dem Meister, der Hoffnung auf die Hand seiner Tochter, die Manufaktur kam, über die der Staat wachte, damit der Arbeiter ja möglichst lange zur Hebung des »nationalen Wohlstandes« beitrage. Darin, daß an Stelle des lokalen Brauches und Gesetzes, der lokalen Verfassung, eine allgemeine, staatliche, harte und kalte kam, die nur das Interesse der Bourgeoisie beachtete! Darin, daß mit der Aufhebung der Provinzzölle, der Niederlegung der städtischen Grenzen eine Konkurrenz auf dem Waren- und Arbeitsmarkte begann, eine Steigerung der Steuern. Kurz und gut, da die Entwicklung zum Nationalstaat nichts anderes war, als die Entwicklung des Kapitalismus selbst, da die ersten nationalen Zeichen, mit denen die Proletarier Englands und Frankreichs zu tun bekamen, die Vagabundenzeichen waren, die man ihnen auf die Stirn brannte, wenn sie nicht ohne weiteres unter das Joch des Kapitalismus gingen, so widersetzte sich das Proletariat dieser ganzen Entwicklung, soweit seine Kraft es irgend erlaubte. Es konnte vor dem Wagen der historisch-notwendigen Entwicklung keine Freudentänze aufführen, weil es durch seine Bourgeoisie vor ihren Wagen gespannt war, die, hoch auf dem Kutscherbock sitzend, es mit der Peitsche zum scharfen Trab antrieb.

2. Die Einigung Deutschlands.

In Mittel- und Südeuropa, in Deutschland, Österreich, Italien, verlangsamte sich die wirtschaftliche Entwicklung eben in der Zeit, in der sich in Westeuropa die »Nationalstaaten« auszubilden begannen. Seit dem 16. Jahrhundert, seit der Entdeckung Amerikas und der Versiegelung des Handels mit dem Orient durch die Türken, wurde das Atlantische Meer zum Hauptweg des Handels, wodurch die Länder am Mittelmeer und der Ostsee ins Hintertreffen gerieten. In Italien verkam der Handel immer mehr, Österreich mußte sich seiner Haut gegen die Türken wehren, in Deutschland waren die Interessen der Bourgeoisie schon vordem nicht einheitlich: während ein Teil von dem Handel mit Italien lebte, neigte ein anderer dem Osten, ein anderer wieder Flandern und England zu.

Die Habsburger, die die deutsche Kaiserkrone innehatten, herrschten gleichzeitig in Spanien, Österreich und Deutschland, und konnten ihre Kraft nicht auf die Ausbildung einer zentralen Gewalt in Deutschland konzentrieren. Dazu zerriß die Reformation Deutschland in zwei Lager. Die Zeit zur Bildung eines deutschen Staates war noch nicht gekommen, der historische Fortschritt ging auf dem Wege der Bildung kleiner deutscher Staaten, der Fürstentümer, die erst auf kleinerem Gebiete die Besonderheit der Städte, Provinzen usw. aufheben mußten. Ihre Schwäche erlaubte dem erstarkenden Nachbarn, Deutschland zum Tummelplatz aller möglichen Kriege zu machen. Wenn dies alles die kapitalistische Entwicklung hemmte, so blieben deswegen die alten mittelalterlichen Verhältnisse nicht bestehen; diese wurden zersetzt. Das Handwerk war verkümmert, die fremden Manufakturwaren töteten es, die Lage des Handwerksproletariats war miserabel: die Bauern, die von den immer mehr Getreide für Ausfuhr produzierenden Junkern von Grund und Boden gejagt wurden, fanden keine Industrie vor, in der sie Unterschlupf finden konnten. Zu dieser Misere kam noch die Plünderung während der Kriege hinzu, von der wir in Grimmelhausens Simplicius ein schreckliches Bild bekommen.

Erst als Napoleon in seinem Kampfe gegen England zur Sperrung der englischen Einfuhr nach Europa griff, begann anfangs des 19. Jahrhunderts eine moderne wirtschaftliche Entwicklung auch in Mittel- und Südeuropa. Die damals ihren Siegeszug feiernde moderne Maschinerie, die Einführung der Eisenbahnen ließ das wirtschaftliche Leben sich in schnellerem Tempo entwickeln; auch in Deutschland und Österreich entsteht eine moderne Bourgeoisie, deren Interessen die Einigung Deutschlands, die Bildung eines modernen Staates mit gleichen Münzen, gleichen Gesetzen, Zöllen, kurz die Herrschaft der deutschen Bourgeoisie über das deutsche Wirtschaftsgebiet erfordern. Seit der Bildung des Zollvereins ist die Frage der Einigung Deutschlands nicht mehr von der Tagesordnung verschwunden.

Wie war die Haltung des deutschen Proletariats diesen Bestrebungen gegenüber? Die deutsche Arbeiterklasse, die in ihrem intelligentesten Teile noch aus Handwerksburschen bestand, hatte nicht nur unter der kapitalistischen Entwicklung zu leiden, sondern auch unter dem Fehlen der kapitalistischen Ordnung. Die fehlende Freizügigkeit, die Überbleibsel des alten Zunftwesens, das Mosaik der Gesetze, alles das lastete auf der Arbeiterklasse. Sie hatte die Idylle der mittelalterlichen Gewerbeverfassung schon lange vergessen, alle Bitternisse des Kapitalismus zu kosten bekommen, nur der große Kampfboden, den ein einheitlicher Staat abgibt, war ihr vorenthalten. Deswegen fühlten sich die intelligentesten Kreise der deutschen Arbeiterschaft mit dem Streben des Bürgertums nach einem einigen deutschen Reiche vollkommen solidarisch. Darin äußerte sich auch die Tatsache, daß diese Arbeiterschaft noch als selbständig denkende und handelnde Klasse nicht organisatorisch, ja nicht einmal vom Bürgertum getrennt war. Weder im Jahre 1848, noch in den 60er Jahren, als die »nationale Bewegung« mit dem neuen wirtschaftlichen Aufschwunge von neuem erstarkte.

Nur ein ganz kleiner Kreis von Arbeitern sammelte sich um Marx im Jahre 1848, und klein war die Zahl der Anhänger von Lassalle und Liebknecht, als sie ihre Agitation begannen. Marx kannte alle die nationalen Illusionen, die die Arbeitermassen belebten. Er kannte ausgezeichnet den bürgerlichen Charakter des Staates: das Vaterland bedeutete für Marx nichts anders als den kapitalistischen Staat, und da die Arbeiter in ihm nicht die Herrschaft haben, erklärte er im Kommunistischen Manifest am Vorabend der Revolution: die Arbeiter haben kein Vaterland.

War es also eine Verleugnung dieser Sätze des Manifestes, wenn er ein paar Monate später die Losung der einigen und einzigen deutschen Republik aufstellte, also die Forderung nach der Einigkeit Deutschlands in rücksichtslosester konsequentester Form? Mit nichten! Marx verstand nur, daß man mit dem Kosmopolitismus von Weitling, der die Nationen als Erfindung der Bourgeoisie geißelte und aus dem vormärzlichen Deutschland in den Sozialismus hineinspringen wollte, nichts anfangen kann. So kurz sich Marx damals die noch bevorstehende Epoche der bürgerlichen Gesellschaft vorstellte – er stellte sie sich kürzer vor, als es dem damaligen Sachverhalt entsprach – so hat er schon im Kommunistischen Manifest ausgesprochen: »Obgleich nicht dem Inhalt, ist der Form nach der Kampf des Proletariats gegen die Bourgeoisie zunächst ein nationaler. Das Proletariat eines jeden Landes muß natürlich zuerst mit seiner eigenen Bourgeoisie fertig werden.«

Da die Bourgeoisie in Deutschland noch nicht am Ruder war, da das herrschende Regime feudal war, so mußte sie zuerst mit dem Feudalismus, mit der partikularen Zersplitterung fertig werden, bevor ihr Erbe, das Proletariat, an die Reihe kam. Aber eben, weil sie die Herrschaft noch nicht in den Händen hatte, konnte sie sich in den Augen des Proletariats noch nicht kompromittiert haben – um nur dieses äußere Element herauszugreifen – und so hatte sie noch in seinen Augen eine große Autorität, die sich in den nationalen und liberalen Illusionen des Proletariats ausdrückten. Marx und seinen Anhängern standen in dieser Situation zwei Wege offen. Entweder sich auf die Aufdeckung des bürgerlichen Charakters der Revolution, der Einigungsfrage zu beschränken, in dieser kritischen Position zu verbleiben, bis der Gang der Ereignisse rein proletarische Fragen auf die Tagesordnung bringen mußte, oder aktiv in die bürgerliche Bewegung einzugreifen, sie über sich hinauszutreiben, im Kampfe gegen den Feudalismus jede Schwäche, jedes Schwanken der Bourgeoisie auszunutzen, um das Proletariat als selbständige Klasse zu organisieren, es für die – wie Marx damals wähnte – nahe Aufgabe der selbständigen Machtergreifung vorzubereiten.

Der erste Weg war der der Sekte, der Propaganda, die nur auf einen sehr geringen Teil der Arbeiter Einfluß haben konnte, der zweite war der einer Aktion. Aber in dieser Aktion rollte Marx keinen Augenblick die besondere proletarische Fahne zusammen. Er predigte in der »Neuen Rheinischen Zeitung« die Lehren des Sozialismus in der eindrucksvollsten Art und Weise, indem er von dem Standpunkt der Interessen der Arbeiterklasse alle Ereignisse beleuchtete, die Politik der Bourgeoisie, die auf kraftloses Poltern oder auf ein Kompromiß mit dem Junkertum hinauslief, aufs schärfste kritisierte. Auf dem Boden der Bewegung zum bürgerlich-nationalen Staate bekämpfte Marx alle bürgerlichen nationalen Illusionen, kämpfte Marx um die volle Demokratie, als die Form des kapitalistischen Staates, die unter sonst gleichen Bedingungen dem Proletariat am leichtesten die Erreichung seiner selbständigen Ziele erlaubte.

Nicht die Bildung des selbständigen bürgerlichen deutschen Staates war die oberste Aufgabe, sondern wenn einmal seine Bildung das war, was die Stunde gebot, eine notwendige historische Etappe, so galt seiner Demokratisierung die Mühe der Vorhut der Arbeiterklasse. Die Einigung Deutschlands, das war die besondere historische Aufgabe des Bürgertums; der Kampf um die Demokratie schon in dem Prozeß der Einigung, das war die Aufgabe der Arbeiterklasse. Diese Aufgabe war nur zu verwirklichen im Klassenkampfe, nicht nur gegen die feudalen, sondern auch gegen die bürgerlichen Elemente. Und indem Marx die Bildung des deutschen Staates für eine historische Notwendigkeit hielt, der sich die Arbeiterklasse nicht widersetzen konnte, weil er den Boden ihres eigenen Kampfes, das Feld, auf dem sie ihre eigenen Aufgaben erfüllen wird, bildet, widersetzte er sich auch den Notwendigkeiten dieses Staates nicht im Namen eines ausspintisierten »Nationalitätenprinzips«. Er sah die Notwendigkeit des Verbleibens der Polen in den preußisch-deutschen Staatsgrenzen, wenn diese irgendwie tragfähig sein sollten, er sah die Notwendigkeit für Österreich, seine südslawische tschechische Bevölkerung beizubehalten, ein. Die Bakunins, die im Namen des »Nationalitätenprinzips« die Welt in Parzellen zerschlugen, behandelte er mit Spott und Hohn. Aber er konnte dies nur tun, weil er sich nicht zum Trabanten der bürgerlichen wie feudalen Reaktion machte, sondern auf dem Boden des historischen Prozesses der deutschen Staatsbildung den revolutionären Kampf um volle Demokratie führte, also um eine Staatsform, in der alle Völker sich frei entwickeln könnten. Und wie er den reaktionären Bestrebungen der slawischen Völker kühl gegenüberstand, so geißelte er mit Feuer die gegen sie durch die Reaktion verübten Gewalttaten. Es genügt, nur an den Artikel der »Neuen Rheinischen Zeitung« über die Bombardierung Prags durch Windischgrätz zu erinnern.

