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Deutschland greift zu neuen Rüstungen, nachdem erst vor zwei Jahren im Quinqennatsgesetz die Heeresstärke um 11 000 Mann, die Militärkosten um 140 Millionen Mark, nachdem erst im vorigen Jahre die Heeresstärke um 29 000 Mann, die Militärkosten um 650½ Millionen Mark vergrößert worden sind. In jähem Sprung soll jetzt das Heer um über 150 000 Mann vergrößert werden, was eine Milliarde einmaliger und eine Viertel-Milliarde dauernder Kosten verursachen soll – zu der 1 576 326 000 Mark des bisherigen Militär- und Marineetats hinzukommen. Zirka 800 000 Mann (samt den Offizieren) sollen dauernd unter Waffen stehen.
Dem von Deutschland gegebenen Signal folgen alle anderen Staaten; Frankreich schraubt seine militärische Entwicklung zurück, revidiert das Gesetz vom Jahre 1905, das die zweijährige Dienstzeit eingeführt hat, führt die dreijährige Dienstzeit mit all ihren ungeheuren Lasten an Gut und Blut wieder ein, um nur ja, trotz seiner über ein Drittel schwächeren Bevölkerung dem Laufschritt des deutschen Militarismus folgen zu können. Der Verbündete Frankreichs, Rußland, wird ihm folgen müssen, sei es in der Aufstellung neuer Armeekorps oder in der besseren Ausrüstung der bisherigen. Österreich, die Konkurrenzmacht Rußlands auf dem Balkan, wird nicht im Hintertreffen bleiben; und obwohl es vor kurzem seine Heeresmacht um über 60 000 Mann erhöht hat, will es sie wieder um 30 000 Mann anschwellen lassen. Das wird Italien, seine verbündete Macht, auch zu neuen Rüstungen nötigen, denn die freundschaftlichen Verhältnisse erfordern in der kapitalistischen Welt, ebenso wie in der feindlichen, das stete Rüsten, während ihr Ziel bei gespannten Verhältnissen das Sich-nicht-erdrücken lassen bildet, müssen »befreundete« Mächte rüsten, damit der Wert der »Freundschaft« eines jeden gleich bleibe.
So beginnt ein Rüstungstanz von schwindelerregendem Anblick. Nach sehr niedrig eingesetzten Schätzungen des offiziösen »Nauticus« verschlangen die Rüstungskosten in den letzten zehn Jahren in den »zivilisierten« Ländern über 65 Milliarden Mark: über 10 Milliarden in Deutschland, über 12 in England, über 9 in Frankreich, über 11 in Rußland, über 4½ in Österreich, über 3½ in Italien, über 10 in Amerika, über 2½ in Japan; wobei die Schädigung der Wirtschaft durch die Entziehung der Arbeitskräfte gar nicht mitgerechnet ist. Die Kosten eines Jahres des bewaffneten Friedens berechnet Professor Kobatsch Prof. Dr. Rudolf Kobatsch: »Die volks- und staatswirtschaftliche Bedeutung der Rüstungen«, Wien 1911, Verlag K. Konegen, S. 54. nur für Europa auf 18 Milliarden Mark: 7 Milliarden Mark die direkten Rüstungsausgaben, 5 Milliarden Mark Entgang der aktiv Dienenden (5 Millionen Mann à 1000 Mark), 6 Milliarden Mark der Dienst der Schuldenzinsen. In dem hochgepriesenen Zeitalter der Sozialpolitik beträgt das Verhältnis aller Wohlfahrtsausgaben, von dem bißchen Wissen, das dem Volkskind zuteil wird bis zum Sterbegeld des invaliden Proletariers in Deutschland 1/28 der Rüstungsausgaben. (Nach einer Enquete des französischen Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten.)
Und das Resultat dieser ungeheuren Ausgaben, die, auf dem Wege der indirekten Steuern aus der Volksmasse herausgeholt, ihr Aufwärtsstreben vom Leben des Arbeitsviehs zu dem des Menschen gewaltig zurückdrängen, sie aller Kulturmöglichkeiten berauben? Sie sollen den Frieden sichern! Aber wie es selbst um diesen armseligen Frieden der in Knechtschaft und Not Lebenden dank den Rüstungen bestellt ist, das hat am 8. März dieses Jahres, bezugnehmend auf die bevorstehenden Rüstungen, ein Rüstungspatriot, der frühere Diplomat und jetzige nationalliberale Parlamentarier Rath mit folgenden Worten im »Tag« erklärt:
» Es läßt sich nicht leugnen, daß die ungeheure Steigerung der militärischen Macht eine Gefahr für den Frieden bedeutet, daß die Lehre von der Versicherungsprämie in Gestalt der Rüstungskosten erschüttert wird, wenn die militärischen Anstrengungen ein gewisses Maß übersteigen. Die Schwere der Rüstung kann eines Tages unerträglich werden und zur kriegerischen Entscheidung drängen.«
Wachsende Not, wachsende Kriegsgefahr, das ist die Bilanz der Rüstungen. Auf Jahre hinaus werden junge Volkssöhne, oft Ernährer der Familien, in der Zeit, wo sie am meisten lernen können, in der Zeit, wo selbst ihrer ärmlichen Jugend das Leben das Beste schenken kann, in die Kasernen gesteckt, jahrelang mit geisttötender Plackerei gedrillt, mit Roheit behandelt, damit sie, wenn es gilt, auf Vater und Mutter oder ausländische Arbeitsbrüder schießen und selbst Kanonenfutter bilden. Alles bäumt sich im Proletariat instinktiv gegen diese Verschwendung an Gut und Blut, gegen die Gefahr der Verwandlung der zivilisierten Menschheit in Horden sich gegenseitig abschlachtender Barbaren auf. Nichts ist natürlicher als die Sehnsucht nach einem Ende dieser in den Abgrund treibenden Entwicklung. Das Herz und Gehirn der arbeitenden Volksmassen, ihre klassenbewußte Vorhut, die Sozialdemokratie, kann nicht ruhig, mit verschränkten Armen, diesem militaristischen Taumel zusehen, sie kann sich nicht mit seiner Kritik begnügen, sie muß einen Kampf gegen das Rüsten organisieren, die Kräfte des Volkes zu diesem Kampfe mobilisieren.
Gibt es aber ein Mittel zur Milderung dieser die Menschheit bedrohenden Verhältnisse und zu ihrer endgültigen Durchbrechung? Die Sehnsucht und die Erkenntnis der Massen weist auf den Sozialismus, der die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, also auch die Konkurrenz der Ausbeutenden untereinander, ihren Kampf, zu dessen Mitteln die Rüstungen und der Krieg gehören, abschaffen wird. Als Weg zu diesem endgültigen Ziel aber zeigt die Sozialdemokratie auf das Volksheer. Indem sie auf dieses Ziel, als dem aus der Entwicklung des Militarismus sich ergebenden, Schritt für Schritt im Rahmen des Kapitalismus Verwirklichbare, bis es bei seiner vollständigen Verwirklichung diese Rahmen sprengen wird, hinweist, stellt sich die Sozialdemokratie nicht nur in einen Gegensatz zu den Fanatikern des Militarismus, sondern auch zu den bürgerlichen Friedensaposteln, die, Bourgeois bis in die Knochen, den Kapitalismus mit seiner Knechtschaft des Volkes erhalten und nur seine reifste Frucht, die der Kriegsbarbarei, beseitigen wollen.
»Es gibt eine Anzahl von Ideologen bürgerlicher Herkunft und Denkart, die sich vom Egoismus ihrer Klasse frei wähnen und einen ehrlichen Haß gegen den Moloch in sich nähren, die sich durch eifrige Propaganda für die Abschaffung der stehenden Heere oder wenigstens für eine weitgehende Abrüstung betätigen. Sie glauben, daß es möglich ist, auf diese Weise den Würgengel des Krieges aus dem Paradiese unserer Kultur zu jagen und einen Zustand zu begründen, wo Machtfragen nicht mehr durch Blut und Eisen, sondern durch friedsame internationale Schiedsgerichte gelöst werden. Wenn nun an das Proletariat die Frage gestellt wird, ob es diesen Bestrebungen seine Unterstützung leihen soll, so kann es darauf nur die Antwort geben: Nein!« – schreibt Hugo Schulz, der sozialdemokratische Geschichtsschreiber des Kriegs und Heereswesens Hugo Schulz: Blut und Eisen, S. 16–18. Berlin, Vorwärts-Verlag..
Und zwar erfolgt diese Weigerung aus mehrfachen Gründen. Die Arbeiterklasse ist in dem Kriege, unter dem sie vor allem zu leiden hat, und der selbst dann, wenn er eine Aktion notwendiger nationaler Verteidigung ist, mit seinen etwaigen günstigen Ergebnissen ihre Interessen weit weniger fördert als die der herrschenden Klassen, natürlich nicht weniger abhold als die utopischen Friedensfreunde. Sie wird sich aber dennoch sorgsam vor allem »Abschaffungs-Wahn« hüten und, geführt von dem ihr eigenen historischen Sinn, den Weg einschlagen, den ihr die klare Erkenntnis der geschichtlichen Zusammenhänge und Notwendigkeiten weist. Dieser Weg führt allerdings zu einem Ziele, hinter dem der Alpdruck der Kriegsfurcht nicht mehr auf der Menschheit lasten wird; denn: wenn einmal die sozialistische Organisation unserer Kulturwelt beendet sein wird, dann werden die Interessen der einzelnen Organisationsgebilde nur mehr parallel laufen; jedes sozialistische Gemeinwesen wird bei vollentwickelten Produktivkräften in sich selbst die Gewähr seiner Machtentfaltung finden und an keinem Punkt genötigt sein, die Wege des Nachbars zu kreuzen. Bis zur vollen Erfüllung dieser im Entwicklungsgange unserer Kultur gelegenen Tendenzen aber wird uns das Erbübel des Krieges noch erhalten bleiben, und das Interesse der Arbeiterklasse geht nur dahin, mit aller Macht jeden einzelnen Ausbruch des Geschwürs zu verhindern. Tatsachen von so eindringlicher Wucht und von so tiefer historischer Begründung wie die, als die uns der moderne Militarismus erscheint, lassen sich nicht abschaffen, sondern nur im Kampfe überwinden.
Es sei nur ganz nebenbei erwähnt, daß der Sehnsucht nach Abschaffung der großen Massenheere und nach Rückkehr zu den kleinen Söldner- oder Konskriptionsheeren auch eine gut bürgerliche Erwägung zugrunde liegt. Die herrschenden Klassen sind, wie bei all ihrem Tun auch damit, daß sie sich mittels der allgemeinen Wehrpflicht auch ein volkstümliches Bollwerk wider das Volk geschaffen haben, in eine Sackgasse geraten: sie brauchen wohl ihre Riesenarmeen, fürchten aber zugleich die demokratischen Geister, die in ihnen schlummern und nur zu erwachen brauchen, um das enge Gehäuse einer feudal-hierarchischen Organisation, in das sie gebannt sind, zu sprengen. Es gibt heute hohe Generäle, die es ganz offen aussprechen, daß die allgemeine Wehrpflicht die alte Kriegsherrlichkeit des privilegierten Soldatentums zugrunde richte und zur Demokratisierung der Armee führe.
Das aber ist eben, was die Arbeiterklasse anstrebt. Und die schwache Stelle ihres Systems, die die Bonzen des Molochs selbst mit klarem Auge erkennen, ist der archimedische Punkt, wo die Sozialdemokratie ihren Hebel ansetzen muß, um die Trutzburg der Klassenherrschaft aus den Angeln zu heben. Nicht Abschaffung der Armee, sondern Demokratisierung der Armee ist ihre Parole. Nicht Abrüstung der Massenheere und Rückkehr zu den kleinen Eliteheeren der Vergangenheit, die zwar kein so umfängliches, dafür aber ein um so präziseres, zuverlässigeres Instrument der Machthaber sind, kann unser Ziel sein, sondern wir wollen alle Konsequenzen aus der allgemeinen Wehrpflicht ziehen. Und wir wollen nicht nur, sondern es muß so kommen; seine eigene innere Dialektik bringt den Militarismus in Widerspruch mit sich selbst und löst ihn allmählich auf: Mit innerer Notwendigkeit bildet sich unter dem zersetzenden Einfluß der in ihm wirkenden Kräfte – jener Geister, die es einst rief, um sie nimmer los zu werden – das herrliche Heer des Monarchen, des sporenklirrenden Junkertums, der um ihre Schätze zitternden Bourgeoisie, zur Miliz um, zum herrlichen Heere des Gesamtvolkes, das in ihm und über ihn herrscht. Diese Entwicklung ist es, die wir zu fördern haben. Wir sind darum nicht weniger friedliebend, nicht weniger mit Abscheu von aller militärischen Gloriole erfüllt, als die utopischen Friedensfreunde. Wir ziehen es nur vor, statt in den blauen Himmel hineinkonstruierte Luftschlösser zu ersinnen, auf dem Boden des historisch Gegebenen und historisch Notwendigen zu wandeln, statt in unserer Phantasie den Kriegsgott zu entthronen, eine Wirklichkeit zu schaffen, die sich gegen seine bösen Zauber zu wappnen weiß.
Dieser trefflichen allgemeinen Charakteristik des Standpunktes der Sozialdemokratie zufolge – in der Schulz nur das ausdrückt, was auch immer unser Altmeister Engels, ein Fachmann auf diesem Gebiete, was Mehring, ein ausgezeichneter Kenner der älteren Militärgeschichte, was Bebel, ihr überzeugter Anhänger, vertraten, – gilt es, unsere Milizforderung zu begründen, nicht als eine aus der schöpferischen Phantasie oder Spekulation gewonnene sogenannte »nützliche« Forderung, sondern historisch, das heißt: sie zu begründen als notwendige Folge der Entwicklung des Militarismus im Rahmen der allgemeinen kapitalistischen Entwicklung. Zu dieser Begründung finden wir Bausteine nicht nur in den Arbeiten der genannten Vorkämpfer der Sozialdemokratie, deren Darstellung der Milizfrage zwar in den Grundfragen hieb- und stichfest ist, in einzelnen Argumenten aber nicht ganz dem jetzigen Zustand des Militarismus und dem Charakter des Imperialismus entspricht, sondern auch in der wissenschaftlichen Literatur des Militarismus selbst, beginnend bei ihren großen modernen Vertretern: von Clausewitz, Gneisenau, Scharnhorst, in ihren Denkschriften durch die bürgerlichen Milizvertreter Schulz-Bodmer, Rüstow, bis zu den heutigen Verfechtern des Militarismus, den Generälen von Schlieffen, von der Golz, v. Bernhardi und den Göttern minderen Ranges des militärischen Olymps.
1. Das Söldnerheer.
»Nichts ist abhängiger von ökonomischen Bedingungen als gerade Armee und Flotte. Beschaffung, Zusammensetzung, Organisation, Taktik und Strategie hängen vor allem ab von der jedesmaligen Produktionsstufe und den Kommunikationen. Nicht die »freien Schöpfungen des Verstandes« genialer Feldherren haben hier umwälzend gewirkt, sondern die Erfindung besserer Waffen und die Änderung des Soldatenmaterials; der Einfluß der genialen Feldherren beschränkt sich im besten Falle darauf, die Kampfweise den neuen Waffen und Kämpfern anzupassen.«
(Friedrich Engels im Anti-Dühring.)
»Die sozialen Verhältnisse jeder historischen Periode beeinflussen ausschlaggebend nicht nur den Kriegsorganismus jeder Nation, sondern auch den Charakter, die Fähigkeiten und Bestrebungen der Militärpersonen.«
(Oberstleutnant Rousset, Professor an der höheren Kriegsschule in Paris, in seinen »Les Maîtres de la Guerre«.)
Die stets dem Staate zur Verfügung stehenden Massenheere sind ein Kind nicht nur der Neuzeit, sondern sozusagen der jüngsten Zeit, sie sind nicht viel älter als ein Jahrhundert. Sie entstanden als Waffe der Völker, aber nachdem die Söldnerheere als Waffen der Fürsten versagt hatten, lernten die Fürsten das Volk in Waffen als Waffe gegen das Volk gebrauchen, indem sie die demokratische Institution der allgemeinen Wehrpflicht in die antidemokratische Organisation des stehenden Heeres hineinpferchten und dem Volksheere den Geist der fürstlichen Soldateska aufzupfropfen suchten. Im modernen Heere, wie es sich seit dem Jahre 1871 in allen europäischen Ländern entwickelt hat, finden wir darum die Züge der Volksmilizen der französischen Revolution, mit denen der friderizianischen, durch den Stock zusammengehaltenen Söldlinge, Tendenzen revolutionären und reaktionären Charakters, miteinander vermischt. Ihre gegenseitige Stärke, ihren Einfluß auf die allgemeine Entwicklungstendenz des Militarismus unserer Tage kann man nur dann voll würdigen, wenn man die Gründe kennt, die die Regierungen nötigten, das Söldnerheer in ein Volksheer zu verwandeln.
Das Söldnerheer war eine Schöpfung des modernen Absolutismus. Es entstand aus den Ruinen des mittelalterlichen Feudalismus. Das Mittelalter kannte überhaupt keine der Staatsgewalt stets zur Verfügung stehenden Heere. Die Staatsgewalt in der Person eines mittelalterlichen, souveränen Herrschers war sehr schwach. Über die ihr untertänigen Länder konnte sie schon wegen der sehr schwachen Verkehrsmittel und der dünnen, weit zerstreuten Bevölkerung nicht selbständig herrschen. Diese regierte sich selbst: in den noch auf der Stufe der Naturalwirtschaft stehenden Dörfern wie in den schon Warenwirtschaft treibenden Städten herrschte die Demokratie. Nur Naturalabgaben an die großen Grundbesitzer, die der Arbeit der Ackerbauern den Waffenschutz verliehen, bildeten den Anfang des Herrschafts- und Untertänigkeitsverhältnisses. Wenn auch diese Abhängigkeit des Volkes mit der Steigerung der Produktivität der Arbeit wuchs, weil dadurch die großen Grundbesitzer erst wirklich mächtig wurden und die Möglichkeit bekamen, einen Teil der Arbeitskraft oder des Arbeitsproduktes des Volkes sich anzueignen, stieg die Macht des Herrschers nur insoweit, als er als einer der größten Großgrundbesitzer von der allgemeinen Entwicklung profitierte. Als Staatsherrscher blieb er wie im Anfang von seinen Vasallen abhängig. Die Kriege, die die Herrscher des Mittelalters miteinander führten, waren, wie es Prof. Delbrück glänzend in seinem Werke über das Kriegswesen des Mittelalters bewies, klein, mit den modernen Kriegen gar nicht vergleichbar, da an ihnen im besten Fall nur ein paar tausend Menschen teilnahmen. Sie wurden durch die Vasallen-Ritter ausgefochten, die zu Pferde auf die Bitte des Herrschers erschienen, – oder auch nicht erschienen. Auch das geschah oft, weil das Abhängigkeitsverhältnis nur sehr lose war. Es gab also weder stehende, noch absolut der Staatsgewalt gehorchende Heere, und was das Wichtigste war, das Volk war der Pflicht des Kämpfens für die Interessen der herrschenden Ritterschicht und ihres gekrönten Oberhauptes gänzlich enthoben.
