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Zweiter Teil

I

Romaine Pirnitz und Lea standen vor dem Hotel Sainte-Parade.

Es war kurz nach Mittag. Ein heftiger Wind fegte durch die Straßen, die um diese Zeit fast menschenleer waren.

Pirnitz hatte eben zum zweiten Male geläutet.

»Ich weiß, woran Sie denken«, sagte sie dann zu ihrer Gefährtin.

»Ja,« antwortete Lea – »es sind noch keine drei Jahre her. – Aber es kommt mir vor, als ob ich seit seiner Zeit unendlich viel älter geworden wäre.«

Endlich ging die Thür auf, die beiden Frauen nickten dem Hausmeister zu und stiegen die Treppe hinauf. Oben angelangt, wurden sie von der alten Dienerin Maria in eine Art Vorzimmer geführt, dessen breite Flügelthür nach dem Flur hin weit offen stand.

Maria war heute ungewöhnlich schweigsam. Sie sagte nur:

»Wollen die Damen sich nicht setzen, bis Mademoiselle mit Monsieur Michel fertig ist?«

Dann blieb sie stehen und wartete augenscheinlich darauf, daß man sie ausfragen würde.

»Ach so, Michel ist da?« fragte Pirnitz, während sie und Lea sich auf das Kanapee niederließen.

»Und ob er da ist, Mademoiselle,« rief die alte Gaskognerin, die jetzt plötzlich ihre Redseligkeit wiederfand: »Sie werden wohl schon wissen, daß er den ganzen Tag nicht mehr hinauszubringen ist. – Erst kommt er am Morgen in aller Frühe, wenn Mademoiselle noch nicht aufgestanden ist, und dann nach der Börse. – Und am Abend läßt Mademoiselle ihn noch einmal wieder herrufen, um ihm ihre Anweisungen zu erteilen, wie sie sagt. – Ach, zum Teufel – den ganzen Tag geht er aus und ein.« –

»Und wie geht es Mademoiselle?« fragte Lea.

»O Mademoiselle geht es soweit ganz gut,« sagte Maria und stützte sich ungeniert auf den runden Sophatisch – »sie ißt und trinkt und kann sich so einigermaßen bewegen – das heißt, so viel sie sich überhaupt bewegen kann. – Die Beine sind ja schon seit zwanzig Jahren gelähmt. – Aber was mir Sorge macht, ist, daß sie lange nicht mehr so vergnügt und zufrieden ist wie früher. Sie kennen sie ja, Mlle. Romaine, den ganzen Tag hetzte sie uns hin und her, Schwester Ottilie und mich. Jeden Augenblick wollte sie etwas andres. – Aber jetzt ist ihr alles recht, sie verlangt gar nichts, sie schilt überhaupt nicht mehr. Wenn ich den Braten verbrenne oder die Suppe versalze, alles ist ihr gleich. Nur wenn sie von Ihrer Schule spricht, wird sie ein bischen lebhafter. – Oder wenn sie mit Michel zusammen ist. Ja, da ist sie wieder ganz wie sonst. Wie ein paar alte Juden reden sie miteinander. – Es ist ja wahr, Mademoiselle hat sehr viel Geld verdient bei ihren Unternehmungen mit Michel,« fügte sie dann nachdenklich hinzu.

Lea und Pirnitz lächelten über diesen Wortschwall, den Maria vorbrachte, ohne inzwischen auch nur einmal Luft zu schöpfen.

»Aber die Geldangelegenheiten stehen gut, nicht wahr, Maria?« fragte Pirnitz.

»Ich weiß nicht recht,« antwortete sie – »es ist vielleicht doch nicht alles so, wie es sein sollte. – Ah, da hat sie geläutet.«

Damit stürzte sie ohne weiteres hinaus.

