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Gegen den politischen Terror.

In allen Epochen, in denen die Volksmassen sich unterdrückt fühlten, entstanden aus ihren Reihen oder aus den mit ihnen fühlenden Schichten Männer, die gegen die Gewalt von oben selbst zur Gewalt griffen. Sie wandten sich gegen private oder offizielle Vertreter des unterdrückenden Systems, sei es, um der Verzweiflung, die sich in ihrer Brust angesammelt hatte, Ausdruck zu geben, sei es, um Schandtaten zu rächen. Die Geschichte des kämpfenden Bauerntums ist ebenso reich an Beispielen des politischen Terrors, wie die des Bürgertums. Die Geschichte der Arbeiterklasse, deren Proletarisierungsprozeß traurig, deren Aufstiegprozeß unermeßlich schwierig ist, ist reich an einzelnen Taten, wie ganzen Epochen des politischen Terrors aller genannten Schattierungen. In der Chartistenbewegung, wie während des Sozialistengesetzes in Deutschland und Österreich praktiziert, fand er in der anarchistischen Bewegung, wie in der der russischen Terroristen eine abgeschlossene Theorie.

Die west- und mitteleuropäische Sozialdemokratie bekämpfte ihn zur Zeit der ersten, wie der zweiten Internationale aus prinzipiellen wie aus taktischen Gründen. Prinzipiell, indem sie erklärte, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur ihr eigenes Werk sein könne: die Arbeiterklasse könne nur allmählich im selbständigen Klassenkampfe die Einsicht und Kraft erwerben, die ihr zur Eroberung der politischen Macht und zur Umwandlung der kapitalistischen Gesellschaft in die sozialistische notwendig seien. Es sei unmöglich, durch Gewalttaten der Einzelnen die politische Gewalt zu erobern. Und diese Gewalttaten seien, selbst wenn ihr Anlaß noch so empörend ist, geeignet, unaufgeklärte Arbeiterschichten abzustoßen, sie verzögern also – das war der taktische Grund der Ablehnung des politischen Terrors – den Zusammenschluß der Arbeiter zu einer schlagfertigen Klasse. Gleichzeitig aber mit dieser Ablehnung des politischen Terrors, der Gewaltakte von Einzelpersonen, für die Länder des entwickelten Kapitalismus, erkannten ihn Marx und Engels in Rußland an, als die Narodnaja Wola (die terroristische Partei des »Volkswillen«) ihn in Rußland zu praktizieren begann. Sie erkannten damals den politischen Terror für Rußland an, nicht deswegen, weil Rußland keinen Parlamentarismus, keine Preß- und Versammlungsfreiheit besaß – auch für West- und Mitteleuropa war es in jener Zeit um diese Volksfreiheiten sehr schlecht bestellt – sondern weil Rußland damals noch keinen entwickelten Kapitalismus und keine Arbeiterklasse hatte. Die Versuche, die Bauern gegen den Zarismus zu mobilisieren, schlug fehl: die zersplitterte, kulturell außerordentlich niedrig stehende Bauernmasse zeigte sich unfähig zum Kampfe. Die einzige Kraft, die sich gegen den Zarismus auflehnte, war die Intelligenz. Zu wenig zahlreich, um durch Massenangriffe die Bastille des Zarismus zu erobern, suchte sie ihn durch Attentate auf seine höchsten Vertreter zu desorganisieren, zu überrumpeln. Ihr opferreicher Kampf schien Aussichten auf Erfolg zu eröffnen, und so zauderten unsere Altmeister nicht, ihn anzuerkennen, ihm ihre Sympathien zu schenken. Der terroristische Kampf der russischen Intelligenz erschütterte zwar momentan den Zarismus, aber schließlich gelang es diesem, der mutigsten Kämpfer habhaft zu werden, sie an den Galgen, in die Kasematten und nach Sibirien zu bringen. Nach einer Zeit der Friedhofsruhe in Rußland begann sich mit der fortschreitenden Entwicklung des Kapitalismus die Arbeiterklasse zu regen. Ihre Bewegungen lösten ein Echo auch in der Intelligenz aus, der aber der allmähliche Prozeß des Erwachens der Arbeiterklasse zu langsam ging: sie wollte den Kampf der Arbeiterklasse durch Attentate unterstützen und beschleunigen. Sie wollte den Zarismus durch Bombenwürfe und Revolverschüsse mürbe machen; sie hoffte, daß die krachenden Bomben immer weitere Schichten des Volkes aus dem Schlafe wecken würden. Der Kampf der terroristischen sozialistischen Intelligenz Rußlands erweckte heiße Sympathien in der europäischen Sozialdemokratie, die seine »Zulässigkeit« mit dem Fehlen der gesetzlichen Kampfesmittel erklärte. Die russische Sozialdemokratie aber nahm in entschiedenster Weise Stellung gegen die Propaganda des politischen Terrors, indem sie in ihm ein politisches Kampfmittel sah, das mehr imstande ist, die revolutionäre Arbeiterklasse, als die zarische Regierung zu entnerven und zu desorganisieren. Die Masse als solche – erklärte die russische Sozialdemokratie – kann keine Attentate ausüben. Selbst wenn der Terrorist den Massen durch seine Tat nur ein Signal geben wollte, erweckt er in ihnen die Hoffnung auf die Wundertat der Befreiung von oben. Und falls sich in der Masse schon aufgeweckte Elemente befinden, die sich mit der Rolle der zu Befreienden nicht begnügen, die selbst mitkämpfen wollen, so lockt sie das terroristische Beispiel auf den terroristischen Weg. Sie schauen von oben auf die »träge Masse«, die sich so langsam in Bewegung setzt, auch ihnen ist der Weg der Massenorganisation zu lang, auch sie wollen der Masse durch ihre Opfertat den Weg bahnen, ihn kürzen. Der Terror hört auf, das Werk spontan handelnder Einzelpersonen zu sein, er wird zur Sache besonderer Organisationen, die dem Klassenkampf die besten, opferfreudigsten Elemente entziehen und so die Arbeitermasse entnerven.