In diesen Verhältnissen trat im Laufe der letzten Jahrhunderte des Mittelalters, – im 13., 14., 15. Jahrhundert – eine allmähliche Änderung ein. Sie war bedingt durch die weiter fortschreitende wirtschaftliche Entwicklung. Die wachsende Produktivität der Arbeit der Volksmassen in Stadt und Land bildete einen Anreiz für die Ritter, breiter und tiefer in die Verhältnisse der Volksmassen einzugreifen, sie mehr auszubeuten. Diesem edel-ritterlichen Bestreben leisteten die Volksmassen, wo ihnen die geographischen und anderen Verhältnisse es erleichterten, einen erbitterten Widerstand, und in den daraus entstehenden Kämpfen des 13. und 14. Jahrhunderts unterlagen ihm in Böhmen, in der Schweiz und in Flandern die Ritterheere schmählichst. Ihre auf den Turnieren in so schönen Farben glitzernde Uniform, in so hohen Tönen besungene Kriegskunst zerstob wie Spreu vor dem Winde vor den mit Eisen beschlagenen Knüppeln, Äxten und Spießen der Bauern und Handwerkermassen, die für ihre eigene Sache kämpften. In derselben Zeit, in der die Bauern so das Ansehen der Ritterheere aus der Welt schafften und die Bedeutung des in Kriegskunst ungelernten Fußvolkes in das richtige Licht rückten, begannen die Herrscher (Könige und Fürsten) den Kampf mit der Ritterschaft. Sie suchten, wie die Ritter, denselben Entwicklungsprozeß, die Stärkung ihrer Gewalt, auszunützen. Sie gewährten den Städten Schutz gegen die Ritter und bekamen dafür von den Städten, in denen die Geldwirtschaft schon entwickelt war, Geldmittel, für die sie Fußvolk mieteten, mit dieser Macht die Selbständigkeit des Adels in den verschiedenen Staatsteilen zu brechen und eine zentrale Staatsgewalt zu bilden, ein allgemeines Gerichts- und Abgabewesen einzuführen suchten Hier sei darauf hingewiesen, daß die entscheidende Ursache des Niedergangs des Rittertums in diesen allgemeinen Zusammenhängen und nicht in der Entdeckung des Schießpulvers liegt. Wenn also Engels im Anti-Dühring (S. 173) sagt: »im Anfang des 14. Jahrhunderts kam Schießpulver von den Arabern zu den Westeuropäern und wälzte die ganze Kriegführung um«, so vergißt er in diesem Moment, was er weiter selbst betont, daß dieser Prozeß drei Jahrhunderte dauerte. Das mindert natürlich nicht den Wert seiner weiteren Ausführungen, wie der ganzen Skizze über die Entwicklung des Militärwesens, die in wahrhaft genialer Weise einen Rahmen für die Geschichte des Kriegswesens darbietet.. Sie schafften natürlich die Vorrechte des Adels der Volksmasse gegenüber nicht aus der Welt, aber sie machten sich den Adel botmäßig. Diese Politik gelingt im Laufe des 15. bis 18. Jahrhunderts in verschiedenen Staaten in verschiedenem Grade, je nach der besonderen Höhe der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse. In Frankreich führte sie schon im 15. Jahrhundert zur Bildung eines zentralistisch und despotisch regierten Staates; in Deutschland nach langen Kämpfen von der Reformation bis zum Dreißigjährigen Kriege zur Ausbildung einer Reihe von ebenso regierten Territorial-Staaten. Es ist hier nicht der Ort, diesen Prozeß darzustellen; es sei nur gesagt, daß dieses Resultat in Deutschland dadurch bedingt wurde, daß die wirtschaftlichen Interessen des Südens und Nordens, des Ostens und Westens Deutschlands nach verschiedenen Richtungen gingen, daß das Kaiserhaus Habsburg, das in Spanien, Ungarn, Österreich, den Niederlanden gleichzeitig herrschen wollte, seine Kraft zu dem Kampf gegen die deutsche Ritterschaft und die Teilfürsten nicht zusammenfassen konnte; schließlich kam noch die Änderung der Handelswege vom Mittelmeer und der Ostsee zum Atlantischen Ozean, die die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands auf Jahrhunderte hinaus hemmte, und so die zentralisierenden Tendenzen schwächte Die Schilderung aller dieser Zusammenhänge findet der Leser im trefflichen ersten Teil Kautskys Werkes: »Thomas Morus« (Dietz, Stuttgart), in dem ersten Kapitel von Engels: »Bauernkrieg« (Berlin, Vorwärtsverlag), und in Mehrings: »Gustav Adolf« (Berlin, Vorwärtsverlag).. Aber im Rahmen der im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts entstandenen deutschen Staaten entwickelte sich das Heerwesen in derselben Richtung, die in Frankreich im Jahre 1445 unter Karl VII. durch die Bildung eines kleinen Söldnerheeres, das zu halten nur der König das Recht hatte, und dessen Kosten durch eine dauernde Steuer (denarius perpetunis) durch den Adel bewilligt wurden, zum Ausdruck kam. Auch der deutsche Reichstag beschloß im Jahre 1654, »daß jedes Kurfürsten und Standes Landsassen, Untertanen und Bürger, verpflichtet seien zu Besetz und Erhaltung der nötigen Festungen, Plätze und Garnisonen ihren Landesfürsten, Herrschaften und Obern mit hülflichen Beitrag an Hand zu gehen« Zitiert bei Sombart: »Krieg und Kapitalismus«, S. 27, Berlin 1913..
Inwieweit die Fürsten in Wirklichkeit fähig waren, ein Söldnerheer zu schaffen, das hing ab von der Macht, mit der sie imstande waren, die Junker an die Wand zu drücken. In Deutschland gelangte das Söldnerheer in Preußen zur größten Entfaltung. Zwar hatte der Große Kurfürst im Jahre 1640 erst 3600 Fußsoldaten und 2500 Reiter – nicht viel mehr als der Kaiser heute bezahlte Lakaien hat – und erst im Jahre 1663 bewilligte der Adel die Kosten zum Unterhalt der Söldner auf sechs Jahre, aber er hinterließ bei seinem Tode schon 30 000 Söldner, und Friedrich Wilhelm I. drang im Jahre 1717 schon mit der Abschaffung der letzten Überreste alter Lehensdienste der Junker durch, wofür sie ihm Geld bewilligen mußten. Er hinterließ schon 80 000 Söldner. Diese Resultate ließen sich nur im zähen Kampfe gegen die Junker erreichen; denn diese sahen mit sehr scheelen Augen auf die Stärkung der königlichen Gewalt. Nur insoweit die preußischen Fürsten den Junkern volle Freiheit in der Ausbeutung der Bauern gaben, soweit sie zu Söldnerführern nur die proletarisierten Junker (Krippenreiter) und die Söhne der kleinen Junker machten, gelang es ihnen, durchzudringen, wobei ihnen noch der Umstand zugute kam, daß die Junker mit der Entwicklung des Getreidehandels zwischen Deutschland, England und den Niederlanden es für profitabler hielten, mit den Bauern herumzuackern, als auf hohem Rosse ihren Wanst auf den Schlachtfeldern schütteln zu lassen. Dieselbe Entwicklung, die die Königsmacht stärkte, schuf ihre Herrschafts- und Ausbreitungsmittel, die Söldnerheere. Das junkerliche Bauernlegen jagte Massen besitzlosen Volkes in die Städte, wo sie Unterkunft in den Manufakturen, beim Handel usw. suchten. Handwerksburschen, die in den zusammenschrumpfenden Zünften keinen »goldenen Boden« fanden, durch die Kriege zerlumpte kleine Junker und ähnliches Volk, suchte Gelegenheit zum Morden und Plündern, ohne die Gefahr des Galgens zu achten.
»Den Herrn wöllen wir suchen,
Der uns Geld und Bescheid soll geben« –
sangen sie. Diese Herren waren eben die Fürsten aller Länder, die vermittels der in Kriegen erfahrenen Christen sich das Lumpenpack aus allen Ländern sammelten. Die eigentlichen Unternehmer waren zuerst die Obristen selbst. Ihnen vermietete sich der Landsknecht, von ihnen bekam er Geld, ihnen schwor er den Treueid. Wem sie dienten, für welche Sache sie stritten, das kam noch nicht einmal in hundertster Linie in Betracht. Sie waren eben Handwerker des Krieges, und wie es den Manufakturarbeiter wenig kümmerte, wer das von ihm produzierte Totenhemd tragen werde, so wenig kümmerte es den Söldner, wem er den Tod bringen oder von wessen Hand er ihn in der Ausübung seines Handwerks finden werde. Nur allmählich, durch schwere Erfahrungen gewitzigt – die Landsknechte streikten oft während des Feldzuges – suchten die Landesfürsten den selbständigen Unternehmer, den Obristen, in einen vom König eingesetzten Offizier, und den Söldner in den dem König direkt unterlegenen Soldaten zu verwandeln, um beide fester in der Hand zu haben. Erst im Jahre 1656 leisteten die Söldner dem Kurfürsten den Treueid. Je mehr die Obristen sich aus inländischen Junkern rekrutierten, desto mehr wuchs ihre direkte Abhängigkeit von dem König. Sie wurde schließlich, als die Fürsten die wachsenden Kosten der Werbung fremder Söldner nicht mehr bestreiten konnten, die einerseits von immer mehr Seiten angeworben wurden, während andererseits mit der Stabilisierung der Verhältnisse der Zuwachs abenteuerlichen Volkes abnahm – zur Werbung der Landeskinder mit Gewalt und List und seit dem Jahre 1733 allgemein zu ihrer Aushebung. Seit dieser Zeit, wo die Soldaten aus der ärmsten Landesbevölkerung »gesetzlich« durch den Staat geholt werden, kann man von einem wirklichen stehenden Fürstenheere reden, dessen Anführer Diener der Könige waren. Daß sie und ihre Vettern im Lande dabei auf ihre Rechnung kamen, dafür sorgte die im Interesse der Junker ausgestaltete Organisation dieses Heeres. Die zuerst fürs ganze Leben, dann für zwanzig Jahre ausgehobenen Landeskinder befanden sich nach dem kurzen Drill nur sehr kurze Zeit unter den Waffen; den größten Teil des Jahres schufteten sie bei ihren Junkern auf dem Lande, denn ihre Erhaltung in den Kasernen würde zuviel Kosten verursacht haben; den Sold steckten die Offiziere ein. Aber auch die fremden Söldner wurden als »Freiwächter« zur Arbeit in die Garnison geschickt, damit der Beutel der junkerlichen Offiziere dank der Ersparnis ihrer Unterhaltskosten anschwellen konnte.
So waren die stehenden Armeen des Despotismus geschaffen: Mit Gewalt und List angeworbene arme Teufel, oder »gesetzlich« ausgehobene Lumpenproletarier und Leibeigene, genötigt, für ihnen ganz fremde Interessen zu kämpfen, bildeten die Armee. Wegen der Mißhandlungen und Diebereien oft desertierend, wurden sie mit Stockhieben für den Krieg abgerichtet und mit Stockhieben in den Kampf getrieben. Wie groß diese durch die Fuchtel zusammengehaltenen, zu einem absoluten Kadavergehorsam genötigten Heere waren, zeigen einige Ziffern, die wir dem schon zitierten Buche Sombarts (Seite 43) entnehmen: Österreich hatte im Frieden 297 000, im Kriege 363 000 Mann, Rußland 224 000, Preußen 190 000, Frankreich 182 000, Spanien 85 000, Schweden 47 000, Dänemark-Norwegen 74 000, die Niederlande 36 000, Kursachsen 24 000, Bayern 17 000, Hessen-Kassel 15 000, Sardinien 25 000, der »Heilige Vater« 5 000, die kleinen »Vaterländer« ganz beiseite gelassen.
Welchen militärischen Wert aber diese mißhandelten Sklaven hatten, das soll in dem folgenden Artikel gezeigt werden, der ihren Zusammenstoß mit den Volksarmeen der Revolution darstellen wird Das Material zu diesem Kapitel, das das Aufkommen des Söldnerwesens betrifft, wurde aus H. Schulz: »Blut and Eisen«, das, welches seine Weiterentwicklung in Preußen betrifft, aus der Lessinglegende Mehrings geschöpft. Die bürgerlichen Quellen, wie Osten-Sackens Werk: »Preußens Heer von seinen Anfängen bis zur Gegenwart« (Berlin 1911, I. Bd.), – das eine Zusammenfassung der sämtlichen entsprechenden militärischen Literatur darstellt – geben dem Leser des Mehringschen Buches nichts als illustratives Material; dafür fehlt ihm auch alles, was dem Buche Mehrings nicht nur den Wert einer klassischen historischen Darstellung, sondern eine aktuelle Bedeutung in unserem Kampfe um die Miliz gibt: das ist die Methode, nach der er die Entwicklung des Heerwesens darstellt. In unserer Propaganda für die Miliz wurde gerade hierin am meisten gesündigt: die Miliz wurde oft als fertiges Gebäude dem stehenden Heere entgegengestellt, als nationalistisch begründete Forderung, ohne inneren Zusammenhang mit der allgemeinen Entwicklung des Heereswesens wie des Kapitalismus. Dieser Fehler und seine Folgen werden dem Leser speziell einleuchten, wenn er sieht, wie ganz entgegengesetzt Mehring die Entwicklung der Heeresorganisation behandelt. Auch in dem folgenden Kapitel gebrauchen wir die Lessinglegende..
2. Die Armeen der Revolution.
»Amerikanische und französische Bauern haben die Strategie des 19. Jahrhunderts erfunden.«
(Mehring in der Lessinglegende.)
Die friderizianischen Söldnerheere galten in ganz Europa als staunenswertes Muster einer unüberwindlichen Armee; die Stockprügel galten als das beste militärische Erziehungsmittel, als jenseits des Atlantischen Ozeans die nordamerikanischen Farmer den Kampf um ihre Unabhängigkeit begannen. Sie wollten sich nicht vom englischen Reederei- und Industriekapital plündern lassen. Zwei Millionen arbeitstüchtiger Männer glaubten der ausbeuterischen Obhut Englands entwachsen zu sein. England sandte gegen sie die Söldner, die aus aller Herren Länder zusammengeworfen waren, denn den englischen Bürgern konnte man unmöglich zumuten, selbst den amerikanischen Bauernmilizen entgegenzutreten, um so weniger, als auch England im Innern nur über eine Söldnertruppe verfügte. Nach dem Siege der durch den Großgrundbesitz bedrohten Bauernmilizen Es ist ergötzlich zu lesen, wie Daniels in seiner »Geschichte des Kriegswesens« (Bd. 5, S.99) die sozialen Gründe der Tapferkeit der »Independenten« – es drohte ihnen voller Ruin seitens der Großgrundbesitzer – in rein ideologische (religiöse) umzuwandeln sucht. unter Cromwell (die Milizen der »Freeholders«) wurde die Miliz in England nicht weiter ausgebaut, sondern entsprechend der konterrevolutionären Richtung des nachrevolutionären England das feudale Europa auf militärischem Gebiete nachgeahmt. Die nach den Vereinigten Staaten entsandten Söldnertruppen wurden von den Amerikanern geschlagen. Besser als lange historische Ausführungen erklärt ein Brief des deutschen Dichters Joh. Gottfried Seume die Gründe der Niederlage der englischen Söldner. Seume wurde auf einer Durchreise durch Kassel von den Häschern aufgefangen und an England als Söldner verkauft Auf dem Schiff, das ihn im Jahre 1782 nach Amerika bringen sollte, befanden sich 1500 Mann, von denen ein guter Teil nur an die Flucht dachte, »weil es niemand behagen wollte, sich so ohne sein gegebenes Gutachten mit den armen Teufeln von Amerikanern zu schlagen, denen wir alle herzlich gut waren und alles mögliche Glück wünschten.« Den Zustand des Heeres charakterisiert Seume weiter in folgenden Worten: »So leben wir hier ein Leben, das der Galeerensklave gar nicht beneiden wird … Überhaupt bin ich der Meinung, schlimmer als bisher könne es schwerlich gehen Seumes ausgewählte Werke, Leipzig 1912, S. 37..« Und der dies schrieb, war kein Jammerlappen, sondern trotz seiner Jugend ein wetterharter Charakter. Ein Heer von Galeerensklaven mußte einem Heere von Männern, die um eigene Interessen kämpfen, unterliegen, selbst wenn die Bedingungen des Kampfes für beide Seiten gleich gewesen wären. Aber in dem Kampfe der englischen Söldner gegen amerikanische Freiheitskrieger wiederholte sich derselbe Vorgang, der in den Bauern- und Kleinbürgerkriegen des 14. und 15. Jahrhunderts den Niedergang der feudalen Ritterheere bewirkte. Das sozial neue Soldatenmaterial schuf eine neue Kampfesweise.
Die den Söldnerheeren entsprechende Taktik war die Lineartaktik. Da die Söldner und die mit gewöhnlicher oder gesetzlicher Gewalt in das Heer hineingepreßten armen Teufel jeden Augenblick zur Desertion bereit und nicht zahlreich genug waren, um in zusammengeballten Massen gegen den Feind geschleudert zu werden, mußten sie in langen Linien aufgestellt und gegen den Feind geführt werden, durften sie ferner nicht in selbständigen Truppenteilen auftreten und mußten aus Magazinen verpflegt werden. »Eine Änderung der Schlachtordnung während des Gefechts war unmöglich – schreibt Engels – und Sieg oder Niederlage wurden, sobald die Infanterie einmal im Feuer war, in kurzer Zeit mit einem Schlag entschieden.« Dabei konnten die langen Linien sich nur in der freien Ebene bewegen. Wozu das Volksmassen gegenüber führen muß, zeigte eben der amerikanische Unabhängigkeitskrieg.
»Diesen unbehilflichen Linien traten im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Rebellenhaufen entgegen, die zwar nicht exerzieren, aber desto besser aus ihren gezogenen Büchsen schießen konnten, die für die eigensten Interessen fochten, also nicht desertierten, wie die Werbetruppen und die den Engländern nicht den Gefallen taten, ihnen ebenfalls in Linie entgegenzutreten, sondern in aufgelösten, rasch beweglichen Schützenschwärmen und in deckenden Wäldern. Die Linie war hier machtlos und erlag den unsichtbaren und unerreichbaren Gegnern. Das Tiraillieren war wieder erfunden – eine neue Kampfweise infolge eines veränderten Soldatenmaterials.«
Die Bedeutung dieser neuen Kampfesweise wurde nur wenig in Europa beachtet, als die französische Revolution ausbrach und von dem feudalen Europa bedroht, genötigt wurde, die amerikanische Taktik noch einmal zu erfinden.
Frankreich hatte vor der Revolution ein Söldnerheer, gebildet aus angeworbenen fremden Söldnern und gepreßten Leibeigenen, in dem dieselbe, wenn nicht noch größere, Junkermißwirtschaft wie im preußischen Heere herrschte. Die Revolution löste diese Armee auf. Bedrängt durch die Feudalmächte, mußte Frankreich eine neue Armee schaffen, was besonders schwierig zu sein schien, weil durch die Behandlung der Soldaten im Söldnerheere die Institution des Heeres im Volke verhaßt war. Aber da die Volksmassen sich durch die Frankreich drohenden Gefahren in ihren Interessen bedroht sahen, – den Bauern brachte die Revolution Freiheit und Grundbesitz und das städtische Proletariat und Kleinbürgertum hatte noch den Glauben, daß sie auch ihm Befreiung aus der Not bringen werde – so gelang dem Konvent das Werk. Im Jahre 1792 und den folgenden Jahren fanden Aushebungen (Konskriptionen) statt, und im Jahre 1795 verfügte Frankreich schon über eine ungeheure Armee von 829 000 Mann Infanterie, 96 000 Mann Kavallerie und 93 000 Mann Artillerie. Diese Rekrutenmassen, fast ohne ausgebildete Offiziere, schlugen sich mit jedem Feldzuge besser gegen die Heere der Koalition, indem sie ihre eigene Kampfesweise instinktiv erfanden, während die Reglements ihnen die alte Lineartaktik vorschrieben. »Den geübten Werbeheeren der Koalition hatte sie (die Revolution) ebenfalls nur schlecht geübte, aber zahlreiche Massen entgegenzustellen, das Aufgebot der ganzen Nation. Mit diesen Massen aber galt es, Paris zu schützen, also ein bestimmtes Gebiet zu decken, und das konnte nicht ohne Sieg in offener Massenschlacht geschehen. Dies bloße Schützengefecht reichte nicht aus; es mußte eine Form auch für die Massenverwendung gefunden werden, und sie fand sich in der Kolonne. Die Kolonnenstellung erlaubte auch wenig geübten Truppen, sich mit ziemlicher Ordnung zu bewegen, und das selbst mit einer größeren Marschgeschwindigkeit (100 Schritte und darüber in der Minute), sie erlaubte, die steifen Formen der alten Linienordnung zu durchbrechen, in jedem, also auch in dem der Linie ungünstigen Terrain zu fechten, die Truppen in jeder irgendwie angemessenen Art zu gruppieren und, in Verbindung mit dem Gefecht zerstreuter Schützen, die feindlichen Linien aufzuhalten, zu beschäftigen, zu ermatten, bis der Moment gekommen, wo man sie am entscheidenden Punkt der Stellung mit in Reserve gehaltenen Massen durchbrach. Die neue auf die Verbindung von Tirailleurs und Kolonnen und auf die Einteilung der Armee in selbständige, aus allen Waffen zusammengesetzte Division oder Armeekorps beruhende, von Napoleon nach ihrer taktischen wie strategischen Seite vollständig ausgebildete Kampfweise war demnach notwendig geworden vor allem durch das veränderte Soldatenmaterial der französischen Revolution Engels: Anti-Dühring, S. 175..