Der Ausgang der Kämpfe des Jahres 1848 zeigte, daß die deutsche Bourgeoisie zu schwach war, um ihre historische Aufgabe zu erfüllen, die feudale Zersplitterung Deutschlands zu überwinden. Die Schwäche der Bourgeoisie, die letzten Endes in dem Überwiegen des Kleinbürgertums lag, bedingte auch die Schwäche des Proletariats: weil die Bourgeoisie den deutschen Staat nicht zu schmieden wußte, konnte das Proletariat in ihm nicht die Demokratie erobern. Was die Bourgeoisie als Klasse nicht vermochte, das vollbrachte später ein Teil der Junker – der am meisten modernisierte – mit der Großbourgeoisie zusammen: die Notwendigkeit der Bildung eines deutschen Großstaates war so evident, daß ein Teil der junkerlichen Bureaukratie und des preußischen Militarismus, kurz die feudalen Beherrscher Preußens, die Aufgabe der Bourgeoisie erfüllen mußten, wenn sie weiter herrschen wollten. Aber das bedingte, daß die Einigung Deutschlands – eigentlich eines Teiles Deutschlands – unter reaktionärer Führung stattfand: in einem unter preußischer Spitze geeinigten Deutschland gab es einstweilen keinen Platz für die Demokratie.

Deswegen fiel es Marx nicht im Traume ein, als Trabant vor dem Wagen des siegreichen Preußen, das den deutschen Staat auf den Schlachtfeldern erkämpfte, herzulaufen. Er hütete sich ebenso vor dem Verkennen des historischen Fortschritts, der sich in der Bildung des Deutschen Reiches selbst unter Bismarcks Leitung äußerte, – was der Fehler des Standpunktes Liebknechts war – wie vor der Glorifizierung der preußischen Bajonette, die den historischen Fortschritt den Kräften der Reaktion dienstbar machten, was Schweitzer sich oft zuschulden kommen ließ.

3. Der Nationalitätenstaat und die Sozialdemokratie.

Das Jahr 1871 beendete für Mitteleuropa die Ära, die man fälschlich die Ära der »nationalen« Kriege nennt, und die in Wirklichkeit die Ära der modernen Staatsbildung war. Die weitere Entwicklung des Kapitalismus in Österreich, Rußland und auf dem Balkan enthüllte noch krasser das Wesen der Staatsbildungsfrage und der sich aus ihm für die Arbeiterklasse ergebenden Schlüsse. In dem Rahmen der national gemischten Staaten wie Österreich und Rußland erstarkte der Kapitalismus, ohne Tendenzen zur Bildung besonderer Nationalstaaten zu zeitigen. Eben weil der österreichische und russische Staat der national gemischten Bourgeoisie die Einheit der Wirtschaftsgebiete, die Einheit der Gesetze usw., kurz, die wichtigsten Bedingungen der kapitalistischen Wirtschaft bot, erstrebten die verschiedenen nationalen Bourgeoisien die Bildung der Nationalstaaten nicht. Der Kampf der nationalen Bourgeoisien in Österreich, der bei oberflächlichen Beobachtern den Eindruck erweckt, als sei er ein Kampf gegen den Staat, ein Kampf um seinen Zerfall, war in Wirklichkeit ein Kampf um den Staat: jede nationale Bourgeoisie suchte nach einem Mittel, das ihr einen möglichst großen Einfluß auf die Staatsmaschine geben sollte. Und was man jetzt auch herumtuschelt über die angeblichen Absplitterungstendenzen der Tschechen und Ruthenen im Kriege, so können diese Legenden die Tatsache nicht aus der Welt schaffen, daß sich der durch die kapitalistische Entwicklung Österreichs erzeugte Staatszusammenhalt der national-verschiedenen Bourgeoisien als viel stärker erwies, als man es vor dem Kriege annahm. In der Erklärung dieser Erscheinung aus der Tatsache, daß Österreich-Ungarn eine geographisch-wirtschaftliche Einheit bildet, hat Karl Renner sich zweifelsohne große wissenschaftliche Verdienste erworben, wie man sich auch zu seinen sonstigen sozialpatriotischen Kriegsprodukten stellen mag. Selbst in Rußland, wo der Zarismus der fremdnationalen Bourgeoisie keinen Anteil an der Macht gewährt, weil er ihn auch der russischen nicht gab, selbst in Rußland, wo das bureaukratisch-autokratische Regime ein Hemmnis der wirtschaftlichen Entwicklung war, entstanden in der Bourgeoisie der Grenzlande keine Bestrebungen nach staatlicher Absonderung. Wie sehr die autokratische Staatsform auf die Länge hin den Interessen der bürgerlichen Entwicklung widerspricht, diente sie trotzdem den kapitalistischen Interessen: statt in die Wälder zu flüchten und nationale Aufstände zu organisieren, freute sich die Bourgeoisie des großen Wirtschaftsgebiets, das soviel Gelegenheit zu Geschäften gab und suchte die zarische Maschine durch »Schmieren« in Bewegung zu halten.

Selbst als die Wogen der Revolution des Jahres 1905 hoch gingen, sehen wir nirgends in der Bourgeoisie Absonderungstendenzen, ja, bürgerliche Ideologen, die vor der Revolution dem Unabhängigkeitsprogramm huldigten, ließen es im Stiche, als sie in dem Teil der »Verfassung«, die ein öffentliches politisches Leben ermöglichte, zu Vertretern breiter Schichten der Bourgeoisie wurden. So die Wandlung der Nationaldemokraten in Russisch-Polen. Nicht Aufteilung Rußlands, sondern Autonomie, d. h. Selbstverwaltung in seinen Grenzen, die die nationale Unterdrückung aufheben würde, so lautete das nationale Programm der polnischen, deutschen, lettischen, armenischen usw. Bourgeoisie Rußlands. Und was in der Zeit der Revolution sich offenbarte, das bestätigte die Haltung der national verschiedenen Bourgeois Rußlands im Weltkriege. Alle nationalen bürgerlichen Aufstände stellten sich als Fabeln heraus. Aber vielleicht liefert die Geschichte des Balkans den Beweis, daß der Nationalstaat die Form der Herrschaft der Bourgeoisie, ihr Ziel ist. Die Kämpfe der jungen Balkanbourgeoisien bilden ganz gewiß ein Beispiel des Strebens jeder Bourgeoisie nach Macht und Herrschaft. Aber die Tatsache, daß die serbische Bourgeoisie um den bulgarischen Teil Mazedoniens, um den albanischen Zugang zum Adriameere Kriege führte, daß die Bulgaren heute nicht nur Pirot, sondern auch Nisch nehmen wollen, das alles bildet eine glänzende Bestätigung dafür, daß es nicht die nationalen, sondern die wirtschaftlichen, militärischen Ziele sind, die das Maß des bürgerlichen Strebens bilden, daß es nicht der Nationalstaat, sondern der wirtschaftlich möglichst entwicklungsfähige, d. h. der die Entwicklung des Kapitalismus am meisten fördernde Staat ist, den die Bourgeoisie zu bilden sucht.

Wenn die Geschichte Österreichs, Rußlands, des Balkans diese wirtschaftliche, nicht national-kulturelle Bestimmung der Staatsziele der Bourgeoisie so klar zeigt, so wirft sie ein nicht minder charakteristisches Licht auf die Haltung der Arbeiterklasse der Frage des Nationalstaates gegenüber. Der Arbeiterklasse Österreich-Ungarns ist, seitdem sie den ersten Schritt auf der weltpolitischen Bühne getan hat, kein einziges Mal in den Kopf gekommen, dem angeblich mit dem Streben nach Demokratie so eng verwachsenen Streben nach dem Nationalstaat auch nur einen Tag ihres Kampfes zu opfern. Nicht die Zerreißung Österreichs in ein Dutzend humoristischer Nationalstaatchen war ihre Losung, sondern die Demokratisierung Österreichs, eine Form seiner Einrichtung, die mit der nationalen Unterdrückung enden würde. Die deutsche Arbeiterklasse Österreichs, die doch den Anschluß an ein großes Reich finden konnte, kümmerte sich um die österreichischen Alldeutschen, die ihn propagierten, nicht den Teufel. Und die polnischen Arbeiter Österreichs, deren Führer an Sonntagen die Unabhängigkeit Polens im Munde führten, ließen sich dies zwar bei dem geringen Grade ihrer Entwicklung gefallen, aber ihr wirklicher, täglicher Kampf galt der Demokratisierung Österreichs, der Eroberung von Sozialreformen usw. In Russisch-Polen schien es, als ob die Arbeiterklasse sich die Eroberung der staatlichen Unabhängigkeit zum Ziele gemacht hätte. In der Zeit von 1893–1903 hatte in der polnischen Arbeiterbewegung die Polnische Sozialistische Partei (P. P. S.), die die Unabhängigkeit Polens zum Ziele des proletarischen Klassenkampfes machen wollte, zweifelsohne das zahlenmäßige Übergewicht. Aber kaum geriet die Arbeitermasse wirklich in Bewegung, kaum begannen wirkliche Massenkämpfe und nicht mehr die Propaganda sozialpatriotischer Intelligenzler ihre Ideologie zu formen, da zeigte sich, daß die polnische Arbeitermasse den Kampf Arm in Arm mit der russischen um die Republik, um die demokratische Autonomie führte. Es ward offenbar, daß ihre Interessen nicht die Bildung eines besonderen, sondern die Demokratisierung des bestehenden Klassenstaates, in dessen Rahmen sie sich entwickelt hat, erforderten. In dieser Zeit – es waren die Jahre der Revolution – übte nach einem Ausspruch des »Przedswit«, des theoretischen Organs der Poln. Soz. Partei, die Sozialdemokratie Russisch-Polens die Diktatur in der polnischen Arbeiterbewegung aus, jene Partei, die seit ihrer Gründung (1893) klarer als irgend ein anderer Teil der Internationale das Verhältnis des Proletariats zum nationalen Problem erfaßt hat

Das junge Proletariat des Balkans nahm als letztes Stellung zu dem Problem der Staatsbildung. Es erfaßte schon in der ersten Balkankonferenz des Jahres 1909 in erster Linie dank der Arbeit des unvergeßlichen jungen Theoretikers der serbischen Sozialdemokratie, Dymitri Tutzowitz, daß ihm die Aufgabe gebührt, in dem historisch notwendigen bürgerlichen Prozeß der Balkanstaatbildung die Interessen der Demokratie zu verteidigen. Während die Bourgeoisie jedes Balkanlandes aus dem Balkangebiet ein möglichst großes Stück herauszuschneiden suchte, was zur Stärkung des Militarismus der Dynastien, zur Verschlimmerung der Bedingungen des zukünftigen Klassenkampfes führen mußte, stellten die Balkansozialdemokraten die Losung der föderativen Balkanrepublik auf. Durch diese Losung trennten sie sich von der Bourgeoisie schon in dem Prozeß der Lösung des Balkanproblems. Sie suchten diesen historisch-fortschrittlichen Prozeß nicht zu hemmen, aber machten sich in ihm nicht zu Trabanten der Bourgeoisie, sondern erstrebten auf seinem Boden das Ziel, das für das Proletariat in der ganzen Epoche der Staatsbildung das wichtigste ist: die Demokratie. Ihre Kräfte waren zu schwach, um ihr Programm zu verwirklichen, wie die Kräfte der sich im Jahre 1848 um Marx sammelnden Arbeiter zu schwach waren, um die Losung der einzigen deutschen Republik zu verwirklichen.

Aber durch ihre Losung der föderativen Balkanrepublik erzielten die Balkansozialisten ein zweifaches: sie blieben nicht außerhalb der Kämpfe, die den Balkan seit Jahren aufwühlten, als kleine propagandistische Sekte; durch die Entfaltung ihrer Fahne sammelten sie einen Teil der Volksmassen um sich, aber sie sammelten sie für eigene Ziele, verhüteten, daß die junge Arbeiterklasse nur die Rolle des Chors der Bourgeoisie spielte.