Lea und Pirnitz mußten noch eine Zeit lang warten. Sie sahen Michel aus der gegenüberliegenden Thür treten. Er war ein kleiner, hagerer Mann mit krummem Rücken und sah fast aus wie ein Sakristan. Als er die beiden Damen bemerkte, zögerte er einen Augenblick, es machte den Eindruck, als ob er gerne mit ihnen gesprochen hätte. Aber dann entschloß er sich, nur zu grüßen, und eilte rasch die Treppe hinunter.

Lea blickte schweigend auf die große Standuhr, deren Zeiger langsam vorrückten. Sie erschrak beinah darüber, wie fremd und überflüssig sie sich hier fühlte. Wenn sie sich auch noch so viel Mühe gab, sie war nicht imstande, die finanziellen Schwierigkeiten oder den Gesundheitszustand der alten Dame tragisch zu nehmen.

Sie wagte kein Wort zu sprechen und vermied es, Pirnitz anzusehen – sie hatte sie ja immer noch lieb, aber es gab Momente, wo sie sich danach sehnte, sich von ihr loszumachen, um ganz frei zu sein, wie die Nora in Tinkas Buch – oder wie Duyvecke Hespel.

Dann wandte sie sich plötzlich mit einer halb unwillkürlichen Bewegung zu Pirnitz und drückte einen Kuß auf ihre Schulter. Pirnitz blickte sie mit ihren schönen, magnetischen Augen an und sagte:

»Armes Kind.«

Leas Augen füllten sich mit Thränen, aber jetzt öffnete sich die Thür auf der andren Seite des Korridors, Maria und Schwester Ottilie trugen Mlle. de Sainte-Parade auf ihrem Lehnstuhl in den Empire-Salon. Lea und Pirnitz waren aufgestanden und traten auf die alte Dame zu, deren verkümmerte Gestalt fast in den schwarzen Spitzen verschwand. Aber die kleinen, grauen Augen leuchteten lebhaft aus dem unförmlich großen Gesicht hervor.

»So,« sagte sie, als der Lehnstuhl an seinem Platz stand. – »Bitte, ein Kissen unter die Füße, Schwester Ottilie. – So ist's recht. – Es geht mir nicht besonders, liebe Pirnitz. – Geh, Maria, mach, daß du fortkommst, du schwätzest zu viel. – Setzen Sie sich dort hinten aufs Sopha, Schwester, was wir zu besprechen haben, hat kein Interesse für Sie. – So, Pirnitz, jetzt kommen Sie her zu mir, ganz nahe und sprechen Sie recht deutlich. Es summt mir so vor den Ohren, ich hab' heute Morgen Salicyl genommen.« –

Pirnitz rückte ihren Sessel dicht an den Lehnstuhl heran.

»Sie müssen auch herkommen, kleine Lea. – Geben Sie mir Ihre Hände und lassen Sie sich einmal anschauen. – Schön wie der Tag – weiß Gott, aber warum so traurig? Ich kann keine traurigen Leute leiden, aber ich weiß nicht weshalb, – seit einiger Zeit setzt ihr alle solche Leichenbittermienen auf.«

Damit gab sie Leas Hände wieder frei. Das junge Mädchen setzte sich und drängte gewaltsam die Thränen zurück. –

»Also, was haben Sie mir mitzuteilen, Pirnitz?«

»Aber Sie haben uns doch herbestellt, Mademoiselle,« entgegnete Pirnitz.

»Ach ja – natürlich – ich mußte Sie sehen. – Wissen Sie, diese Heurteau demoralisiert mich. – Sie wirft immer gleich die Flinte ins Korn. Wenn es nach ihr ginge, könnten wir nur gleich unsre Bündel schnüren und Duramberty, Quignonnet, dem Abbé Minot u. s. w. das Feld räumen. – – Sie hat mich da mit einem Artikel geelendet.« –