Wenn man noch bemerkt, daß diese selbständig sich bewegenden Massen nicht nur von der Magazinverpflegung abhängig waren, daß sie vom Lande durch Requisition (zwangsweise Eintreibung der Lebensmittel) lebten, ja leben mußten, so sind alle Momente ihres Übergewichts über die Söldnerheere genannt: die größere Zahl, die leichtere Ausnutzung des Terrains und, was am wichtigsten war, die moralische Überlegenheit, über die noch einige Worte zu sagen sein werden.
Das Interesse der Volkmassen an den Abwehrkriegen gegen den Feudalismus, dann die durch diese Kriege geschaffene Ideologie, die noch nachwirkte, als Napoleon schon der Republik den Garaus gemacht hatte, erlaubte es, ohne Gewalt Volksmassen unter die Waffen zu rufen. Als die Revolution ausbrach, wußte man nichts von allgemeiner Wehrpflicht. Dieser Gedanke widersprach gleichsam der Ideologie der führenden bürgerlichen Schichten, die von friedlichem Erwerb träumten, wie dem oben erwähnten Haß der Volksmassen gegen den Heeresdienst. Und obwohl die siegreiche Bourgeoisie nach den ersten Konskriptionen die allgemeine Wehrpflicht verfälschte durch die Einführung des Stellvertretungsrechts (im Jahre 1798), das den Söhnen der Bourgeoisie erlaubte, sich von der Dienstpflicht loszukaufen, so verlor dadurch Napoleons Heer in den Augen der Volksmassen, denen selbst seine Herrschaft, verglichen mit der alten absolutistischen, als Himmel galt, nicht den Charakter des Volksheeres. Sie fühlten sich als solches, und darin lag die Quelle ihrer Kraft. Napoleon war sich dieser Ursache seiner Überlegenheit so sehr bewußt, daß er die Truppen niemals als Söldner behandelte, ihren Mannesstolz nährte, die »Freiheit des Rückens« schonte, immer für die Bearbeitung ihrer Meinung in seinem Sinne durch Proklamationen, Bulletins, sorgte. Durch die Abschaffung aller ständischen Vorrechte in der Armee, die Freimachung der Bahn für jedes Talent – jeder Soldat trägt den Marschallstab im Tornister – spornte er den Ehrgeiz der Soldaten an. So sah die napoleonische Armee aus. Sie war mit einer Ausnahme kleiner Bestandteile nicht einmal eine ausgebildete Milizarmee, sondern eine sich immer wieder ergänzende Rekrutenarmee, die erst im Feuer der Kämpfe das Kriegshandwerk erlernte. Die durch den Drill den Söldnerheeren beigebrachten Exerzierkünste waren ihr ganz fremd. Und doch schlug sie in Hunderten Schlachten die Söldnerheere. Und die Ursache ihrer Siege war so stark mit ihrer sozialen Eigenart verbunden, daß sich die napoleonische Taktik gar nicht von den Söldnerheeren nachahmen ließ. Auch in der begrenzten französischen Form konnte die allgemeine Wehrpflicht außerhalb Frankreichs solange nicht angewendet werden, als dort die Massen nicht fühlten, daß es sich im Kampfe gegen Napoleon um ihre Lebensinteressen handelte. Dieser Moment trat ein, als Napoleon, um durch die Überlastung Frankreichs mit Kriegskosten seine Lage nicht zu gefährden, die Aussaugung der Länder, die in seine Hände gerieten, übermäßig betrieb und so in den Augen der Volksmassen dieser Länder, die in ihm zuerst den Erlöser aus feudalen Banden gesehen hatten, zum Feind und Unterdrücker wurde. Erst der gegen Napoleon auflodernde Haß der Volksmassen erlaubte den geschundenen feudalen Fürsten, deren Söldnerheere Napoleon gegenüber gründlich versagten, das von der französischen Revolution ins Leben gerufene demokratische Wehrprinzip zum Kampfe gegen den Erben der französischen Revolution anzuwenden. Preußen wurde von Napoleon am stärksten zu Boden geworfen, und darum mußte es am radikalsten das rettende Prinzip anwenden, um den Kampf gegen Napoleon wagen zu können. Den Befreiungskämpfen, die jetzt von der Bourgeoisie mit desto größerem Lärm gefeiert werden, je kleiner bei ihr das Verständnis für sie ist, gehört in der Geschichte der Wehrverfassung ein besonderes Kapitel.
3. Die allgemeine Wehrpflicht in Preußen im Jahre 1813.
»Ein Grund hat Frankreich besonders auf diese Stufe von Größe gehoben: die Revolution hat alle Kräfte geweckt und jeder Kraft einen ihr angemessenen Wirkungskreis gegeben. Dadurch kamen an die Spitze der Armee Helden, an die ersten Stellen der Verwaltung Staatsmänner und endlich an die Spitze eines großen Volkes der größte Mensch aus seiner Mitte … Die Revolution hat die ganze Nationalkraft des französischen Volks in Tätigkeit gesetzt, dadurch die Gleichstellung der verschiedenen Stände und die gleiche Besteuerung des Vermögens, die lebendige Kraft im Menschen und die tote der Güter zu einem wuchernden Kapital umgeschaffen und dadurch die ehemaligen Verhältnisse der Staaten zueinander und das darauf beruhende Gleichgewicht aufgehoben. Wollten die übrigen Staaten dieses Gleichgewicht wieder herstellen, dann mußten sie sich dieselben Hilfsquellen eröffnen und sie benutzen. Sie mußten sich die Resultate der Revolution zueignen und gewannen so den doppelten Vorteil, daß sie ihre ganze Nationalkraft einer fremden entgegensetzen konnten und den Gefahren einer Revolution entgingen, die gerade darum für sie noch nicht vorüberging, weil sie durch eine freiwillige Veränderung einer gewaltsamen nicht vorbeugen wollen.«
(Gneisenau in der Denkschrift vom Juli 1807. »Als Poesie gut!« Friedrich Wilhelm III.)
Das preußische Heer war zertrümmert, der Staat am Rande des Abgrunds. »Die erste und wichtigste aller Ursachen der Niederlage war das Fehlen einer großen einheitlichen Anstrengung bei hoch und niedrig zur Behauptung der Selbständigkeit und des alten Ruhms gewesen – die Gleichgültigkeit der großen Masse der Mannschaft im Heere und die Teilnahmslosigkeit der Gesamtheit gegenüber dem Staate« – schreibt der Feldmarschall Colmar v. d. Golz v. d. Golz: »Kriegsgeschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert«, Bd. 1, S. 187, Berlin 1910, Bondi., der Beschöniger der Junkerherrschaft in Altpreußen. »Da der Feind stärker gewesen, versagte jetzt der Fundamentalsatz der alten Armee, daß der Mann den Offizier mehr als ihn fürchten müsse, seine Wirkung. So wich der Geist aus ihr, der sie belebt hatte. Das war ihr Untergang. Jetzt rächte sich die Vernachlässigung der moralischen Triebfeder« – schreibt der Historiker des preußischen Heeres, der Oberstleutnant von der Osten-Sacken Othomar von der Osten-Sacken: »Preußens Heer von seinen Anfängen bis zur Gegenwart«, Bd. I, S. 376, Berlin 1911, Mittler., nachdem er das Seinige getan, um den junkerlichen Mohren reinzuwaschen. Die Ursache dieses »Verschwindens des Geistes« ist selbst diesen Verteidigern des Junkertums trotz alles Sträubens gegen die Erkenntnis klar: die französischen Tirailleure zerschossen die Fuchtel, ohne welche die Sklaven der Söldnerheere keine Ursache hatten, sich selbst todesmutig für eine verlorene Sache zu schlagen, wie es Rebellen tun. Und wenn die offiziösen Militärhistoriker als zweiten Grund der Niederlage die verknöcherten militärischen Ansichten der preußischen Heeresleiter angeben, so weisen sie im Grunde genommen nur zum zweiten Male auf dieselbe Ursache, auf das Söldnerheer, denn die Theorie der Feldherren ist gewöhnlich nur die Widerspiegelung der Praxis der Soldaten, und auf dem verdorrenden, wurmstichigen Baum des Söldnerheeres konnten nicht frische Blumen der militärischen Schlagkraft und Initiative erblühen, die das Wesen der napoleonischen Taktik bildeten. Und daß es sich bei diesem Zusammenbruch nicht um Zufälligkeiten handelte, das wußten die Befürworter der tief eingreifenden Reformen auf allen Gebieten im Jahre 1813, und das wissen – was bewunderungswerter ist – selbst die heutigen Militärhistoriker. Die Erbuntertänigkeit erschwerte die Hebung des moralischen Elements im Heere, dessen Vernachlässigung eine der Hauptursachen des Zusammenbruches war. So war eine gründliche Reform ausgeschlossen, wenn nicht gleichzeitig eine solche des gesamten Staatswesens erfolgte – schreibt v. d. Osten-Sacken v. d. Osten-Sacken: »Preußens Heer usw.«, Bd. 2, S. 2..
Aber weil es eben so um die Sache bestellt war, widersetzten sich alle Nutznießer des alten Systems der militärischen Reform, die Junker wie die Generalität, während für sie nur eine kleine Schar weitsehender, tapferer Offiziere, die teils bürgerlicher Abkunft waren, teils als Ideologen sich über die Schranken der Junkerklasse hinwegsetzten, kämpften. Und der König, ein Schwächling in allem, nur nicht in der Vertretung junkerlicher Interessen, widersetzte sich mit der ihm sonst fremden Ausdauer der Forderung Scharnhorsts auf Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht. Fünfmal lehnte er die Vorschläge des genialen Reorganisators, der sie jedesmal in anderer Form durchzuschmuggeln suchte, ab. »Der König wollte eine Abschaffung der ökonomischen Mißbräuche (Kompagniewirtschaft) und ebenso aufrichtig eine bessere Behandlung der Soldaten und deshalb eine neue Organisation des Heeres, doch immer nur hauptsächlich in den Kreisen einer gut exerzierten und nach seinem Geschmack wohlgekleideten Linienarmee; alles das, was Landesbewaffnung oder außerhalb des Herkommens liegende Entwicklung eines freieren kriegerischen Geistes beabsichtigte, hatte bei ihm kein Zutrauen oder fand sogar an ihm einen entschiedenen Gegner« – schreibt das damalige Mitglied der Reorganisationskommission, Major Boyen, der spätere preußische Kriegsminister, in seinen Erinnerungen. »Überdem hatte der König eine solche Vorliebe für die seinem Geschmack zusagenden russischen Kriegseinrichtungen gewonnen, daß er von diesen, soviel sich nur irgend machen ließ, einzuführen, strebte.« Also oberflächliche Reformen im westeuropäischen Sinne, mit Änderungen im Sinne der halbasiatischen russischen Soldateska, das war das Ideal des Königs. Dazu kam die strenge Aufsicht Napoleons gegen die preußische »Soldatenspielerei«, die Leere im Staatssäckel und das Fehlen alles dessen, was an Ausrüstung für das zu schaffende Heer nötig war.
Es ist klar, daß unter diesen Umständen an die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht nicht zu denken war. Und es ist ein ehernes Dokument des Geistes und Charakters Scharnhorsts und seiner Freunde, daß sie nicht verzagten, sondern alles taten, was unter den gegebenen Verhältnissen zu erreichen war.
Die negative Arbeit des Aufräumens brauchte nicht erst geleistet zu werden. Von den 258 alten Regimentern verblieben nur 8. In erster Linie zerstoben die ausländischen Söldner, und für neue Werbungen gab's kein Geld. So war man auf Landeskinder angewiesen. Angesichts der gänzlich erschütterten Autorität der Junkerherrschaft war ans Prügeln im alten Umfange nicht zu denken, und wenn es auch nicht mit einem Schlag verschwinden konnte, so wurde es doch in seinen entehrendsten Formen abgeschafft. Der Aushebung waren dadurch enge Rahmen vorgeschrieben, daß Napoleon nur einen Stand von 42 000 Mann zuließ. In seinem Bestreben, trotzdem eine möglich große Anzahl von Soldaten militärisch durchzubilden, kam Scharnhorst, obwohl er prinzipieller Anhänger der stehenden Heere war, auf den Gedanken, das stehende Heer von 42 000 Mann im geheimen als Cadres zur Ausbildung einer Miliz zu gebrauchen. Er verwirklichte den Gedanken dadurch, daß er die eingestellten Soldaten nach ihrer Ausbildung immer wieder beurlaubte und die Ausgehobenen, aber ins Heer nicht Eingereihten, zu einem monatlichen Dienst berief. So gelang es ihm, bis zum Jahre 1813, wo der Kampf auf Leben und Tod mit Napoleon beginnen sollte, nicht 42 000, sondern 128 000 ausgebildete Mannschaften bereit zu haben.
Das war noch keine Verwirklichung der allgemeinen Wehrpflicht, weil die besitzenden Schichten – speziell die städtischen – fast ganz von ihr befreit waren; weil weiter die finanziellen und politischen Schranken es nicht einmal erlaubten, das ganze »niedere« Volk auszubilden. Aber es war auch kein stehendes Heer, das Scharnhorst schuf. Die monatliche oder mehrmonatliche Abrichtungszeit, in der jeder Ausgehobene zum Soldaten gemacht wurde, erlaubte ihm nur, ihnen die allernotwendigsten Handgriffe beizubringen, nötigte ihn nicht nur, auf jeden Paradeplunder zu verzichten, sondern selbst auf vieles, was zur Ausbildung einer Miliz nötig gewesen wäre. Daß Scharnhorst trotzdem auf die so ausgebildeten Truppen als auf einen Machtfaktor rechnen konnte, war dadurch bedingt, daß gleichzeitig das Oktoberedikt vom Jahre 1807 die Erbuntertänigkeit der Bauern aufhob; wenn es auch die alten Lasten bestehen ließ und dem Junkertum ein Freibillett zum Bauernlegen gab. Jedenfalls ging ein revolutionärer Hauch durch die preußischen Lande, der ein anderes Soldatenmaterial schuf. Und wenn das noch ein zu schwaches Umbildungselement gewesen wäre, so sorgte Napoleon durch eine unermeßliche Ausbeutung des Landes dafür, daß in dem blutigen Haß der ganzen Bevölkerung gegen ihn sich das stärkste moralische Element der mangelhaft ausgebildeten Truppen entwickelte.
Als Napoleons Heere in den Schneewüsten Rußlands zugrunde gingen und sich der Wille zur Heimzahlung aller der Leiden, die es durch Napoleons deutsche Wirtschaft erlitt, wie ein Lauffeuer durch das preußische Volk verbreitete und der König mit seinem Junkerhof noch zauderte, da schrieb Ende Februar 1813 der englische Diplomat v. Ompteda an seine Regierung: »Wenn der König länger zaudert, so sehe ich die Revolution als unvermeidlich an«. Die Stimmung des nach 1806 gereinigten, mit bürgerlichen Elementen durchsetzten jungen Offizierkorps, das Murren des Volkes, ja, das Drängen der ostpreußischen Junker, die unter Napoleons Herrschaft auch mächtig litten und jetzt ein Ende mit Schrecken für besser hielten als ein Schrecken ohne Ende: alles das hatte eine genügende Stoßkraft, um alle Widerstände des Königs gegen die allgemeine Wehrpflicht zu brechen. Um sie der bürgerlichen Jugend zu erleichtern, wurden die bürgerlichen und junkerlichen Söhnchen in besondere Jägerbataillone eingereiht, die sich selbst ihre Offiziere wählten; es wurden ihnen Aussichten auf Ehre und Offiziersposten eröffnet. Bald darauf wurde die Landwehr geschaffen, der alle Männer vom 17. bis 40. Jahre, die in das stehende Heer nicht eingereiht waren, angehörten. Der Landwehr wurde das Recht der Offizierswahl nicht gegeben, ja, man hatte trotz des Hasses gegen die Fremdherrschaft, der in weitesten Kreisen der Bevölkerung loderte, so wenig Vertrauen zu ihr, daß man in der Landwehr scharfe Disziplinarstrafen einführte. Es war ein Beweis des schlechten Gewissens der Junker, die nicht recht glauben wollten, daß sich das von ihnen so lange geschurigelte Volk für ihre Herrschaft schlagen konnte. Die Landwehr bestand aus 118 000 Wehrmännern.
Die Armee, die Preußen von der Fremdherrschaft befreite, war ein rein milizartiges Gebilde. Sie siegte, weil Frankreichs Volk schon ermüdet war von den Opfern, die ihm die napoleonische Herrschaft auferlegte, und wenn es gegen ihn noch nicht rebellierte, so ging es zum größten Teil ohne Elan in den Kampf. »Wir sahen oft Abteilungen ungeschlachter Bauern, die sich nach Schlesien begaben, durch unsere Bataillone marschieren, – ohne Ordnung, ohne Waffen und ohne Führer. Sie stießen Freudenschreie aus und betrachteten mit drohenden Blicken unsere Soldaten. Eine solche Begeisterung, wie sie die Liebe zum Vaterland einflößt, ist der passiven Kraft überlegen, die oft nur widerwillig der Gewalt gehorcht, die sie beherrscht« – schrieb der damals in der Mark stehende französische General Labaume in seinen Erinnerungen. Und ein begeistertes besiegt ein ohne das eigene Interesse kämpfendes Volksheer.
In der junkerlichen Militärliteratur setzte nach den Befreiungskriegen eine eifrige Arbeit zur Minderung der Verdienste der Landwehr ein, die bis zum heutigen Tage andauert. Über ihren historischen Wert entscheidet schon die Tatsache, daß auch das sogenannte stehende Heer gar nicht stehend und sehr wenig ausgebildet war. Das übrige über diese Hetze gegen die Landwehr zur höheren Ehre der Institution der stehenden Heere sagt Treitschke, wahrhaftig kein Gegner des Militarismus:
»Die Wehrmänner hatten noch eine Zeitlang mit den natürlichen Untugenden ungeschulter Truppen zu kämpfen; beim ersten Angriff hielten sie nicht leicht stand, wenn ein unerwartetes Bataillonsfeuer sie in Schrecken setzte: kam es zum Handgemenge, dann entlud sich die lang verhaltene Wut der Bauern in fürchterlicher Mordgier; nach dem Siege waren sie wieder schwer zu sammeln, da sie den geschlagenen Feind immer bis an das Ende der Welt verfolgen wollten. Nach einigen Wochen wurde ihre Haltung sicherer, und gegen den Herbst hin begann Napoleons Spott über »dies Gevölk schlechter Infanterie« zu verstummen. Die kampfgewohnten Bataillone der Landwehr waren allmählich fast ebenso kriegstüchtig geworden wie das stehende Heer, wenngleich sie weder mit der Disziplin noch mit der stattlichen äußeren Haltung der Linientruppen wetteifern konnten und immer unverhältnismäßige Verluste erlitten: eine in der Kriegsgeschichte beispiellose Tatsache, die nur möglich ward durch den sittlichen Schwung eines nationalen Daseinskampfes« Heinrich von Treitschke: »1813« (S. 80). Leipzig 1913, Verlag Hirzel..
Im Kampfe gegen die napoleonische Fremdherrschaft wurde zum erstenmal die allgemeine Wehrpflicht rücksichtslos verwirklicht in einer, obwohl von reaktionären Elementen durchsetzten, so doch milizartigen Form. Das Junkertum stand nach dem Siege vor der Aufgabe, den Folgen der Differenz zwischen der demokratischen Heeresform und der reaktionären allgemeinen Staatsform vorzubeugen, und die Frucht seiner Bemühungen ist die jetzige Gestalt der Heeresform, das stehende Heer der allgemeinen Wehrpflicht: das Volk in Waffen als Waffe gegen das Volk.
4. Das stehende Heer der allgemeinen Wehrpflicht
»Das Heer soll ferner während des äußeren Friedens die gefährdete Ordnung im Innern und aus naheliegenden Gründen gewöhnlich gleichzeitig auch bei den Nachbarn erhalten und zwar, wie es Baden und Sachsen gezeigt haben, nicht allein bei den schwachen Nachbarn …
Will man daher nicht in jedem einzelnen Fall der Störung der Ordnung Reserven und Landwehr einziehen, so muß das stehende Heer eine angemessene Stärke haben.«
(General von Griesheim: »Lebensfragen der Landwehr. 1860«.)