4. Das Proletariat und die Staatsbildung.

Wir sind am Ende des ersten Teils unserer Ausführungen. Es gilt, in kurzen Worten das Resultat unserer Untersuchungen zu unterstreichen. Der bürgerliche Staat ist ein Produkt der kapitalistischen Entwicklung, er ist die Form, in der die über den Feudalismus siegende Bourgeoisie die Herrschaft ergreift, um sie als Hebel der Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise zu gebrauchen. Der »Nationalstaat«, d. h. der Staat mit einsprachiger Bevölkerung, bildete niemals das Ziel der Bourgeoisie, sondern sie erstrebte immer ein geographisch und militärisch möglichst günstiges Gebiet. Wo ihre Interessen im Rahmen eines fremden Staates befriedigt wurden, suchte die Bourgeoisie keinen besonderen nationalen Staat zu bilden. Das Proletariat, als seiner besonderen Interessen bewußtes Element, war niemals eine staatbildende Kraft: als die Staatsbildung auf der historischen Tagesordnung stand, war es eben erst im Entstehen. Soweit es schon in diesem seinem Zustande bewußt eigene Politik trieb, sorgte es auf dem Boden des historisch-fortschrittlichen Prozesses kapitalistischer Staatsbildung für seine eigenen Interessen, für die demokratische Ausgestaltung des sich bildenden Staates. Wo es auf dem Boden des Nationalitätenstaates entstanden war – was schon ein Beweis dafür war, daß der Rahmen dieses Staates kein Hindernis für die kapitalistische Entwicklung war –, jagte es nicht dem Ideal eines besonderen Nationalstaates nach, sondern kämpfte mit seinen anderssprechenden Klassenbrüdern für die Demokratisierung des national gemischten Staates, für die Aufhebung der nationalen Unterdrückung, die es in seiner kulturellen Entwicklung hemmte, seinen Klassenkampf aufhielt. Die nationale Frage hatte für das Proletariat in den Nationalitätenstaaten die Bedeutung einer Frage der kulturellen Entwicklungsmöglichkeit und der Demokratie. Das Staatsproblem war also für die Bourgeoisie die Frage der Herrschaft über die Produktionskräfte, ohne Rücksicht auf die Nation ihrer Träger, für das Proletariat die Frage der Schaffung der besten Bedingungen für den Klassenkampf um den Sozialismus. Das klassenbewußte Proletariat war niemals solidarisch mit der Bourgeoisie in den national-staatlichen Fragen.

In der Aera des Imperialismus.

Der Weltkrieg, der eine große Anzahl neuer Fragen aufwirft, stellt auch die alten in ein neues Licht. Das empfinden alle, die nicht aus Angst vor den Konsequenzen sich krampfhaft einreden, die große Welterschütterung sei nur eine kleine Unterbrechung, eine Episode, nach der man in alter Weise werde fortwursteln können. Das empfinden die Sozialimperialisten wie die Linksradikalen.

In bezug auf die Probleme, die uns hier interessieren, weisen die Sozialimperialisten auf zwei Momente hin: einerseits auf die Tatsache, daß sich die Kraft der Staaten in diesem Kriege als außerordentlich groß erwies. Der Staat überwand die Erschütterung der Volkswirtschaft durch den Krieg, indem er sie kraft seines Organisationsvermögens in eine Kriegswirtschaft überleitete. Er wird sie auch unter möglichster Vermeidung von Erschütterungen wieder in die Friedenswirtschaft hinüberführen, indem er den Prozeß der Organisation der Produktivkräfte mächtig fördern wird. Daraus ziehen die Sozialimperialisten den Schluß, daß es unsinnig wäre, gegen ihn und die kapitalistische Wirtschaft den Kampf aufzunehmen. Die kapitalistische Wirtschaft habe noch große Aufgaben im Interesse der sozialen Entwicklung zu leisten. It is a long way to Tiperary! singen sie gemeinsam mit Tomy Atkins. Also fort mit der Utopik der Kampfpolitik, der Sozialdemokratie Ende und Glück! Denn der Staat wird die große Arbeit der Organisation erledigen und die Sozialisten werden nur die Aufgabe haben, durch allmähliche Reformarbeit darauf hinzuwirken, daß die Arbeiterklasse in diesem Organisationsprozeß nicht versklavt werde und daß die vom kapitalistischen Staate geschaffene Organisation allmählich den Interessen des ganzen Volkes angepaßt werde. In dieser Verflechtung der Interessen des Proletariats mit denen des noch nicht überrennbaren Kapitalismus, des Kapitalismus, der noch große Aufgaben zu erfüllen hat, sehen sie die historische Wurzel und die historische Berechtigung der Politik des 4. August, die das Proletariat an die Seite des kapitalistischen Staates gestellt hat.

Die Linksradikalen sehen die Lehren des Weltkrieges in einem ganz anderen Lichte. Die Haltung der Arbeiterklasse im Weltkriege ist für sie das Produkt des in der vorhergehenden, verhältnismäßig friedlichen Epoche vorherrschenden Opportunismus, der vor dem Kriege aus Angst um die bisherigen Errungenschaften die Arbeiterklasse von der Anpassung ihrer Kampfesweisen an die Bedingungen der imperialistischen Epoche zurückhielt, ihren Kampf gegen die Gefahren des Krieges im Zustande des platonischen Protestes beließ. Nur dieser Verzicht auf jeden Kampf erlaubte allen Regierungen, den Erschütterungen des Überganges in die Kriegszeit, die sie alle befürchteten und, wie sehr gute bürgerliche Kenner des Wirtschaftslebens – so Plenge – zugeben, zu befürchten alle Ursache hatten, zu widerstehen.

Nachdem jeder Versuch des Kampfes ausgeblieben war, gelang die Organisation der Kriegswirtschaft. Was bedeutet sie? Sie stützte sich auf die schon vor dem Kriege bestehende Organisation der Industrie durch die Aktiengesellschaften, Kartelle, Syndikate und Trusts. Sie entwickelt sie während des Kriegs noch mehr, ohne an ihrem Wesen, als dem Profit dienenden kapitalistischen Organisationen etwas zu ändern. Der Krieg wird diese Unterwerfung der Produktivkräfte unter die Leitung vereinigter Kapitalisten in allen Ländern ungeheuer beschleunigen. Wenn auch Finanzverhältnisse den kapitalistischen Staat nötigen werden, einen Teil der Produktivkräfte unter eigene Leitung zu nehmen und Staatsmonopole an die Stelle der Privatmonopole zu setzen, so wird am Wesen dieser Organisation der Produktion dadurch nichts geändert. Der Staat wird die hohen Profite der Privatfabriken als Rente kapitalisieren, er wird aus Rücksicht auf die finanziellen Bedürfnisse, die doch die treibende Kraft für die Verstaatlichung bilden, in demselben Verhältnis zu den Arbeitern verbleiben, das durch das Verhältnis von Kapital und Arbeit gekennzeichnet ist. Die Idee der Unterstützung dieses »Organisationsprozesses«, um auf seinem Boden gute Arbeitsbedingungen für das Proletariat, niedrige Preise für die Verbraucher, Freiheit der Organisation zu erwirken, ist utopisch. Nachdem man durch die Politik des 4. August, die doch nach dem Kriege fortgesetzt werden soll, die Kapitalisten und den Staat mächtig gestärkt hat, hat man sich ausgeliefert. Nichts kennzeichnet diese Tatsache besser und nichts gewährt einen so tiefen Blick in die Zukunft, wie das Verhalten der freien Gewerkschaften gegenüber den Eisenbahnern. Die Eisenbahnen bilden im Kriege ein noch bedeutungsvolleres Machtmittel als in Friedenszeiten. Kein Wunder, daß der Staat mit peinlichster Sorgfalt darauf achtet, daß die Eisenbahner keinen Organisationen angehören, die das Streikrecht für ihre Mitglieder beanspruchen. Nun ist die Zahl der Eisenbahnarbeiter und -arbeiterinnen naturgemäß sehr gestiegen, und zwar um zahlreiche Arbeitskräfte, die bisher in den freien Gewerkschaften organisiert waren. Das für den Staat ganz selbstverständliche Verbot des Streikrechts für die Eisenbahner bedeutet für die freien Gewerkschaften also eine schwere Probe. Ihre Führer sind der Haupttrupp der Politik des 4. August gewesen: sie haben sich dadurch als durchaus vaterlands- und kaisertreu erwiesen. Was tun sie nun gegenüber dem Streikverbot der Eisenbahner? Sie können nichts tun; denn sie haben die Waffen aus der Hand gelegt. Darum verzichten sie auf die Organisierung der Eisenbahner je nach ihrer Arbeitsweise in den freien, streikberechtigten Organisationen und fordern sie zum Eintritt in die Eisenbahnerorganisationen auf, die kein Streikrecht kennen. So wird es ganz naturgemäß auch in andern durch den Staat monopolisierten Betrieben gehen, die für den Staatsbetrieb Bedeutung haben können; z. B. in der Elektrizitätsindustrie. In den Privatmonopolen wird vielleicht keine formelle Aufhebung des Streikrechts erfolgen; aber die Macht des organisierten Unternehmertums wird die Ausnutzung dieses Rechtes ungeheuer erschweren.

Eine Unterstützung der Organisation der Produktion durch die kapitalistischen Vereinigungen und den Staat seitens des Proletariats würde in erster Linie den Verzicht auf den Kampf um den Sozialismus bedeuten, von der Wirkung auf den Kampf um Besserung der Lebensbedingungen ganz zu schweigen. Obligatorische Schiedsgerichte, hinter denen keine Kampfmöglichkeit und keine Kampforganisationen stehen würden, das wäre die Konsequenz. Also Kampf gegen die kapitalistische Privat- und Staatsorganisation der Produktion? Aber auf welches Ziel soll er gerichtet sein? Auf die Rückkehr zum Einzelbetrieb?

Es ist klar, daß dies nicht das Ziel der Sozialdemokratie sein kann. Was ihr Ziel sein muß, das zeigt die weitere Untersuchung der Organisationsfrage. Das, was die Sozialimperialisten als Beweis der Stärke, der noch großen Lebensfähigkeit des kapitalistischen Staates ansehen, nämlich seine organisatorische Übernahme der Produktion, ist gerade ein Beweis dafür, daß er seine historische Aufgabe als Förderer der kapitalistischen Entwicklung in den hochentwickelten Ländern bereits erfüllt hat. Ungeheure Produktivkräfte sind schon geweckt und in den für den wirtschaftlichen Gesamtbetrieb wichtigsten Teilen organisiert. Soweit dies nicht der Fall ist – so in der Lebensmittelproduktion – können die Aufgaben, die hier zu lösen sind, durch ihn nicht gelöst werden. Die Übernahme der Landwirtschaft durch den Staat, ihre Nationalisation, ist theoretisch zwar wohl mit dem Kapitalismus vereinbar; aber praktisch würde sie an zwei Momenten scheitern: die Umschlagszeit des Kapitals in der Landwirtschaft ist viel langsamer, die Aussichten auf sprunghaft wachsenden Profit sind viel geringer als in der Industrie, weil die Technik in der Landwirtschaft nicht die Rolle spielt wie in der Industrie, weswegen das Kapital ihr nicht in genügender Höhe zufließt. Außerdem befindet sie sich in den Händen einer Klasse, die als Mittel- wie auch als Großgrundbesitz zu den wichtigsten Stützen der kapitalistischen Gesellschaft gehört, also für den Staat ein Noli me tangere ist. Deswegen wird der Staat niemals an die Organisation der landwirtschaftlichen Produktion gehen. Was die staatlichen Monopole betrifft, so stellen sie, wie früher bereits ausgeführt wurde, den privatkapitalistischen Monopolen gegenüber keinen Fortschritt dar. Der Staat ist also kein Förderer der Organisation der Produktion, weder im qualitativen, noch im quantitativen Sinne, wo ihm, wie in der Landwirtschaft, der Mechanismus des Kapitalismus und seine Interessen selbst Halt gebieten. Darum kann die Sozialdemokratie nur vom Standpunkt des Sozialismus dem Staat gegenüber, nur im Besitze der politischen Macht kann die Arbeiterklasse die Organisation der Produktion fördern und gleichzeitig der Unterordnung der lebendigen Kräfte der Produktion unter die versachlichten entgehen. Was die Sozialimperialisten als Grundlage des Methusalemlebens des kapitalistischen Staates ansehen, ist in Wirklichkeit nichts anderes, als seine Reife zum Übergang in den Sozialismus. Und dieser Übergang wird erfolgen durch die praktische Stellungnahme der Arbeiterklasse zum Staate, die ihr in der Theorie längst geläufig ist; sie wird erfolgen genau in der entgegengesetzten Haltung der kapitalistischen Organisation der Produktion gegenüber, als die Sozialdemokraten für richtig halten.

