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V

»Ist es nicht bald Zeit, Edith?«

»Nein, liebste Lea, wir haben noch volle zwei Stunden, bis der Zug abgeht. – Ruhen Sie sich noch etwas aus. – Es ist ja schön hier.« –

Sie saßen unter einer der hundertjährigen Ulmen, die den Platz vor der Kathedrale von Salisbury beschatten – Edith in ihrem schmucklosen Pflegerinnenkostüm, Lea in einem lichtbraunen Reisemantel.–

Mit mütterlicher Zärtlichkeit blickte Edith auf das junge Mädchen. Sie hatte Lea schon immer sehr gern gehabt, aber seit sie sie gewissermaßen dem Tode entrissen, hatte ihre Liebe einen geradezu leidenschaftlichen Charakter angenommen.

Der Tod hatte seine Beute wirklich wieder fahren lassen. Lea sah noch sehr blaß und durchsichtig aus, aber ihre Augen leuchteten, ihre Wangen röteten sich wieder, aus ihrem ganzen Wesen sprach der Wunsch, das Verlangen, wieder zu leben.

Jene wenigen Worte: »Ich weiß, wo sie sind. Ich bringe Sie hin« – hatten Lea wieder ins Leben zurückgerufen. Sie befolgte von diesem Augenblick an die Vorschriften des Arztes, sie aß die zwölf harten Eier und trank die vier Liter Milch, die er verordnete, um nur bald wieder zu Kräften zu kommen. Übrigens hatte sie gebeten, nicht an Georg zu schreiben. Er sollte nicht wissen, daß sie in London war. Sie wollte ihn erst wiedersehen, wenn sie wieder gesund, wieder so schön geworden war, wie früher. Und jetzt waren sie auf der Reise nach Torquay, wo Georg sich mit der Familie Ebner aufhielt.

Von dem nahen Kirchturm schlug es ein Uhr.

»Noch drei und eine halbe Stunde, bis wir dort sind,« sagte Lea. »Ist es denn wirklich kein Traum, Edith?«

»Nein, mein Liebling, es ist kein Traum. Unser Herr Jesus Christus hat Sie im Feuer der Trübsal geprüft – aber jetzt will er Sie Ihrem Bräutigam zuführen.«

»Liebe, gute Edith,« murmelte Lea. Sie schlang ihre Arme um die Freundin und küßte sie. Dann fragte sie nach einer kleinen Pause:

»Sehe ich auch nicht müde aus?«

»Sie sehen aus wie eine Rekonvalescentin, aber Sie dürfen mir glauben, Sie sind reizend anzuschaun,« antwortete Edith.

Edith blickte das junge Mädchen liebevoll an. Sie betrachtete Leas Genesung als ihr Werk und war stolz darauf, sie ihrem Verlobten bringen zu können. Es war von jeher ihr Wunsch gewesen, sie mit Georg zu vereinigen.

Und doch konnte sie sich einer leisen Besorgnis nicht erwehren. Dr. Ainsworth hatte sich vor der Abreise von London nicht sehr günstig ausgesprochen: Sie hat erstaunlich zugenommen. – – Es ist nicht ausgeschlossen, daß sie wieder gesund wird, obgleich beide Lungen und auch die Stimmbänder angegriffen sind.«

»Nein,« dachte Edith, »sie ist zu schön und zu lebenskräftig – sie kann und darf nicht sterben. Christus wird es nicht zulassen.«

Um drei Uhr setzten sie ihre Reise mit dem Expreßzuge von London fort.

Lea gab sich ganz der glückseligen Erwartung hin, während Edith in ihrer Bibel las.

»Edith – sind Sie auch sicher, daß er am Bahnhof sein wird? – Ich glaube, ich könnte es nicht ertragen, wenn ich ihn nicht gleich sähe.«

Edith blickte von ihrer Bibel auf:

»Aber warum sollte er nicht da sein? – Er hat Ihnen doch selbst geschrieben, wie er sich nach Ihnen sehnt.«

Es war so, wie Edith gesagt hatte. Auf Leas Wunsch hatte sie Tinka erst benachrichtigt, als Lea reisen durfte. Georg wußte erst seit vorgestern, daß Lea in England war. In überströmenden Worten hatte er seiner Freude Ausdruck gegeben.