Die Revolutions- und Befreiungskriege haben dem Militarismus eine neue Bahn gewiesen, die der Ausnutzung der allgemeinen Kräfte der Nation zum Heeresdienst. Sie eilten der wirtschaftlichen Entwicklung voraus, die auch ohne sie zu dem allgemeinen Heeresdienst führen mußte. Denn da der komplizierte Mechanismus der kapitalistischen Gesellschaft sich durch keine Kabinettsregierung leiten läßt, sondern eine mehr oder weniger demokratische Regierung erfordert, so war es auf die Dauer undenkbar, daß die sich demokratisch regierenden Völker eine Institution dulden könnten, die wie Söldnerheere von Haus aus ein Instrument der herrschenden Cliquen gegen das Parlament und die Demokratie überhaupt wäre. Daß aber die allgemeine Wehrpflicht in erster Linie in dem verhältnismäßig so wenig kapitalistisch entwickelten Lande wie Preußen zur Durchführung kam, hatte seine guten Gründe. Zwar bestand in Preußen eine Partei, die die Rückkehr zu den alten Verhältnissen forderte; sie bestand aus jenen, die »durch eine Verewigung der damaligen Wehreinrichtungen ihre Gerechtsame und Interessen bedroht sahen und deshalb trotz der schweren Lehren der letzten acht Jahre die Beseitigung der neuen Einrichtungen wünschten« – schreibt der Historiker des preußischen Heeres O. v. d. Osten-Sacken: »Preußens Heer.« Bd. 2, S. 158, Mittler 1912.. War nun diese Partei auch nur klein, so war sie doch einflußreich und das um so mehr, als ihr im Grunde des Herzens auch der König angehörte. An den traurigen Finanzen, die die Schaffung eines Söldnerheeres nicht erlaubten, scheiterten jedoch die Pläne der Besten der Nation, und am 3. September 1814 wurde die Wehrordnung veröffentlicht, die aus den Lehren der letzten Jahre die nötigen Schlüsse zog. Sie war ein Werk des Kriegsministers Boyen, des Freundes Scharnhorsts. Sie baute sich auf dem Grundsatz der allgemeinen Wehrpflicht auf. Gleichzeitig führte sie die dreijährige Dienstzeit ein, da die Freiheitskriege gezeigt haben, daß eine Durchbildung des Heeres auch bei dem größten Enthusiasmus der Soldaten notwendig ist. Im Prinzip richtig, war diese neue Institution der Ausbildung der auf Grund der allgemeinen Wehrpflicht Ausgehobenen durch die lange Dienstzeit den Ängsten des Junkertums gegen das Volk in Waffen angepaßt. Nach dreijähriger Dienstzeit wurde der Soldat auf sechs Jahre der Landwehr ersten Aufgebots zugezählt, die während des Friedens eine völlig selbständige Organisation besaß und zusammen mit den stehenden Truppen die Feldarmee bildete. Nach sechs Jahren sollte der Soldat wieder der Landwehr des zweiten Aufgebots auf sechs Jahre angehören, deren Aufgabe im Kriege der Besatzungsdienst (Festungen usw.) bildete. Das Vorrecht der Gebildeten wurde auch verewigt, indem ihnen das Recht auf einjährige Dienstzeit und das Recht auf Offizierstellen in der Landwehr eingeräumt wurde. Auch die am 21. November des Jahres 1815 eingeführte Landwehrordnung war reaktionär: ihre Offiziere wurden gewählt durch die Kreisbehörden und Kreisausschüsse, in welchen die Junker oder Geldsäcke den Ausschlag gaben, aus ausscheidenden aber noch landwehrpflichtigen Offizieren des stehenden Heeres, aus Einjährig-Freiwilligen, die sich die Befähigung zum Offizier schon erworben hatten, aus Unteroffizieren, die freie Grundbesitzer waren, oder aus Landwehrleuten, die ein Vermögen von 10 000 Talern oder ein entsprechendes Einkommen hatten.
Die Heeresorganisation Boyens war also eine Verkoppelung der demokratischen Wehrpflicht mit reaktionären Institutionen, die den Durchbruch der demokratischen Ideen im Heere hemmen sollten. Kaum war der Sieg gewonnen, als die Restauration, in allen Teilen des Staatswesens, so auch in bezug auf das Heer sich von neuem breit machte – schrieb W. Rüstow W. Rüstow: »Die preußische Armee und die Junker.« Hamburg 1862, S. 39., ein früherer preußischer und späterer Schweizer Offizier, der dort zum Rang des Oberstbrigadiers gelangte und in den sechziger Jahren als einer der hervorragendsten deutschen Militärschriftsteller galt. Er bewies in seiner auch jetzt noch sehr lesenswerten Schrift, daß, während auf 2½ Millionen Menschen der besitzenden Schicht in Preußen, aus der sich selbst in einem nichtdemokratischen Staat die Offiziere rekrutieren müßten, nur 68 000, der sechsunddreißigste Teil, auf den Adel fällt, also von 12 000 Offizieren nur 333 dem Adel angehören müßten, sie in Wirklichkeit aber sechzehnmal stärker waren, wobei die bürgerlichen Offiziere in erster Linie in der Landwehr dienten und für höhere Stellungen gar nicht in Betracht kamen. Und das junkerliche Offizierskorps hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Exerzier- und Paradeplackereien der alten Armee in die neue Armee zu verpflanzen, was schon dadurch erklärbar ist, daß es sonst nichts in den drei Jahren der Dienstzeit zu tun hatte. Es genügt, einen Blick in die Broschüren, die massenweise in der Zeit des Kampfes um die Reorganisation der Armee (in den Jahren 1859 bis 1865) erschienen sind, zu werfen – wir nennen hier von vielen Um dem Leser einen Begriff zu geben, wie sehr sich damals die Öffentlichkeit für die Frage des Heerwesens interessierte, sei nur gesagt, daß die Broschüren-Literatur der Heeresreform der sechziger Jahre in der bremischen Stadtbibliothek 16 große Bände (durchschnittlich 6 Nummern enthaltend) einnimmt. nur die anschaulichen Schilderungen in der Schrift: »Das preußische Volk in Waffen und die neue Militärorganisation« (Berlin 1861) oder das Buch des biederen liberalen Hauptmanns P. J. Wilcken: »Deutsches Heer und Deutsches Volk« (Leipzig 1862) –, um zu sehen, wie schnell der Spiritus der Freiheitskriege verflogen war und öder Drill seinen Platz einnahm. Hand in Hand damit ging die Züchtung der Soldateska, die in der Form der Kapitulanten den Rekruten den kärglichen Platz im stehenden Heere schmälerten, indem sie sie unausgebildet in die Landwehr abschob und den Wert der Landwehrtruppen herabminderte. Dazu kam noch das Verkommen der fast gar nicht geübten Landwehr, das später als Argument für die Verstärkung des stehenden Heeres dienen sollte. Als wegen der verschlechterten Finanzlage im Jahre 1832 die Dienstzeit bei der Infanterie auf zwei Jahre verkürzt wurde, hatte dies keine weiteren günstigen Folgen für die Entwicklung des Heeres in der Richtung der Demokratie, weil der allgemeine Schlendrian, der im ganzen Heerwesen herrschte, überhaupt jede Entwicklung des Heeres hemmte.
Eine Änderung trat erst ein, als durch die schnellere wirtschaftliche Entwicklung in der Ära der Konterrevolution, durch die Aufrollung der italienischen Frage, wieder Leben in die europäische Bude kam. Die Revolution des Jahres 1848 hat die Frage der Einigung Deutschlands nicht gelöst. Das Bürgertum war damals zu schwach und zu ängstlich, um den revolutionären Kampf um die Einigung Deutschlands, der in einen Krieg gegen Rußland ausmünden mußte, auf seine Schultern zu nehmen. Die Reaktion fühlte anfangs der sechziger Jahre, als der Puls der politischen Entwicklung schneller zu schlagen begann, daß die Reihe an sie kam. Sie hatte zwar noch keinen bestimmten Plan, aber das wußte sie: mit der Schlamperei, durch die sie sich bei der Mobilisation vor ganz Europa kompromittiert hatte, ging es nicht weiter. Vom Jahr 1815, wo Preußen erst 10 Millionen Einwohner hatte, bis 1859, wo die Zahl derselben auf 18 Millionen stieg, begnügte man sich mit der Aushebung von 40 000 Mann. Im Jahre 1859 entschloß sich die Regierung, diese Zahl auf 63 000 zu erhöhen, was, wie Rüstow Rüstow: »Die Wahrheit über den preußischen Wehrgesetzentwurf«. Nördlingen 1860. Er bewies, daß 120 000 Mann dienstfähig sind. S. 12 seiner Broschüre. und Engels Engels: »Die preußische Militärfrage und die deutsche Arbeiterpartei 1865.« Dieses sehr wichtige Dokument ist abgedruckt im 5. Halbjahrsband 1905 der von der »Frankfurter Volksstimme« herausgegebenen Sammlung: »Aus der Waffenkammer des Sozialismus«. Die Engelssche Broschüre ist sehr wichtig vom methologischen Standpunkt für die Frage vom Verhältnis der sozialen Demokratie zur Milizfrage. Wir werden auf sie zurückkommen. bewiesen, bei weitem nicht hinreichte, um die allgemeine Wehrpflicht zu verwirklichen. Aber mit diesem Fortschritt verband sie durch und durch reaktionäre Schritte. Die Dienstzeit der Infanterie wurde wieder auf drei Jahre erhöht; 36 Landwehrregimenter wurden in Linienregimenter verwandelt. Das erste Landwehraufgebot wurde überhaupt aufgehoben: nach dreijähriger Dienstzeit unter den Fahnen trat der Soldat auf vier Jahre in die Reserve ein, den Rest der Dienstzeit verbrachte er bei dem zweiten Landwehraufgebot, das nur als Besatzungstruppe diente. Das bedeutete die Verdoppelung des stehenden Heeres bei der Infanterie und seine Vergrößerung um die Hälfte bei der Kavallerie und Artillerie.
Die liberale Bourgeoisie, die im preußischen Landtag das Heft in Händen hatte, merkte, wie hier der Hase lief. Die Einverleibung der Landwehr in das stehende Heer, die Steigerung seiner Gefügigkeit in den Händen der Regierung durch Verlängerung der Dienstzeit, bedeutete eine Stärkung der Macht der Regierung und der hinter ihr stehenden bureaukratisch-junkerlichen Schichten. Aber da die Bourgeoisie auf den selbständigen Kampf um die Vereinigung Deutschlands schon lange verzichtet hatte und seit den sechziger Jahren nicht mehr für das einige Deutschland, sondern für das größere Preußen unter dem Zepter der Hohenzollern schwärmte, so war ein Kampf gegen die Ausrüstung der preußischen Regierung zur Erfüllung ihrer Aufgaben von vornherein für sie verlorene Liebesmüh. Für die Bourgeoisie bestand nur die Möglichkeit, auf dem Boden der Erweiterung der preußischen Heeresmacht gegen ihre reaktionäre Form zu kämpfen. Da der Regierung sehr an der Unterstützung der Bourgeoisie gelegen war, hätte ein solcher Kampf sehr gute Aussichten gehabt. Aber die Bourgeoisie führte ihn so direktionslos, daß sie der Regierung ermöglichte, sie beiseite zu schieben und gegen sie die Roonsche Reform durchzuführen. Im Jahre 1866, nachdem Preußen dank den durch die Bourgeoisie abgelehnten Rüstungen Österreich besiegte, kroch die Bourgeoisie zu Kreuze und erteilte der Regierung Indemnität.
So wurden die Grundlagen des heutigen deutschen Militarismus geschaffen; denn das Reichsgesetz dehnt die Roonsche Armeeorganisation mit nur kleinen Änderungen auf ganz Deutschland aus. Ein Produkt der allgemeinen Wehrpflicht, verleugnet der heutige Militarismus seine demokratische Herkunft: er hält das Volk lange über die notwendige Ausbildungszeit hinaus unter Waffen, um es gegen den inneren Feind auszubilden; er beraubt das Volk in dem Moment, wo es dem Staate das größte Opfer bringt, des Rechtes auf Selbstregierung, indem es ihm Offiziere aufoktroyiert, die nur von der Regierung abhängig sind; aber gleichzeitig ist die Armee nur das, was das Volk ist, denn auf die Dauer läßt sich der Inhalt des Volkslebens nicht durch die militaristische Form erdrücken; sie kann ihn nur verhüllen. Die Entwicklung der modernen Heeresorganisation, die mit dem Söldnerheere begann, endet mit einer Formation, die die tiefsten Widersprüche enthält, Widersprüche, die im Laufe der hier skizzierten Entwicklung schon hart aufeinander stießen. Der Widerspruch zwischen dem Söldnertum und der Milizidee, wie sie sich in den brandenden Wogen der französischen Revolution gezeigt hat, ist nicht aufgehoben. Umgekehrt ist er in eine Organisation übergegangen, in der er auch zur Austragung kommen wird. Bevor wir jedoch zur Schilderung des Kampfes dieser Gegensätze im Kapitel über »Die Entwicklungstendenzen des modernen Militarismus« kommen werden, gilt es zuerst die hier gegebene historische Darstellung durch eine Analyse der Begriffe der Miliz und des stehenden Heeres zu vertiefen, wozu sich am besten die Schilderung des Verhältnisses der Bourgeoisie zu Miliz und Militarismus eignet, für die eben die Zeit der siebziger Jahre, bei der wir angelangt sind, am geeignetsten ist, denn in der Zeit vom Kampfe um die Armeereform bis zur Gründung des Deutschen Reiches (1860 bis 1871) vollzieht sich die Schwenkung der liberalen Bourgeoisie von der Miliz zum Militarismus Schon während der Abfassung dieses letzten Teiles des Kapitels über die Entwicklung der Heeresorganisation fällt uns die kleine Schrift: »Staatsverfassung und Heeresverfassung« (Dresden 1906, Zahn und Jaensch) von Otto Hintze in die Hände. Sie gibt auf 99 Seiten eine treffliche Skizze. Nach der Engelsschen aus dem Anti-Dühring gelesen, kann sie den Lesern, die keine Möglichkeit haben, die Frage in größerem Umfang zu studieren, sehr gute Dienste leisten..
1. Das bürgerliche Milizideal.
Die 25 Jahre an der Schwelle des 19. Jahrhunderts, die die Zertrümmerung der stehenden Söldnerheere, den Sieg von Volksaufgeboten, das Entstehen des Heeres, der allgemeinen Wehrpflicht, sahen, mußten natürlich aufs tiefste sowohl die Ansichten der Berufsmilitärs wie der breiteren Kreise der politisch denkenden Öffentlichkeit beeinflussen. Karl von Clausewitz, der geniale Theoretiker, der in seinem im Jahre 1832 erschienenen Werk »Vom Kriege« das Fazit dieser Umwälzung auf dem ganzen Gebiete des Kriegswesens zog, schrieb, Preußen habe im Jahre 1813 gezeigt, »daß plötzliche Anstrengungen die gewöhnliche Stärke einer Armee auf dem Wege der Miliz versechsfachen können Carl von Clausewitz: »Vom Kriege«, S. 179, Berlin 1912, Verlag Dümmler.. Er stellte gegen alle, die in der Volksbewaffnung ein revolutionäres, also verabscheuenswertes Mittel sahen, fest, daß, wer das Requisitionssystem, das System der Massenheere, wie sie während der Revolutionskriege entstanden sind, als historisch gegeben betrachtet, »in dieser Richtung nun auch der Aufruf des Landsturms oder die Volksbewaffnung liegt. Sind die ersten dieser neuen Hilfsmittel eine natürliche und notwendige Folge niedergeworfener Schranken und haben sie die Kraft dessen, der sich ihrer zuerst bedient hat, so gewaltig gesteigert, daß der Gegner mit fortgerissen wurde und sie auch ergreifen mußte, so wird dies auch der Fall mit dem Volkskriege sein. Im allgemeinen würde dasjenige Volk, welches sich desselben mit Verstand bedient, ein verhältnismäßiges Übergewicht über diejenigen bekommen, die ihn verschmähen Clausewitz l. c. S. 493..« So Clausewitz. Und der österreichische Feldherr Radetzky schrieb im Jahre 1828 in seiner »Militärischen Betrachtung« über die Lage Österreichs Denkschriften militärisch-politischen Inhalts aus dem Nachlaß des k. k. Feldmarschalls Grafen Radetzky. Stuttgart 1853, S. 445–456. Da uns das Buch unzugänglich war, zitieren wir nach G. Fr. Kolb: »Die Nachteile des stehenden Heeres«. Leipzig 1862.:
»Die stehenden Heere haben in dem neueren Europa den Glanz der Landwehren gänzlich verdunkelt. Dadurch sind in neuester Zeit alle Erfahrungen, die uns bei Beurteilung des Wertes von Landwehren leiten könnten, verloren gegangen. Und doch beruht die zuverlässigste Stärke eines Staates auf zweckmäßig gebildeten Landwehren. Diese Einrichtung ist die natürlichste und deshalb auch die beste. Sie liefert dem Staat im Verhältnis seiner Bevölkerung die größte Anzahl Streiter; sie erhält im Volk das Bewußtsein lebendig, daß es sich selbst verteidigt, eben dadurch also einen kriegerischen Geist, der nicht leicht ausarten wird, weil diejenigen, welche er erlebt, niemals aufhören, Bürger zu sein. Ein solcher Geist auf einer solchen Höhe aber macht ein Volk unüberwindlich. Man wird es nicht unterjochen, viel weniger ausrotten können.«
Dieser Auffassung der hervorragenden Theoretiker wie Praktiker des Kriegswesens entsprach die Auffassung des Bürgertums, soweit es in der Stille der Restaurationszeit über diese Fragen nachdachte. Da es überhaupt in sehr geringem Grade die Möglichkeit hatte, die konkreten Staatseinrichtungen einer Kritik zu unterziehen, so äußerte sich diese Auffassung bis zum Jahre 1848 nicht so sehr in dem Aufdecken des immer mehr überwuchernden Geistes der Soldateska im neuen Heeressystem, als in der Bewertung der Landwehr als des wichtigsten Teiles des Wehrsystems. Als im Jahre 1848 das Heer der allgemeinen Wehrpflicht sich als Stütze des Absolutismus bewährte, der Sieg der Konterrevolution jedoch nicht mehr imstande war, die Friedhofsruhe der vormärzlichen Zeit wieder herzustellen, fanden die Auffassungen des Bürgertums ihren Ausdruck in einer weitverbreiteten Agitations- und wissenschaftlichen Literatur über die Fragen der Heeresorganisation. Die Agitationsliteratur popularisiert die Gedanken, daß das Heer mit langer Dienstzeit eine Waffe in der Hand des Absolutismus werden kann, selbst wenn es nicht aus angeworbenen Söldnern, sondern aus Volkskindern besteht, die ihre Wehrpflicht erfüllen; sie beweist, daß die lange Dienstzeit gar nicht geeignet ist, die militärische Tüchtigkeit des Heeres zu heben und sieht die Quelle derselben im kriegerischen Volksgeist, er ausbricht, wenn die Interessen des Volkes vom Feinde angetastet werden. Die Stärkung dieses Volksgeistes und des Volkskörpers durch körperliche Jugendausbildung, durch Turnvereine Siehe: »Die Turnkunstbund-Wehrverfassung im Vaterlande.« Eine Denkschrift des Berliner Turnrates, Berlin 1860., die Übung der Kriegsbereitschaft durch Schützenvereine, das sind die Hauptargumente dieser Agitationsliteratur. In welcher Form aber die Organisation dieser Kriegsbereitschaft im Frieden stattfinden soll, tritt in dieser Literatur oft nicht mit genügender Klarheit hervor, was gewissermaßen den Ausspruch berechtigt, das Bürgertum der fünfziger und sechziger Jahre habe dem Bürgergardistenideal gehuldigt, dem Ideal jener vorübergehenden, zufälligen Organisationen, die während der Revolution oft entstanden als Mittelding zwischen einer freiwilligen Polizei, Feuerwehr und Barrikadenkämpferarmee. Aber in der wissenschaftlichen Literatur, in der die Milizidee fachmännische Vertreter fand, wie Rüstow, in dessen Werken Es kommen in der Hauptsache zwei Werke Rüstows in Betracht: »Untersuchungen über die Organisation der Heere.« Basel 1855. Und: »Der Krieg und seine Mittel«, eine allgemein faßliche Darstellung der ganzen Kriegskunst. Leipzig 1856. sie den Charakter eines absoluten Begriffs verliert und geschichtlich begründet wird, verschwinden diese Mängel. Rüstow unterscheidet das Milizheer, das stehende Heer und das Cadresheer. Beim ersten gilt es nur, »im Frieden die Männer auszuwählen, welche im Kriege das Heer bilden sollen, sie für diesen Beruf durch Übung tüchtig zu machen, sie aber nicht beständig als Heer versammelt zu haben, sondern nur in bestimmten Zeiten und für kurze Dauer zusammenzuberufen.« Das zweite, wenn »soviele Truppen, als sie den regelmäßigen Bedürfnissen der Kriegführung entsprechen, beständig als Heer versammelt sind« …
»Mitten zwischen diesen beiden Extremen steht das Cadresheer. Dieses soll den Bedürfnissen einer teilweisen beständigen Kriegsbereitschaft und der Einübung der bewaffneten Mannschaft zugleich entsprechen. Eine verhältnismäßige große Anzahl von Männern wird also beständig bei den Fahnen gehalten; nach einer gewissen Dienstzeit, deren Dauer sehr verschieden ist, in der Regel zwischen 3 bis 15 Jahren, werden die Leute von den Heeresverbänden entlassen, während an die Stelle der jedesmal ausscheidenden neue – Rekruten – treten; die Entlassenen sind aber der Heerespflicht nicht gänzlich ledig, sondern werden beim drohenden Ausbruche eines Krieges einberufen und verstärken nun das Heer. Dies System herrscht jetzt in den meisten Staaten Europas W. Rüstow: »Der Krieg und seine Mittel«, S. 50. Das Kapitel: Heeresformen (S. 49–60 dieses Buches), aus dem die folgenden Zitate entnommen sind, ist knapp und übersichtlich, und verdient ganz abgedruckt zu werden als gute wissenschaftliche Zusammenfassung der damaligen Auffassung der Milizfrage..