Diese Stellungnahme des Proletariats wird in allen Ländern zum Durchbruch kommen. Wenn ein Lensch mit einem Anschein von Recht das England vor dem Kriege als das Land des »Individualismus« Deutschland, dem Lande der Organisation gegenüberstellen konnte, so kann er sich trösten: Der niedrigere Grad der Vertrustung und Kartellierung der englischen Industrie, dem Freihandel gedankt, der diesen Prozeß verlangsamte, verschwindet im Kriege: ein Hervorstampfen einer Fünfmillionenarmee während des Krieges, ihre Ausrüstung usw. wäre unmöglich, ohne daß England im Kriege die Bahn der kapitalistischen Organisation der Produktion rüstig beschritt. Und in anderen Ländern des Kapitalismus wird die Entwicklung durch den Weltkrieg sich in derselben Richtung in beschleunigtem Tempo entwickeln.

Damit ist der Ausgangspunkt für die Stellungnahme des Proletariats zum Staatsproblem in der Ära des Imperialismus gewonnen. Auch in der Ära des jungen Kapitalismus, des entstehenden kapitalistischen Staates, war das Proletariat, wie wir bereits sahen, kein staatsbildender Faktor. Es konnte sich zwar dem wirtschaftlichen und politischen Fortschritt, der sich in der Bildung der Staaten äußerte, soweit es sich dabei über seine eigenen Interessen zu orientieren wußte, nicht widersetzen; aber nur die Erringung demokratischer Verhältnisse auf dem Boden der stattfindenden Staatsbildung war die besondere Klassenaufgabe des Proletariats. In der Ära des entwickelten Kapitalismus, seiner Organisation der Produktionskräfte, strebt das Proletariat über den kapitalistischen Staat hinaus zur sozialistischen Organisation der Produktion.

Im Zeitalter des Imperialismus.

Die imperialistischen Aufgaben des Staates.

Die Sozialimperialisten weisen darauf hin, daß der imperialistische Staat dabei ist, über die bisherigen Grenzen hinauszuwachsen. Seine wirtschaftlichen Kräfte sprengen die bisherigen staatlichen Grenzen. Die wachsende Produktion sucht gesicherte Absatzmärkte, Rohstoffquellen, und so erfolgt ein Zusammenschluß zu großen Imperien. Neben dem englischen, russischen, französischen ist das mitteleuropäische im Entstehen begriffen. Sie stellen einen großen wirtschaftlichen und politischen Fortschritt dar: Produktion auf großer Stufe, die Niederreißung der Grenzen auf großen Gebieten. Und die Kolonialpolitik dieser Kolosse bedeutet die Verbreitung der kapitalistischen Produktionsweise über die ganze Welt. Diesem historischen Prozeß sich zu widersetzen, wäre kindisch. Ebenso wie die Organisation der Produktion durch die Kartelle und Trusts die Vorbedingung für den Sozialismus innerhalb der kapitalistischen Staaten war, so bereitet sie ihre imperialistische Expansion in der ganzen Welt vor. Nur nachdem der Kapitalismus die ganze Weltkugel siegreich durcheilt haben wird, wird die Zeit des Sozialismus gekommen sein. Aber nicht nur deswegen darf sich das Proletariat den imperialistischen Zusammenschlüssen, den Annexionen und der Kolonialpolitik nicht widersetzen. Bevor die Stunde des Sozialismus geschlagen hat, wird von dem Gedeihen jedes dieser imperialistischen Staaten das Wohl und Wehe des Proletariats abhängen: das Stocken des Absatzes, das Ausbleiben der Rohstoffzufuhren bedeutet Arbeitslosigkeit, Notwendigkeit der Auswanderung und somit Niedergang der Arbeiterbewegung des betreffenden Landes.

Wie der Ruf: Deutschland, das Land der Organisation!, den die Lensch ausstoßen, nur eine Wiederholung desselben Rufes bürgerlicher Imperialisten ist – man lese nur Naumanns: »Mitteleuropa« und Plenges: »1789 und 1914« – so sind auch diese ungeheuerlich neuen Entdeckungen der Cunow, Renner und Lensch, deretwegen sie nicht nur von der Mitwelt der Haenisch, Grunwald, Cohen, Heilmann, sondern von sich selbst als große Köpfe gefeiert werden, Gedanke für Gedanke ganz gedankenlos von den Naumann, Rohrbach, Jaeckh abgeschrieben. Diese Feststellung enthebt natürlich nicht der Pflicht, die Unrichtigkeit ihrer Gedankengänge zu beweisen.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Grenzen der kapitalistischen Staaten ebenso zu eng wurden für die Entwicklung der Produktivkräfte, wie der Kapitalismus selbst. Aber wie der Kapitalismus durch Kartelle und Trusts den Krisen nicht entgehen kann, so kann er ihnen auch durch die imperialistische Expansion nicht entgehen. Die Erweiterung des Marktes wird immer durch das Wachstum der Produktion überflügelt, eine Folge der Unreguliertheit der Produktion. Die Idee eines kapitalistischen Welttrustes, der nicht nur jeden einzelnen Produktionszweig beherrscht, sondern auch die Produktionskräfte nach den Bedürfnissen der Menschheit verteilt, ist vollkommen utopisch. Ihre Voraussetzung bildet die Konzentration des Weltkapitals in ein paar Händen; denn solange dies nicht der Fall wäre, würde jeder neue technische Fortschritt die außerhalb der einzelnen Kartelle stehenden Kapitalisten zur Errichtung von Konkurrenzwerken reizen. Einen Zustand aber, in dem das Weltkapital sich nur in ein paar Händen befinden würde, also die Weltproduktion vollkommen konzentriert wäre und der Kapitalismus noch herrschen würde, einen Zustand also, in dem ein paar Kapitalisten die ganze riesengroße Aufgabe des Sozialismus erledigt haben, wagen selbst die pessimistischen Sozialisten nicht anzunehmen.

Worin besteht also die Aufgabe der Imperien? Sie können die Produktion in dem Maßstabe des Weltmarktes nicht organisieren. Umgekehrt, suchen sie sie nur in den eigenen Staatsgrenzen zu organisieren, um den Bewohnern des Imperiums höhere Monopolpreise diktieren zu können, obwohl die Vergrößerung des inneren Marktes erlauben müßte, die Preise zu ermäßigen. Aber die Monopole erstreben eben die Ermäßigung der Produktionskosten und die Erhöhung der Preise auf dem vergrößerten inneren Markt, um desto erfolgreicher, weil zu ermäßigten Preisen, auf dem Weltmarkt zu konkurrieren. Das sagt gleichzeitig, daß es eine Legende ist, wenn man von der Aufrichtung der Imperien die Sicherung des Absatzes erhofft. Kein noch so großes Imperium wird sich als Absatzgebiet genügen. Besteht es aus kapitalistisch entwickelten Ländern und Eingeborenenkolonien, nun, dann muß es damit rechnen, daß sich angesichts der Zurückgebliebenheit der Eingeborenen und ihrer großen Ausbeutung ihre Konsumkraft sehr langsam entwickelt. Besteht es aus kapitalistischen Industrie- und kapitalistischen Agrarländern (wie die englischen Selbstverwaltungskolonien Kanada, Südafrika, Australien und Neuseeland), so muß es damit rechnen, daß jedes dieser Länder selbst zur Industrie übergeht.

Aber nicht nur den Absatz, den Bezug von Rohstoffen kann kein Imperium sichern, wenn es nicht die halbe Welt umfaßt, was auf die Länge hin unmöglich ist. Denn die Bedürfnisse jedes großen Industrielandes sind so groß und mannigfaltig, daß sie nur durch die ganze Welt gedeckt werden können. Und die Rohstoffländer sind dank der geographischen und klimatischen Bedingungen ihrer Produktion gewöhnlich an gewisse Spezialkulturen gebunden: für die kann wieder auch das große Imperium allein kein genügendes Absatzgebiet bilden. Während England seine Baumwolle trotz des Besitzes von Indien und Ägypten größtenteils aus den Vereinigten Staaten von Nordamerika bezieht, braucht Australien für seine Wolle auch Deutschland als Absatzmarkt. Die Weltwirtschaft bildet ein unzerreißbares Ganzes. Nur ihre Organisation würde einen historischen Fortschritt bedeuten. Der Imperialismus vollzieht ihn nicht, er kann es nicht, weil konkurrierende kapitalistische Gruppen seine Grundlage bilden, die nur möglichst große Stücke aus dem weltwirtschaftlichen Zusammenhange zu reißen suchen.

Die auf diese Weise gebildeten Imperien bilden keineswegs irgend etwas Neues vom Standpunkt der Produktionsweise, sie bilden nur eine verschiedene Einteilung der bereits bestehenden Produktionskräfte. Es gibt keinen Grund, dank dem man annehmen müßte, daß sie eine historisch notwendige Übergangsstufe zum Sozialismus sind, für den in West- und Mitteleuropa, in Nordamerika die wirtschaftlichen Bedingungen auch ohne die weitere imperialistische Entwicklung reif sind.

Aber die Kolonialpolitik, die Entwicklung des Kapitalismus in den Kolonien, ist das kein wirtschaftlicher Fortschritt? Jawohl: der europäische Kapitalismus kann noch dazu beitragen, in den unentwickelten Ländern die Produktivkräfte zu entwickeln. Er kann es aber nur durch die kapitalistischen Methoden der Arbeit, die wir hier nicht zu schildern brauchen. Das Proletariat könnte diese Politik nicht unterstützen, selbst wenn die Zeit des Kapitalismus noch nicht abgelaufen wäre, weil es seine Hand nicht zur Vergrößerung der Proletariermassen bieten kann. Ethische Floskeln! erklärt Herr Lensch. Aber wenn das Proletariat Europas sich z. B. nicht zur Sklavenhaltern bekennen würde, so würde es dadurch doch nur seine heutigen und morgigen Interessen wahren. Denn es würde sich von selbst verstehen, daß die Sklaverei in den Kolonien nur auf Kosten des Proletariats stattfinden würde, und es würde sich dadurch Arbeitskonkurrenten schaffen, die unter der Peitsche zu arbeiten gewohnt wären und seine Lebenslage herabdrücken würden, sobald sie, was gar nicht ausbleiben könnte, auf dem europäischen Arbeitsmarkte erscheinen würden. Und würde das Proletariat heute helfen, die afrikanischen und asiatischen Hirten und Bauern zu Sklaven zu machen, wie sollte es dann später versuchen können, sie zu organisieren, um ihren Druck auf die eigene Lebenshaltung zu verringern? Selbst wenn der Kapitalismus die einzige jetzt mögliche Entwicklungsform der Produktivkräfte wäre, das Proletariat könnte die Kolonialpolitik dennoch nicht unterstützen. Seine Aufgabe würde sich natürlich nicht in platonischen Erklärungen gegen die Kolonialpolitik ausdrücken. Es müßte mit voller Energie für die Interessen seiner zukünftigen Kampfgenossen eintreten.

