Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Wofür sollen wir bluten?

Die Entscheidung naht.

In diesen Stunden oder Tagen wird die Entscheidung darüber fallen, ob Europa sich demnächst in ein Schlachtfeld verwandelt. Rußland hat schon gegen Österreich mobilisiert. Jeden Augenblick erwartet man, daß auch die Mobilisation an den Grenzen Deutschlands beginnt. In Berlin beraten die höchsten Stellen den Ernst der Lage. Heute tritt der Bundesrat zusammen. Wie sehr man mit der Wahrscheinlichkeit der deutschen Mobilisation rechnet, zeigt die Tatsache, daß der halboffiziöse »Lokal-Anzeiger«, der in engster Fühlung mit der Regierung steht, Extrablätter mit der Ankündigung der Mobilisation bereit hält. Gestern mittag gelangte ein Teil von ihnen auf die Straßen Berlins, worauf der »Lokal-Anzeiger« zugeben mußte, daß er die Nachricht von der Mobilisation gedruckt auf Vorrat hält. Die Mobilisation ist zwar noch kein Krieg, aber ein bedeutsamer Schritt zum Weltkriege. Dann stehen die Heere an den Grenzen und dann kann nur ein Wunder – wie die »Vossische Zeitung« sagt – den Frieden retten. Denn dann würde Deutschland losschlagen, um den Vorsprung auszunützen, den es durch die Schnelligkeit seiner Mobilmachung vor Rußland voraus hat. Und was sonst noch höchst beachtenswert ist, die Stimme des Diplomaten wird durch die des Militärs verdrängt. Mars regiert die Stunde!

Arbeiter! In der ernstesten Stunde eures Lebens sprechen wir zu euch. Vielleicht nicht lange mehr werden wir frei und frank zu euch sprechen können. Denn der Mobilisierung wird die Knebelung der Presse folgen, wie es in Österreich schon eingetreten ist. In dieser Stunde vor der Entscheidung wollen wir mit euch zusammen die Frage beantworten: Wie war es möglich, daß alles so kam, warum sollen wir mündigen Menschen die Entscheidung darüber, ob wir unser Leben opfern wollen und wofür wir es opfern sollen, nicht selbst fällen?

Wer entscheidet über unser Leben?

»Die Entscheidung über Leben und Wohlfahrt von 300 Millionen Menschen wird im geheimnisvollen Dunkel von einer kleinen Zunft getroffen, von deren Tätigkeit nur immer Bruchstücke bekannt werden, und die Elemente zur Beurteilung dessen, was voraussichtlich kommen wird, sind nur Wenigen zugänglich«, so schildert ein bürgerliches Blatt, die »Frankfurter Zeitung«, die Lage. Nicht nur die Arbeiter Rußlands, des Landes des Absolutismus, die Arbeiterklasse des zivilisierten Deutschlands, die des republikanischen Frankreichs soll dulden, daß eine Handvoll bornierter Diplomaten und Militärs, denen sie mit dem tiefsten Mißtrauen gegenübersteht, über die Geschicke der Volksmassen entscheiden. Schon diese einzige Tatsache genügt, um zu beweisen, daß es nicht unsere Lebensinteressen sind, die die Gefahr des Weltkrieges heraufbeschworen haben. Würden wirklich die Interessen der breiten Volksmassen den Krieg erforderlich machen, dann würden die Regierungen uns nicht zumuten, daß wir uns auf einen Befehl von oben wie eine Herde Schafe in den Krieg treiben lassen.

Erfordern die »Lebensinteressen der Nation« den Krieg?

Es sind die Interessen der Ausbeuter, die diese größte Kriegsgefahr herbeigeführt haben. Das sieht jeder, der sehen kann und will. Die gesamte bürgerliche Presse sucht aber die Sache darzustellen, als handle es sich um die Lebensinteressen der Nation. Sie hat dabei den Schein für sich. Als einer der Gegner, mit dem wir zu ringen hätten, steht der russische Zarismus da. Der Haß, den wir Vorkämpfer der Freiheit gegen diesen blutbefleckten Würger der russischen Arbeiterklasse fühlen, diesen heiligen Haß nützen jetzt die journalistischen Hausknechte der Bourgeoisie aus. Weil es gegen den Zarismus geht, darum fordert angeblich das Lebensinteresse der Nation den Krieg. Weiter. Als es bei der Marokkokrise sich um die Interessen von ein paar Kapitalisten mit den Mannesmännern an der Spitze, handelte, war es jedem Arbeiter klar: wegen kapitalistischer Interessen sollte er sein und der französischen Brüder Blut vergießen. Wo sind diese kapitalistischen Interessen jetzt? höhnen die »Patrioten«. Es handelt sich um keinen Kolonialraub, um keine Konzessionen für die Banken, es handelt sich um die Erhaltung Österreichs, lassen wir den Bundesgenossen ohne Hilfe, dann wird er von Rußland zerschmettert; dann würde der Zarismus eine solche Gewalt in Europa gewinnen, daß wir in unserem eigenen Hause vor ihm nicht mehr sicher wären. Das alles ist nicht wahr, das sind Redensarten, die den rein kapitalistischen imperialistischen Kern des Konflikts verhüllen.

