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VII

Während der ganzen nächsten Zeit regnete es unaufhörlich.

Lea hielt sich meistens in Tinkas Salon auf. Sie saß im Lehnstuhl am Fenster und blickte auf das Meer hinaus, das jetzt eine trübe, grünliche Farbe zeigte. Ihr war zu Mute, als ob die Sonne nie wieder durch diese düstre Wolkenwand hervorbrechen würde. Wo war der Sommer geblieben mit seiner südlichen Wärme, seinem ewig blauen Himmel und seinem üppigen, lachenden Blumenflor? –

Sie war nicht kränker als damals im Hospital, obgleich die Erstickungsanfälle und die nächtlichen Schweiße jetzt wieder regelmäßig eintraten. Sie litt auch nicht mehr so viel, ihr war nur, als ob sie alles, was um sie her vorging, durch einen dichten Schleier sähe.

Die sämtlichen Bewohner des Hauses umgaben sie mit Liebe und Fürsorge. Sie that alles, was der Arzt verlangte, legte sich frühzeitig schlafen, aß und trank, was ihr verordnet wurde, und nahm ihre Medizin ohne Widerstreben. Aber nur, um den andern nicht wehe zu thun. Seit jenem Sonntag auf Gilder Rock hatte sie den Glauben an ihre Genesung verloren, ohne sich darüber klar zu sein, weshalb. Es kostete sie eine fast übermenschliche Anstrengung, diese Empfindungen vor Edith, vor Tinka und vor allem vor Georg zu verbergen. Und so bat sie oft, man möchte sie allein lassen, sie sei müde. Sie sehnte sich danach, sich etwas mehr gehen zu lassen, nicht jede Bewegung, jedes Wort formieren zu müssen. Nur allein sein! An sich selbst denken zu dürfen mit dem ganzen Egoismus der unheilbar Erkrankten, sich im Spiegel betrachten, um die fortschreitenden Verheerungen des tötlichen Übels zu konstatieren – sich von Herzen auszuweinen wie alle jungen, lebensfrohen Geschöpfe, die wissen, daß sie rettungslos dem Untergang geweiht sind.

Ja, sie wußte, daß das Ende nahe war. Sie war sich vollständig klar darüber. Nicht nur, weil es mit ihrer Gesundheit von Tag zu Tag abwärts ging, nein, es lag in der Ordnung der Dinge überhaupt, es mußte so kommen. Jene überirdische Stunde auf Gilder Rock konnte sie nicht wiederholen. Und zwei Menschen, die sich in solcher Ekstase vermählt hatten, konnten hinfort nicht mehr wie ein alltägliches Ehepaar miteinander weiterleben.– –

Sie ergab sich in diese Notwendigkeit, und zugleich gewährte es ihr einen schmerzlichen Genuß, sich in den Gedanken an ihr trauriges Schicksal zu versenken. Anfang Oktober wurde das Wetter allmählich wieder besser. Die Sonne siegte über die Wolken und zerstreute den Nebel.

Dr. Bryce wünschte, daß Lea an warmen Nachmittagen wieder etwas frische Luft schöpfen sollte. Sie war so schwach geworden, daß sie nicht mehr die geringste Anstrengung machen konnte, ohne zu husten und Blut auszuwerfen. So mußte Georg sie auf den Armen hinuntertragen. Er fühlte, wie sie mit jedem Tage leichter wurde.

Er pflegte seine kranke Frau mit leidenschaftlicher Hingebung und wich nicht von ihrer Seite, außer wenn sie es selbst wünschte. Aber er litt namenlos unter diesem langsamen Todeskampf. Ihm war zu Mute, als ob seine eigene Seele in den letzten Zügen läge, und er hatte selbst sterben mögen, nm das allmähliche Hinschwinden ihrer Kräfte nicht länger mit ansehen zu müssen.