Die Pflicht der Bekämpfung der Kolonialpolitik ist um so größer, als in Europa die Bedingungen für den Übergang zum Sozialismus bereits reif sind. Das Interesse des Proletariats an der kolonialen Produktion, die der sozialistischen Wirtschaft Europas wie Amerikas manches wird bieten können, was sie selbst zu produzieren aus klimatischen Gründen außerstande wäre, wird es nicht zur Konquistadorenpolitik anregen, sondern zu wirklicher Kulturhilfe an die unentwickelten Völker, die ohne Peitsche und Alkohol in den europäischen Kulturkreis eintreten würden.

Der Behauptung der Sozialimperialisten, daß die unentwickelten Völker durch den Kapitalismus hindurch müssen, bevor sie zum Sozialismus gelangen können, ja bevor die europäischen Völker den Kapitalismus niederringen können, widerspricht die ganze Weltgeschichte. Immer existierten Kulturkreise von verschiedener Stufe nebeneinander und niemals mußte jedes Volk alle Stufen durcheilen, die andere durcheilt haben. Der Kapitalismus existiert in Europa, obwohl es noch in Afrika Völker gibt, die sich auf der Stufe der Entwicklung der alten Germanen befinden und er sucht ihnen die moderne kapitalistische Produktionsweise aufzupfropfen, ohne zu fragen, ob sie die Zeit des Zunfthandwerks usw. durchgemacht haben. Die imperialistischen Ziele, die sich die kapitalistischen Staaten in Europa, wie in den unentwickelten Ländern stellten – die Bildung imperialistischer Großstaaten, die Entwicklung des kolonialen Kapitalismus –, sie sind keine Vorbedingungen für den Sieg des Sozialismus, wie es die Sozialimperialisten behaupten. Umgekehrt, sie sind Mittel, zu denen das Kapital greift, um den Widersprüchen seiner Wirtschaftsweise zu entgehen, um sein Leben zu verlängern. Sie können deswegen keine Ursache sein für die Unterstützung des Imperialismus durch das Proletariat.

Die nationalen Fragen.

Wir zeigten im ersten Kapitel unserer Auseinandersetzung, wie wenig sich schon der junge Kapitalismus um die nationalen Grenzen kümmern konnte, wo er bei der Staatsbildung durch militärische oder wirtschaftliche Gründe über die Grenzen der eigenen Nation hinausgetrieben wurde. Der Imperialismus aber verstärkte ungeheuer den Drang der kapitalistischen Bourgeoisien, die nationalen Grenzen zu überschreiten. Dieser Drang ist die grundlegende Tatsache des Imperialismus, seine grundlegende Tendenz. Der Imperialismus beginnt eben dort, wo sich die Bourgeoisie nicht mit der Ausnutzung der Ware Arbeitskraft der eigenen proletarischen Volksgenossen, der Heranziehung fremder Proletarier in das eigene Land, der Ausbeutung fremder Völker durch friedlichen Warenexport begnügt, wo ihre wirtschaftlichen Kräfte so gewachsen sind, daß sie sich an die Aufgabe wagt, in fremde, noch unentwickelte Länder Kapital zu exportieren, um sie später politisch zu beherrschen, unter eigener Staatshoheit ihre Volkskraft und ihre Produktionsmittel sich nutzbar zu machen. Was im Zeitalter des jungen Kapitalismus Resultat des Zwanges gewisser geographischer Tatsachen war, nämlich die Überschreitung der nationalen Grenzen, das ist jetzt Grundtatsache.

Sie äußert sich in der mannigfachsten Form. Die imperialistischen Staaten erobern Kolonien, d. h. Länder auf so niedriger Stufe wirtschaftlicher Entwicklung, daß sie keine eigene Bourgeoisie, kein eigenes Kapital haben. Da aber das nationale Bewußtsein ein Produkt der kapitalistischen Entwicklung ist, und ohne sie nicht existiert, so äußert sich die koloniale Tätigkeit vorerst nicht in nationaler Unterdrückung, ja, oft führt erst die koloniale Tätigkeit zum Verschmelzen des Bewußtseins besonderer Stammeszugehörigkeit in ein allgemeines nationales Bewußtsein. Was natürlich erst Resultat eines langen Prozesses ist.

Wenn Karl Kautsky in seiner Broschüre über »Nationalstaat und Imperialismus« daraus schließt, daß somit der Besitz von Kolonien einen imperialistischen Staat nur zum Kolonialstaat macht, aber keinesfalls zum Nationalitätenstaat, so vergißt er dabei zwei Tatsachen, die den Zweck seiner Feststellung aufheben. Erstens ist es eine Frage der Zeit, wann die wirtschaftliche Entwicklung in den Kolonien bei den Eingeborenen das nationale Bewußtsein schafft. In Indien und Ägypten bildet es sich schon bei der Oberschicht der Eingeborenen, und die koloniale Tätigkeit beginnt dort schon als national empfunden zu werden. Das wird das englische Imperium vor nationale Fragen stellen. Ebenso liegen die Dinge in Niederländisch-Indien. Aber schließlich ist das nicht das Wichtigste. Der Zweck der Kautskyschen Feststellung war, den Nationalstaat als die beste und dauernde Form des kapitalistischen Staates vorzuführen. Aber unabhängig von der Entstehung kolonialer Nationalfragen, die ihm diesen Charakter rauben, gibt der Besitz der Kolonien auch dem Nationalstaat einen ganz anderen Charakter.

Frankreich ist der »ideellste« Nationalstaat Europas. Würde es sich aber wegen seines Kolonialbesitzes in den Krieg stürzen, so würden, selbst wenn eine Niederlage die nationale Unabhängigkeit Frankreichs in Frage stellen würde, die französischen Proletarier, indem sie die Unabhängigkeit »ihres« Staates verteidigen, auch den Besitz der Kolonien, um die der Krieg ausgebrochen wäre, verteidigen. Denn würden sie unter der Leitung der herrschenden Klassen in den Krieg treten, so würden die Ziele dieser Klassen ihm den Charakter des nationalen Verteidigungskriegs nehmen. Es handelt sich nicht um die nackte Frage, ob der imperialistische Staat vorerst national »rein« bleibt, sondern um das, was er besitzt, was er verteidigt; ganz abgesehen von der Frage der historischen Notwendigkeit des kapitalistischen Staates überhaupt bei dem jetzigen Grad der wirtschaftlichen Entwicklung, die wir schon kurz behandelt haben.

Vor dem Weltkriege nahm man an, daß die staatlichen Änderungen, die der Imperialismus mit sich bringt, nur in den fremden, unzivilisierten Kontinenten, in Afrika und Asien, vor sich gehen werden. Die Erfahrungen des Krieges haben gezeigt, daß, wenn auch die Ziele des Imperialismus außerhalb Europas liegen, die Wege zu ihnen über die Änderung der europäischen Staats- und Machtverhältnisse führen. Der deutsche Imperialismus erkannte auf einmal, daß alle seine außereuropäischen Erfolge Scheinerfolge sind, solange die englische Flotte die Nordsee beherrscht, weil sie ihn jederzeit von seinen Kolonien, von den Weltmärkten abschneiden kann. Will er eine wirkliche Freiheit des Handelns, der Expansion besitzen, dann muß er durch die Verlängerung der deutschen Küsten, durch Schaffung von maritimen Stützpunkten, durch eine starke Flotte die »Freiheit der Meere« für sich erlangen.

Wenn der deutsche sozialdemokratische Parteiausschuß in seinen vorjährigen Leitsätzen die Freiheit der Meere als Ziel der deutschen Arbeiterklasse aufstellte, es aber auf dem Wege des Vertrages erreichen wollte, so ist das nichts als pure Flunkerei. Wenn der Parteiausschuß wirklich recht hätte, so dürfte man dennoch nicht die Augen vor der Tatsache verschließen, daß Englands Kapital niemals auf dem Wege des Vertrages auf ein so bedeutendes Druck- und Herrschaftsmittel verzichten wird, wie es die Möglichkeit der Blockade seines größten Konkurrenten ist. Die Freiheit der Meere bedeutet in erster Linie Entscheidung über die Zukunft Belgiens und somit die Entstehung einer nationalen Frage inmitten Westeuropas. Darin haben die Reventlows tausendmal mehr recht, und wenn die Sozialpatrioten sie deswegen schelten, so nur, weil sie selbst ein Interesse daran haben, diese Konsequenzen zu verhüllen. Aber nicht nur nach Westen will der deutsche Imperialismus freie Hand haben: er muß auch im Osten sicheren Rücken haben, wenn er frei operieren will.

So entstand für ihn die Frage eines unabhängigen Polens, d. h. eines von Rußland unabhängigen Polens, wie sich der Sozialimperialist Haenisch kürzlich mit unbewußt naiver Ironie ausdrückte. Wenn diese Frage im Sinne des deutschen Imperialismus gelöst wird, so wird für Deutschland eine neue nationale Frage im Osten entstehen oder verstärkt werden. Da das unabhängige Polen ein militärisches Vorwerk gegen Rußland sein würde – die deutsche Regierung hat diesen seinen Charakter offen bekannt –, so könnte sie den Polen beim besten Willen keine Entscheidungen über alle die Fragen überlassen, die irgendwie die Existenzfragen des deutschen Imperialismus berühren. Und weiter: welche Einwirkungen die Existenz auch nur eines solchen Polens auf die nationalen Stimmungen und Bewegungen in Preußisch-Polen haben wird, welche Konsequenzen ein polnischer Pufferstaat für die preußische Politik haben würde, das alles bildet Bestandteile der Polenfrage, wie sie jetzt die deutsche Regierung eingestandenermaßen beschäftigt und die, im Sinne des Imperialismus gelöst, zu der belgischen eine polnische Frage gesellen, den Charakter Deutschlands als eines Nationalstaates also völlig aufheben würden.

Die Haltung der Arbeiterklasse.

Der Sozialpatriotismus.

Als der Weltkrieg ausbrach, schien die Mehrheit der Parteiführer in Österreich, Deutschland und Frankreich alles das vergessen zu haben, was sie vorher über die internationalen Gefahren des Imperialismus gelehrt hatte. Sie erklärten in jedem Lande dieses Land als ohne Schuld angegriffen, nur bei dem anderen, dem Feinde spiele der Imperialismus eine Rolle. Da sie so die Kriegsursachen auf der Seite ihres Landes für außerhalb des Imperialismus stehend erklärten, fiel nach ihrer Meinung die Frage ihrer eigenen Parteipolitik in ein ganz anderes Kapitel: das der nationalen Verteidigung, die von der Internationale anerkannt war. Aber bald begnügten sie sich nicht mehr mit diesem Argument, sondern gaben auch an, was sie verteidigen wollen: den Nationalstaat.

So erklärten in erster Linie die französischen Sozialpatrioten, deren Staat äußerlich dem Typus des Nationalstaates am nächsten steht, wenn man seinen Besitz an Kolonien mit dem Mantel patriotischer Vergeßlichkeit verhüllt. Obwohl Deutschland kein reiner Nationalstaat ist – besitzt es doch polnische, französische und dänische Mitbürger, um wieder von den Kolonien abzusehen – bekannte sich auch die Mehrheit der deutschen Parteiführerschaft zum Nationalstaat und setzte über die Politik des 4. August die Flagge der Nation. Vom Bürgertum wurde diese Politik als Wiederkehr des verlorenen sozialdemokratischen Sohnes in den Schoß des Vaterlandes begrüßt. Die neugeborene sozialpatriotische Richtung lehnte diese Begrüßung ab. Sie wies nach, daß Marx, Engels und Lassalle immer gute Patrioten waren, daß die Internationale immer die Existenz der Nationen und die Pflicht ihrer Verteidigung anerkannt habe.

