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VIII

Seit acht Tagen ruhte Lea dort oben auf jenem Felsen, den sie sich selbst zur letzten Ruhestätte auserwählt hatte – angesichts des Meeres. Ein roter Granitstein bedeckte ihr Grab mit der einfachen Inschrift:

Hier schläft Lea Ortsen,
In Erwartung der zukünftigen Stadt.

Tinka hatte alles geordnet, alles besorgt. Georg fühlte sich nicht im stande, ihr dabei zu helfen. Seit dem Tage, wo Leas Sarg hinausgetragen wurde, hatte niemand von den andern ihn gesehen. Er schloß sich in seinem Zimmer ein, um allein mit seinen Erinnerungen zu sein.

Sonst ging das Leben im Hause wieder seinen gewohnten Gang. Aber heute war der Tag gekommen, wo Edith und Friederike ihre Reise nach Australien antreten sollten. Pirnitz wollte dann morgen wieder nach Paris zurückkehren.

Es war fünf Uhr nachmittags. Tinka stand auf dem Balkon und sah dem Wagen nach, der das Gepäck zur Bahn bringen sollte.

Sie war so in Gedanken versunken, daß sie nicht einmal hörte, wie Lizzie nebenan den Tisch deckte. Schließlich zupfte die kleine Ida, die neben ihr stand, sie leise am Kleid und sagte:

»Mama, der Thee ist da.«

Die junge Frau trat in den Salon. Pirnitz war schon da, sie hielt Carola an der Hand und unterhielt sich mit dem Professor Ebner. Der schmerzvolle Ausdruck, der heute in den Augen des Apostels lag, fiel Tinka auf. Sie war vielleicht die einzige, die ganz begriff, wie Pirnitz unter dem Gedanken an Friederikens Abreise litt. Und doch hatte sie selbst ihr zugeraten, sie hielt es für notwendig, daß Friederike sich dort inmitten einer neu aufblühenden Kultur von den herben Schicksalsschlägen der letzten Zeit erholen sollte. Sie sollte die Triumphe der Frauenbewegung kennen lernen, um ihren Glauben an das Werk wieder zu stärken.

Dann kam Edith in ihrem blauen Pflegerinnenkostüm, mit einem sonderbaren flachen Strohhut, und hinter ihr Friederike in schwarzer Trauerkleidung.

»Genau so sahen Sie damals aus,« sagte Edith, »als Sie vor drei Jahren in London ankamen. Aber damals – –«

Sie hielt mitten im Satz inne. –

Alle waren sehr ernst geworden, während sie an die Tote dachten.

Tinka gab jedem von den Kindern ein Glas Milch, das sie rasch austranken, dann bekamen sie ihr Butterbrot und gingen wieder in die Kinderstube, um zu spielen.

»Soll ich den Thee einschenken?« fragte die junge Frau dann.

Friederike zögerte einen Augenblick.

»Wollte Georg heute nicht auch zum Thee herunterkommen?«

»Ja, er hat es mir versprochen,« erwiderte Tinka. »Aber wir sollten nicht auf ihn warten.«

Alle nahmen stillschweigend Platz. Tinka goß den Thee ein. Georgs Stuhl zwischen Friederike und seiner Schwester blieb leer.

Es lag eine tiefmelancholische Stimmung über diesem einfachen Abschiedsmahl. – Wie bald würden sie, die daran teilnahmen, wieder in alle Himmelsgegenden zerstreut sein. Dazu der trübe Oktoberabend, der sich langsam über das Meer herabsenkte.

Und doch kämpften sie alle stumm ihren Schmerz nieder, dem Beispiel Pirnitz' folgend. Nur der brave Ebner mußte dann und wann seine Brillengläser trocknen. –

Tinka blickte nachdenklich auf die dämmernde Abendlandschaft hinaus und sagte:

»Ob wir wohl je wieder alle so beisammen sein werden wie heute abend?«

»Mlle. Pirnitz hat mir versprochen, uns in Finnland zu besuchen,« meinte Ebner.