»Mit dem Artikel aus der Semaine de Saint-Charles? – Haben Sie ihn gelesen?«

»Nein! Ich will ihn überhaupt nicht lesen. – Was wird denn dadurch bewiesen, daß irgend ein Kursblatt uns verläumdet? Und außerdem weissagen all diese Herren uns ja nur Gutes, sie behaupten, daß wir nächstes Jahr noch viel mehr Schülerinnen bekommen. – – Aber warum seid ihr denn alle beide so stumm – Sie sitzen ja da wie Ölgötzen. Bekommen wir mehr Schülerinnen – ja oder nein? Heurteau hat mir die Listen gezeigt – über zwanzig Zahlende.« –

»Ja,« sagte Lea mechanisch, »es laufen immer Anmeldungen ein.«

»Sehen Sie,« rief die alte Dame. »Hab' ich es nicht gesagt? Aber dann lassen Sie die Leute doch schreien, soviel sie wollen. Wenn wir eines Tages Lust haben, darauf zu antworten, so wenden wir uns einfach an irgend eine andre Zeitung. Heurteau wird schon einen Artikel zusammenbringen, wenn es darauf ankommt. – Was meinen Sie dazu, Pirnitz?«

»Mein Gott ja,« erwiderte diese, »ich bin ganz Ihrer Ansicht, liebe Freundin – daß für den Moment die Gefahr nicht groß ist. – Aber trotzdem wäre es vielleicht ganz praktisch, durch irgend einen officiösen Schritt vorzubeugen. Die Kinder haben in der Stadt erzählen hören, daß der Abbé Minot die Sache nicht ruhen lassen wird. – In seinem nächsten Artikel will er den Fall Duyvecke besprechen. Und Sie können sich denken, was für einen Eindruck das hervorrufen kann, wenn die Sache in einem verkehrten Licht dargestellt wird.«

»Aber dieser Abbé ist ja einfach ein Scheusal.

– Wenn ich denke, daß er einmal mein Beichtvater gewesen ist – daß ich ihm jeden Augenblick etwas für seine Stiftungen gegeben habe.– Aber ich will ihm den Kopf schon zurechtsetzen. Ich werde ihm sagen – –«

Sie wußte selbst nicht, was sie ihm sagen wollte, gestikulierte aber umso eifriger mit den Armen.

»Das ist es ja grade, Mademoiselle,« fuhr Romaine Pirnitz mit sanfter Stimme fort – »ich glaube, es wäre sehr zweckmäßig, wenn Sie mit dem Abbé sprächen. Es würde Ihnen gewiß nicht schwer fallen, ihn für unsre Sache zu gewinnen.«

»Glauben Sie wirklich?« fragte Mlle. de Sainte-Parade. – »Wenn ich das sicher wüßte. – Aber dann muß ich diese Canaille zu mir kommen lassen.

– Immerhin könnte man es sich einmal überlegen.

– – Ja, ja, ich werde ihm schreiben – gleich heute. – Wir standen früher sehr gut miteinander. Er machte mir damals durchaus keinen bösartigen Eindruck. Und was sein Privatleben anbetrifft – er ist einfach ein Heiliger. Das unterliegt keinem Zweifel – ja, ja, der Abbé Minot ist ein Heiliger.« –

Sie merkte plötzlich, daß sie sich in einem fort widersprach und hielt inne. Dann fragte sie, um das Gespräch auf etwas andres zu bringen:

»Nun und Duyvecke? Wer hätte das für möglich gehalten, Pirnitz? – Nachdem sie vier Jahre lang mit uns zusammengelebt hat. – Und ich hatte solches Zutrauen zu ihr. – Nein, weiß Gott, das hat mir wirklich einen Stoß gegeben. Ich kann mich immer noch nicht davon erholen. Es ist – es ist beinah so, als ob diese kleine Lea hier uns auch einmal durchginge, um mit irgend einem Manne davonzulaufen. – Aber was haben Sie denn, mein Kind? – Ich wollte Sie nicht verletzen. – Warum weinen Sie denn? – Ich bitte Sie, wir wissen alle, daß Sie eine kleine Heilige sind, ein ganz wunderbares Mädchen. Nein, nein, Sie dürfen nicht weinen.« –

»Verzeihen Sie, Mademoiselle, ich bin nur etwas nervös,« stammelte Lea. – Die Worte der alten Dame hatten sie aufs tiefste erregt.