Wie die Sache um Marx, Engels und Lassalle bestellt ist, zeigten wir in dem ersten Kapitel dieser Auseinandersetzung, und daraus ergibt sich, daß die Darstellung der David, Haenisch und der kleineren Götter eine reine historische Fälschung ist: historische Köpfe wie sie waren, haben Marx und Engels weder den Nationalstaat als die einzige Form der staatlichen Existenz angesehen, die jeder Nation zukommt, noch haben sie an und für sich um den deutschen Nationalstaat gekämpft, sondern sie haben in der Ära, in der seine Bildung einen historischen Fortschritt darstellte, auf dem Boden der zu ihm führenden Strömungen um die Demokratie gekämpft. Was aber die Beweisführung anbetrifft, daß die Internationale immer die Existenz der Nationen anerkannt habe, so ist diese mit großer Verausgabung von Kleister geführte Beweisführung ebenso notwendig, als wenn die David und Haenisch beweisen wollten, daß die Internationale das Bestehen von Händen und Füßen bei den Menschen anerkannte. Die Existenz von Nationen als historisches Produkt und die Unmöglichkeit ihrer künstlichen Verwandlung in einen anationalen Menschenbrei wird von niemandem bestritten. Die Frage besteht nur darin, für welche Form des Zusammenlebens der Nationen die Sozialdemokratie jetzt im Anfang des 20. Jahrhunderts in den kapitalistisch entwickelten Ländern einzutreten hat. In der Mitte des 19. Jahrhunderts sahen Marx, Engels und Lassalle im Nationalstaat die staatliche Form, die für die Entwicklung der Volkswirtschaft und damit für das Proletariat Deutschlands am entsprechendsten war, wobei sie, weil sie für die volle Demokratie nicht mit Worten, sondern mit Taten kämpften, keine Ohnmachtsanfälle zu bekommen brauchten, wenn die Entwicklungsbedingungen dieses Nationalstaates auch Splitter fremder Völker umfaßten. Was bei Marx und Engels ein historisch begründeter Standpunkt war, das bekommt aber bei den Sozialpatrioten diesseits und jenseits der Vogesen ein gewaltiges Loch nach dem andern, was nur ein Beweis dafür ist, daß ihr Standpunkt sich im Widerspruch zu den jetzt obwaltenden historischen Tendenzen befindet.

Wenn der Grund der Pflicht der Verteidigung des deutschen und französischen Staates darin liegen soll, daß sie Nationalstaaten sind und die Nationalstaaten eine notwendige Bedingung des Sieges des Sozialismus bilden, dann dürften die Proletarier Rußlands und Österreich-Ungarns sich um ihre Staaten nicht kümmern, sind sie doch nicht nur Nationalitätenstaaten, sondern beherbergen Teile von Nationen, bedeuten also die Zerreißung von Nationen. Aber zu dieser Konsequenz erheben sich die französischen Sozialpatrioten nur in bezug auf … Deutschland, Österreich und die Türkei, deren Zerlegung in nationale Teile sie propagieren, während die deutschen Sozialpatrioten wieder die … von Rußland unterworfenen Nationen »befreien« wollen, selbst wenn das Proletariat dieser Nationen nicht die geringsten Wünsche in dieser Hinsicht ausdrückt. Dagegen erkennen die französischen Sozialpatrioten an, daß es als Bedingung für den Sieg des Sozialismus in Rußland genügen wird, wenn dort die Unterdrückung der Nationen verschwinden und die Demokratie siegen würde. Und der Wortführer der österreichischen Parteimehrheit, Karl Renner, bekennt sich zu der Auffassung, »daß im Wettstreit der Staaten die Geographie stärker ist als die Nationalität« (Österreichs Erneuerung, Wien 1916, S. 7); und die österreichische Sozialdemokratie setzt sich mit dem größten Eifer für die Verteidigung des österreichisch-ungarischen Staates ein, der doch ein Gemisch von einem Dutzend Nationen ist.

Schon diese Tatsachen zeigen, was von den Salbadereien der reinen Sozialpatrioten, die Verteidigung der Nation sei der Grund für die Verteidigung des Staates, zu halten ist. Der Sozialpatriotismus fordert doch vom Proletariat die Verteidigung von nationalen, wie von nationalgemischten Staaten. Aber noch mehr. Selbst wenn der Sozialpatriotismus dies nicht tun würde, wenn er unter der Führung der Bourgeoisie nur den Nationalstaaten zum Siege über die Gegner verhelfen würde, so könnte er nicht verhüten, daß der Sieger die Hand ausstreckt nach dem Preise, um den er kämpft: nach der Angliederung von Kolonien, ja von fremdnationalen Gebieten in Europa, wenn seine wirtschaftlichen oder politischen Interessen das erfordern. Um dieser offensichtigen Konsequenz zu entgehen, müssen die Sozialpatrioten zu einem politischen Kunstgriff greifen: sie erklären, daß sie nur für die Verteidigung des Vaterlandes kämpfen, aber beileibe nicht für Annexionen, gegen die sie protestieren, daß es nur so kracht. Aber man braucht nur zu sehen, wie wenig die Bourgeoisie sich um ihre Proteste kümmert, solange sie sich eben zur Verteidigung bereit erklären. Denn hat sie den Sieg in der Hand, dann können seine Folgen nicht ausbleiben. Und man kann die Sozialpatrioten nicht für solche Kindsköpfe halten, daß sie diese Zusammenhänge nicht erfassen.

Was bei einzelnen von ihnen anfangs noch eine ideologische Marotte sein mochte, das ist jetzt beim Sozialpatriotismus, als einer politischen Richtung, ein taktisches Manöver; sie glauben durch die Vorspiegelung einer rein nationalen Verteidigungspolitik am leichtesten den Einfluß auf die Volksmassen behalten zu können.

Selbst in der Jugend des Kapitalismus war der Nationalstaat keinesfalls die einzige Form der staatlichen Entwicklung des Kapitalismus. Im Zeitalter des Imperialismus besitzt jeder kapitalistische Staat die Tendenz, über den Rahmen einer Nation – auch der größten – hinauszuwachsen, er sucht sich fremde Gebiete zu unterwerfen. In dieser Zeit die Zerschlagung der kapitalistischen Welt in nationale Parzellen als Politik des Proletariats zu propagieren, hieße eine willkürliche Zerreißung der wirtschaftlichen Zusammenhänge zur Vorbedingung des Sozialismus zu machen. Der Sozialismus, der die Organisation der Produktion gemäß ihren natürlichen Grundlagen und entsprechend den Bedürfnissen der Gesellschaft bedeutet, würde durch eine Desorganisation der Produktion gemäß einem ausgedachten »Nationalprinzip« eingeleitet werden. Der Widerspruch zwischen dieser sozialpatriotischen Ideologie und der Tendenz der Entwicklung ist so offenkundig, daß die sozialpatriotische Ideologie ununterbrochen in Gegensatz zu Tatsachen geraten muß, den sie durch Anleihen beim Sozialpazifismus zu verdecken sucht, um schließlich beim Sozialimperialismus anzulangen, der ideologisch ihr Antipode ist.

Verteidigung der Unabhängigkeit des Landes! schreien die Sozialpatrioten, und da stoßen sie auf die harte Tatsache der wirtschaftlichen Abhängigkeit jedes kapitalistischen Landes von dem Weltmarkt. So ergänzen sie flugs ihre erste Losung durch die zweite: Freiheit der wirtschaftlichen Entwicklung, und erläutern sie mit dem Hinweis, daß sie eine Verständigung der Völker erstreben, die allen die gemeinsame Ausbeutung der Kolonien – »offene Tür« – die Freiheit der Zufuhren – »Freiheit der Meere« – sichern wird. Ihr tretet für die Unabhängigkeit und Unversehrtheit des Landes ein, – antworten die Sozialimperialisten den Sozialpatrioten – das ist sehr schön, aber wenn zu ihrer Sicherung in diesem Zeitalter der Kämpfe eine kleine »Befreiung« im Osten, und eine kleine »Garantie« im Westen notwendig ist, so muß man sie halt fordern! Ihr erkennt das Interesse des deutschen Proletariats an der »Entwicklung der kolonialen Produktivkräfte«; wir auch. Nun, dann muß dieses Interesse auch gesichert werden; man darf sich nicht auf solche Illusionen verlassen, daß die französischen oder russischen Kapitalisten die Zölle in ihren Kolonien aufheben, während die Engländer daran sind, in den ihrigen den bisherigen Freihandel abzuschaffen. Da muß man schon eigene Kolonien haben.

Ihr wollt die Freiheit der Meere? Aber worauf ist ihre Unfreiheit begründet? Auf der großen englischen Flotte, auf den vielen englischen Stützpunkten in allen Meeren. Wer glaubt daran, daß England auf all dies verzichtet? Wenn ihr also die Freiheit der Meere im Interesse des Proletariats verlangt, so müßt ihr auch die dazu führenden Wege wollen: die Niederringung der englischen Flottenmacht durch eine entsprechend große eigene, die auf eine besser gestaltete Küste, auf eroberte Flottenstützpunkte gestützt, mit England den Kampf aufnehmen könnte. Also, also! So singen die sozialimperialistischen Sirenen.

Die Herren Scheidemann und Stampfer mögen sich gegen diese Konsequenzen noch so sehr sträuben, sich noch so sehr auf die Grundsätze des Sozialismus berufen, es hilft ihnen nichts. Praktisch dienen sie vom ersten Tag ihres Umfalls dem Imperialismus, theoretisch können sie ihm, sobald sie sich in der Ära des Imperialismus auf den Boden des Vaterlandes gestellt haben, nichts entgegenstellen als pure Demagogie, die sich die Sozialimperialisten, hinter denen nicht nur die logischsten Köpfe des Lagers des 4. August, sondern, was weit wichtiger ist, die ganze Gewerkschaftsbureaukratie, und was noch wichtiger, die Logik des Standpunktes stehen, auf die Länge hin nicht gefallen lassen werden. Sie mögen aus taktischen Gründen noch eine Zeitlang den Eiertanz der Sozialpatrioten dulden, wie sie der Resolution der Parteikonferenz zugestimmt haben; sich damit begnügen, daß sie ihnen von Zeit zu Zeit etwas in die Zähne geben, schließlich werden sie sie doch an die Kandare nehmen. Der Sozialpatriotismus ist nur ein Agitationsmittel, der Sozialimperialismus ist der Kern. Und ihn gilt es jetzt näher anzusehen.

Der Sozialimperialismus.

Während der Sozialpatriotismus die Verteidigung der Nation, die Abwehr der Gefahr nationaler Zerstückelung und Unterdrückung zum Angelpunkte der proletarischen Politik macht, geht der Sozialimperialismus von ganz anderen Gesichtspunkten aus. Wohl benutzt er die nationalen Instinkte, um das Wesen seiner Politik zu verschleiern, aber nicht um sie geht es ihm. Die Sozialimperialisten erklären die Vereinigung Deutschlands und Österreichs, Bulgariens und der Türkei, also die Zusammenschließung deutscher, slawischer, ungarischer und türkischer Völker zu einem wirtschaftlichen Gebiet – Mitteleuropa – als Kriegsziel, obwohl dadurch mit der Zeit ganz gewiß die nationale Selbständigkeit jeder der vereinigten Nationen aufgehoben wäre. Indem sie sich mehr oder weniger klar für Annexionen aussprechen, nehmen die Sozialimperialisten nicht nur die Aufhebung des nationalen Charakters mit in den Kauf, sondern auch die gewaltige Verkuppelung von Völkern. Obwohl sie diese ihre Haltung oft mit nationalen Gründen erklären, weil Deutschland angeblich nur durch die Bildung eines großen mitteleuropäischen Staatenbundes der ihm von allen Seiten drohenden Gefahr entgehen kann, so ist es doch klar, daß es sich hier nur um die Schaffung einer breiteren Basis für die imperialistische Politik handelt, als die, über die Deutschland allein verfügt; denn die Gefahren, denen die Sozialimperialisten durch Gründung Mitteleuropas entgehen wollen, entstehen eben aus dem Drang zur imperialistischen Expansion, nicht aus der bloßen Existenz Deutschlands, und Mitteleuropa soll der Stärkung des deutschen Imperialismus dienen. Es soll eine einheitliche massive militärische Kraft, ein großes wirtschaftliches Gebiet abgeben, das es mit den Kolossen des englischen, amerikanischen und russischen Imperiums aufnehmen könnte.