»Ist es denn wahr – ist es denn wirklich möglich – du kehrst zu mir zurück – meine Braut, mein geliebtes Weib –« –

Exeter – Sherborne – Ottay. –

Als sie Warton-Abbat passiert hatten, schloß Edith ihr Buch und beugte sich zu Lea hinüber. Leise, um nicht von den Mitreisenden gehört zu werden, sagte sie:

»Lea, Sie vergessen nicht, was Sie mir versprochen haben?«

»Nein, liebste Edith, gewiß nicht.«

Edith hatte ihr noch vor der Abreise das Versprechen abgenommen, daß sie und Georg sich womöglich gleich nach der Ankunft kirchlich trauen lassen sollten. Nur unter dieser Bedingung konnte sie es mit gutem Gewissen auf sich nehmen, die beiden Liebenden zu vereinigen.

»Sie dürfen nicht warten, bis Sie wieder ganz gesund sind. Sobald es sich machen läßt, müssen Sie den Priester aufsuchen. – Oder vielmehr, ich werde es Ihnen abnehmen.«

Lea hatte es ihr lächelnd versprochen. Es war ihr sogar ein sympathischer Gedanke, an Georgs Seite vor dem Altar zu knieen und den Segen des Priesters zu empfangen. Und Georg würde gewiß nichts dagegen haben, wenn es auch nur war, um der guten Edith keinen Kummer zu bereiten.

»Noch zehn Minuten bis Torquay, wir haben etwas Verspätung,« sagte einer der Mitreisenden und blickte auf die Uhr.

Lea bebte vor nervöser Erregung. Gewiß stand er jetzt schon am Bahnhof und wartete. Sie fühlte, wie all ihre Gedanken, ihr ganzes Sein, ihm entgegenzitterte. Dann schloß sie die Augen und versuchte, sich den Geliebten vorzustellen. – Wie würde sie ihn wiederfinden? – So wie sie ihn damals gekannt und geliebt hatte, oder wie er in Paris vor ihr gestanden, als Pirnitz und Friederike sie ihm streitig machten.

Als der Zug dann wirklich in Torquay hielt, fuhr sie wie elektrisiert in die Höhe. – Und dann war ihr wie im Traum, sie wußte kaum, was um sie her vorging – sie sah nur eine hohe, dunkle Männergestalt, die auf die Coupéthüre zustürzte. Und dann lagen sie sich in den Armen, und in einem doppelten Aufschrei hörte jedes von ihnen zum erstenmal wieder seinen Namen von den Lippen des andern.

– – – – – – – – – – –

Dann rollten alle drei in einem offenen Landauer die Chaussee entlang, die vom Bahnhof zum Städtchen führt.

Georg und Lea waren so bewegt, daß sie kaum ein Wort sprachen. Lea saß neben Edith, deren gutmütiges rotes Gesicht vor Freude strahlte – Georg ihr gegenüber auf dem Rücksitz. Er hielt ihre beiden Hände gefaßt und sah ihr tief in die Augen. Im ersten Moment hatte ihr Anblick ihm fast das Herz zerrissen, – so entsetzlich verändert fand er sie. Und während er sie in die Arme schloß, fühlte er mit brutaler Gewißheit: sie ist verloren.

Aber wie sie so dahinfuhren, Hand in Hand und ihre Blicke sich tiefer ineinandersenkten, milderte jener erste Eindruck sich allmählich, in ihren bleichen, eingefallenen Zügen fand er die einstige jugendfrische Lea wieder, und die Hoffnung rang sich wieder in ihm durch.

Auch Lea konnte nicht aufhören, Georg zu betrachten. Ihre Blicke glitten liebkosend über seine Gestalt, sein schönes, männliches Gesicht.

Noch vor wenigen Minuten hatte sie sich beinah ängstlich gefragt, wie werde ich ihn wiedersehen? Aber jetzt waren alle Zweifel und alle Angst vergessen, sie dachte nur noch daran, daß er ihr jetzt wirklich gegenübersaß, daß ihre Hand in der seinen ruhte.

Der Wagen bog jetzt um eine Ecke. Lea erhob den Kopf und ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen.

»O – das hab' ich schon einmal gesehen –« rief sie plötzlich.

Zur Rechten der Chaussee erhoben sich schroffe Felswände, zwischen deren rötlichem Gestein eine üppige Vegetation wucherte. Zur Linken dehnten sich weite, grüne Wiesen bis an das Meer – das weite, unendliche Meer, dessen türkisblaue Fluten im Sonnenschein leise auf- und niederwogten.