Rüstow teilt also die Heeresformen nach ihrem Zweck: beim stehenden Heere ist er sofortige Kriegsbereitschaft der ausgebildeten Soldaten, bei der Miliz die Ausbildung der Soldaten zum zukünftigen Krieg, bei den Cadresheeren ist er die Vereinigung beider Ziele durch Ausbildung der Soldaten, die eine Zeitlang nach ihr noch bei den Fahnen bleiben, um so die Kriegsbereitschaft zu erhöhen, während andere ausgebildet werden, die aber auch nach der Entlassung aus dem Dienste zum Kriege gebraucht werden können. Aber der begreifliche Unterschied zwischen dem Miliz- und Cadresheere verwandelt sich bei ihm nicht in eine steife, hölzerne Scheidung der Cadresheere und der Miliz, wie er zwischen der Miliz und dem alten stehenden Heere bestand. Je kürzer die Dienstzeit bei dem Cadresheere ist, desto mehr nähern sie sich der Miliz: »Je kürzer die Dienstzeit, je ausgedehnter das Beurlaubungssystem, je öfter das Heer sich aus dem Volke erfrischt und in das Volk ausgebildete Krieger entsendet, desto mehr soldatischer Sinn, Kenntnis der Erfordernisse des militärischen Lebens, Geschick und Mut zum selbständigen militärischen Organisieren wird sich in dem Volke finden,« – was alles in voller Ausbildung eben das Resultat der Miliz ist. Das Milizsystem und das Cadressystem mit kurzer Dienstzeit und starker Beurlaubung bilden also für Rüstow keine absoluten Gegensätze. »Das Ideal, dem in dieser Richtung die Cadresheere zustreben müssen, ist das Milizheer mit seinen temporären Dienstübungen für kurze Dauer.
Aber es wäre falsch, anzunehmen, daß Rüstow das Milizheer mit den unausgebildeten Volksaufgeboten gleichstellt:
»Es ist ebenso gefährlich, die Notwendigkeit der militärischen Bildung zu unterschätzen, als sie zu überschätzen. Diejenigen, welche das letztere tun, glauben, daß nur in einer langjährigen Dienstzeit der Mann die erforderliche Ausbildung zum Soldaten erlangen könne. Ihre Staaten haben fast alle Mannschaften, welche überhaupt für das Waffenhandwerk bestimmt sind, bei den Fahnen; einen kleinen Bruchteil der Nation. Dieser zieht in den Krieg, erliegt zum größten Teil den Beschwerden der Märsche und Lager, den Waffen des Feindes. Ergänzung wird unvermeidlich, sie kann aber, da die Waffenübung des größten Teils der Nation verabsäumt ward, nur in ungeschulten Rekruten bestehen. Mit welchem Vertrauen werden nun dieselben Männer, welche so große Ansprüche an die Ausbildung des Soldaten erhoben, diese Stoffe in die Schlacht führen? Werden sie nicht den Sieg verloren geben, ehe sie versuchten, ihn zu erringen?
Diejenigen aber, welche die Notwendigkeiten der militärischen Bildung unterschätzten, behaupten, daß es genüge, dem Manne eine Waffe in die Hand zu geben, um ihn zum Soldaten zu machen. Für sie ist alle Waffenübung überflüssig, sie sehen bei einem feindlichen Einbruch bewaffnete Scharen von Hunderttausenden aus dem Boden erstehen und siegreich in der Verteidigung des Heimatlandes kämpfen. Welcher Irrtum! Wer hat denn jemals zu behaupten gewagt, daß es gleichgültig sei, ob man die Schneide oder den Rücken des Messers gebrauche? Aber selbst mit dem Aufstehen nur jener Hunderttausende, abgesehen davon, welchen Gebrauch sie von ihren Waffen machen, welche Erfolge sie erzielen, wird es sehr schlimm bestellt sein, wenn es an soldatischem Geiste in der Nation, wenn es an den Einrichtungen fehlt, welche allein ihn schaffen könnten.«
So sieht die militärische Seite der Begriffe Miliz, stehendes Heer und Cadresheer bei dem führenden bürgerlichen Theoretiker der Milizidee aus. Sie ist klar durchdacht und gibt nicht den geringsten Anlaß zu dem Gespött, das sich die Kasernenhoffachmänner ihr gegenüber erlauben. Das Milizideal Rüstows steht auf dem Boden der Wirklichkeit und ist keine Spekulation, sondern ein Entwicklungsziel. Mochte Rüstow zu wenig die politischen Hemmungen des Siegesganges der Milizidee übersehen haben, militärisch hatte er recht, wenn er schrieb: »in allen Staaten der kultivierten Welt ist tatsächlich die Tendenz vorhanden, dem Beurlaubungs-, d. h. dem Milizsystem eine immer weitere Ausdehnung zu geben.«
Daß diese Tendenz für eine Zeitlang zurückgeworfen wurde und überhaupt je länger, desto mehr sich nur sehr widerspruchsvoll, in Stößen und Gegenstößen äußerte, das hängt in erster Linie von der Änderung der Haltung des Bürgertums dem Junkerstaate gegenüber und von dessen Umwandlung in den kapitalistischen Staat ab, die sich eben in der Zeit vollzog, in der Rüstow seine Werke schuf. Der Widerspruch zwischen dieser Entwicklung und dem Milizgedanken wird klar zutage treten, wenn wir die Ausführungen Rüstows über den politischen Charakter der Miliz mit der politischen Situation der siebziger Jahre in Deutschland vergleichen.
2. Die Bourgeoisie gegen die Miliz.
»Der wesentliche Unterschied zwischen dem Milizsystem und dem stehenden Heere, sowie zwischen allen, die in der Nähe des einen oder des anderen stehen, ist die größere Ausgiebigkeit, die größere Leichtigkeit neuer Organisationen, namentlich für den Verteidigungskrieg bei dem ersteren, die größere Unabhängigkeit der Staatsgewalt in der Verfügung über die Streitkräfte bei dem letzteren. Kleinere Staaten haben nur in dem Milizsystem die Möglichkeit, den größeren annähernd gleiche Heere entgegenzustellen, also ihre Selbständigkeit zu verdienen. Damit aber diese Stärke, welche das Milizsystem ihnen gibt, nicht illusorisch werde, muß die Staatsgewalt eine durchaus volkstümliche sein, darf ihre eigenen Bahnen nicht gehen, wenn dieselben von denen des Volkes abweichen« Rüstow: »Der Krieg«, S. 59., heißt es bei Rüstow. Während aber Rüstow dies niederschrieb, rüstete die preußische Regierung zur Lösung der deutschen Frage mit Blut und Eisen. So sehr auch die Volksmassen für die Vereinigung Deutschlands waren, so waren sie gleichzeitig gegen den Bruderkrieg. Diese Stimmung hat die preußische Regierung, die wie jede andere ganz- oder halbabsolutistische Regierung das Maß der Widerstandskraft des Volkes unterschätzte oder überschätzte, aber niemals richtig einzuschätzen wußte, zu hoch angeschlagen. Sie konnte also das zur guten Hälfte aus Landwehren zusammengesetzte Heer, mochte es sich auch noch so gut in einem Verteidigungskrieg gegen einen nationalen Feind schlagen, nicht als genügend zuverlässiges Kampfmittel gegen Österreich betrachten. Die Heeresorganisation Roons lieferte die Massen mehr in die Hand der Regierung. Aber selbst, wenn diese militärische Erwägung nicht in Betracht kommen würde, so um so mehr die politische; selbst bei dem mit reaktionären Elementen durchsetzten Landwehrsystem würde ein Krieg eine politische Durchrüttelung des Volkes bedeuten, die dem Liberalismus zugute kommen mußte. Ein Volksenthusiasmus, wie im Jahre 1813, würde bei dem im Jahre 1860 viel höheren Bildungsgrade des Volkes, seiner höheren wirtschaftlichen Entwicklung, schon anders dafür sorgen, daß der innere Feind, das Junkertum, samt dem äußeren die Zeche zu bezahlen habe, als es im Jahre 1813 der Fall war.
Die Regierung hielt an der Militarisierung Deutschlands fest, sie wollte sich eben in ihrer Politik von der Bourgeoisie unabhängig machen.
Und die Bourgeoisie? Ihre demokratischen Elemente agitieren in kleinen Broschüren für das Milizsystem, sie sehen in der Frage von Militarismus und Miliz die »wichtigste der sozialen Fragen« G. Fr. Kolb: »Die Nachteile des stehenden Heeres und die Notwendigkeit der Ausbildung eines Volkswehrsystems.« Leipzig 1862, S. 35., sie glaubten, daß der Aufhebung des stehenden Heeres allgemeiner Wohlstand, dem Verschwinden des Junkermonopols auf Offiziersstellen die Demokratie folgen wird. Aber die ausschlaggebenden Elemente der Bourgeoisie ließen schon vor dem Jahre 1871 das Milizsystem fahren. Aus diesen Kreisen wurde an Rüstow geschrieben:
»Wenn Sie glauben, daß Ihre Milizideen in Preußen schon Grund und Boden haben, so befinden Sie sich in einem gewaltigen Irrtum. Sie könnten es daher wohl unterlassen, diese Dinge vorzutragen, mit denen Sie ja doch nichts nützen. Den Abgeordneten wäre es jedenfalls viel lieber, wenn Sie ihnen eine Anweisung gäben unter Beibehaltung des Systems im allgemeinen, nur etwa mit Führung der zweijährigen Dienstzeit, die Alles in Preußen befriedigen würde, einzelne Ersparnisse zu beantragen.«
Es entsprach dem Willen der führenden Schichten der Bourgeoisie, die preußische Regierung bei der Lösung der deutschen Frage, die revolutionär zu lösen das Bürgertum verpaßt hatte, nicht zu stören. Ihr ganzer Kampf gegen die Roonsche militaristische Reorganisation, die die Milizelemente aus dem preußischen Heereswesen ausmerzte, war nur ein Kampf um politische Entschädigungen, wegen welcher die liberalen Führer durch den Herzog von Koburg, dem »Schützenfürsten«, mit dem Hofe verhandelten Klein (Hattingen): »Die Geschichte des deutschen Liberalismus.« Berlin 1911, S. 232.. Da sie aber auf einer Seite den Kampf nicht offen unter der richtigen Flagge führten – um nicht in Gegensatz zu der demokratischen Anhängerschaft zu geraten – auf der andern Seite in der Sache selbst auf ihn sofort verzichteten, indem sie provisorisch die Kosten der Reorganisation bewilligten, mußten sie ihn verlieren. Am charakteristischsten für diesen Kampf ist, daß während der Konfliktsperiode, selbst in der Hitze des Gefechts niemals, im Landtage das Kampfobjekt auf die Parole: Hie Miliz – hie Militarismus! zugespitzt wurde. Nachdem der Bourgeoisie die Felle weggeschwommen waren und der durch den inneren wie äußeren Sieg gestärkte Absolutismus sie verächtlich zu behandeln begann, konnte sie nicht mehr gegen seine wichtigste Stütze, den Militarismus, auftreten, wurde er doch auch ihre Stütze.
Die alten Demokraten verlangten die Miliz, weil das Cadresheer mit dreijähriger Dienstzeit und junkerlichem Offizierkorps eine Waffe des Absolutismus und Junkertums gegen das Volk war, sie sich aber als Vertreter des Volkes fühlten. Anders die liberale Bourgeoisie nach dem Jahre 1866. Der junkerliche Staat begann sich in den kapitalistischen zu verwandeln, indem er unter der Kleinstaaterei, der Reaktion auf dem Gebiete der Wirtschaftspolitik, aufräumte, und so der Bourgeoisie ein einheitliches Ausbeutungsgebiet schuf. Gleichzeitig entwickelte sich die selbständige Arbeiterbewegung und weckte in der Bourgeoisie das Bewußtsein ihres Gegensatzes zum arbeitenden Volke. Nicht gegen den Absolutismus, gegen die Junker, sondern umgekehrt, mit dem konstitutionell ausgeschmückten, auch bürgerliche Interessen vertretenden Absolutismus und mit dem Junkertum, gegen das Volk – das wurde die neue politische Orientierung des Bürgertums, die erst nach dem Jahre 1871 zur vollen Entfaltung kam. Ihren Ausdruck fand sie in der Nationalliberalen Partei, die in den Zutreiberdiensten für den Militarismus, in der Verteidigung seiner reaktionärsten Konsequenzen mit den Junkern konkurrierte. Der kleinbürgerliche Teil des Liberalismus sprach zwar von der »Umgestaltung des Heereswesens im volkstümlichen Geiste«, aber im Kampfe gegen den Militarismus wußte er nichts weiter, als über seine Kosten zu jammern. Die Milizidee verschwand gänzlich aus seiner Literatur und fand nur noch Befürworter in krausen Eingängern wie Carl Bleibtreu Siehe sein Buch: »Zarbefreier« (Stuttgart, Dietz, J. 1898) und seine neueste Arbeit: »Das Heer« (Frankfurt 1912, Rütten-Löhning). Mit welcher Vorsicht Bleibtreus Arbeiten zu gebrauchen sind, zeigte Mehring in seiner Besprechung des letzten Buches Bleibtreus in der »Neuen Zeit« (1918)..
Wenn diese Frontänderung der breiten Kreise des Bürgertums durch die allgemeine Änderung seiner sozialen und politischen Kampfposition bestimmt war, so kamen für die wirtschaftlich führenden Kreise der Bourgeoisie noch das Industrie- und Bankkapital als direkte wirtschaftliche Momente in Betracht. Der Militarismus wurde zu einem Massenwarenabnehmer des Kapitalismus und durch die immer weiter fortschreitende Vergrößerung der Staatsschulden ein Mittel der Schröpfung der Volksmassen zugunsten des kapitalistischen Publikums, das in ihm die sichere Anlage sah, und des Bankkapitals, das aus der Vermittlerrolle große Verdienste zog.
Ohne jeden inneren Gegner – die Arbeiterklasse war schwach und an Händen und Füßen durch das Sozialistengesetz gefesselt – konnte der deutsche Militarismus ungehindert seine Flügel ausbreiten. Die Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht in Rußland nach dem Krimkriege und der Bauernbefreiung in Frankreich im Jahre 1874 gibt ihm einen Ansporn. Früher hieß es: es gilt zu rüsten zum Kampf um die Vereinigung Deutschlands; jetzt ist die Verteidigung Elsaß-Lothringens der Schlachtruf. Dazu kommt eine Reihe von Umwälzungen auf dem Gebiete der Kriegstechnik, die zusammen mit politischen Verschiebungen immer eine wichtige Quelle der Rüstungen bildete. Das Zündnadelgewehr, das den Deutschen Krieg im Jahre 1866 zum guten Teil herbeiführte, macht auf Grund der Erfahrungen des Jahres 1871 dem Gewehrmodell 71 von 11 mm-Kaliber im Jahre 1875 Platz; es tritt die Einteilung in Feld- und Festungsartillerie ein, die Kavallerie bekommt einen Karabiner; es werden Telegraphen- und Eisenbahnabteilungen geschaffen; technische Änderungen, die nicht nur große Kosten, sondern auch organisatorische Änderungen erfordern, die sich schließlich immer mit der Vergrößerung der Soldatenzahl ändern. Die Änderungen im Festungsbau, die der Betonzement und die Panzerung verursachten, wirkten in derselben Richtung. Der durch den Deutsch-Französischen Krieg erweiterte Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich, wie die technischen Umwälzungen im Kriegswesen sorgten für ein ununterbrochenes Rüsten, als in den letzten zwei Jahrzehnten ein neues Moment hinzukam, das den Militarismus in Deutschland mächtig stärken mußte. Es ist der Imperialismus. Obwohl sein eigentliches Instrument zur Beherrschung der Meere und der überseeischen Länder die Flotte ist, die er mit großer Energie schuf, und über deren Verhältnis zu den uns hier beschäftigenden Fragen wir noch kommen werden, so bildet er in kontinentalen Ländern eine Quelle der Rüstungen zu Lande. Zum Teil, damit die sich im Kampfe um Kolonien, um weltpolitischen Einfluß in den Haaren liegenden Staaten als Kontinentalmächte vermittels der Landheere die weltpolitischen Händel auskämpfen können, zum Teil, weil die Bündnisse der Staaten untereinander dafür sorgen, daß ein Gegensatz zu einem nur vermittels der Flotte erreichbaren Gegner das Verhältnis zu einem kontinentalen Nachbarn verschärft. Aber nicht nur in der Notwendigkeit, die Heeresmassen zu vergrößern, d. h. die allgemeine Wehrpflicht immer schärfer durchzuführen – was auch eine revolutionäre Seite hat – äußert sich der Einfluß des Imperialismus auf das Heerwesen. »Großmächte und große Handelsstaaten« – schrieb schon vor über sechzig Jahren Rüstow – »welche einen Welteinfluß suchen, werden wenigstens für einen Teil ihrer Truppen immer das System des stehenden Heeres oder eines ihm angenäherten annehmen müssen, weil sie oft gezwungen sind, zu demonstrieren und notwendig Staatszwecke zu verfolgen haben, welche, wenn auch keineswegs unvernünftig, doch der Masse des Volkes ferner liegen, namentlich muß auf einen Teil der Flotte das System des stehenden Dienstes angewendet werden.« Wir lassen diese Frage einstweilen beiseite, wie wir hier nicht nötig haben, zu beweisen, daß die Kolonialpolitik, die vom Standpunkte des bürgerlichen Demokraten – wie Rüstow, trotz seiner Feindschaft mit Lassalle, einer war – zwar vernünftig, vom Standpunkte des Proletariats jedoch zu bekämpfen ist. Es genügt für uns, festzustellen, daß die imperialistischen Staaten ebenso angesichts dessen, daß ihre imperialistischen Ziele, die Ausbeutung fremder Länder, im Proletariat einen ernsten Feind gefunden haben, alles zu tun suchen, um die demokratischen Tendenzen im Heere zurückzudämmen und die reaktionären zu stärken, was die Gegnerschaft des Bürgertums zum Milizgedanken noch vergrößert, und das Proletariat im Kampfe für die Miliz noch mehr vereinsamt.
Aber eine Prüfung des Gesamtcharakters des Militarismus, wie er sich seit dem Jahre 1871 gestaltet hat, wird zeigen, daß er trotz alledem in der Richtung auf die Demokratisierung treibt.