»Sie hat Duyvecke von jeher besonders lieb gehabt,« kam Pirnitz ihr zu Hilfe.

»Was ist es denn eigentlich für ein Individuum, das Duyvecke heiraten will?« fragte Mlle. de Sainte-Parade – »ach, ich weiß schon, es ist dieser Rémineau, der ein paar mal hier war, um die Kostenanschläge der Unternehmer durchzusehen. – Ein ganz gewöhnlicher Arbeiter. – Duyvecke hat sich da wirklich einen netten Schatz ausgesucht. Und dabei that sie immer so unschuldig.« –

»O Mademoiselle,« sagte Lea bittend.

»Wollen Sie sie am Ende noch verteidigen?«

»Ich bin fest überzeugt, Mademoiselle,« fuhr Lea warm fort, »daß es Duyvecke schwer genug geworden ist, uns zu verlassen. – Aber sie vergöttert Rémineaus kleinen Sohn – und er konnte sie nicht entbehren, weil er krank war. – Es war nicht Egoismus, sondern ein rein mütterliches Gefühl, das sie dazu getrieben hat.« –

»Glauben Sie?« fragte die alte Dame.

Es entstand eine Pause. Der Gedanke an das ernste, geheimnisvolle Problem der Mutterschaft berührt jedes weibliche Wesen in den innersten Fibern seines Seins, wenn auch die exaltiertesten Frauenstimmen es beinah mit Entrüstung von sich weisen möchten. So vermochte auch in diesem Augenblick keine der vier Frauen, die hier beisammen waren, sich einer gewissen Beklemmung zu erwehren. Und nachdem Lea gesprochen, hatte niemand mehr den Mut, zu sagen: »Duyvecke hat unrecht gethan.«

Inmitten des beklommenen Stillschweigens, das auf ihre Worte folgte, erschien plötzlich Marias Riesengestalt in der Thür. In ihren weichen Filzschuhen war sie so leise hereingekommen, daß niemand sie gehört hatte.

Sie trat auf die Damen zu und sagte mit sichtlich erregter Stimme:

»Mademoiselle – –«

»Was willst du, Kind?«

»Monsieur Michel – – –«

Mlle. de Sainte-Parade unterbrach sie ungeduldig:

»Ist Michel wieder da? Will er mich sprechen?« –

»Nein, Mademoiselle, er ist noch gar nicht fortgegangen.« –

Marias Stimme versagte, und nun wurde die alte Dame plötzlich wütend:

»Was soll das heißen? So sprich doch endlich, Schafskopf.«

»Monsieur Michel will nicht heraufkommen. Er ist unten auf dem Flur. – Er will mit Mlle. Romaine sprechen.« –

Dabei deutete sie mit dem Finger auf Pirnitz.

»Mit mir?« fragte Pirnitz erstaunt. – »Aber ich kenne ihn so gut wie gar nicht.«

»Er hat Mademoiselle vorhin hier gesehen – er will mit Ihnen sprechen.«

Pirnitz wandte sich an Mlle. de Sainte-Parade:

»Was bedeutet das?«

Die alte Dame schien völlig in sich zusammenzusinken. Ihr sonst so bleiches Gesicht war heftig gerötet – Schwester Ottilie zog ein Flacon mit Riechsalz aus der Tasche und hielt es ihr rasch vor die Nase, während sie ihr leise mit ihrem schwerfälligen Accent zusprach:

»Aber Mademoiselle – es ist nichts weiter – ganz gewiß nichts. – Sie dürfen sich nicht so aufregen – –«

»Gehen Sie, Pirnitz,« murmelte die Alte und begleitete ihre Worte mit raschen, automatischen Handbewegungen. »Sehen Sie nach, was los ist. – Sagen Sie ihm, er solle heraufkommen. – Ich muß – ich muß ihn sprechen. – Genug – Schwester Ottilie.«

Die Schwester schloß das Flaçon und steckte es wieder zu sich.