»O, das hab' ich schon im Traum gesehen,« murmelte Lea, – »diesen Himmel, dieses schimmernde Meer und die roten Felsen. – Aber ich glaubte, es sei Italien, von dem ich träumte. – Ich weiß nicht, wie mir ist. – Georg, Georg, wenn es nur kein Traum ist.«

»Aber Lea,« sagte Edith lächelnd – »warum sollte es ein Traum sein? Sie haben nur noch nicht gewußt, daß England das schönste Land auf der Welt ist.«

Und Georg küßte ihr zärtlich die Hand:

»Ja, Lea, hier an der Südküste vergißt man den Londoner Nebel. – Am Golf von Neapel ist es kaum so schön wie hier.«

Die Felsen traten immer mehr zurück und ließen eine breite, geschützte Promenade frei. Auf den Sitzbänken sah Lea verschiedene abgemagerte Gestalten, die trotz der Wärme in dicke Plaids gehüllt waren. Das Herz krampfte sich ihr zusammen. Sie erkannte auf diesen bleichen Gesichtern die Spuren der furchtbaren Krankheit, die an ihrem eigenen Leben zehrte. Georg erriet ihre Gedanken und auch ihm schnürte die Angst die Kehle zusammen, so daß er kaum im stande war, zu sprechen.

Sie fuhren jetzt durch die Stadt. Dann hielt der Wagen vor einem kleinen Sommerhäuschen am Quai. Über der Thür stand in schwarzen Buchstaben: Dartmors House.

Ein kleines, etwa siebenjähriges Mädchen mit blondem Kraushaar und lebhaften, hellblauen Augen kam aus dem Hause gestürzt, riß die Wagenthüre auf, flog Edith um den Hals und bedeckte sie mit Küssen.

»O Tante Edith, wie schön, daß du zu uns kommst.

Edith wehrte lächelnd die stürmischen Liebkosungen der Kleinen ab.

»Aber Ida, Ida, sei doch vernünftig.«

Lea sah lächelnd zu, dann fragte Georg:

»Wo ist Tinka?«

»Mama erwartet euch im Wohnzimmer. Sie sagte, sie wäre zu nervös, um herunterzukommen. Karola ist bei ihr. – Karola ist nämlich meine Schwester,« fügte sie hinzu, während sie Lea mit großer Aufmerksamkeit betrachtete.

Dann stiegen sie aus und folgten der kleinen Ida die hölzerne Treppe hinauf. Die Thür zum Wohnzimmer war offen – mitten in dem großen, lichten Raum, dessen Fenster auf das Meer hinausgingen – stand Tinka, – in ihrem weißen Piquékleid – regungslos wie eine Statue. Sie schien Georg und Edith gar nicht zu bemerken, sie sah nur Lea an, und ihre seltsamen, meergrünen Augen füllten sich mit Thränen.

Und jetzt erst, in diesem Augenblick, fühlte Lea, daß es alles Wirklichkeit, daß es kein flüchtiger Traum war und der langgehemmte Strom ihrer Empfindungen brach jetzt gewaltsam hervor.

Mit einem markerschütternden Schrei: »Tinka, Tinka – endlich,« warf sie sich in die Arme der jungen Frau. Dann brach sie ohnmächtig zusammen.

Georg stürzte auf sie zu, nahm sie in die Arme und trug sie auf das Bett im Nebenzimmer.

Erst gegen Abend erwachte Lea wieder, ihre Ohnmacht war bald in tiefen, gesunden Schlaf übergegangen.

Sie lag eine Zeit lang im Halbschlafe da, der schrille Laut einer Schiffspfeife drang von draußen herein an ihr Ohr. Ihr Herz begann rascher zu schlagen, ein unklares Gefühl von Freude erfüllte sie: »Das Meer – das Meer!«

Dann schlummerte sie wieder ein und im Traum sah sie wieder die weite, blauschimmernde Fläche vor sich mit ihren zahllosen Booten und weißen Segeln.