Warum bedroht Rußland Österreich?

Die russische imperialistische Presse sagt: aus Gerechtigkeitsgefühl, aus Solidarität mit der slawischen Sache. Das ist unwahr: die ganze Geschichte Serbiens ist die Geschichte des Verrats Rußlands an Serbien. »Die serbische Nation wurde in den letzten zweihundert Jahren zwischen dem russischen Hammer und dem österreichischen Amboß gehalten«, schreibt der frühere serbische Ministerpräsident Vladen Georgewitsch im Jahre 1909, Bosnien und die Herzegowina befinden sich in den Händen Österreichs, nur dank Rußland, von dem diese Länder an Österreich verschachert wurden. Also warum ist Rußland in der letzten Zeit immer bereit, es wegen Serbien zum Weltkrieg kommen zu lassen? Will es Serbien selbst haben? Nein! Die Serben wie die Bulgaren würden sich gegen die russische Herrschaft noch verzweifelter verteidigen als gegen die österreichische, weil sie demokratische Bauernvölker sind und wissen, wie die zarische Knute über den Rücken der Bauern saust. Rußland hat schon lange jeden Anspruch auf die Balkanherrschaft aufgegeben. Die Ansprüche des russischen Zarismus gehen nicht auf eine Besetzung des Balkans, sondern auf die Besetzung großer Teile am Stillen Ozean in China, auf die Eroberung Persiens, Armeniens, auf den Zutritt zum Persischen Meerbusen, auf die Eroberung Konstantinopels. Der Feind, der sie daran zu hindern sucht, ist das deutsche und englische Kapital. England hält sich aber in der letzten Zeit mit seiner Feindschaft etwas zurück, es sucht Handhaben gegen Rußland zu gewinnen durch die Besetzung Südpersiens und durch diplomatische Manöver. Und es braucht nicht allzusehr in den Vordergrund zu treten, denn das besorgt schon das deutsche Kapital. Es hat Hunderte von Millionen in die Bagdadbahn gesteckt, die an Armenien vorübergeht, es hofft, daß es in Mesopotamien vermittelst seiner Gründungen Millionen über Millionen aus dem türkischen Bauern herauspressen wird. Als im vorigen Jahr Rußland in Armenien einzurücken suchte, da erklärte der deutsche Botschafter in Konstantinopel: das wäre Kriegsfall. Rußland ließ seine Pläne ruhen und begann eifrig zu rüsten.