1. Die Folgen der allgemeinen Wehrpflicht.
Seit dem Deutsch-Französischen Kriege eroberte sich die allgemeine Wehrpflicht ein Land nach dem andern. Keines konnte hinter dem andern zurückbleiben, weil dies die Minderung des politischen Einflusses nach sich ziehen würde. Selbst halbagrarische Länder wie Österreich und Rußland mußten mitmachen, obwohl die finanzielle Last der allgemeinen Wehrpflicht zu schwer war für ihre schwachen Schultern. Am energischsten holte Frankreich das Versäumte nach. Bei seinen 38 Millionen Einwohnern brachte es im Jahre 1910 die Aushebungsquote von 256 000 Mann auf. Und wie sehr diese Quote die militärische Kraft Frankreichs überstieg, das zeigt die Tatsache, daß in diesem Jahre 28 273 ausgehobene Rekruten wegen ihrer mangelhaften Körperbeschaffenheit wieder entlassen werden mußten, daß 18 738 Mann wegen derselben Ursache nicht zu dem Dienst unter Waffen, sondern zu den Hilfsdiensten beordert wurden, gar nicht davon zu reden, daß 16 000 Mann sich nach der Aushebung und vor der Einstellung durch Desertion entzogen haben, was als Beweis dafür gelten muß, daß durch die Aushebungsbehörden der Bogen überspannt wurde. Die Ansprüche, die Frankreich an die Diensttauglichkeit stellt, sind viel niedriger als in Deutschland, weshalb auch die Gesundheitsverhältnisse dort viel ärger sind als hier. Die allgemeine Dienstpflicht wird in Frankreich so aus dem Mittel, die ganze Wehrkraft des Landes dienstbar zu machen, zu einem Mittel, seine Wehrmacht durch Arsenikeinspritzungen momentan zu beleben, die Wehrkraft aber dauernd zu schädigen. Deutschland hat bisher das Beschreiten dieses Weges vermieden. Sein viel größeres Menschenmaterial erlaubte ihm durchschnittlich, nur wirklich ganz Taugliche einzustellen. Nach der »Übersicht der Ergebnisse des Heeresergänzungsgeschäftes für das Jahr 1911« waren dienstpflichtig 1 271 000 Mann, davon 563 000 im Alter von 20 Jahren, endgültig wurden davon 565 000 abgefertigt. Von diesen wurden 826 als Zuchthäusler usw. nicht eingestellt, 35 500 als dauernd untauglich ausgemustert, d. h. 6,28 Prozent; 141 759 dem Landsturm I als dauernd mindertauglich oder als bedingt tauglich zugewiesen, 85 193 der Ersatzreserve einverleibt. Von 302 242 Tauglichen wurden 292 155 eingestellt, d. h. 51,7 Prozent aller Dienstpflichtigen und 96,7 Prozent aller Tauglichen. Nach den Berechnungen des Infanteriegenerals v. d. Boeck, des Verfassers des bekannten Werkes über Deutschlands Landmacht, werden in Deutschland jährlich wirklich militärisch ausgebildet 241 000 Mann, während es in Frankreich nur 176 000 sind (»Tag« vom 4. Oktober 1912). Das Gegengewicht davon auf Frankreichs Seite ist die 11-jährige Dienstzeit in der Reserve, während Deutschland nur eine 7-Jährige besitzt, und die sorgfältigere Ausbildung der Reserven. Jetzt schreitet Deutschland dazu, zirka 70 000 Rekruten jährlich mehr einzustellen, die sonst der Ersatzreserve zufallen würden, und Frankreich will zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts seine Truppen drei Jahre bei den Fahnen halten. Während die Maßregel Frankreichs einen rein reaktionären Schritt darstellt, wird die Vermehrung des Rekrutenstandes in Deutschland einen solchen Schritt nur dann bedeuten, wenn es sich zeigen würde, daß auch Deutschland, um diese Vermehrung des Friedensstandes der Armee zu ermöglichen, nicht ganz taugliches Material zur aktiven Dienstpflicht herbeizieht. Aber wenn es diesmal auch nicht geschehen sollte, kommen wird es zu dieser Überspannung der Wehrpflicht auch in Deutschland, wenn Rußland dem französisch-deutschen Rüstungsringen folgt und mit finanzieller Hilfe Frankreichs seine Dienstschraube scharf anzieht. So sehen wir, daß die Tendenz zur Durchführung der allgemeinen Wehrpflicht schon überspannt wird und zur Einstellung eines Menschenmaterials zu führen beginnt, das die Schlagkraft der Armee schließlich mindern wird.
Jedenfalls muß man jetzt, wenn man vom Heere spricht, als fundamentale Tatsache im Auge behalten, daß durch seine Cadres alles hindurchgeht, was in einer Nation wehrfähig ist. Der Militarismus sucht in die Linie neben den sich unter den Waffen befindenden nur die jüngsten gedienten Elemente für den Kampf hineinzuziehen; da er aber diese Elemente bis zum letzten Mann heranziehen müßte, so würden während eines Krieges alle anderen bis in die letzten Jahrgänge im Lande unter Waffen stehen. So verwirklicht der moderne Militarismus die Parole: Das Volk in Waffen! vollauf. Was früher nur Tendenz war, ist jetzt Tatsache.
Was bedeutet diese Tatsache, welche Folgen muß sie haben? »Die allgemeine Wehrpflicht – beiläufig die einzige demokratische Institution, welche in Preußen, wenn auch nur auf dem Papier besteht – ist ein so enormer Fortschritt gegen alle bisherigen militärischen Einrichtungen, daß, wo sie einmal, wenn auch nur in unvollkommener Durchführung bestanden hat, sie auf die Dauer nicht wieder abgeschafft werden kann«, – schrieb Friedrich Engels im Jahre 1865 in seiner schon einmal angeführten Schrift »Die preußische Militärfrage und die deutsche Sozialdemokratie«. Und 28 Jahre später, im Jahre 1893, schrieb er in seiner Artikelserie »Kann Europa abrüsten?«: »Nun besteht gerade die moderne, die revolutionäre Seite des preußischen Wehrsystems in der Forderung, die Kraft jedes wehrfähigen Mannes für die ganze Dauer seines wehrfähigen Alters in den Dienst der nationalen Verteidigung zu stellen. Und das einzig revolutionäre, das in der ganzen militärischen Entwicklung seit 1870 zu entdecken ist, liegt eben darin, daß man – oft genug wider Willen – sich genötigt gesehen hat, diese bisher nur in der chauvinistischen Phantasie erfüllte Forderung mehr und mehr wirklich durchzuführen« »Vorwärts« 1893, später zu einer Broschüre abgedruckt, deren Zweitdruck sich im 5. Halbjahrband der schon einmal angeführten, von der »Frankfurter Volksstimme« herausgegebenen Sammlung befindet. Da er am leichtesten zugänglich ist, zitieren wir nach ihm: S. 106.. Worin der militärische Fortschritt der allgemeinen Dienstpflicht bestand, glauben wir durch die bisherigen Ausführungen schon genügend gezeigt zu haben. Worin die revolutionäre Bedeutung dieses Fortschrittes besteht, läßt sich leicht erklären. Solange das Heer aus Söldnern bestand, für die der Kriegsdienst Lebensaufgabe war, kümmerte sich das Heer gar nicht um die Ursachen und Ziele des Krieges. Auch das Volk kümmerte sich um ihn nur auf dem begrenzten Landstrich, auf dem er sich abspielte. Es wurde zwar für die Kriegskosten geschröpft, was aber als normale Erscheinung nicht aufrüttelnd wirkte, aber es fehlte das Moment, das jetzt in erster Linie ins Gewicht fällt: daß jede Familie ein Mitglied auf dem Kampffelde hat. Der Wunsch Friedrichs II., »der friedliche Bürger soll es gar nicht merken, wenn sich die Nation schlägt: wurde zu einer reaktionären Utopie«. Die Nation fühlt den Krieg in allen Gliedern, und ihr Verhältnis zum Kriege, d. h. das ihrer einzelnen Klassen, schafft den Geist, der das Heer erfüllt. Von der Bedeutung dieser Tatsache legte Bismarck Rechnung ab, als er davon sprach, daß der Krieg jetzt nur wegen hoher nationaler Ziele geführt werden kann. Wir werden später zu der Frage zurückkehren, ob jetzt noch nationale Ziele, d. h. solche existieren, die mehr oder weniger im gleichen Interesse aller Klassen liegen, ob es also einen Krieg, der den allgemeinen Enthusiasmus erweckt, im kapitalistischen Europa geben kann. Hier handelt es sich um die Feststellung der Tatsache, daß die allgemeine Wehrpflicht die Volksstimmung zum ausschlaggebenden Faktor macht. Das wissen die Vertreter des modernen Militarismus vortrefflich. General v. Bernhardi sagt darüber in seinem Werke, einem Standard-work nicht nur des deutschen Militarismus: » Dieses Massenaufgebot hat zur nächsten Folge, daß der kriegerische Wert der Heere sehr viel mehr wie früher durch den Charakter und das Wesen der Nationen selbst bedingt wird. Je weitere Schichten der Bevölkerung in der Kriegsarmee eingestellt werden, desto mehr wird der Geist der so gebildeten Truppen bestimmt werden durch die physische Kraft, wie durch den politischen und sozialen Geist des Volkes selbst« F. v. Bernhardi: »Vom heutigen Kriege«, Bd. I, S. 67. Berlin 1912, Mittlers Verlag.. Das Volk aber, dessen Geistesverfassung so ausschlaggebend ist, ist ein ganz anderes als das des Jahres 1813, in dem die allgemeine Wehrpflicht in Preußen zuerst durchgeführt wurde; und die Aufgaben, die die herrschenden Klassen Deutschlands eventuell auf kriegerischem Wege durchzuführen hätten, sind ebenfalls ganz anders geartet, als die, die ihnen bis zum Jahre 1871 bevorstanden. Das Volk ist von der Scholle weggerissen und in die Großstädte getrieben worden. Die Hungerprügel des Kapitals sind zwar nicht minder schmerzlich als die Stockprügel, mit denen der Junker sein Gesinde bearbeitet hatte, nur daß sie ganz andere Gefühle in den in Fabriken und Mietskasernen zusammengepferchten Massen wecken, nicht Gefühle der Unterwürfigkeit und Hilflosigkeit, sondern die des proletarischen Hasses gegen die Unterdrücker, die der proletarischen Solidarität der Unterdrückten. Aus ihnen entspringt ein Kampf, der immer gewaltiger und schärfer wird und sich gegen alle herrschenden Schichten und ihre Herrschaftsorgane richtet. Er ist organisiert, um zweckmäßiger geleitet werden zu können, wo ihm aber die Organisation fehlt oder genommen wird, brandet er nur wilder auf, denn er beruht auf den tiefsten Interessen und Regungen der Volksmassen, auf dem instinktiven Fühlen von Millionen, auf dem klaren Wissen von Hunderttausenden, daß die Reife der ökonomischen Verhältnisse die Änderung der menschenunwürdigen Lage des Proletariats erlaubt. Je mehr die allgemeine Wehrpflicht durchgeführt wird, desto mehr wächst das Übergewicht dieser Massen des Industrieproletariats im Heere. Im Jahre 1910 war das Verhältnis schon folgendes: 82 310 neu Eingestellter waren im landwirtschaftlichen, 203 195 in anderen Berufen tätig. Unter den aus der Landwirtschaft stammenden gehörte ein größerer Teil den proletarischen und halbproletarischen Schichten an. Darum sagt auch der Generalmajor v. d. Lippe mit Recht in seinem zwar konfusen, aber sehr charakteristischen Buche: »Gedanken über eine neue Wehrverfassung«: »Die sozialistische Propaganda kann sich gar nichts Besseres wünschen als die Kaserne, um ihre Lehren ohne Druckkosten im Lande zu verbreiten« Generalmajor A. v. d. Lippe: »Gedanken über eine neue Wehrverfassung.« Berlin, Verlag Salle 1912, S.18..
Und welche Aufgaben stellt die Bourgeoisie diesem so gearteten Heer der allgemeinen Dienstpflicht? Es soll im Frieden – je mehr sich die Klassengegensätze verschärfen und die Klassenkämpfe an Umfang gewinnen – als Garde des Kapitals zur Niederwerfung der kämpfenden Brüder dienen. Mansfeld und das Ruhrgebiet zeigen, wohin der Marsch geht. Und ähnlich ist es mit den äußeren Aufgaben des Heeres. Die Massen, die sich in den Kriegen von 1866 und 1871 schlugen, waren entweder gefügige Bauernmassen oder städtische Volksmassen, die dumpf fühlten, daß aus der Misere der damaligen Verhältnisse der Weg nur durch die Vereinigung Deutschlands führe. Gab es doch in jener Zeit in einem Teile selbst des sozialistischen Proletariats preußischen Patriotismus. Die Einigung Deutschlands sollte die Herrschaft der Bourgeoisie verwirklichen, ohne diese gab es keinen Fortschritt, auch für die Arbeiterklasse nicht. Wie anders ist jetzt die Lage. Deutschland wird, wenn es sich mit dem, was es hat, begnügt, von niemandem bedroht. Der einzige Grund der sich verschärfenden Gegensätze unter den Staaten ist der Appetit auf koloniale Gebiete. Die Verteidiger des Kapitalismus können dem Proletariat mit Engelszungen die wundertätigen Einflüsse der Kolonialpolitik schildern, alles das zerschellt, wie die Meereswoge am Granitfelsen, an dem Bewußtsein, daß selbst in der größten Prosperitätsperiode eine immer größere Teuerung Platz greift; an der Erkenntnis, daß die Kartelle und Trusts mit allen Kräften den Aufstieg der Arbeiterklasse hemmen. Und sollte der Arbeiter sich durch eine koloniale Fata Morgana auf einen Augenblick irreführen lassen, so stellt ihn die erste diplomatische Spannung vor die Frage: wirst du Kanonenfutter werden, dein Leben und das deiner Brüder auf die Hoffnung hin opfern, daß für dich ein Knochen vom Tische der Mächtigen abfällt, wo doch die Ernte reif ist und den Schnitter erwartet, um seine Arbeit reichlich zu belohnen? Und wer diese Gedanken noch nicht selbständig erzeugte, dem sagt es die in Millionen Exemplaren verbreitete sozialdemokratische Presse, dem sagen es die Arbeitskollegen.
Die allgemeine Wehrpflicht gewinnt also die Tendenz, das Heer sozial zur Erfüllung der Aufgaben, vor die es der Kapitalismus jetzt stellt, immer untauglicher zu machen. Es büßt auf die Länge die Fähigkeit ein, ein Mittel der kolonialen Expansion und der Niederhaltung des Volkes zu werden. Wie sich dagegen der Kapitalismus wehrt, ergibt sich aus der Untersuchung der Fragen der militärischen Dienstzeit.
2. Die Absonderung des Heeres vom Volke.
Das moderne Heer besteht in seiner überwältigenden Mehrheit aus Volkskindern. Es soll aber zur Niederhaltung der Volksmassen im Innern und zum Kampfe nach außen, also volksfeindlichen Interessen, dienen, Interessen, die in letzter Linie auf die Verlängerung der Kapitalherrschaft und Volksknechtschaft hinauslaufen. Darum sucht das Kapital den Zusammenhang des Heeres mit dem Volke zu zerstören und in ihm die Erinnerungen an alle die Objekte, um welche und gegen welche das Volk kämpft, auszulöschen. Dieselben Mittel, durch die das Volksheer in eine Knüppelgarde des Kapitals im Innern umgewandelt werden soll, sollen es auch zu einem Söldnerheer degradieren, das gedankenlos um alles kämpft, was die besitzenden Klassen des Massenmordes für wert halten.
Als solches Mittel kommt in erster Linie eine lange Dienstzeit in Betracht. Je länger, desto angenehmer wäre sie ihnen. In den Kasernenmauern soll der Arbeiter vergessen, daß er je gegen die überlange Arbeitszeit und den kargen Lohn gestreikt hat. Schickt man ihn mit Maschinengewehren gegen Streikende, so soll er nicht auf den Gedanken kommen: womit heute diese Hungerleider niedergeknüppelt werden, damit werde ich morgen niedergerungen, wenn ich das bunte Tuch ablege. Schickt man ihn mit gefälltem Bajonett gegen die Massen, die für ein demokratisches Wahlrecht demonstrieren, so soll er nicht daran denken, daß auch er, der bereit sein muß, für das »Vaterland« zu sterben, morgen, wenn er die Kaserne verläßt, ein entrechteter Helot sein wird. Vergißt er das alles, so wird er sich auch auf dem Schlachtfelde nicht erinnern, daß es höhere Ziele gibt, für die es wert ist, Blut zu verspritzen, als der Kampf des deutschen Kapitals um die Ausbeutungsmöglichkeit in fremden Ländern.
Aber dieser Wunsch des Kapitals nach einer möglichst langen Dienstzeit kann nicht restlos erfüllt werden. Eine Dienstzeit, wie sie im Söldnerheere herrschte, wäre eine offene Sklaverei, gegen die die Massen rebellieren würden. Aber selbst eine vier- und fünfjährige Dienstzeit läßt sich wegen der enormen Kosten nicht lange halten. Ein halbasiatischer Staat wie Rußland, der keine Funktionen eines modernen Staates, wie Sozialpolitik, Bildungswesen, hygienische Maßregeln usw. kennt, kann alles dem Volke abgepreßte Geld dem Militarismus in den Rachen werfen. Der entwickelte kapitalistische Staat jedoch muß – schlecht oder recht – für die Schulen und für die Arbeiter sorgen; denn bei der Intelligenz der Arbeiter, bei ihrer Rührigkeit brennt ihm die sozialdemokratische Gefahr auf den Nägeln. Wie sehr auch der kapitalistische Staat alle diese notwendigen Tätigkeiten vernachlässigt, sie erfordern trotzdem Hunderte von Millionen. Er hat trotz des besten Willens nicht die Möglichkeit, die Dienstzeit über alle Grenzen hinaus auszudehnen. Eine dreijährige Dienstzeit erklärten darum die Verfechter des Militarismus für genügend. Aber unter dem Druck der arbeitenden Massen und dank der Notwendigkeit, die allgemeine Wehrpflicht immer schärfer durchzuführen, mußten sie sich schließlich mit der zweijährigen Dienstzeit begnügen. Sie wurde in Deutschland im Jahre 1893, in Frankreich 1905, in Österreich im Jahre 1911 (trotz vieler Lücken) durchgeführt.
»Die Einführung der zweijährigen Dienstzeit stieß sogleich auf eine heftige Gegnerschaft, und zwar gerade dort, wo man zumeist die Wurzeln der staatserhaltenden nationalen Kraft zu suchen hat« –, schreibt der alte Haudegen, der Generalleutnant von Bogueslawski v. Bogueslawski: »Die zweijährige Dienstzeit und ihre Ergebnisse.« Berlin 1912, Militärische Zeitfragen, Heft 4.. Trotzdem zeigte sich, daß darunter die Ausbildung der Mannschaften gar nicht gelitten hat, denn sonst könnten die hohen Herren Militärs mit der Schlagfertigkeit der deutschen Armee nicht so prahlen, wie sie es tun.
Gegen die weitere Verkürzung der Dienstzeit wehren sie sich aber mit Händen und Füßen. Jeder, der sie fordert, wird als Hetzer, Trottel oder weltfremder Idealist dargestellt, denn zwei Jahre sind nach ihrer Meinung für die Ausbildung absolut notwendig. Auf die fachmännischen Beschwörungen der Verfechter des deutschen Militarismus ist aber verteufelt wenig zu geben. Erklärten sie doch seinerzeit die Einführung der zweijährigen Dienstzeit für den Anfang vom Ende der Welt, und selbst gegen die unschuldigsten Reformen, wie das Tragen des zusammengerollten Mantels am Tornister, wehrten sie sich jahrelang wie besessen.
Heutzutage ist es jedermann geradezu unverständlich, warum nicht schon früher die jetzt übliche Tragweise des Mantels, um den Tornister gelegt nämlich, eingeführt wurde. Wieviel Papier ist verschrieben worden, und welche Mühe hat es einsichtige Offiziere und Truppenärzte gekostet, ihre praktischen Vorschläge durchzusetzen. »Ich selbst erinnere mich noch ganz deutlich, daß ich wegen meiner, damals als fortschrittlich bezeichneten Ansichten, ganz gehörig gerüffelt wurde,« schreibt der Hauptmann M. Schneesieber in seiner barmherzigen Schrift über die Lage der Soldaten M. Schneesieber: »Zwei Jahre Dienstzeit.« Straßburg, Verlag Singer 1909, S. 32.. Ja, lange Kämpfe gab es, bis der Soldatenstiefel dem viel bequemeren Schnürschuh Platz machte, wobei es jedoch die Knasterbärte nicht übers Herz bringen konnten, daß die Schuhbekleidung der Soldaten der eines jeden Menschenkindes gleiche, was schließlich zu dem Unikum der an der Seite zu schließenden Schnürstiefel führte. Angesichts solcher Blüten des »fachmännischen« Geistes braucht man die absoluten Urteile der Militärs nicht tragisch zu nehmen.