Indem die Türkei diesem Staatenbunde angegliedert wird, bekommt der deutsche Imperialismus nicht nur ein großes Gebiet zu seiner wirtschaftlichen Ausbreitung, sondern auch die Möglichkeit, auf England zu drücken, es zu kolonialen Zugeständnissen zu nötigen, und im Falle eines neuen Weltkrieges soll ein einheitliches Gebiet von Hamburg bis nach Bagdad, dessen Wirtschaft schon in Friedensjahren auf den Krieg vorbereitet würde, der englischen Blockade ganz anders trotzen können als jetzt. Mit diesem historischen Inhalt ist die Frage von Mitteleuropa im Feuer des Krieges geboren worden, und mit keinem andern. Das geben alle bürgerlichen Befürworter des mitteleuropäischen Gedankens ohne weiteres zu, denn sie wissen, daß eben in dem imperialistischen Charakter dieses Kriegszieles nicht nur propagandistische Kraft für die Bourgeoisie liegt, sondern die einzige Möglichkeit seiner Verwirklichung: die dynastischen und bureaukratischen Elemente, die über die Verwirklichung in erster Linie entscheiden werden, können nur durch die Schwierigkeiten, denen ihre imperialistische Politik ausgesetzt ist, wenn sie weiter selbständig betrieben wird, zum Aufgeben eines Teils ihrer bisherigen Selbständigkeit gebracht werden.

Die Sozialimperialisten suchen diesen Charakter des mitteleuropäischen Programms zu verwischen, um es bei den Arbeitern einzuschmuggeln. Wie sie den Ursprung des mitteleuropäischen Programmes mit der Aureole eines Versicherungsmittels gegen nationale Gefahren umgeben, so erklären sie: nicht dem Imperialismus, sondern dem freien Verkehr soll Mitteleuropa dienen. »Die Hände weg! müssen wir der politisch-militärischen Machtpolitik wie der nationalistischen Expansionspolitik zurufen. Behandlung der Sache als reine Wirtschaftsfrage!« rief der Führer der österreichischen Sozialimperialisten, Herr Renner, auf der Konferenz der deutschen sozialpatriotischen Instanzen, die am 9. Januar 1916 zur Erörterung der Mitteleuropafrage einberufen wurde.

Während es bei anderen Imperialismen um Gewaltpolitik, Unterdrückung ging, handelte es sich bei dem mitteleuropäischen Programm um einen »freien Bund« von Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei. »Das ist etwas ganz anderes als Imperialismus« – erklärte Renner. (»Die Bestrebungen für eine wirtschaftliche Annäherung Deutschlands und Österreich-Ungarns«. Berlin 1916. Vorwärtsverlag. S. 22.) Herr Renner ist ein zu kluger und klarer Kopf, als daß wir diesen seinen Ausführungen guten Glauben zubilligen könnten. Renner weiß sehr gut, auf welche Veränderungen der Landkarte auf dem Balkan hingearbeitet wird. Und daß der »freie Bund« morgen die bisherige imperialistische Politik aufgibt, eben weil er die Kraft zu ihr bekommen hat, das ist eine solche Zumutung an den gesunden Verstand, daß man gegen dieses »Argument« des Herrn Renner gar nicht erst zu polemisieren braucht.

Das mitteleuropäische Programm, zu dem sich alle Sozialimperialisten bekennen, ist das Hauptziel des deutschen Imperialismus, wie er sich im Kriege der Bedingungen seiner Entwicklung bewußt wurde. Aber es ist nicht das einzige. Der deutsche Imperialismus begnügt sich keinesfalls mit der ihm durch dieses Programm gesicherten friedlichen Expansion im nahen Osten, er erstrebt Kolonien in Afrika. Und die Herren Sozialimperialisten folgen ihm auch dahin. Die Artikel der Severing und Lensch werden von der Kolonialgesellschaft als Propagandaschriften verbreitet, und Herr Noske, der – mit Respekt zu sagen – Hauptsachverständige der Sozialimperialisten in Kolonialfragen, tritt in der »Glocke« mit allen Argumenten der Kolonialpolitiker für einen deutschen Kolonialbesitz ein.

Will man aber Kolonien, will man imperialistische Politik treiben, so muß man sich zum Rüsten zu Land und zu Meer bekennen. Sie tun es auch. Nicht nur für die Zukunft. Herr Quessel preist in den »Sozialistischen Monatsheften« Tirpitz, den Schöpfer der deutschen Flotte, und leistet Abbitte für die bisherige ablehnende Haltung der Sozialdemokratie. Zieht man aber die Möglichkeit neuer Kriege in Betracht, und will man für ihren Fall rüsten, so muß man auch für die wirtschaftliche Rüstung für den Kriegsfall eintreten: und so sehen wir Herrn Kaliski die deutsche Schutzzollpolitik loben, die Deutschland ermögliche, sich so glänzend während des Krieges zu ernähren: Schutzzollpolitik immerdar und allewege, sie soll Deutschlands selbständige Ernährung im nächsten Kriege sichern.

So stellt der Sozialimperialismus ein abgeschlossenes, konsequentes System der Politik dar, das im ganzen wie in allen seinen Stücken dem bisherigen System der Sozialdemokratie entgegengesetzt ist. Während der Sozialpatriotismus die Sache so darstellt, als handle es sich bei seiner Politik um einen rein vorübergehenden Zustand, der mit dem Kriege gekommen und mit ihm verschwinden wird, erklärt der Sozialimperialismus offen und klar: nein: nach diesem Kriege drohen die Gefahren neuer Weltkriege, weil die imperialistische Politik weitergeführt werden muß, zu diesen Kriegen müssen wir rüsten; die Arbeiterklasse muß an der Seite der Bourgeoisie auch nach dem Kriege stehen.

Wir haben die Argumente der Sozialimperialisten, ihre Behauptung, daß die wirtschaftliche Entwicklung für den Sozialismus noch nicht reif sei, daß der Weg zum Sozialismus durch den Imperialismus auch weiterhin führen muß, und daß deswegen die Arbeiterklasse den Imperialismus unterstützen muß, schon untersucht; wir brauchen also auf die Begründung der sozialimperialistischen Politik weiter nicht einzugehen. Auch die Untersuchung ihrer Folgen kann sehr kurz sein.

»Der sozialdemokratischen Arbeiterpartei erwächst … die Aufgabe, die schädlichen Folgen des Imperialismus möglichst abzuwehren, hingegen jene wirtschaftlichen Neugestaltungen, aus denen sich etwas für die Arbeiter herausholen läßt, rücksichtslos im Interesse der Arbeiterschaft auszunutzen, ihre Organisation auszubauen und, wenn es sein muß, den neuen Zwecken entsprechend umzubilden, kurz die Arbeiterschaft möglichst wohlbehalten, körperlich wie geistig, durch die neue Entwicklungsperiode zu bringen.« So definierte Heinrich Cunow in seiner Broschüre »Parteizusammenbruch« (S. 19), die die theoretische Grundlage der sozialimperialistischen Richtung bildet, die Aufgaben der Arbeiterklasse. Wir sahen, wie das sozialimperialistische Programm diese Aufgabe lösen will: Schutzzölle, Rüstungsausgaben im Frieden, Teilnahme an neuen Kriegen in der Zukunft, das ist die Abwehr der schädlichen Folgen des Imperialismus von den Arbeitern. Und da man nicht gleichzeitig für die Trennung der Völker durch Schutzzölle, für die Rüstung zu neuen Kriegen und für die internationale Verbrüderung eintreten kann, so bedeutet das sozialimperialistische Programm die dauernde internationale Spaltung der Arbeiterklasse.

Da es aber ausgeschlossen ist, daß doch die Arbeiterschaft auch innerhalb der Grenzen eines Staates in ihrer Gesamtheit sich zu diesem Programm bekennt, so bedeutet es auch ihre Spaltung im nationalen Maßstab. Die Praxis der letzten zwei Jahre zeigt vollauf, daß es sich hier nicht um Hirngespinste, sondern um die traurige Wirklichkeit handelt. Was eine so »wohlbehaltene« Arbeiterschaft an politischer Macht darstellen würde, sieht auch ein Blinder. Würde das sozialimperialistische Programm von größeren Teilen des Proletariats akzeptiert werden, es wäre zur Ohnmacht verurteilt, schutzlos allen Folgen des Imperialismus ausgeliefert. Der Sozialimperialismus bedeutet somit nicht nur Preisgabe des Sozialismus, er bedeutet die Preisgabe der einfachsten täglichsten Arbeiterinteressen. Die Sozialimperialisten verspotten uns als die, die wegen Träumens von einer fernen Zukunft die gegenwärtigen Interessen des Proletariats übersehen. In Wirklichkeit liefern sie diese Interessen den Klassengegnern des Proletariats aus und sind als solche zu behandeln.

Die Sozialpazifisten.

Die Konsequenzen der sozialpatriotischen wie sozialimperialistischen Politik liegen so klar auf der Hand, daß ein großer Teil der alten Parteiführer nicht ohne weiteres umlernen konnte. Er suchte in dem alten pazifistischen Standpunkt der Internationale einen Stützpunkt gegen die neuen Methoden zu finden.

Die alte Internationale verstand sehr wohl die Unvereinbarkeit der Interessen der Arbeiterklasse mit der imperialistischen Politik. Sie forderte das Proletariat in vielen Resolutionen zum Kampfe gegen den Imperialismus auf. Ein solcher Kampf setzt aber in erster Linie die Kenntnis des Zieles voraus. Man muß wissen, welchen Zustand man an die Stelle des bekämpften setzen will. Von dem Ziel hängen dann die Mittel des Kampfes ab. Die zweite Internationale nannte ein solches Ziel: es war die Organisation einer internationalen, eigentlich interstaatlichen Rechtsordnung. Heute entscheidet bei allen größeren Gegensätzen zwischen den Staaten die Gewalt. Wenn zwei Staaten Appetit auf fremdes Gut haben, dann nimmt es der stärkere, und wenn er dem schwächeren einen Teil abtritt, dann nur insoweit, als der schwächere ihm Hindernisse bereiten kann, also im Ausmaße seiner Macht. Sie müssen sich dabei nicht sofort bekämpfen. Es genügt, daß sie sich gegenseitig an ihre Macht, das heißt, an die Armeen erinnern. Nur bei Angelegenheiten, die eines wirklichen Streites nicht wert sind, lassen sie das Urteil der Schiedsgerichte gelten. Dazu haben sie im Haag ein internationales Schiedsgericht geschaffen, bei dem der Zar Pate stand.

Nun erstreben bürgerliche Friedensfreunde – Pazifisten nennt man sie, von pax, das heißt Friede – daß alle Streitfälle solchen Schiedsgerichten unterbreitet werden. Wenn das geschieht, wird man auf die Rüstungen verzichten können.

Die zweite Internationale machte sich dieses bürgerliche pazifistische Programm zu eigen, sie forderte die Einführung obligatorischer, d. h. alle verpflichtender Schiedsgerichte, allmähliche Rüstungsbeschränkung mit dem Ziele der Abrüstung, ein internationales Recht, auf Grund dessen die Urteile der Schiedsgerichte gefällt werden sollten. Von den bürgerlichen Pazifisten unterschied sie sich nur dadurch, daß, während diese die Erreichung dieser Ziele von der wachsenden Einsicht der Bourgeoisie und der Regierungen erhofften, die zweite Internationale diese Einsicht durch Klassenkampf, durch Druck auf die Bourgeoisie ersetzen wollte.

Der Weltkrieg zeigte, wie gering die »Einsicht«, der »gute Wille« zur Verständigung bei der Bourgeoisie war: jede wollte einen möglichst großen Anteil an der Weltausbeutung haben, und da sie der andern nicht traute, so blieb ihr nichts übrig, als zu versuchen, durch den Krieg das Ziel zu erreichen. Ein großer Teil der alten Internationale, der früher mit dem Wachstum der friedliebenden Elemente in der Bourgeoisie sehr rechnete, sieht sich dadurch keinesfalls zum tieferen Nachdenken über die Gründe des Zusammenbruches seiner Hoffnungen veranlaßt, sondern baut sie von neuem auf den Ruinen auf: der Krieg werde eine solche Verwüstung bringen, solche Lasten allen Völkern auferlegen, daß sie schließlich einsehen werden, was für ein schlechtes Geschäft der Krieg ist. Das Streben nach einer dauernden interstaatlichen Rechtsordnung werde im Bürgertum sehr erstarken, und da müsse das Proletariat diese pazifistischen Bestrebungen mit seiner ganzen Kraft unterstützen, damit aus dem Weltkriege ein vereinigtes Europa hervorgehe, die Vereinigten Staaten Europas.