Nun ist Deutschland mit Österreich verbunden. Österreich hat 7 Millionen serbischer Bauern als »Untertanen«. Es gönnt ihnen keine Selbstverwaltung, läßt sie durch seine Beamten schikanieren und kujonieren, überläßt sie der Ausbeutung des Budapester und Wiener Kapitals. Da gärt es unter dieser Bevölkerung, und sie richtet ihre Blicke über die Donau nach Serbien, wo es ihren Brüdern viel besser geht. Serbien, das nur 4½ Millionen Einwohner hat, würde im Abfall der 7 Millionen österreichischer Serben die Erfüllung seiner nationalen Träume sehen, denn dadurch würde es zur ausschlaggebenden Macht des Balkans. Die serbischen Bauern ließen sich für diese Träume gewinnen, weil die agrarische Politik der österreichischen Junker ihre Viehausfuhr nach Österreich nicht zuläßt. Rußland unterstützt diese Bestrebungen, obwohl es bei sich zu Hause so hochstehenden Nationen, wie den Polen, jede Selbstverwaltung verweigert und sogar ihre Sprache unterdrückt. Rußland unterstützt Serbien, weil es weiß, daß die österreichische Bureaukratie aus Angst um seine Herrschaftsinteressen nicht gewillt ist, die österreichischen Serben durch Zugeständnisse zu befriedigen, wie die österreichischen Agrarier in ihrer Gier nicht willens sind, von dem handelspolitischen Kriege gegen Serbien abzusehen, und so der großserbischen Bewegung auch im Königreich Serbien die Sympathie der Volksmassen zu nehmen. Weil die Herrschafts- und Ausbeutungsinteressen die österreichische Bureaukratie und das Junkertum zu einer Gewaltpolitik der serbischen Bevölkerung gegenüber antreiben, muß Österreich die Hälfte seiner Kriegsmacht im Süden bereit halten. Und weil Österreich deshalb gegen Rußland nur die Hälfte der Kriegsmacht bereit hat, eilt ihm Deutschland zu Hilfe. Es schaut immer wieder nach seiner Ostgrenze, ob Rußland nicht auch gegen uns mobilisiert, und tritt das ein, dann muß Deutschland gleichzeitig auf Frankreich, den Verbündeten Rußlands acht geben. Auf diese Weise teilt Rußland durch seine Unterstützung Serbiens die österreichischen Heereskräfte, bindet die deutschen Heereskräfte an die französische und russische Grenze und hindert das deutsche Großkapital, seine Ausbeutungspolitik in Kleinasien zu in sich verstärkender Form zu treiben. Und nicht nur dort ist das deutsche Kapital an der Raubpolitik gehindert durch diese russische Wendung gegen Österreich. Es kann sich auch in Afrika nicht frei bewegen, weil seine Konkurrenten, England und Frankreich, es immer an die russische Gefahr erinnern.

Wir sollen wegen der kapitalistischen Interessen bluten.

Jetzt sind wir beim Kern der Frage. Nicht aus »Nibelungentreue« zum Verbündeten legt Deutschland die Hand ans Schwert, wenn es unten im Süden drauf und drüber geht und Rußland gegen Österreich und für Serbien einzugreifen droht. Deutschland könnte zu Österreich sagen: willst du Ruhe mit den Serben haben, gebe deinen serbischen Bauern Selbstverwaltung, halte deine Beamten im Zaum, damit sie die Bauern nicht bis aufs Blut reizen, schütze diese durch entsprechende Agrargesetze vor der Ausbeutung durch den Kapitalismus, und sie werden nicht nach Belgrad schauen. Die deutsche Regierung könnte ferner zu Österreich sagen: den Bauern aus dem Königreich Serbien erlaube freie Viehausfuhr nach Österreich, da werden sie auf die Hetzer nicht hören. Aber Deutschland kann leider diesen Rat Österreich nicht geben. Denn würde Österreich die serbischen Bauern nicht schurigeln und ausbeuten, dann brauchte es nichts von Rußland zu befürchten, und dann hätte es keinen Anlaß, an dem Bund mit Deutschland festzuhalten, und Deutschland würde allein gegen die russischen Raubpläne in Kleinasien kämpfen müssen. So sehen wir: Deutschland unterstützt die österreichische Ausbeutungspolitik im Süden der schwarzgelben Monarchie, um seine Unterstützung zu genießen in der eigenen Ausbeutungspolitik in Kleinasien, wo es hart mit Rußland zusammenstößt. Wenn Deutschland bei einem Konflikt Österreichs mit Rußland wegen Serbien bereit ist, euch unter die Waffen zu rufen, so nur um das deutsche Großkapital von dem Druck Rußlands zu befreien und ihm zu ermöglichen, ohne den russischen Feind im Rücken mit dem englischen und französischen Kapitalisten um den Anteil an der Weltbeute zu konkurrieren.

Arbeiter! So steht die Sache! Nicht um die Freiheit eurer Nation willen sollt ihr bluten, sondern um die Ausbeutungsfreiheit des deutschen Kapitals. Es handelt sich um dieselben schmutzigen kapitalistischen Interessen, die im Jahre 1911 bald zu einem Krieg mit Frankreich geführt hätten. Sie sind es, die die Kriegsgefahr heraufbeschwören, obwohl sie nicht so grell beleuchtet im Vordergrund stehen.

Dessen seid euch bewußt, ihr Arbeiter, in diesen vielleicht wenigen Tagen, die euch noch für den Kampf gegen den Völkerbund übrig bleiben. Gelingt es euch nicht, die Gefahr durch mutigen Kampf abzuwenden, dann müßt ihr binnen kurzem der Mobilisierungsorder folgen. Müßt dann bluten, weil das Kapital es so will, das euch von Kindesbeinen an bis zum Grabe ausbeutet.


 << zurück weiter >>