Zu welcher Zeit man die Soldaten eines auf gewisser Bildungshöhe stehenden Volkes ausbilden kann, das zeigt die Schweiz. Die Infanteristen und Geniesoldaten werden dort in 65, die Artilleristen in 75, die Kavalleristen in 90 Tagen ausgebildet, nachdem die Schule dafür sorgte, ihren Leib durch Gymnastik geschmeidig zu machen, nachdem ihnen in der Jugend die staatlich unterstützten Schützenvereine das Schießen beigebracht haben. Nach dieser kurzen Ausbildung hat der Artillerist, Infanterist und Geniesoldat noch 7, der Kavallerist 8 Jahre hindurch Waffenübungen zu machen, und zwar je 11 Tage, worauf der Soldat in der Landwehr noch zu 11 Tagen Waffenübung verpflichtet ist. Also alles zusammengenommen lernt der Soldat in der Schweiz das Kriegshandwerk in der Infanterie in 173, in der Artillerie in 183 und in der Kavallerie in 198 Tagen. Und daß trotz dieser kurzen Ausbildung der Schweizer Soldat in nichts jenem Milizsoldaten aus den »Fliegenden Blättern« gleicht, der jahrzehntelang die Herzen des Bürgertums erfreut, das bewiesen die vorjährigen Schweizer Manöver, an denen der Kaiser teilnahm. Aus der Masse der Urteile der stramm militaristisch-patriotischen Presse, die den Leistungen der Schweizer Miliz ihre Anerkennung aussprechen mußte, greifen wir nur das Urteil des offiziellen Militärwochenblatts heraus, das in seiner letzten Septembernummer vorigen Jahres schrieb:
»Unbestreitbar bleibt, daß es das schweizerische Milizsystem fertig gebracht hat, daß, rein äußerlich betrachtet, schweizerische Miliz in ihren Manöverleistungen den Vergleich mit verschiedenen Kaderheeren, gemischt mit Reservisten, sehr wohl und oft nicht zu ihrem Nachteil, aushalten kann. Die Leistungen der Truppen waren ausgezeichnet. Die Infanterie zeigt sich im Angriff wie in der Verteidigung gut ausgebildet. Ihre äußere Haltung und die Besorgung des inneren Dienstes ließen wenig zu wünschen übrig. Die Artillerie ist eine gut disziplinierte Gruppe … Die Kavallerie, die in ihrer Einzelausbildung auf einer durchaus befriedigenden Stufe steht, trat in diesem Manöver als Gefechtstruppe aus verschiedenen Gründen sehr wenig in Erscheinung. Sapeure und Telegraphenpioniere zeigten sich als zuverlässige Truppen ihren Aufgaben gewachsen. Erwähnung verdient noch die kriegsmäßige Organisation und Führung des Trains, dessen Ordnung allgemeine Anerkennung fand.« So das Organ des deutschen Offizierkorps. Kann man eine schärfere Verurteilung der zweijährigen Dienstzeit mit dem Paradeschritt, dem Drill und allem Plunder, der im Krieg absolut unanwendbar ist, und nur beibehalten wird, um dem Paradesinn der besitzenden Klassen zu frönen, um den Geist im Soldaten zu ertöten, wünschen? Wie die besitzenden Klassen auf diesen öden Kram nicht verzichten wollen, so auch nicht auf die anderen Mittel der Trennung des Volksheeres vom Volke. Dies sind seine Abgeschlossenheit in der Kaserne, wodurch der Verkehr mit den früheren Arbeitskollegen erschwert wird. Ein Soldat, der im Lokal seiner Gewerkschaft, beim Feste seiner Arbeitsbrüder, bei der Lektüre seines Gewerkschaftsblattes, in dem er nach dem Austritt aus dem Militär die wichtigste Lebensstütze findet, ertappt wird, müßte schwer dafür büßen. Und weil kein bürgerliches Gericht ihn dafür verurteilen würde, muß eine besondere militärische Gerichtsbarkeit existieren, die den Offizieren das Recht gibt, hinter verschlossenen Türen über die Soldaten zu Gericht zu sitzen. Hinter diesen verschlossenen Türen wird er verurteilt für jedes Aufmucken gegen das Drillsystem, das ihn zur Maschine zu machen sucht. Wenn der Generalleutnant von Bogueslawski in der zitierten Schrift feststellt, daß sich nach der Einführung der zweijährigen Dienstzeit die Zahl der beim Militär Bestraften gemindert hat, so ist dies nur auf das Konto der Minderung der Drillzeit durch Kürzung der Dienstzeit zurückzuführen. Daß eine Unmasse von Sünden gegen das Volk immer noch im Heere bestehen, zeigen alle Schilderungen aus dem Soldatenleben, wie die publizierten militärischen Gerichtsverhandlungen.
Die Bourgeoisie muß aber an all den Folgen der langen Dienstzeit festhalten, weil sie fürchtet, ein Heer der allgemeinen Wehrpflicht, das nur kurze Zeit in den heiligen Kasernenräumen weilt, würde keine gefügige Waffe in ihren Händen bilden. Aber diese Tendenz zur Absonderung des Heeres vom Volke, die zur langen Dienstzeit führt, ist weit entfernt, das Ziel zu erreichen, das sich die Bourgeoisie steckt. Abgesehen davon, daß der Drill den Soldaten mit einem grenzenlosen Grimm gegen das System erfüllt – was in ernster Stunde für die herrschenden Klassen sehr gefährliche Erscheinungen zeitigen kann – so widerspricht er den Bedingungen, unter welchen der Soldat im Kriege seine Aufgaben zu lösen hat.
Das beweist einen Blick in den Charakter des heutigen Krieges.
3. Die Bedingungen des modernen Krieges.
Das Heer ist ein Kriegsinstrument. Dies ist keine Einsicht, die man erst auf dem Wege tiefer Studien zu erringen hätte, und trotzdem fehlt sie besonders den Vertretern des Militarismus sehr oft. Der lange Friede nach dem Deutsch-Französischen Kriege weckte auch im Offizierskorps ein Gefühl der Sicherheit. Die Spannungen in dem Verhältnis zu Frankreich und Rußland, wie sie in den Jahren 1878 und 1885 bestanden, verscheuchten es auf einen Augenblick; aber so recht glaubten auch die nicht an die Möglichkeit eines Krieges, die ihn immer wieder an die Wand malten. In einer solchen Geistesverfassung muß natürlich die innere Funktion des Heeres, seine Bedeutung als Unterdrückungsorgan, Oberhand gewinnen über seine Aufgabe im Kampfe nach außen hin. Seit dem französisch-russischen Bündnis, das den deutschen »Patrioten« einen mächtigen Schrecken einjagte, und noch mehr seit dem Beginn der imperialistischen Ära, verschwindet dies Gefühl der Ruhe und macht einem entgegengesetzten Gefühl Platz: das Offizierkorps rechnet mit der Möglichkeit kriegerischer Erschütterungen. Die Marokkokrisen von 1905, 1907, 1911, die Balkankrisen von 1909 und 1912 halten das Gefühl wach. Ja, bei den jüngeren, unternehmungslustigen Elementen des Offizierkorps beginnt sich schon das Gefühl durchzusetzen: je eher, desto besser!
In dieser Situation wenden die Militärs ihre Aufmerksamkeit in viel höherem Maße als sonst den Bedingungen des modernen Krieges und den Schlüssen zu, die aus ihnen auf die Ausbildung des Soldaten gezogen werden müssen.
Friedrich Engels hat im Anti-Dühring die taktische Änderung, mit der jetzt in erster Linie zu rechnen sein wird, folgendermaßen dargestellt:
»Im Deutsch-Französischen Krieg traten zuerst zwei Heere einander gegenüber, die beide gezogene Hinterlader führten, und zwar beide mit wesentlich denselben taktischen Formationen wie zur Zeit des alten glattläufigen Steinschloßgewehrs. Nur daß die Preußen in der Einführung der Kompagniekolonne den Versuch gemacht hatten, eine der neuen Bewaffnung angemessenere Kampfform zu finden. Als aber am 18. August bei St. Privat die preußische Garde mit der Kompagniekolonne Ernst zu machen versuchte, verloren die am meisten beteiligten 5 Regimenter in höchstens 2 Stunden über ein Drittel ihrer Stärke (176 Offiziere und 5114 Mann), und von da an war auch die Kompagniekolonne als Kampfform gerichtet, und minder als die Bataillonskolonne und die Linie; jeder Versuch wurde aufgegeben, fernerhin irgend welche geschlossene Truppe dem feindlichen Gewehrfeuer auszusetzen, und der Kampf wurde deutscherseits nur noch in jenen dichten Schützenschwärmen geführt, in die sich die Kolonne bisher unter dem einschlagenden Kugelhagel schon regelmäßig von selbst aufgelöst, die man aber von oben herab als ordnungswidrig bekämpft hatte; und ebenso wurde nun im Bereich des feindlichen Gewehrfeuers der Laufschritt die einzige Bewegungsart. Der Soldat war wieder einmal gescheiter gewesen als der Offizier; die einzige Gefechtsform, die bisher im Feuer des Hinterladers sich bewährt, hatte er instinktmäßig gefunden und setzte sie trotz des Sträubens der Führung erfolgreich durch« Engels »Anti-Dühring«, S. 176..
Der Russisch-Japanische Krieg zeigte, wie sehr dank der viel größeren Schußweite des Gewehrs wie der Geschütze die Entwicklung die Auflösung der Militäreinheiten in der Schlacht bewirkt. Der jüngst verstorbene Chef des deutschen Generalstabes, von Schlieffen, entwirft auf Grund eben dieser Erfahrungen folgendes Bild der Schlacht:
»Es ist nicht möglich, wie im 18. Jahrhundert in zwei Linien gegeneinander aufzumarschieren und bei nicht allzu großer Entfernung Salven auf den Feind abzugeben. Innerhalb einiger Minuten würden beide Armeen durch Schnellfeuer vom Erdboden vertilgt sein. Es ist ausgeschlossen, napoleonische Kolonnen, so tief wie breit, gegen die feindlichen Stellungen anstürmen zu lassen. Ein Schrapnellfeuer würde sie zerschmettern. Es ist auch nicht angebracht, wie noch vor kurzem beabsichtigt wurde, durch das Feuer direkter Schützenschwärme den Feind überwältigen zu wollen. Die Schützenschwärme würden baldigst niedergemacht werden. Nur unter Benutzung von Deckungen, von Bäumen und Häusern, von Mauern und Gräben, von Erhöhungen und Vertiefungen vermag der Infanterist an den Feind heranzukommen, bald liegend, bald knieend, bald stehend muß er suchen, eine neue Deckung zu gewinnen … Um eine genügende Deckung zu gewinnen, muß der Infanterist Ellenbogenfreiheit haben – etwa ein Mann auf das Meter … Eine unmittelbare Folge der verbesserten Schußwaffe ist also eine größere Ausdehnung der Gefechtsfront« v. Schlieffen: »Der Krieg in der Gegenwart«. Deutsche Revue, Januar 1909..
Den daraus zu ziehenden Schluß formulierte General von Bernhardi in folgenden, dem Militarismus unheilverkündenden Worten:
»Vergegenwärtigen wir uns zuerst die Anforderungen des modernen Gefechts, der beiden Hauptwaffen, und zwar vor allem in der Kampfart, die die Entscheidung gibt, im Angriff, ohne den ein Sieg kaum denkbar ist: in weit aufgelösten Linien geht die Infanterie vor. Der Einfluß der Führer, so weit er durch Befehle vermittelt wird, ist gering. Die Ausdehnung ist viel zu groß, der Gefechtslärm zu stark, die zitternde Erregung aller Nerven zu gewaltig, als daß die Stimme sich Geltung verschaffen könnte. Mühsam von Mann zu Mann werden die nötigsten Weisungen in den langen Linien weiter gerufen. Auf den näheren und entscheidenden Gefechtsentfernungen wirkt nur noch das Beispiel der Vorgesetzten. Aber die feindlichen Geschosse halten eine fürchterliche Auslese, denen vor allem die Führer zum Opfer fallen, die sich am meisten bloßstellen müssen. Da versagt jede Einwirkung auf die Mannschaften, die Verbände vermischen sich, jeder steht auf sich allein; der Mann als solcher tritt in die Erscheinung, nicht mehr der Mann, der zum Siege geführt wird, sondern der Mann, der selber siegen will.
Fast für die gesamte Gefechtstätigkeit ist er auf sich selbst angewiesen. Er muß selbst die Entfernungen schätzen, er muß selbst das Gelände beurteilen und benutzen, das Ziel wählen, das Visier stellen; er muß wissen, wohin er vorgehen soll, welchen Punkt der feindlichen Stellung er zu erreichen hat; mit unerschütterlichem eigenen Entschluß muß er diesem zustreben. In der feindlichen Stellung angekommen, muß er wissen, was er zu tun hat. Stockt der Angriff, ist es nicht möglich, gegen das feindliche Feuer vorwärts zu kommen, so muß er sich selbst Deckung schaffen. Kommt es zum Rückzuge, so muß er sich fechtend auf das Zäheste an das Gelände anklammern. So gut wie niemals kann er darauf rechnen, von Vorgesetzten Anweisung zu erhalten. Was aber für den gemeinen Mann gilt, das gilt um so mehr für alle niederen Führer. Auf Befehle können sie mitten im Kampfe nicht rechnen. Unmöglich ist es meistens, Weisungen von rückwärts her an die vordere Gefechtslinie zu bringen. Auf eine zuverlässige Verbindung durch Zeichen von rückwärts nach vorwärts zu rechnen, ist eine Einbildung, der sich kein ernster Soldat hingeben sollte. Sobald die Truppe einmal in den Bereich des wirksamen feindlichen Feuers eingetreten ist, hört alle zusammenhängende und zusammenfassende Befehlserteilung auf. Aller Erfolg beruht ausschließlich auf der zielbewußten Tätigkeit der einzelnen Gruppen und Leute, auf dem Beispiele der Führer oder derer, die sich zum Führen berufen fühlen. Das ist das Bild des modernen Infanteriegefechts; Selbständigkeit ist alles. In den letzten Stadien des Infanterie-Nahkampfes ist das in den letzten Kriegen zwar auch schon so gewesen. In Zukunft wird aber dieser Zustand der Selbständigkeit viel früher eintreten als bisher und von vornherein in viel ausgesprochenerer Weise.
Ähnliches wird sich auch im Artilleriekampf zeigen. Solange die Batterien versteckt stehen, indirekt schießen, und nur dem Streufeuer des Gegners ausgesetzt sind, wird sich allerdings eine geordnete Befehlführung auch in größeren Verbänden aufrecht erhalten lassen. Wenn sie aber offen auffahren müssen und unter beobachtetes Feuer genommen werden können, wird nicht nur eine einheitliche Verwendung größerer Verbände, sondern auch die Befehlserteilung in den Batterien selbst sehr bald unterbrochen und unter Umständen unmöglich werden. Züge und einzelne Geschütze werden selbständig feuern müssen, wie das schon 1870/71 sehr oft der Fall war, denn die Stimme des Batteriechefs wird nicht gehört werden, ein Weitersagen der Befehle wird in dem Lärm des Kampfes ebenfalls unmöglich und bald werden zahlreiche Vorgesetzte gefallen sein. Es ist meiner Überzeugung nach eine Selbsttäuschung, wenn man unter solchen Umständen an die Möglichkeit eines schulmäßig geleiteten Feuers glaubt. Die Selbständigkeit der einzelnen Unterführer und Leute, nicht die gemeinsame Leitung wird in letzter Linie den Ausschlag geben« Bernhardi: »Vom heutigen Kriege«, Bd. 1, S. 344/46..
Die Untersuchung der Bedingungen des modernen Krieges fordert also von den Militärs die möglichste Entwicklung der Selbständigkeit des Soldaten. Soweit sie überhaupt zu erreichen ist, kann sie nur bei Weglassung aller unnützen Paraden und Drillplackereien, bei völliger Konzentration auf kriegsmäßige Ausbildung erlangt werden. In dieser militärischen Notwendigkeit liegt die stärkste Tendenz zur Ausnutzung der Dienstzeit zu rein militärischer Ausbildung der Soldaten, die die Verkürzung der Dienstzeit nicht nur ermöglicht, sondern direkt erfordert. Aber der Verzicht auf den Drill fällt den Offizieren nicht leicht. Darum suchen sie mit allerlei psychologischen Mätzchen zu beweisen, daß eben angesichts der schrecklichen Bedingungen der modernen Schlacht die kriegsmäßige Ausbildung des Soldaten mit dem Drill vereinigt werden muß. Generalmajor von Zeppelins Arbeit: »Die Bedeutung des moralischen Elements in Heer und Flotte« Berlin 1906. wie er im Deutsch-Französischen Kriege in den gefährlichsten Situationen, als angesichts der näher rückenden Gefahr eine dumpfe, unsichere Stimmung die Soldaten zu ergreifen begann, ihre Aufmerksamkeit durch schlechte Witze und Exerzieren abzulenken suchte, und der Major Moraht, der an Stelle des Obersten Gaedke dem linksliberalen Bourgeois die Notwendigkeiten des Militarismus im »Berliner Tageblatt« plausibel macht, schrieb aus Anlaß der schweizerischen Manöver:
»Unbestreitbar ist es, daß Drill und Erziehung in jeder für den Krieg vorhandenen Armee in Friedenszeiten deshalb zur Anwendung kommen müssen, um die moralische Kraft derart zu festigen, daß die Soldaten den Eindrücken des Schlachtfeldes nicht erliegen« »Berliner Tageblatt« vom 9. September 1912..
Darauf antwortet mit Recht Bleibtreu:
»Was man hierbei auskünsteln möchte, geht im Wirrwarr des Ernstkampfes sofort verloren, wo der Kämpfer – gerade so wie der Lebenskämpfer den Ballast der Schule – erst allen ihm eingepaukten Unsinn verlernen muß, ehe er sich praktisch zurecht findet … Gerade für das aufgelöste Gefecht müßte der ›Mann‹ jahrelang gedrillt werden, um nicht der Hand der Führer zu entfallen? Frommer Wunsch! Bei Nervenzerrüttung und Todesgefahr versagt jede äußere Disziplin, kein Offizier reißt in Krisen die Mannschaft vom Boden auf, wenn sie nicht innerem Impuls gehorcht, nun vollends, wenn die meisten Offiziere gefallen« Karl Bleibtreu: »Das Heer.« Frankfurt a. M. 1911, S. 168/69..
Eben die Sorge um diese selbständigen Impulse ist es, die den Militärs keine Ruhe läßt. In ihr äußert sich dumpf das Gefühl, daß die politischen Bedingungen eines imperialistischen Krieges ganz anders sind als die eines Kampfes, von dessen Notwendigkeit der Soldat überzeugt ist. Und darum wird der Militarismus trotz der offenkundigen Aufforderungen des Krieges vom Drill nicht lassen. Aber eine solche Notwendigkeit, die in den grundsätzlichen Aufgaben des Heeres begründet ist, wird sich in dieser oder jener Form demnach den Weg bahnen.
So sehen wir den modernen Kapitalismus von einem Gegensatz beherrscht, wie er sich schärfer nicht denken läßt. Die Aufgaben des Heeres als Knechtungs- und Kampforgan stehen sich schroff gegenüber. Die eine fordert den weiteren demokratischen Ausbau des Volksheeres, die andere das krampfhafte Festhalten an den Überbleibseln des Söldnerheeres. Sich allein überlassen, würde der Kampf der beiden Tendenzen unausgefochten bleiben, würde der Gegensatz verkleistert werden. Aber der Militarismus ist kein Gebilde für sich. In den inneren Kampf seiner Tendenzen greift von der einen Seite das Gespenst des Krieges, von der anderen Seite der Klassenkampf des Proletariats ein. Indem das Proletariat die Losung der Miliz mit der vollen Energie in den Mittelpunkt der Erörterung rückt, unterstützt es die auf die Demokratisierung der Armee hinauslaufenden Tendenzen im Militarismus.
Die proletarische Milizforderung ist also keine auf dem Wege der Spekulation errungene, oder aus der Rumpelkammer der kleinbürgerlichen Illusionen mitgenommene Idee, sondern die sich aus der Entwicklung des Militarismus ergebende Formel seiner weiteren Entwicklung. Sie in ihrer Bedeutung zu zeigen, sie von dem illusionären Beiwerk ihrer kleinbürgerlichen Periode zu säubern, wird die Aufgabe der letzten Artikelserie sein.