Endlich schlug sie die Augen auf. Die Thür nach dem Salon stand offen. Die kleine Ida saß in einer Ecke, sie hatte ein Buch auf dem Schoß und that, als ob sie läse, aber Lea sah, wie die hellen Kinderaugen neugierig zu ihr herüberblickten. In diesem halb wachen, halb noch schlummernden Zustande glaubte sie noch andre Gestalten zu sehen, die sich im Nebenzimmer hin- und herbewegten – ein unbekanntes Gesicht mit kahler Stirn und mächtigem, blonden Bart – dann wieder Edith und schließlich irgend eine undefinierbare weibliche Gestalt mit rosa Schürze. Nur Georg und Tinka waren unsichtbar. Und nun wurde sie plötzlich unruhig und richtete sich etwas empor.

In demselben Augenblick sagte das kleine Mädchen, das keinen Blick von ihr verwandte:

»Mama, sie bewegt sich.«

Gleich darauf stand Tinka neben ihr und beugte sich über sie:

»Wie ist dir jetzt zu Mute, Liebling?«

»O, viel besser, ich habe so schön geschlafen.«

»Ja, wir haben uns gleich gedacht, daß du vor allem Ruhe brauchtest und sind möglichst leise gewesen, um dich nicht zu stören.«

»Ich möchte jetzt aufstehen.«

»Soll ich dir helfen?«

»Nein, danke, Tinka, Edith kann mir helfen, sie ist es schon gewöhnt.«

Lea empfand ein eigentümliches Gefühl von Scham bei dem Gedanken, daß Georgs Schwester sehen könnte, wie die schlimme Krankheit die Schönheit ihres Körpers verheert hatte.

»Geh, Ida, und ruf Tante Edith.«

Edith kam und half Lea, sich ankleiden. Sie vergaß ihrem geliebten Pflegling gegenüber ihre sonstigen, strengen Grundsätze in Bezug auf die Eitelkeit der Welt und schmückte das junge Mädchen, wie eine Mutter ihre Tochter zur Hochzeit schmückt. Es war Ediths sehnlichster Wunsch, daß Lea Georg gefalle und die Heirat möglichst bald zustande käme. Lea zog eines von den Kleidern an, die sie sich mit den kleinen Cockingtons selbst genäht hatte – ein leichtes, dunkelrotes Samtkostüm mit kleinen, gelben Tupfen, das ihrem blassen Gesicht einen wärmeren Schimmer verlieh.

Als sie dann mit Edith, die höchst befriedigt über ihr Werk war, in den Salon trat, fühlte sie, daß alle sie bewunderten.

»O Lea, liebste Lea, wie bist du schön. Du siehst jetzt wieder ganz gesund aus,« sagte Tinka, während Georg ihr schweigend die Hand küßte. Karola und Ida waren auch da, und schließlich noch ein älterer Herr mit echt germanischem Vollbart und goldener Brille.

»Mein Mann, der Professor Ebner,« stellte Tinka ihn vor.

In der Mitte des Salons war der runde Tisch gedeckt mit all dem schimmernden Krystall und Silber, das bei der englischen Tafel unentbehrlich zu sein scheint. Durch die hohen Bogenfenster drang die Dämmerung in das Zimmer, das mit all seinen Bildern, Waffen und überseeischen Nippsachen in dieser Beleuchtung einen märchenhaften Eindruck machte.

Lea trat an das Fenster. Die südlich warmen Farben waren aus der Landschaft geschwunden, und ein leichter Nebel stieg vom Meere herauf. Georg war ihr gefolgt, er sah, daß sie melancholisch und enttäuscht war.

»Der Nebel vergeht gleich wieder,« sagte er, »sobald es ganz dunkel wird. – Die Nächte sind dann wieder schön und warm.«

Dankbar lächelnd sah sie ihn an.

Dann trat ein blondes, junges Mädchen ein und zündete das Gas an. Lea wandte sich um, sie sah das hellerleuchtete Zimmer, den weißgedeckten Tisch mit all dem blinkenden Silberzeug, sie sah all die lieben Gesichter, die ihr freundlich zulächelten. »Ja, hier ist meine Heimat, hier bin ich zu Hause,« dachte sie. –

Alles, was ihr vergangenes Leben ausgefüllt hatte, schien ihr in unendliche Ferne gerückt – Paris – die Schule – Pirnitz – Friederike. – Sie fühlte, daß erst jetzt, erst in diesem Augenblick das letzte Band zerriß, das sie noch an alles das gefesselt hatte.