Dieses Lied vom dauernden Frieden singen nicht nur die Sozialpatrioten aller Länder, um das Proletariat mit dem schon im dritten Jahr sich hinziehenden furchtbaren Krieg zu versöhnen, sondern auch Kriegsgegner: so die Vertreter des deutschen Parteizentrums Haase, Kautsky, Ledebour, die Unabhängige Arbeiterpartei Englands und andere kriegsfeindliche Genossen, die nicht einsehen wollen, was die Stunde geschlagen hat.

Ihre Rechnung beginnt mit einem großen Loch: es ist keinesfalls wahr, daß der Weltkrieg ein schlechtes Geschäft für das ganze Kapital ist. Der Krieg zerreibt und vernichtet die kleinen Kapitalisten, bringt manchen mittleren in Schwulitäten, er wird ungeheure Lasten auf den Rücken der Arbeiter und Kleinbürger legen. Aber die großen Fabrikanten, das Finanzkapital und die Großhändler verdienen bei den Lieferungen, bei der Unterbringung von Anleihen, beim Lebensmittelhandel Milliarden über Milliarden. Steinmann Bucher, der Nationalökonom des Zentralverbandes der deutschen Industriellen, hat vor kurzem bezeugt, daß die Kapitalisten Geschmack am Kriege finden. Ja, aber nach dem Kriege wird es sich zeigen, erklären die Pazifisten in unseren Reihen, daß die Macht des amerikanischen Kapitals sehr gewachsen ist, daß weiter die Arbeiterklasse sich gegen die Abwälzung aller Lasten auf sie auflehnen wird. Wenn die Kapitalisten jetzt Geschmack an dem Kriege gewinnen, so wird er ihnen durch die Kriegsfolgen gründlich versalzen werden. Nun, das junge amerikanische Kapital macht in diesem Kriege glänzende Geschäfte, aber es war bisher an Europa sehr verschuldet: in allen Eisenbahnen, Gruben usw. Amerikas steckt ungeheures europäisches Kapital; wenn dies abgezahlt wird, so wird das wohl ein großer Fortschritt für die amerikanischen Kapitalisten sein, zum Übergewicht aber über Europa ist es noch weit. Aber wenn dies auch eintreten würde, so würden die großen Kapitalisten Europas ihr Kapital mit dem amerikanischen vereinigen, um unter der Flagge des amerikanischen »Vaterlandes« ihre Interessen zu vertreten. Und was das zweite Argument betrifft: sollten sich nach dem Kriege die Proletarier Europas auflehnen, so würde das nur den Gegensatz des Kapitals zum Proletariat, nicht aber zum Kriege verstärken.

Aber vielleicht kann der Kampf des Proletariats dem Kapital die interstaatliche Rechtsordnung aufzwingen, selbst gegen den Willen der Bourgeoisie? Damit sind wir bei der Hauptfrage: bei der Frage der Möglichkeit des friedlichen Kapitalismus, bei der Frage der Durchführbarkeit des pazifistischen Programmes überhaupt. Das pazifistische Programm setzt voraus, daß das Proletariat eventuell die Macht haben kann, die Bourgeoisie zu einer internationalen Friedensordnung zu zwingen, aber noch keine Macht haben wird, das Ruder aus den Händen der Bourgeoisie zu reißen, den Kapitalismus abzuschaffen; denn hätte es die Kraft, so würde es sich doch nicht damit abzuquälen haben, die Bourgeoisie zum Frieden zu zwingen, sondern würde die Ursache der Kriege, die kapitalistische Konkurrenz, aufheben.

Wenn dem so ist, so würde die Bourgeoisie nach dieser pazifistischen Revolution weiter herrschen und ihre Macht über die unentwickelten Länder weiter ausbreiten, um ihre Bevölkerung auszubeuten und ihre Naturschätze auszuplündern. Jawohl, so wird es sein, gab mehrmals Genosse Kautsky, der Haupttheoretiker des Sozialpazifismus, zu. Wenn dem so ist, wenn die Bourgeoisie weiter bei der Herrschaft bleibt, so bleiben auch die Gesetze ihrer Wirtschaft bestehen. Diese bewirken aber, daß jede kapitalistische Gruppe nach möglichst großem Profit strebt. Um zu ihm zu gelangen, frißt das große Kapital das kleine auf.

Auf das Gebiet der auswärtigen Politik übertragen, bedeutet das, daß die großen Kapitalisten Deutschlands, Frankreichs, Englands, Rußlands keine Ursache haben werden, den Kapitalisten der Schweiz, der Niederlande, Portugals, Belgiens ihre Kolonien zu öffnen, sie zur Ausbeutung Chinas und der Türkei zuzulassen. Und wenn sie Appetit auf die Kolonien der Kleinen haben werden, so werden sie sich den Teufel um internationale Rechte kümmern, am wenigsten, wenn diese Kolonien so ungeheure Profite abwerfen wie die niederländischen, oder so große versprechen, wie Belgiens Kongo mit seinem Kupfergebiet Catarga, oder Portugiesisch-Angola mit dem ungeheuren Siedlungsgebiet. Wer soll darüber wachen, daß die Großmächte sich um irgendwelche durch das Proletariat geschaffenen Völkerrechte kümmern? Soll sich das Proletariat vielleicht zum Hüter des Rechts der Kleinstaaten auf Ausbeutung »ihrer« Kolonien aufwerfen?

Aber gehen wir zu den Beziehungen der Großmächte selbst über: Angenommen, sie lassen sich unter dem Drucke des Proletariats dazu herbei, ihren Kolonialbesitz auszugleichen, sich überall in den unentwickelten Ländern gleiche Bedingungen der Ausbeutung zu gewähren. Wenn morgen, nach ein paar Jahren des Friedens, der Druck der proletarischen Armeen weicht, das deutsche Kapital aber stärker ist als das französische, das amerikanische stärker als das englische, warum soll es nicht versuchen, auf eigene Faust die internationalen Satzungen umzustoßen? Aber das Kapital wird nicht immer staatlich getrennt bleiben, antworten die Sozialpazifisten, es durchdringt sich gegenseitig immer mehr, deutsches Kapital arbeitet in England, englisches in Rußland usw., aus den nationalen Kartellen werden internationale Weltkartelle. Das sind Redensarten.

Der Weltkrieg hat eben gezeigt, daß die Verflechtung und Versippung des Kapitals im Verhältnis zu seiner Gesamtmasse sehr gering war. Nach dem Weltkrieg wird die Konkurrenz, der Wirtschaftskrieg, noch verschärft werden. Und wenn die Kartelle Übereinkommen schaffen, wie sie die Preise gestalten, welcher Teil der Welt dem einen zur Ausbeutung zufällt, so sind das nur Ausnahmezustände, Waffenstillstände, auf die der verschärfte Kampf folgt; jede Gelegenheit zu einem Sonderprofit veranlaßt einen Teil des Weltkartells zum Bruch des Übereinkommens. Damit Weltkartelle wirklich die Aufhebung der Konkurrenz unter den Kartellen einzelner Länder bedeuten sollten, müßte sich das ganze Kapital in den Händen solcher Weltkartelle befinden, es müßte keine Möglichkeit bestehen, daß ein Outsider, ein außerhalb des Weltkartells stehendes Kapital, die Konkurrenz aufnehme. Daß aber das Proletariat eine solche vollkommene Konzentration des Kapitals in ein paar Händen dulden sollte, ist ein unsinniger Gedanke.

Das ganze pazifistische Programm von Sozialisten geht von der Voraussetzung aus, daß das Proletariat die Macht haben wird, die Kapitalisten zu nötigen, sich an die unter dem Druck des Proletariats geschaffene Friedensordnung zu halten, aber keine Kraft haben wird, den Kapitalisten die Macht zu entreißen. Das ist offensichtlicher Unsinn. Wenn das Proletariat die Macht haben wird, den Kapitalisten die Friedensordnung aufzuzwingen und sie immerfort zu nötigen, sie einzuhalten, so wird es auch die Macht haben, dem Kapitalismus ein Ende zu bereiten, dem Sozialismus freie Bahn zu öffnen und so die Wurzel der Kriege auszureißen.

Ist das Proletariat zu schwach zur sozialen Revolution, so ist das ganze pazifistische Programm eine volle Utopie, undurchführbar. Ist das Proletariat aber reif zur sozialen Revolution, dann ist es lächerlich, von ihm zu fordern, es solle das Joch des Kapitalismus tragen und zusehen, wie der Kapitalismus es neuen Völkern auferlegt, und solle nur dafür sorgen, daß es dabei zu keinen Kriegen kommt. Das Friedensprogramm der zweiten Internationale war ein Friedensseufzer des Proletariats, das sich zu schwach fühlte, wirklich um den Frieden zu kämpfen. Es hat auch nur für den Frieden demonstriert, niemals gekämpft. Wer dieses Programm wieder aufwärmt, der glaubt entweder weiter nicht an die Möglichkeit des Kampfes um den Frieden, oder er steckt diesem Kampf ein falsches und irreführendes Ziel. Der dauernde Frieden der kapitalistischen Staaten untereinander ist eine Utopie.

Das sozialpazifistische Programm verschleiert also dem Proletariat die wirkliche Sachlage, es stärkt in ihm die reformistischen Tendenzen, die den Zusammenbruch der zweiten Internationale verursachten, da es ihm das Bild eines friedlichen Kapitalismus vorgaukelt, es zu einer Allianz mit dem angeblich friedensfreundlichen Teil der Bourgeoisie anspornt. Aber darin erschöpft sich nicht das Wesen des Sozialpazifismus. Weil er über den Rahmen des Kapitalismus nicht hinausblickt, muß er den kapitalistischen Staat verteidigen, solange sich die »internationale Rechtsordnung« nicht ausgebildet hat. Wir sehen eben, wie die Bernstein, Haase usw. erklären: ja wir sind Gegner des Krieges, erstreben seine Überwindung durch Verständigung der Staaten untereinander, aber solange eben nicht jedes Vaterland durch eine solche pazifistische Rechtsordnung gesichert ist, solange gilt die Pflicht der Verteidigung.

Damit wird der Sozialpazifismus zur Brücke zum Sozialpatriotismus. Und wenn der Krieg zu Ende ist, wird der Sozialpazifismus die Fahne sein, unter der sich die Herren Sozialpatrioten aller Länder gegen die Internationalisten sammeln werden. Sie werden nicht imstande sein, als dauernde Politik das gegenseitige Kriegführen zu proklamieren, und so werden sie erklären: nun sorgen wir gemeinsam für den Ausbau der Friedenseinrichtungen, damit wir nicht wieder in die unangenehme Lage kommen, uns befehden zu müssen. Sie werden dann gegen den Imperialismus, gegen das Rüsten donnern, die Fahne des Friedens schwenken, das Proletariat damit verwirren und einlullen, damit sie es später, wenn das Kartenhaus des Pazifismus wieder zusammenbricht, wieder ausliefern können.

Natürlich ist keine Rede davon, daß Männer wie Kautsky, Ledebour, Haase, Bernstein, Philipp Snowden oder Modiliani, die das sozialpazifistische Programm verteidigen, kurz daß das Zentrum der Internationale bewußt die Rolle der Hehler des Sozialpatriotismus spielen. Sie sind tief überzeugt, daß sie dem Interesse des Proletariats dienen und den Sozialpatriotismus bekämpfen. Aber in der Politik entscheiden nicht die Absichten, sondern die Wirkungen, und die Wirkung des Sozialpazifismus ist so, wie wir sie hier geschildert haben.


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