Dieser Standpunkt der russischen radikalen Sozialdemokraten, die der Gewalt der einzelnen Persönlichkeit nicht die Legalität, sondern den revolutionären Massenkampf entgegenstellten, fand in vielen Kreisen der europäischen Sozialdemokratie keine Anerkennung. Besonders die Opportunisten, die für Westeuropa die Legalität um jeden Preis proklamierten, hatten große Sympathien für die Bomben in – Rußland, und schalten die russische Sozialdemokratie »doktrinär«. In Deutschland waren es eben die Herren Stampfer, in Österreich die Austerlitz und Leuthner, die es für wahnsinnig hielten, wenn man in Rußland nicht für den Terror war.

Aber die russische Sozialdemokratie ließ sich nicht beirren. Zwar fiel es ihr nicht entfernt ein, zusammen mit den Schakalen der Konterrevolution die Terroristen zu beschimpfen, die zwar irrten, aber in gutem Glauben ihr Leben opferten. Aber sie bekämpfte den politischen Terror in rücksichtsloser Weise als ein schlechtes Kampfmittel. Und die große Probe aufs Exempel, die russische Revolution, zeigte, wie recht die Sozialdemokratie hatte.

Die Periode der Attentate, die wichtig war als politisches Symptom, war gleichzeitig das Resultat des Unglaubens an die Massenbewegung des Proletariats. Sie war nicht imstande, diese Bewegung zu beschleunigen, obwohl z. B. das Attentat auf Plewe im Jahre 1904 ein großes Aufsehen erregte. Die Erschütterungen des Russisch-Japanischen Krieges, die Not, die er erzeugte, die unermüdliche, obwohl momentan keine sichtbaren Erfolge zeitigende geheime revolutionäre Agitation der Sozialdemokratie, die Unterstützung, die sie jeder Äußerung des Klassenkampfes verlieh: das alles erzeugte in Rußland die Stimmung, die nach den großen Massakres vom 22. Januar 1905 die Stunde der Massenrevolution schlagen ließ. Und wenn auch diese nicht auf den ersten Hieb siegte, wenn sie dank der Unterstützung des Zarismus durch das russische und das internationale Kapital, dank den bäuerlichen Bajonetten niedergeworfen wurde, so verdankt die russische Arbeiterbewegung alle die kolossalen Fortschritte, die sie in den letzten 10 Jahren gemacht hat, der Massenbewegung der Revolutionsjahre allein. In der Zeit, als die Kräfte der Revolution zu versiegen begannen, suchten die Terroristen sie durch Attentate wie durch Morphiumeinspritzungen zu beleben. Aber selbst Produkt des Niedergangs der Revolution, waren sie nicht imstande, ihr neue Kräfte einzuflößen: sie desorganisierten sie nur, indem ihre Organisationen der politischen Provokation zum Opfer fielen. Wie selbst bürgerliche Politiker, wie Lord Courtney, oder opportunistische, wie Sidney Webb einsehen, geht die internationale Arbeiterbewegung großen Erschütterungen entgegen. Und der Reifegrad der sozialen Entwicklung, in dem sich West- und Mitteleuropa befindet, er wird der neuen Volksbewegung erlauben, sich höhere Aufgaben zu stellen, als es jemals früher der Fall war: ausgehend von dem Kampfe um den Frieden, gegen die Teuerung, gegen die neuen Steuern, gegen die politische Entrechtung, wird der Kampf der Volksmassen sich zum Kampf um den Sozialismus auswachsen. Wir befinden uns erst in den allerersten Anfängen dieses Kampfes. Wir erinnern das Proletariat an die Worte von Zimmerwald und Kiental, die sie zur rücksichtlosen Einsetzung ihrer gemeinsamen Kräfte als Masse, als Klasse, aufgerufen haben. Es war unserem Genossen Friedrich Adler nicht vergönnt, obwohl er diesem Ziele dienen wollte, im Sinne des modernen Kampfes der Arbeiterklasse durch seine Tat zu wirken. Wir wollen ihm folgen in der heißen Liebe zur Sache, aber nicht auf dem Wege, der nicht zum Ziele führt. Die Sozialpatrioten bekämpfen den politischen Terror. Aber die Tendenzen zu ihm können nur die revolutionären Internationalisten ausrotten, indem sie durch ihren Kampf gegen den Imperialismus den Massen das Vertrauen zu den eigenen Kräften, zu der Zukunft des Sozialismus wiedergeben. Sie werden den politischen Terror bekämpfen, im Namen der historischen Aufgaben des Proletariats.


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