Georg und Tinka, die sie unverwandt anblickten, begriffen, daß Lea ihnen jetzt für immer angehörte, und ein tiefes Glücksgefühl durchzitterte ihr Herz.

Der Professor hatte Lea ebenfalls beobachtet und glaubte aus ihrem Schweigen zu erraten, daß sie Hunger habe.

»Tinka,« rief er mit seiner kräftigen Baßstimme, »so ruf doch Lizzie Morley, daß sie das Essen bringt. Mlle. Lea hat noch gar nichts zu sich genommen, seit sie hier ist. Man sieht ihr ja an, daß sie halb tot vor Hunger ist.«

»Ja, du hast recht, Papa,« sagte Tinka, als ob sie aus einem Traum erwachte. – »Aber da kommt Lizzie ja schon. – Also zu Tisch.«

Lizzie Morley – das schlanke, junge Mädchen mit der rosa Schürze, stellte die Mars d'omeres auf den Tisch und verschwand wieder. Dann setzte man sich. Während die andern ihr Souper mit Kaviar und kaltem Aufschnitt begannen, wurde Lea ein Teller heißer Bouillon mit Ei vorgesetzt.

Ida vertraute ihrer Schwester an, daß sie auch davon kosten möchte, die dicke Karola konnte das Geheimnis nicht bei sich behalten und teilte es der ganzen Gesellschaft mit. Lea rief Ida lächelnd zu sich und ließ sie von der dampfenden Suppe kosten.

Alle amüsierten sich über die ernste Miene, mit der die Kleine sich füttern ließ.

»Sind die beiden nicht niedlich, Mlle. Lea?« fragte der Professor strahlend.

»Entzückend,« erwiderte Lea. Der Professor legte Gabel und Messer hin und wurde ganz sentimental.

»Ach, Mademoiselle, wenn Sie wüßten, was diese beiden kleinen Dinger mir gewesen sind. Wirklich, nur Ihnen verdanke ich es, daß ich damals den Lebensmut nicht verloren habe.«

Lizzie trat wieder ein und stellte zwei gebratene Schneehühner auf den Tisch.

»Lizzie,« sagte Ida mit ihrer klaren Kinderstimme, »ich habe die Bouillon von Mlle. Lea probiert. Aber ich finde, sie war zu salzig. Ich mag nicht so viel Salz,« » Far shame, Ida,« sagte Lizzie leise. Dann ging sie geräuschlos mit den Tellern hinaus.

»Was ist das für ein junges Mädchen,« fragte Lea, »doch kein Dienstmädchen?«

»Nein,« erwiderte Georg – »es ist die Tochter des Kapitäns Morley, dem das Haus gehört. Die Familie wohnt oben im zweiten Stock und vermietet während der Saison an Sommergäste.«

Während sie so sprachen, hatte Tinka völlig geistesabwesend dagesessen und nachdenklich vor sich hingestarrt. Sie vergaß sogar, die Schneehühner zu tranchieren, Lea sah sie an, sie kannte diesen seltsamen Ausdruck in Tinkas Gesicht schon aus früheren Zeiten.

»Aber du vergißt die Schneehühner, liebes Kind,« bemerkte der Professor.

»O, Papa, bitte, tranchiere du sie.«

»Jetzt schwebt sie wieder in den Wolken,« sagte er lachend und nahm das Tranchiermesser zur Hand.

Tinka rührte sich immer noch nicht.

»Unser Haus in Larmsoe,« murmelte sie vor sich hin. – »Ich glaube, ich hätte es doch nicht ertragen, es wiederzusehen, als Georg nach seiner italienischen Reise mich wieder mit meinem Mann aussöhnen wollte.«

»Tinka,« unterbrach der Professor mit einem warnenden Blick auf die kleinen Mädchen, die aufmerksam zuhörten.