2. Miliz, Demokratie und Klassenkampf.
Die Behandlung der Milizforderung als der Zusammenfassung der Tendenzen zur Demokratisierung der Heeresorganisation, die sich aus der allgemeinen wie aus der Militärentwicklung ergeben, ist von großer Bedeutung zunächst für die Erfassung der Miliz als einer Heeresform, die sich organisch aus der heutigen entwickelt. Von diesem Standpunkte aus läßt sich die allgemeine Milizforderung in der Agitation verwirklichen als Forderung militärischer Jugenderziehung, kurzer Dienstzeit, Abschaffung der Militärgerichtsbarkeit, mit einem Worte: die Forderung der Miliz wird durch diese ihre Behandlung vom Himmel der Abstraktion auf den Boden der praktischen Agitation gestellt. Von demselben historischen Standpunkt gesehen, enthüllt die Miliz uns ihr rätselhaftes politisches Antlitz.
Die Miliz ist die demokratische Form der Heeresorganisation, wie das Parlament des allgemeinen Wahlrechts mit verantwortlicher Regierung die demokratische Form der Regierung eines Landes ist. Aber nur kleinbürgerliche Demokraten aus der alten Zeit, wo ihnen die schmutzige Praxis der kapitalistischen Politik den Selbstbetrug demokratischer Illusionen nicht in den bewußten Betrug anderer verwandelt hat, glaubten, daß im Kapitalismus volle Demokratie möglich ist, daß die Demokratie die Klassenherrschaft aufhebt. Und wie sie von der Demokratie diese Wunderwirkungen erwarteten, so auch von ihrer Teileinrichtung, von der demokratischen Wehrorganisation: der Miliz. Die Miliz sollte dem Volke mechanisch die Entscheidung über die innere und äußere Politik des Landes geben. Die Regierung würde dank der Miliz zu einem wirklichen Ausführungsorgan der Mehrheit des Volkes. Sie könnte nichts gegen das Volk im Innern vornehmen, weil sie in der Miliz auf einen unüberwindbaren Widerstand gestoßen sein würde. Sie müßte auf jede Eroberungspolitik verzichten, denn die Miliz ließe sich nicht zur Unterdrückung anderer Völker gebrauchen. Sie würde sich desto weniger mißbrauchen lassen, da doch in einem demokratischen Staate die Entscheidung über Krieg und Frieden beim gesamten Volke liegen würde, das kleinbürgerliche Volk sich aber für ein Lämmlein hielt, das niemandem das Wasser trübt. Diese kleinbürgerliche Auffassung der Miliz war in den Anfängen der Arbeiterbewegung auch von ihr akzeptiert, denn, obwohl äußerlich sich von der kleinbürgerlichen Demokratie schon trennend, war die damalige sozialdemokratische Arbeiterschaft noch stark durch die kleinbürgerliche Ideologie beeinflußt. Wie frei von ihr in der Milizfrage damals auch schon ein Engels war, die Masse der sozialdemokratischen Arbeiterschaft schöpfte ihre Auffassung über die Milizfrage nicht aus den aphoristisch durch Engels hingeworfenen Andeutungen, aus denen erst eine marxistische Auffassung der Milizfrage zu entwickeln war, sondern aus den bürgerlichen Milizschriften. Und wie wenig sie sich des Gegensatzes zu ihnen bewußt war, beweist das Referat Liebknechts, das er auf dem fünften Vereinstag der deutschen Arbeitervereine zu Nürnberg im Jahre 1868 über Wehrfragen hielt. Das Referat begann mit der Feststellung der Gleichartigkeit der Milizforderung bei der bürgerlichen und Arbeiterdemokratie:
»Sie werden nicht von mir verlangen« – führte Liebknecht aus – »daß ich die vorliegende Frage nach allen Seiten hin theoretisch erschöpfend behandle. Es ist dies in neuerer Zeit von der demokratischen Tagespresse in Broschüren und in Volksvertretungen so gründlich geschehen, daß man mit Recht sagen kann: Die Wehrfrage ist theoretisch entschieden und bedarf nur noch der praktischen Lösung« »Die ersten deutschen Sozialistenkongresse«. Abgedruckt in der Sammlung: »Aus der Waffenkammer des Sozialismus.« 6. Halbjahrsband, S. 101–105. Frankfurt 1906..
Gemäß dieser Einleitung bewegt sich das ganze Referat Liebknechts in rein demokratischen Gedankengängen, es fehlt in ihm auch der leiseste Hinweis auf das Verhältnis des Kapitalismus zur Milizfrage. Als Gegner der Miliz werden nur der Absolutismus und die Junker genannt.
Aber die soziale Entwicklung schritt über diese kleinbürgerlichen Illusionen hinweg. Die Bourgeoisie wurde zu einem rabiaten Verfechter des Militarismus als der Waffe gegen das Volk, und die Praxis der demokratisch entwickeltsten Staaten zeigte, daß das Kapital der demokratischen Entwicklung Schranken zu setzen und die bestehenden demokratischen Institutionen in seine Herrschaftsmittel zu verwandeln weiß. Die Politik der kapitalistischen Klassen in demokratischen Staaten beweist, daß der Kapitalismus jeden konsequenten Ausbau der Demokratie, der den Massen eine ruhige Entscheidung über ihre Geschicke überlassen würde, nicht vertragen kann. Wie er in Deutschland das allgemeine Wahlrecht bedrohte für den Fall, daß die Arbeitermasse zum ausschlaggebenden Faktor im Reichstag werden könnte, wie er in England und Frankreich in Oberhaus und Senat ein Gegengewicht gegen das Parlament schafft und der konsequenten Demokratisierung des Parlamentswahlrechts entgegentritt, so wird der Kapitalismus bis aufs äußerste den Tendenzen auf volle Demokratisierung des Heeres, auf die Verwirklichung der »unverfälschten« Demokratie sich widersetzen. Die Miliz als Wehrorganisation, die auch formell dem Volke die Entscheidung über Krieg und Frieden gibt, ist im Rahmen des Kapitalismus ebensowenig zu verwirklichen, wie die volle Demokratie überhaupt. Und es ist eben der Glaube an die Vereinbarkeit der Demokratie mit dem Kapitalismus, der Bestandteil einer kleinbürgerlich-demokratischen Ideologie, die unserem französischen Genossen Jean Jaurès seine Milizauffassung diktiert hat. Wenn er in seinem äußerst interessanten Werke »L'armee nouvelle« Paris 1911. Jules Rouff. Eine deutsche Übersetzung des Buches soll bei Diederich in Jena erscheinen. die Milizidee mit der völligen Abkehr Frankreichs von den Bahnen der imperialistischen Politik verknüpft, an die Möglichkeit einer nicht nur prinzipiell friedlichen, sondern reinen Verteidigungspolitik Frankreichs glaubt, so hat diese Auffassung der Miliz nichts mit der kapitalistischen Wirklichkeit zu tun. Sie ist eine Utopie, denn der französische Kapitalismus wird ebenso an der imperialistischen Politik festhalten, wie jeder andere, bis das Proletariat ihm das Ruder aus den Händen nimmt. Wenn wir aber mit Engels die unverfälschte Miliz auf die Zeit des Zukunftsstaates verschieben, für den sie auch nur als Übergangsmaßregel in Betracht kommt, da eine stabilisierte sozialistische Gesellschaft, die nur international möglich ist, keine Wehrorganisation braucht, so bedeutet das keinesfalls einen Verteidigungsnihilismus, keinen Verzicht auf die Milizforderung, als eine heute schon zu verwirklichende Forderung. Es steht um sie ebenso, wie um andere unserer im Rahmen des Kapitalismus verwirklichbaren Forderungen. »Es sind lauter Forderungen, die, soweit sie nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben, bereits realisierbar sind« – sagt Marx Marx: »Zur Kritik des sozialdemokratischen Parteiprogramms.« Abgedruckt in der Sammlung: »Aus der Waffenkammer des Sozialismus.« 10. Halbjahrsband, Frankfurt 1908.. Die Bourgeoisie wird niemals die konsequente Durchführung der Miliz zulassen, solange sie die Macht in den Händen hat, aber sie wird nicht umhin können, unter dem Druck der Massen und der militärischen Notwendigkeiten sie stückweise zu verwirklichen und so den entscheidenden Einfluß der Massen zu steigern. »Soweit sie nicht in phantastischer Vorstellung übertrieben«, ist die Milizforderung verwirklichbar.
Ihre Folgen werden aber ganz andere sein, als sich die demokratischen Illusionisten sie vorgestellt haben. Sie hofften, daß die Miliz die ruhige Abkehr der Staaten von der Reaktion im Innern und der Eroberungspolitik nach außen hin herbeiführen wird. Diese Hoffnung ist trügerisch. Die Bourgeoisie findet immer Mittel, eine demokratische Institution zu mißbrauchen. Es genügt ihr, im Innern die Milizen aus wenig entwickelten, also reaktionären Gegenden zu verwenden, – worauf schon im Jahre 1898 Genosse Schippel in seiner interessanten Auseinandersetzung mit Kautsky hinwies – was die Praxis der Schweizer Bourgeoisie trefflich bestätigt. Sie wird bei der Demokratisierung des Heeres gleichzeitig sich Polizeisöldnertruppen schaffen, was ihr von bürgerlichen Milizanhängern schon zugestanden wird, die, durch militärische Notwendigkeiten zur Verfechtung der Milizforderung getrieben, gleichzeitig nach Garantien gegen das Volk suchen. Was die äußere Politik betrifft, so wird die Bourgeoisie selbst bei der weiteren Demokratisierung der Heeresorganisation am Imperialismus festhalten. Erstens hofft sie dabei auf die Einwirkung der nationalistischen Idee, dieser letzten Lebenslüge des Kapitals. Zweitens: wie sehr sie auch den Moment des Kriegsausbruches fürchtet, so hofft sie durch das Herrschen des Kriegsterrorismus über ihn hinwegzukommen, und im Kriege rechnet sie auf den Selbsterhaltungstrieb der Soldaten, der jeden von ihnen angesichts der Todesgefahr zur höchsten Anstrengung aller Kräfte führen wird. Über die Haltung des Volkes im Lande selbst, über die Haltung der Soldaten in den langen Stockungen, die ein Krieg z. B. gegen die französischen Festungsgürtel verursachen muß, über die Haltung des ganzen Volkes nach dem Weißbluten im Kriege, wie über die Möglichkeit der Massenaktionen vor dem Kriege setzt sie sich hinweg, und sie würde sich selbst bei dem weiteren Ausbau des Heeres in der Richtung der Demokratie darüber hinwegsetzen, weil sie es muß. Keine Klasse verzichtet von selbst auf ihre Politik. Welche Bedeutung besitzt angesichts dessen die Milizforderung? Dieselbe, wie alle unsere demokratischen Forderungen. Sie bewirken keine Milderung der Klassengegensätze, sie schaffen keinen einzigen Gegensatz der kapitalistischen Gesellschaft aus der Welt; aber sie steigern die Macht des Volkes. Je mehr die Armee demokratisiert ist, je mehr sie sich mit den wehrhaften Männern des Volkes deckt, desto mehr nötigt sie das Kapital, solange es sich nicht um seine Lebensinteressen handelt, dem Volke Zugeständnisse zu machen, und wo es aufs Biegen oder Brechen ankommt, dort hebt sie die Fähigkeit des Volkes, dem Klassengegner die Spitze zu bieten. Je mehr die Demokratisierung des Volkes fortgeschritten ist, desto mehr werden die Großmächte auf das Aufbauschen jedes kleinen Gegensatzes verzichten; wo sie aber hart auf hart aneinander geraten, wird bei allen den günstigen Momenten, die die Bourgeoisie in ihrem Selbsttäuschungsdrang übersehen muß, die jedoch der Arbeiterklasse die Möglichkeit des Vorstoßes gewähren, die Macht der Arbeiterklasse, des Volkes in Waffen, zum Kampfe für ihre Interessen wachsen. Nicht eine ruhige Entwicklung, ein Hineinwachsen in alle Wohltaten der Demokratie, sondern die Verschärfung der Klassenkämpfe bis zum heißesten Kampf um die Macht wird die Folge der Demokratisierung des Heeres sein.
3. Die Miliz und der Kampf um die Macht.
Die Milizforderung hat die Sozialdemokratie von der bürgerlichen Demokratie geerbt, und trotzdem hat Karl Kautsky recht, wenn er einmal behauptet, daß bei keiner Forderung des Minimalprogramms der Sozialdemokratie so der ganze Gegensatz der Arbeiterklasse zum Kapital zutage tritt, als im Kampfe für die Miliz. In dieser Tatsache drückt sich das Gefühl der besitzenden Klassen aus, daß ihre Herrschaft mit der fortschreitenden Entwicklung immer weniger auf ökonomischer Notwendigkeit, immer mehr auf reiner Gewalt beruht. Aber diese Gewalt, auf die sich die Bourgeoisie gegen die Arbeiterklasse stützen will, ruht in den Händen der Arbeiterklasse, die als Heer gegen sich selbst kämpfen soll. Alle Zauberkünste, die das Kapital aus den Traditionen des Söldnerheeres schöpft und dem Volksheere aufzupfropfen sucht, werden nicht genügen, um die Arbeiterklasse dauernd zu ihrem eigenen Gefängnisaufseher zu machen. Wie die Tatsache, daß die gesellschaftliche Produktion immer mehr von der Person des Kapitalisten unabhängig wird, der als Aktienbesitzer zum bloßen Verzehrer des Arbeitsproduktes wird, während die Arbeiterklasse immer mehr zum einzig entscheidenden Faktor der Produktion wird, immer mehr den Klassengegensatz zuspitzt, so bringt die Tatsache, daß die Masse der Arbeiterklasse immer mehr zum entscheidenden Faktor im Heere wird, das Moment immer näher, wo das Heer als Mittel zur Beherrschung der Arbeiterklasse versagen muß. Die von der Bourgeoisie organisierte Gewalt wird zur Gewalt gegen die Bourgeoisie. Das wird kommen, ob die Bourgeoisie sich dem demokratischen Ausbau des Heeres widersetzt oder nicht. Denn schließlich läßt sich in zweijähriger Dienstzeit bei allem Drill das Volksbewußtsein der Masse im bunten Tuch nicht ausrotten. Die Demokratisierung der Armee ist nur ein Mittel zur Beschleunigung dieser Entwicklung, die auch ohne sie kommen muß. Da aber der Arbeiterklasse am möglichst schnellen Abwerfen des Joches gelegen sein muß, gewinnt für sie die Forderung der Miliz und der Kampf um sie mit jedem Jahre, mit dem die Herrschaft des Kapitals unerträglicher, weil historisch immer weniger notwendig wird, eine größere Bedeutung.
Jahrzehntelang war diese Bedeutung der Miliz als Kampfobjekt des Proletariats in unserem Bewußtsein zurückgedrängt. Keine einzige Forderung unseres Programms wurde so wenig in der sozialdemokratischen Literatur begründet, in der sozialdemokratischen Agitation berücksichtigt. Das hat seine sehr wichtigen historischen Gründe. Nach dem Jahre 1871 schien, trotz des fortdauernden Rüstens, der europäische Friede gesichert. Nur an den Grenzmarken der kapitalistischen Zivilisation donnerten die Kanonen. Das Militärwesen entwickelte sich langsam ohne Sprünge, was die Bedeutung der Heeresorganisationsfragen zurückdrängte. Und wie die Entwicklung des Militarismus, so schien auch die der Arbeiterbewegung zu sein. Allmähliches Kräftesammeln und Vordringen war ihr Charakter; weit und breit kam der Gedanke zum Durchbruch, ihr Sieg sei nur noch als allmählicher Aufstieg denkbar. Die Fragen des Kampfes um die Macht, von denen eben die Milizfrage einen Teil bildet, mußten an Bedeutung verlieren. Aber die kapitalistische Entwicklung zerschlug diese Illusionen. Staat gegen Staat, Klasse gegen Klasse – so heißt jetzt die Parole. Je mächtiger der Drang des Kapitals nach dem Profit, desto schärfer auf dem Weltmarkt, desto schärfer der Kampf um neue Ausbeutungsgebiete. Der Imperialismus hat die Gefahr eines europäischen Krieges akut gemacht. Er hat das Tempo der Rüstungen so beschleunigt, daß die Frage nach dem Kampfe gegen sie zur wichtigsten Frage der internationalen Arbeiterbewegung wurde. Gleichzeitig steigerte sich der Kampf des Kapitals und der der Arbeiterklasse immer mehr: den mächtigen Arbeiterorganisationen stehen mächtige kapitalistische Organisationen gegenüber. Der kapitalistische Staat wirft auf die Schale der kapitalistischen ökonomischen Machtmittel die Gewalt des Heeres. Sollen wir uns als Kanonenfutter gebrauchen lassen wegen afrikanischer und asiatischer Kolonien? Sollen wir uns als Büttel gegen unsere Brüder gebrauchen lassen? Diese Fragen tauchen immer hartnäckiger, immer stärker auf, und die Blicke der Arbeiterklasse wenden sich den Heeresfragen zu. Die Haltung der besitzenden Klassen zeigt ihnen, daß diese, solange sie am Ruder bleiben, auf das Rüsten nicht verzichten werden. Es gilt also, auf dem Boden der Rüstungen die Macht der Arbeiterklasse zu stärken. Ist das möglich? Das Studium der Heeresgeschichte zeigt die starke, dem Militarismus innewohnende Tendenz zur Demokratisierung, was nichts anderes ist als die Tendenz zur Stärkung der Macht des Volkes im Heere. Diese Tendenz mit allen Kräften unterstützen, heißt den Kampf um die Miliz führen. Die Demokratisierung des Heeres bedeutet nicht die Eindämmung der Rüstungen, nicht die Abschaffung der Möglichkeit der Niederhaltung des Volkes vermittels der Gewalt; aber sie wird das Nahen des Momentes beschleunigen, wo die Bajonette, auf denen die Bourgeoisie sitzt, sich zu rühren beginnen. Indem die Milizforderung so den Weg zur Macht zeigt, bildet sie unsere trefflichste Losung im Kampfe gegen den Imperialismus, das Losungswort des Kampfes unserer Tage. Das Kapital sucht den Kampf um neue Ausbeutungsgebiete in den Kampf um nationale Interessen umzulügen. Immer, wenn es durch seine imperialistischen Interessen in Gegensatz zu anderen kapitalistischen Mächten geraten ist, appelliert es an das Volk: verteidige deinen heimatlichen Boden! Die Forderung der Miliz wirft diesen Schwindel über den Haufen. Wir haben keinen heimatlichen Boden, weil wir besitzlose Proletarier sind, antworten die Verfechter der Milizidee. Aber gut, wir wollen der Bourgeoisie glauben, daß eine fremde Bourgeoisie uns noch ärger ausbeuten würde. Wir wollen also alle Wehrkräfte des Volkes mobilisieren: deshalb her mit der Miliz, die allein imstande ist, das zu bewirken! Aber die Bourgeoisie kämpft aus Leibeskräften gegen die Milizforderung. Und dadurch erlaubt sie uns, dem Volke an offenkundigen Tatsachen zu zeigen, daß es sich für sie nicht um die Verteidigung des heimatlichen Bodens, sondern um den Raub fremden Bodens handelt. Es gibt keinen besseren Probierstein für den Imperialismus als die Milizforderung.
Der Kampf für die Miliz bedeutet für das Proletariat den Übergang von der Verteidigung zum Angriff. Den Protesten gegen die Rüstungen wird der Angriff gegen die Rüstungspolitik folgen. Indem die Sozialdemokratie die Forderung der Miliz auf ihr Banner schreibt, gibt sie dem Proletariat ein greifbares, den Massen verständliches, nächstes Ziel. Miliz bedeutet nicht nur Protest gegen Rüstungen, sondern Kampf für einjährige Dienstzeit, Kampf gegen die militärische Justiz, gegen den menschentötenden Drill, gegen das Elend des Soldatenlebens. Wie sollten da nicht die Energien der Volksmassen im Kampfe für solche Ziele wachsen! Und da die Milizforderung gänzlich auf dem Boden der wirklichen Entwicklung ausgefochten wird, wie sie sich in den Rüstungen äußert, erlaubt sie, in alle Dunkelkammern und Schlupfwinkel des Kapitalismus hineinzuleuchten, die Fenster seiner Kasernen weit aufzureißen und dem Proletariat den Weg zum Kampfe um die Macht zu zeigen. Die Miliz wird zur Lösung der uns bevorstehenden Kämpfe. Diese Kämpfe aber werden nicht im Geiste der fruchtlosen, sentimentalen Utopistereien der nervenschwachen friedliebenden Teile der Bourgeoisie ausgefochten, sondern im Geiste des proletarischen Kampfes um den Sozialismus, im Sinne der kampfesmutigen Klasse der Zukunft, für die der kapitalistische Friede kein geringerer Greuel ist als der kapitalistische Krieg.