»Wir wollen in Ihr Zimmer gehen, nicht wahr, Mademoiselle? Es ist besser für Sie – Sie legen sich etwas hin und Mlle. Pirnitz kommt dann herauf, um uns Bescheid zu sagen?« –

Die alte Dame nickte bejahend.

»Helfen Sie mir, Maria,« sagte die Schwester.

Dann trug sie mit Maria den Lehnstuhl hinaus. Maria wandte sich an der Schwelle noch einmal um und wiederholte:

»Monsieur Michel ist unten im Flur.«

»Bleiben Sie hier, Lea,« sagte Pirnitz. »Ich muß wissen, um was es sich handelt. – Ich begreife die ganze Geschichte nicht. – Mein armes Kind,« fügte sie dann leiser hinzu: »ich glaube, uns stehen schwere Prüfungen bevor.«

Schwere Prüfungen! Schwere Prüfungen! Wie ein immer wiederkehrendes Echo hallten diese zwei Worte in Leas Herzen nach, während sie rastlos in dem kleinen Salon auf- und abging.

»Schwere Prüfungen!«

Lea weinte nicht. Ihre Traurigkeit war mit einemmal verflogen. Ihr war zu Mute, wie einem Gefangenen bei der Nachricht, daß die Mauern seines Kerkers in Brand geraten sind. Ein Gefühl von froher, wilder Hoffnung flutete in ihr auf.

»Aber das ist ja entsetzlich,« dachte sie, »ich bin ein unwürdiges Geschöpf.« –

Sie gab sich förmlich Mühe, die Angst und Aufregung der andren zu teilen:

»Was mag nur geschehen sein?«

Es ging ihr wie Pirnitz und Maria, und sie fühlte, daß irgend ein Unglück in der Luft lag.

Schließlich setzte sie sich wieder, und wie immer, wenn sie allein war, stieg die Vergangenheit wieder vor ihr auf – Erinnerungen an die glückseligste Zeit ihres Lebens, die frohen Stunden ihren jungen Liebe. – Und jetzt vermischen sie sich in ihrer Phantasie mit den Bildern aus Tinkas Roman, den sie mit fieberndem Blut immer und immer wieder gelesen hatte.

Sie sah einen hochgewachsenen jungen Mann vor sich mit blondem Schnurrbart und meergrünen Augen – aber er saß abgemagert und zusammengesunken in einem Lehnstuhl – er sah aus wie ein Sterbender.

»Georg!« seufzte sie.«– »Ich muß an Tinka schreiben.«

Sie dachte Tag und Nacht daran – sie mußte es wissen, ob Georg wirklich krank war wie der William in Tinkas Roman – ob er aus Schmerz um die Geliebte dahinsiechte.

Lea war so in ihre Gedanken vertieft, daß sie erschrocken zusammenfuhr, als Pirnitz eintrat. Aber in demselben Moment machte ihr egoistischer Schmerz einem andern Gefühle Platz. Sie sah etwas, was sie noch nie gesehen hatte: die Augen der Heiligen schwammen in Thränen, – ihre schmalen, bleichen Hände hingen regungslos herab.

Lea stürzte auf sie zu und umarmte sie.

»Romaine, liebste Romaine, – was ist Ihnen – sagen Sie es mir.« –

Pirnitz machte sich sanft los und trocknete ihre Thränen.

»Ja, Lea, die Stunde der Prüfung ist gekommen. – Die Schule ist ruiniert. Mlle. de Sainte-Parade hat spekuliert und verloren –«

»Alles?«

»Das weiß man noch nicht. – Aber im besten Fall bleibt ihr soviel, daß sie selbst davon leben kann. – – Meine armen Kleinen.«

Pirnitz weinte nicht mehr, aber ihre Stimme klang so tonlos, ihr ganzes Wesen war so verändert, daß es Lea tief erschütterte. Sie konnte es nicht ertragen, dieses angebetete Wesen, das sie immer als den sichersten Halt ihres Lebens betrachtet hatte, so völlig niedergeschmettert zu sehen.