»Was thut das, Papa?« erwiderte die junge Frau. – »Warum hast du immer solche Angst vor der Wahrheit? Ist es nicht besser, wenn man seine Kinder von früh auf an Wahrheit gewöhnt?«

»Gewiß, gewiß,« sagte er schon im voraus überzeugt, »sei nicht böse. Ich weiß ja, daß du immer recht hast.«

Tinka streichelte liebkosend seine Hand, dann fuhr sie fort:

»Ich weiß nicht einmal, ob ich es jetzt ertragen würde, nach Finnland zurückzukehren und unser früheres Leben dort wieder aufzunehmen. Mir ist, als ob mein früheres Selbst dort in unserm alten Hause auf mich wartete – und ich fürchte mich vor ihm. – Siehst du, Georg – jene andre Tinka, die dort zurückgeblieben ist, ist unsern damaligen Anschauungen treu geblieben. Und wer weiß, ob sie mit der jetzigen einverstanden wäre. Damals hatte sie recht – aber kann das, was ich dann später that, deshalb Unrecht gewesen sein?« – Ich fürchte, ich würde dann zu der Überzeugung kommen, daß die Wahrheit überhaupt etwas relatives ist, was von den verschiedenen Lebenslagen abhängt, – Sag' mir, Georg, ist es dir nicht ebenso gegangen, als du nach Larmsoe kamst, um meinen Mann und die Kleinen zu mir zu bringen?«

Georg hatte sich, während seine Schwester sprach, nachdenklich in seinem Stuhl zurückgelehnt.

»Nein,« sagte er dann, »ich hätte dieses Phantom, von dem du sprichst, einfach bei Seite gestoßen. Ich war fest überzeugt, daß das, was ich that, das einzig richtige war. – Ich fühlte mich so stark, daß ich jedes Hindernis aus dem Wege geräumt hätte.« –

»Und jetzt, Georg?« fragte Lea unwillkürlich.

»Jetzt? – – Mein Gott, im Laufe der Zeit bin ich natürlich wieder etwas zum Barbaren geworden, besonders weil der Einfluß des lichten Südens mir fehlte. Die Erkenntnis der Wahrheit überwältigt mich nicht mehr so wie damals. – Wenn es damals nicht geschehen wäre, wer weiß, ob ich jetzt noch die Kraft haben würde, Tinka und Ebner wieder zu vereinigen. Es geht mir ähnlich wie Tinka, ich fühle eine gewisse Sympathie für unsre einstige Anschauungsweise, die uns damals zu jener sinnlosen Flucht trieb.«

Der Professor Ebner ließ seine Gabel auf den Teller fallen und rief ganz entsetzt:

»Wollt ihr jetzt am Ende noch einmal wieder von vorne anfangen? Und mich wieder mit den Kleinen allein lassen?«

Das kam so naiv heraus, daß alle laut auflachten. Selbst die Kinder stimmten mit ein.

Tinka sah ihn freundlich an und sagte:

»Nein, Justus, – wir gehen nicht wieder von dir fort. – Ich sagte dir doch vorhin, daß mein Leben mit meiner jetzigen Überzeugung übereinstimmt.«– »Nun ja,« entgegnete er etwas kläglich. »Aber wenn du nun in Larmsoe dein andres Ich wiederfindest, wie du sagst – Gott weiß, was uns dann bevorsteht. Lieber will ich überhaupt nicht wieder nach Finnland zurück.«

»Nein, Justus,« nahm jetzt Georg das Wort. »Grade weil unsre Überzeugungen sich gemildert haben, sind wir jetzt nicht mehr im stande, solche jähe Entschlüsse zu fassen wie damals. Wir sind jetzt beide zu der Überzeugung gekommen, daß es keine absolute Wahrheit giebt, die man auf alle Lebenslagen anwenden könnte.«

Ebner schenkte sich etwas beruhigt ein Glas Bier ein und sagte:

»Du willst damit sagen, daß es eben eine subjektive und eine objektive Wahrheit giebt – das ist nicht zu bestreiten.«

Georg schwieg, aber Edith, die bis dahin nur zugehört hatte, protestierte jetzt mit großer Lebhaftigkeit:

»Wie können Sie so etwas sagen?« rief sie in strengem Ton. »Es giebt nur eine Wahrheit, denn unser Herr Christus hat gesagt: Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.« – –

Ida und Karola sahen sich an und gaben sich alle Mühe, nicht herauszuplatzen. Tante Ediths Bibelsprüche bildeten eine unerschöpfliche Quelle der Heiterkeit für sie.

Lea hatte die ganze Zeit über kein Wort gesagt. Das Gespräch zwischen Tinka und Georg klang wie eine süße, heimatliche Melodie an ihr Ohr, die sie seit langer Zeit nicht mehr vernommen hatte. Aber auch der Sinn dessen, was sie sagten, erfüllte sie mit tiefer Freude. Es that ihr wohl, daß sie ihre Vergangenheit, ihre einstige Anschauungsweise, nicht verleugneten, daß sie denselben Georg und dieselbe Tinka in ihnen wiederfand, die sie dereinst als so unendlich weit über allen andern stehend empfunden hatte.