»Ja, aber Sie werden dort nichts weiter als einen bescheidenen, echt finnländischen Haushalt finden, an dem Sie den Unterschied zwischen Ihren hochfliegenden Ideen und unsern kleinlichen Sorgen messen können,« seufzte Tinka.

»Nein, glauben Sie das nicht, Tinka,« erwiderte Pirnitz ernst. – »Sie werden nie aufhören, für die gute Sache zu wirken. Ich bin fest überzeugt, daß Sie weiter schreiben und durch Ihre Bücher beitragen werden, die Wahrheit zu verbreiten.«

Tinkas Wangen röteten sich, während sie gedankenvoll vor sich hinstarrte.

»Ja, aber ob ich wirklich immer Worte der Wahrheit finden werde?« – –

»Hören Sie nur auf Ihr Genie,« sagte Pirnitz, »sagen Sie das, was der Geist Ihnen eingiebt. Gewiß wird das Buch, was Sie jetzt schreiben, ein Buch des Zweifels werden, in dem die verschiedensten Doktrinen aufeinanderstoßen, – es soll ja die Geschichte unsrer Niederlage in Paris darstellen, außerdem Leas trauriges Schicksal und Ihre eignen Erlebnisse. Aber vielleicht wird es grade deshalb um so einschneidender auf unsre überlebte Gesellschaft einwirken.«

Friederike hatte bis jetzt schweigend zugehört.

»Unsre überlebte Gesellschaft – glauben Sie wirklich, daß sie sich überhaupt noch bekehren läßt?«

»Ja,« antwortete Pirnitz mit Nachdruck. »Unsre Arbeit wird nicht umsonst gewesen sein. Zweifeln Sie nicht daran, Friederike. Sie sind jetzt traurig und gebrochen durch das, was Sie erlebt haben.

Aber wenn Sie von Ihrer Wanderschaft zurückkommen, wenn Sie jene neugegründeten Frauengesellschaften kennen gelernt haben – dann wollen wir wieder darüber sprechen. Nein, die Arbeit der Apostel ist nicht verloren, sie wird im stillen weiter wirken.« –

»Lea ist ihrem Glauben zum Opfer gefallen, was thut es, wenn ihr Leben darum schön war? Wer von uns würde nicht mit Freuden dasselbe Schicksal auf sich nehmen. Lea hat beides in sich vereinigt, die auserwählte Jungfrau und die neue Eva. Sie ist ihrer Zeit vorausgeschritten. Sie ist eine von unsern Heiligen. Jede neue Religion braucht Märtyrer, die für sie in den Tod gehen.« –

»Edith, Friederike – es ist Zeit.« Alle blickten auf und sahen Georgs hohe Gestalt in der Thür stehen. Er war ganz in Schwarz gekleidet, was seinen bleichen Teint und seine lichtblonden Haare noch mehr hervorhob. Seine Augen leuchteten in ruhigem Glanze. Er sah gefaßt, beinah heiter aus.

Die Frauen umarmten sich. Es war beschlossen worden, daß Friederike und Edith allein zur Bahn gehen sollten, um allen den peinlichen Abschied inmitten des Gedränges zu ersparen.

Georg küßte Edith flüchtig auf beide Wangen. Dann trat Friederike auf ihn zu. Alle schwiegen, ihnen war zu Mute, als ob das ganze Leid, das auf ihnen lastete, sich in dem Abschied dieser beiden konzentrierte.

Friederike und Georg blickten sich in die Augen. Sie fühlte, daß er alles wußte, was sie ihm niemals gesagt hatte. Und sie sehnte sich danach, daß erst das weite Meer zwischen ihnen läge.

Dann umarmten sie sich.

»Leb' wohl,« sagte Georg – »werden wir uns jemals wiedersehen?«

Und sie antworte so leise, daß niemand von den andern es verstand:

»Nein, ich glaube nicht.« Dann fragte sie: »Und du, Georg, was wirst du thun? – Willst du nicht mit Tinka nach Larmsoe zurückkehren?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, – ich will Leas letzten Wunsch erfüllen – ihre irdische Hülle hier in diesem Lande zurücklassen und ihre Seele mit mir, fortnehmen – in die lichteren Gegenden des Südens.« –


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