»Romaine,« flüsterte sie, »ich beschwöre Sie, weinen Sie nicht – seien Sie nicht so verzweifelt. – Was soll denn aus mir werden, wenn Sie den Mut verlieren?«

Die Heilige lächelte unwillkürlich über diesen rührend egoistischen Aufschrei.

»Sie haben recht, Lea, ich bin ja nicht allein. Wir werden gemeinsam weiterkämpfen.« –

Während sie das sagte, kam Maria plötzlich hereingestürzt:

»Es steht schlimm mit Mademoiselle. Kommen Sie rasch, sie verlangt nach Ihnen.«

Lea und Pirnitz folgten ihr hastig, ohne weiter zu fragen. Als sie in das Schlafzimmer traten, sahen Sie Mlle. de Sainte-Parade ausgestreckt auf dem Bette liegen. Ihr Gesicht war blaurot, und sie atmete schwer.

Schwester Ottilie fühlte ihr den Puls und versuchte sie zu beruhigen, indem sie immer wieder murmelte:

»Ich bitte Sie, Mademoiselle, nur nicht aufregen.«

Als die alte Dame Pirnitz sah, fragte sie rasch:

»Nun – was ist's mit Michel – haben Sie – mit ihm gesprochen?«

Pirnitz nickte bejahend. Dann, als sie sah, daß die Kranke nach einer Antwort verlangte, fügte sie ausweichend hinzu:

»Wir sprechen später darüber. Es ist nichts Dringendes.« –

Die Augen der alten Dame nahmen einen erschreckenden Ausdruck an. Man sah wohl, daß sie alles erraten hatte. – Sie versuchte sich aufzurichten, ihre Hände fuhren irr durch die Luft, und ihr Mund verzerrte sich. Es war ein so tragischer Anblick, daß alle, die dabei standen, vor Schrecken bebten. Dann stieß sie einen unartikulierten Laut aus und sank wie leblos mit starr geöffneten Augen auf das Bett zurück. –

Maria warf sich mit einem lauten Aufschrei vor dem Bett ihrer Herrin nieder:

»O mein Gott, was ist das? Meine arme Mademoiselle – sie ist krank, – sie wird sterben. – Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes – –«

»Still, Maria,« gebot Schwester Ottilie, »rasch zum Arzt. Eilen Sie.«

»Ich gehe schon, gute Schwester,« sagte Maria, der die unerschütterliche Ruhe der Nonne immer aufs höchste imponierte – »ich gehe schon – ach du lieber Gott, meine arme Mademoiselle.«

Als Maria auf ihren weichen Schuhen geräuschlos das Zimmer verlassen hatte, fragte Pirnitz:

»Können wir Ihnen in irgend etwas helfen, Schwester?«

Schwester Ottilie goß in aller Ruhe ein paar Tropfen Ammoniak in ein Glas Wasser und befeuchtete die Stirn der Kranken damit. Dann sagte sie leise:

»Nein, ich danke Ihnen. Der Arzt hatte es mir schon vorher gesagt. Mademoiselle war in letzter Zeit recht leidend – die Geldangelegenheiten haben sie zu sehr aufgeregt.« – –

»Sie waren also schon darauf gefaßt?« fragte Pirnitz.

»Ja – es ist ein Schlaganfall. – O, Mademoiselle wird vielleicht noch nicht gleich sterben. Sie kann noch jahrelang leben.« –

Lea, deren zartorganisierte Natur vor allem zurückschauderte, was mit Krankheit und Tod zusammenhing, konnte nicht umhin, das Phlegma dieser stillen Nonne in ihrer weiten violetten Klostertracht zu bewundern. Sie beneidete Schwester Ottilie förmlich.