Ein Gefühl von heißer Zärtlichkeit gegen all diese Menschen, die sie jetzt umgaben, wallte in ihr aus.

Inzwischen hatte Ebner Champagner eingeschenkt. Die kleinen Mädchen, die auch davon zu kosten bekamen, fingen an, durch ihr kindliches Geplauder das Gespräch der andern zu übertönen.

Ida war auf Georgs Schoß geklettert.

»Onkel Georg,« rief sie übermütig, »jetzt wirst du wohl etwas mehr zu Hause bleiben, wenn Mlle. Lea da ist.«

»Willst du uns jetzt nicht einmal mit aufs Meer nehmen?« fragte Karola etwas schüchterner.

Tinka erzählte Lea währenddem, was für ein seltsames Einsiedlerleben Georg seit seiner Rückkehr aus Paris geführt hatte.

»Solange wir noch in London waren, hat er außer mit uns und Edith mit keinem Menschen verkehrt. Und was für Mühe hat es uns gekostet, ihn von London fortzubringen. Wir gingen dann zuerst nach Cornwallis. Dort fing er mit einem Mal an, für das Meer zu schwärmen. Manchmal war er wochenlang mit den Fischern draußen. Wie hab' ich mich damals um ihn geängstigt. Auf einer von diesen Fahrten entdeckte er Torquay – die herrliche Gegend hier erinnerte ihn lebhaft an Italien. Er ließ uns keine Ruhe, bis wir hierher übersiedelten.«–

»Und als ihr hier waret?« fragte Lea.

Georg spielte immer noch mit den beiden Kindern. Dann und wann sah er auf und begegnete Leas Blick.

Er lebte auch hier eigentlich ganz für sich. – Aber die weiten Meerfahrten schienen ihm keine Freude zu machen. Es ist hier in der Nähe von Torquay, etwa zwei Meilen von der Küste entfernt, eine kleine Felseninsel – Gilder Rock – mit einer halbzerstörten Kapelle. Dort hat er sich eine Art von Atelier eingerichtet, in dem er sich fast den ganzen Tag aufhielt. – In warmen Sommernächten hat er sogar manchmal dort geschlafen. –

Ich kenne Gilder Rock nur von ferne. Georg hat mich nie dorthin mitnehmen wollen, ebensowenig wie die Kinder, die ihn schon lange darum bitten.«

»Mich wird er mitnehmen,« dachte Lea. Sie sehnte sich danach, diesen Ort kennen zu lernen, wo er seine einsamen Stunden zugebracht hatte.

Als sie vom Tisch aufstanden, führte Lizzie einen schlanken, jungen Mann mit energischen Zügen und schwarzem Bart herein.

»Aha, der Doktor,« rief Georg. Dann stellte er ihn Lea vor.

»Doktor Bryce, unser guter Freund.«

Lea verneigte sich leicht. Der scharfe Blick, den der junge Arzt auf sie richtete, machte sie verwirrt. Lizzie wollte die Kinder mit hinausnehmen, aber Ida wehrte sich und rief:

»Lieber Doktor, sagen Sie, daß ich noch nicht zu Bett muß.«

»Sie liebt den Doktor so,« sagte Tinka, »weil er ihr das Leben gerettet hat. Sie war im letzten Juni schwer krank an Diphtheritis.«

»Ja,« erklärte Ida ernsthaft, »er hat mir das Leben gerettet und deshalb will ich ihn heiraten.«

Bryce setzte sich. Er sprach wenig und schien Lea mit großer Aufmerksamkeit zu beobachten. Sie erriet, daß er ihretwegen gekommen sei. Nach einiger Zeit verabschiedete er sich wieder.

»Also auf morgen?«

Dann fügte er auf Georgs fragenden Blick hinzu:

»Nein, ich will Mademoiselle heute noch in Ruhe lassen. – – Wenn Sie gestatten, so komme ich morgen vormittag wieder. Dann können wir die Sache etwas näher besprechen.« –

Dann sagten Karola und Ida gute Nacht und verschwanden mit Lizzie.

Georg öffnete die Fenster. Der Nebel war verschwunden, die Luft ruhig und warm.

