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Gegen die Demokratie.

Hans Delbrück: Regierung und Volkswille. Berlin 1914. Verlag Stilke. 203 S. Martin Spahn: Deutsche Lebensfragen. München 1914. Verlag Kösel. 203 S.

Seit dem Beginn des preußischen Wahlrechtskampfes verschwinden die Verfassungsfragen nicht mehr aus den Spalten der politischen Presse. Der Kampf um das preußische Wahlrecht richtet sich gegen einen Pfeiler der heutigen Verfassung, die formell die Herrschaft des Junkertums und in Wirklichkeit die des gesamten Großkapitals bedeutet. Die theoretische Begründung dieser Herrschaft ist demnach keine akademische Frage mehr, sie hat eine aktuell-politische Bedeutung bekommen. Die Herrschenden fühlen, daß es nicht genügt, zu erklären: ich liebe und besitze, laßt mich schlafen! – sie fühlen, daß es nötig ist, den unentschiedenen Elementen klar zu machen, diese Herrschaft sei die einzig mögliche und die beste. Aber die, die sie ausüben, sind zu schwerfällig, um diese »Aufklärungsarbeit« zu leisten. Sie mieten dazu Söldner in der Art des Reichsverbandes, die dem Volke die Unübertrefflichkeit aller reaktionären Institutionen, aller reaktionären Maßregeln beweisen sollen. Und der Reichsverband besorgt diese Arbeit im Schweiße seines Angesichts. Über die von ihm erreichten Erfolge mögen sich seine Geldgeber Illusionen machen. Vielleicht glauben sie wirklich, daß man dem »Volke« alles weismachen kann, wenn man nur gehörig brüllt und fälscht. Denn sie glauben von den Volksmassen wahrhaftig, daß sie jedem Demagogen zum Opfer fallen. Der Siegeszug der Sozialdemokratie ist ihnen doch nichts anderes als der Siegeszug der »Aufwiegler«, »Hetzer« usw. Jedenfalls fühlen die gebildeteren Elemente der herrschenden Klassen, daß man bei geistig regsamen Schichten auf diesem Wege wenig erreichen kann. Sie beginnen also auf eigene Faust einen Krieg gegen die Demokratie, der »höheren Ansprüchen« entsprechen soll. Die beiden Bücher der Berliner und Straßburger Professoren verdanken ihr Entstehen diesem Gefühl der Notwendigkeit eines Geisteskampfes. Das Buch Delbrücks ist breiter und systematischer angelegt als das Spahnsche. Es stellt sich eine hohe Aufgabe. Herr Delbrück will erstens die Unmöglichkeit der Demokratie überhaupt, und dann ihre Überflüssigkeit in Deutschland beweisen. Den zweiten Teil seiner Ausführungen könnte er sich sparen, wenn der erste gelungen wäre. Daß er ihn trotzdem geschrieben hat, ist nicht zu bedauern, weil dabei sehr interessante Streiflichter auf die politische Verfassung Deutschlands fallen und obendrein ein sehr guter Einblick in die Geistesverfassung der Kreise gewährt wird, zu deren Leuchten Delbrück unzweifelhaft gehört. Professor Spahn stellt die deutschen politischen Verhältnisse direkt in den Mittelpunkt seiner Ausführungen. Da er zum rechten Flügel der Zentrumspartei gehört, bilden sie eine Ergänzung der Delbrückschen Arbeit, indem sie zeigen, wie gering der Unterschied zwischen der politischen Auffassung der Freikonservativen und denen der katholischen Bourgeoisie ist. Herr Delbrück entledigt sich seiner Aufgabe in einer etwas zu leichten Weise. Als Historiker eilt er mit Sieben-Meilen-Stiefeln die ganze geschriebene Geschichte der Menschheit von der der antiken Staaten bis zu der der bürgerlichen Demokratie Englands, der Vereinigten Staaten und Frankreichs, um bei jeder Etappe seiner Wanderung triumphierend zu fragen: wo ist denn hier die Demokratie? Und obwohl man an jeder seiner historischen Darlegungen Korrekturen vornehmen könnte, die beweisen würden, wie wenig dieser Kriegshistoriker befähigt ist, durch die äußere Schale hindurch in den Kern der historischen Vorgänge zu dringen, so kann man ihm ohne weiteres zustimmen: jawohl, alles, was bisher den Namen Demokratie trug, war Oligarchie, die