»Die Glückliche ahnt wohl nichts von alledem, was das Herz einer Frau in Versuchung führen kann. – Und wenn doch einmal Anfechtungen kommen, so vermag das Gebet ihr Trost und Halt zu gewähren. – Ich selbst habe meine Kraft überschätzt, – Wo ist die Zeit geblieben, wo ich noch beten konnte?« –

Pirnitz hatte sie beobachtet und erriet ihre Gedanken. Während Schwester Ottilie sich weiter um die Kranke bemühte, faßte sie Leas Hand und sagte leise:

»Ja, Lea, auch das ist eine schöne Aufgabe, aber die unsre ist noch schöner, die Tugend einer Klosterfrau beruht doch im letzten Grunde auf Sklaverei. – Freuen wir uns, daß wir uns ebenso wie sie im Dienste der Menschheit aufopfern dürfen, in Keuschheit wie sie – aber dabei in voller Freiheit, die sie nicht kennt.« –

Schwester Ottilie, die wohl einsah, daß alle weiteren Bemühungen überflüssig waren, ließ sich neben dem Bett auf einen Stuhl nieder und fing an, ihren Rosenkranz zu beten.

Lea und Pirnitz zogen sich in die Fensternische zurück, um sie nicht zu stören. Das Fenster ging auf den Hof hinaus – unter dem Thorweg sahen sie Maria mit der Portiersfrau stehen. Sie sprachen leise miteinander und schienen auf die Ankunft des Arztes zu warten.

»Was hat Michel Ihnen denn noch weiter gesagt?« fragte Lea leise.

»Er ist ein sonderbarer Mensch,« antwortete Pirnitz. »Ich glaube, er war wirklich ganz unglücklich, denn er schlug sich an die Brust und sagte: ich bin an allem schuld – ich habe zu viel gewagt – – aber die arme alte Dame brauchte ja immer Geld. – Ich habe einen Koup gewagt, der sie zur dreifachen Millionärin hätte machen können. – Ich bin irregeführt worden – ich weiß, durch wen, und er soll es mir entgelten. – Ich warne Sie vor einem gewissen Quignonnet, Mademoiselle, – ich warne Sie in Bezug auf Ihre Schule.«

»Quignonnet, der Beigeordnete?«

»Ja. – Er scheint Michel mit Absicht in ein unsicheres Geschäft hineingelockt zu haben!«

»Aber was haben all diese Leute eigentlich gegen uns?«

»Es sind Männer, und sie ärgern sich über unsre Unabhängigkeit. – Was mich bei diesem Michel rührt, ist, daß er nicht den Mut hatte, Mlle. de Sainte-Parade die Unglücksbotschaft mitzuteilen Er hat es schon seit vorgestern gemußt.« –

»Ist sie denn völlig ruiniert?«

» Pater noster«, betete Schwester Ottilie, und die Perlen ihres Rosenkranzes klapperten leise weiter.

»Michel meint, es wird ihr ungefähr so viel bleiben, daß sie davon leben kann, wenn sie ihr Haus verkauft. – Aber unser Werk ist zu Grunde gerichtet.«

»Nun, und?« –

Pirnitz zuckte traurig die Achseln.

Der Arzt kam, ein großer, breitschultriger Mann mit kastanienbraunem Bart. Er unterzog die Kranke einer eingehenden Untersuchung, dann trat er mit Schwester Ottilie an das Fenster, wo Lea und Pirnitz standen.

»Es ist eingetreten, was wir seit einem Monat befürchteten,« sagte er – »die ganze rechte Seite ist gelähmt.«

»Für immer?« fragte Pirnitz.

»O, es kann vielleicht wieder etwas besser werden. Was das Gehirn betrifft, fürchte ich – daß es vorbei ist. Aber das Leben, die rein animalische Gesundheit, kann vielleicht noch ziemlich lange erhalten bleiben.« –

Schwester Ottilie wandte sich an Pirnitz und sagte mit ihrer ruhigen Stimme:

»Sehen Sie, es ist so, wie ich gedacht habe.« –


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