»Laßt uns etwas auf den Balkon gehen,« sagte Edith.

»Wo ist denn dein Mann, Tinka?« fragte Lea, die plötzlich entdeckte, daß der Professor verschwunden war.

»O, er pflegt nach den Mahlzeiten ein Schläfchen zu halten und ist jedenfalls in sein Zimmer gegangen, weil er sich vor euch geniert.«

Sie traten auf den Balkon hinaus, wahrend Lizzie Morley den Tisch abräumte.

Lea stand zwischen Georg und Tinka, an die eiserne Balustrade gelehnt, und blickte auf die nächtliche Landschaft hinaus. Wie in tiefem Schlummer lag das Meer da, nur dann und wann glitt ein phosphoreszierendes Leuchten darüber hin.

»O, Tinka,« murmelte sie, »wie ist es hier schön. Ich will immer bei euch bleiben – ich will leben und glücklich sein.«

»Ja,« erwiderte die junge Frau – »wir wollen diese Stunde voll genießen – es ist ein Haltepunkt in unsrem Leben, nach einem schweren Leidensweg. – Ich fühle wie du, daß jetzt das Glück zu uns kommt.«

Dann schwiegen sie wieder. Georg und Lea dachten an jenen Abend in Richmond – wo sie ebenso wie heute nebeneinander auf der Terrasse gestanden und in die Nacht hinausgeblickt hatten. Es war dasselbe Sehnen, dasselbe Verlangen nacheinander, was sie damals bewegt hatte. Nur daß sie glaubten, es bekämpfen zu müssen und nicht wagten, es sich einzugestehen. – Aber jetzt hatten sie sich zur inneren Freiheit durchgerungen, nach schweren Prüfungen hatten sie sich wiedergefunden, um einander für immer anzugehören.

Und doch kam dasselbe quälende Schamgefühl aufs neue über sie, das sie damals voneinander getrennt hatte. Beide fühlten sich beinah erleichtert, daß sie nicht allein waren. –

Aber jetzt sagte Tinka plötzlich:

»Ich muß noch einmal nach den Kleinen sehen.«

Georg und Lea wandten sich nach ihr um und sahen nun, daß auch Edith verschwunden war.

Sie waren allein.

Lea blieb einen Augenblick unentschlossen stehen, dann wollte sie Tinka folgen. Aber Georg faßte sie sanft am Arm:

»Bleib', Lea.«

Dann zog er sie mit sich fort an das äußerste Ende des Balkons. In dem schwachen Lichtschein, der vom Zimmer her ins Freie fiel, blickten sie sich an. Lea ließ kraftlos die Arme sinken, während er sie mit nervös bebenden Fingern liebkoste. Er schlang die Hände hinter ihrem Nacken zusammen und bog ihren Kopf leicht hintenüber. Ihr schwindelte vor Glückseligkeit, sie ergab sich ihrem geliebten Sieger, sie wollte nichts mehr von dem unüberwindlichen Schamgefühl wissen, das gegen diese Niederlage protestierte. Sie wollte nur noch ein Weib sein, wie alle andern. Aber irgend etwas in ihr sträubte sich immer noch dagegen. Sie seufzte tief auf, als sie seinen heißen Atem über ihr Gesicht hinstreichen fühlte und stammelte verwirrt:

»O Georg – ich bitte dich – – noch nicht.«

Aber schon hatten seine Lippen sie berührtem einem langen, endlosen Kuß schmolz ihr Widerstand hin. Sie war nicht mehr im stande zu denken. Jetzt war er der Sieger und sie die Sklavin. Und doch regte sich wieder ein leises Gefühl von Bitterkeit in ihrem Herzen, sie fühlte, daß ihr Verlangen nicht mehr so rein war wie damals, als sie sich zum erstenmal geküßt hatten. Wie erschöpft von dem Übermaß ihrer Empfindungen barg sie den Kopf an seiner Brust. Er beugte sich zu ihr herab und murmelte leise mit unsicherer Stimme:

»Lea, ich möchte bei dir bleiben – heute nacht – dich nie wieder von mir lassen.« –

»Nein, ich flehe dich an, du Einziger –« antwortete sie und es lag etwas so rührend Bittendes in ihrem Ton – »laß es jetzt noch nicht sein. Laß mich erst wieder schön werden – wie früher – für dich – damit du mich lieben kannst.«


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