Herrschaft einer kleineren oder geringeren Schicht über große unterjochte Volksmassen. Aber abgesehen von der Tatsache, daß, je größer die Schicht war, desto geringer ihre politischen Taten waren, was uns die athenische Demokratie heute noch bewundern läßt, beweist diese Beweisführung nichts, absolut nichts gegen die Demokratie, und sie bereichert unsere Erkenntnis des Problems um keinen Deut. Sie beweist nur, daß die Demokratie bisher sozial unmöglich war. Daß dies der Fall war, dazu bedarf es aber wirklich nicht erst gelahrter Abhandlungen. Jeder, der in der Geschichte kein Sammelsurium zufälliger Vorkommnisse, die vermieden werden könnten, sieht, sondern notwendige Entwicklungsreihen, wußte das auch ohne Herrn Delbrück. Die athenische Pseudodemokratie basierte auf Sklavenarbeit. Ihre große geistige Entwicklung war unmöglich, ohne daß eine kleine Schicht die Arbeit von hunderttausenden Sklaven ausbeutete, denn bei den damaligen Produktionsverhältnissen würde die Beschäftigung aller im Wirtschaftsleben ihnen keine intensive geistige Arbeit erlauben: die Entwicklung der Produktivkräfte war zu gering, als daß sie erlauben könnte, in kurzer Zeit die notwendige physische Arbeit zu leisten und Muße für geistige Beschäftigung übrig zu lassen. Oder wie konnte die Rede sein von einer Entscheidung der wichtigsten Angelegenheiten durch das Volk in dem Deutschland des 17. Jahrhunderts, in dem sich das wirtschaftliche Leben zum guten Teil in provinziellen Rahmen abspielte, also die Volksinteressen zersplittert waren, und diese auch bei dem damaligen Zustand der Verkehrswege unmöglich in gleichem Maße zum Bewußtsein der Mehrheit von Volksgenossen gelangen konnten. Um irgendwelche Schlüsse von früheren auf die heutigen Verhältnisse zu ziehen, müßte Herr Delbrück schon den Beweis führen, daß eben wie in vergangenen Zeitaltern, so auch jetzt in dem Zeitalter der National- und Weltwirtschaft, der ungeheuren Entwicklung des Verkehrs- und Nachrichtenwesens es unmöglich ist, daß die breitesten Volksmassen Verständnis für ihre wichtigsten Angelegenheiten gewinnen. Statt das zu tun, berufen sich die Herren Delbrück und Spahn auf die nackte Tatsache, daß die modernen Demokratien die Herrschaft kleiner Cliquen bedeuten. Delbrück geht weiter und sucht unter Berufung auf das Werk des früheren Sozialdemokraten Michels (Zur Psychologie des Parteiwesens in der Demokratie 1910) zu beweisen, daß selbst in der Arbeiterbewegung, die sich die Eroberung der Demokratie zum Ziel steckt, keineswegs die Demokratie herrscht, daß starke bureaukratische Tendenzen in ihr bestehen. Auch diese Beweisführung ist höchst oberflächlich. Herr Delbrück scheint nicht zu wissen, daß die modernen »demokratischen« Staaten keineswegs demokratisch organisiert sind. In Frankreich und Amerika gewährt die Verfassung der Bureaukratie, in Amerika dem Senat usw. die Möglichkeit, sich dem »Volkswillen« zu widersetzen. Aber auch wenn das nicht der Fall wäre, so gibt die wirtschaftliche Abhängigkeit des Proletariats vom Kapital demselben die Möglichkeit, den Willen der Volksmassen zu fälschen, zu korrumpieren; das durch die Herrschaft des Kapitals verursachte Elend der Volksmassen erschwert es ihrer Mehrheit, die Bildung zu erobern, die nötig ist zur selbständigen politischen Betätigung, was auch der in der Arbeiterbewegung entstehenden Bureaukratie erlaubt, selbstherrlich die Partei des Proletariats zu beherrschen. Alles das spricht also nicht gegen die Demokratie, sondern für ihren Ausbau und für die von der Sozialdemokratie immer verfochtene Auffassung, daß ohne Aufhebung des Privatbesitzes an Produktionsmitteln keine wirkliche Herrschaft im Staate möglich ist: denn dieselbe Masse, die im wirtschaftlichen Leben durch das Kapital beherrscht wird, kann nicht im Staate das Kapital beherrschen.

Da die Beweisführung Delbrücks nichts als historisch betünchte Sophistik darstellt, die ganz unhistorisch ist, könnte man sich jedes Eingehen auf seine Beweise, unter gegebenen Umständen sei also die deutsche »unparteiische« Regierung die beste, sparen. Und wir wollen auch nicht auf diese Darstellung eingehen, da dies doch jeden Tag in der sozialdemokratischen Presse geschieht, indem sie den bürgerlichen Lobsängen von der Herrlichkeit die deutsche Wirklichkeit gegenüberstellt. Eine Frage nur wollen wir noch aufwerfen. Selbst wenn die politischen Verhältnisse der demokratischen Staaten ganz so aussehen würden, wie es Herr Delbrück darstellt, so würde das mitnichten gegen den Kampf der deutschen Arbeiterklasse um die Demokratie sprechen. Denn erstens bietet der demokratische Staat ganz verschiedene Bedingungen für den Kampf der Arbeiterklasse, abhängig von der gesellschaftlichen Entwicklung des betreffenden Landes. Würde die amerikanische Arbeiterklasse nicht jahrzehntelang unter dem Einfluß der Tatsache gestanden haben, daß jeder energische Arbeiter die Aussicht hatte, selbständiger Farmer zu werden, so würde sie heute nicht aus national und kulturell so sehr verschiedenen Massen bestehen, ihr Einfluß auf die Staatsgeschäfte wäre ganz anders, die nordamerikanische Republik wäre also anders. Würde das Monopol auf dem Weltmarkt und andere Umstände, die wir hier nicht darstellen können, die englische Arbeiterklasse nicht dem Einfluß der Bourgeoisie ausgeliefert haben, so würde die englische Demokratie auch ganz anders aussehen. Dasselbe wäre der Fall, wenn die französische Arbeiterklasse eine kompakte Fabrikarbeiterschaft darstellen würde. Also: man kann nicht die Resultate selbst der bürgerlichen Demokratie, wie gewisse soziale Bedingungen sie zeitigen, auf ein Land mit anderen sozialen Verhältnissen übertragen. Daß die Eroberung selbst der bürgerlichen Demokratie in Deutschland etwas andere Folgen haben würde, als wir sie in den bestehenden demokratischen Staaten sehen, braucht nicht erst bewiesen zu werden. Das beweisen doch am besten die besitzenden Klassen in Deutschland selbst, indem sie sich der Entwicklung zur Demokratie so sehr mit Händen und Füßen widersetzen. Aber das ist nur die eine Seite der Frage, warum die Arbeiterklasse den Ratschlägen der Herren Delbrück und Spahn kein Gehör schenken wird. Die andere Seite bildet die Tatsache, daß die Arbeiterklasse nicht anders um den Sozialismus kämpfen kann, als indem sie für den Ausbau der Demokratie kämpft. Der Sozialismus ist keine Frucht, die von einem auf einmal ausbrechenden Volkssturm vom Baume der Entwicklung reif heruntergeschüttelt werden kann. Der Volkssturm muß immer wieder entfacht, organisiert werden, bis er allgemein wird, die Arbeiterklasse muß im täglichen Kampfe selbst reif werden zur Leitung der Gesellschaft, bis diese für eine sozialistische Organisierung reif wird. Und das, wogegen die Masse ankämpfen kann, sind eben all die Bedrückungen, die ihr seitens der »besten« deutschen Staats- und Wirtschaftsverfassung zuteil werden. Aber das sind für Herrn Delbrück und Spahn schon böhmische Dörfer, denn sie glauben daran, daß die Massen niemals reif werden können. Und gegen den Glauben hilft nichts. Er macht selig und blind.

Die beiden Bücher sind letzten Endes gegen die Arbeiterbewegung gerichtet. Trotzdem werden politisch geschulte Arbeiter sie mit Nutzen lesen, denn es ist gut, mit dem Gegner selbständig die Klinge zu kreuzen.


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