An einem Oktobermorgen, als Edith das Zimmer in Ordnung gebracht hatte und eben hinausgehen wollte, um wie gewöhnlich Georg zu rufen, zog Lea sie dicht an das Bett heran und sagte:

»Edith, ich wollte Sie bitten, an Friederike und Pirnitz zu schreiben.«

»Gewiß, Lea,« antwortete Edith, »ich hätte es schon längst gethan, aber ich fürchtete, es möchte Ihnen nicht recht sein. Und aus eigene Hand wagte ich es nicht. Was soll ich ihnen sagen?«

»Schreiben Sie – wenn sie mich noch lieb haben, so müßten sie alles andre verlassen, um zu mir zu kommen. – Sonst –«, sie konnte einen Augenblick nicht weiter sprechen – »sonst treffen sie mich nicht mehr am Leben.«

Edith schrieb an Pirnitz, während Tinka es übernahm, Friederike zu benachrichtigen.

»Ihr Zustand zerreißt uns allen das Herz,« schrieb Tinka. – »Es handelt sich nur noch um Tage, Ihr müßt euch beeilen, wenn ihr sie noch sehen wollt.« –

An einem dunklen Herbstabend kamen sie an. Georg und Tinka empfingen sie im Salon und führten sie dann zu Lea. Lea lag im Bett, ihr Gesicht glühte vor Fieber, ihre Hände lagen bleich und abgezehrt auf der Decke. Sie zeigte nicht die geringste Erregung, als Friederike und Pirnitz eintraten. Man wechselte nur einige allgemeine Redensarten, denen niemand die tiefe Bewegung, die alle durchbebte, angemerkt hätte.

Lea erklärte, sie fühle sich heute ganz wohl und würde gewiß gut schlafen, denn sie sei recht müde. Dann fragte sie, ob Pirnitz und Friederike eine angenehme Reise gehabt hätten.

Schließlich verstummte das Gespräch, Pirnitz und Friederike küßten die Kranke auf die Stirn und wünschten ihr gute Nacht. Dann gingen sie auf ihr Zimmer.

Tinka begleitete sie. Als sie allein waren, bestürmte Friederike sie mit Fragen. Tinkas Augen füllten sich mit Thränen, während sie von Leas Krankheit erzählte:

»Wir sahen sie förmlich wieder aufblühen, als sie zu uns kam – sie war noch schöner geworden, als damals in London. Seit sie und Georg verheiratet waren, wurde sie immer ruhiger und heitrer – so daß wir anfingen, wieder zu hoffen. Aber dann, nach einer Bootfahrt mit Georg, bekam sie diesen Rückfall. – – Es ist kaum zu ertragen, wir gehen alle daran zu Grunde. – Ich kann schon lange nicht mehr arbeiten – ich sehe immer nur dieses bleiche Gesicht vor mir, aus dem das Leben von Tag zu Tag mehr zu entfliehen scheint.« –

Dann verließ Tinka das Zimmer, um die Kleinen zu Bett zu bringen.

»Also auf Wiedersehen morgen,« sagte sie.

Als sie verschwunden war, sank Friederike wie gebrochen in einen Lehnstuhl.

»Romaine – Romaine,« stammelte sie – »ich bin an allem schuld, ich habe Lea getötet. Ohne mich wäre sie längst Georgs Frau und all dies Schreckliche nicht geschehen.« –

So vergingen mehrere Tage in banger Erwartung dessen, was unumgänglich kommen mußte. Lea schien weder Friederike noch Pirnitz gegenüber etwas von ihrer alten Liebe zu empfinden. Nachdem sie selbst nach ihnen verlangt hatte, that sie jetzt, als ob es ihr völlig gleichgültig sei, ob sie da waren oder nicht. Wenn sie an ihrem Bett saßen, schwieg sie oder antwortete nur ganz flüchtig auf ihre Fragen. Sie blickte sie nur mit ihren fieberhaft glühenden Augen an, als ob sie ihnen auch ohne Worte zu verstehen geben wollte, wie schwer sie an ihr gesündigt hatten.

Sie konnte das Zimmer jetzt nicht mehr verlassen. Ihre zunehmende Schwäche machte selbst die Nachmittagsausfahrten unmöglich.

Georg mußte Tag und Nacht um sie sein. Er schlief auf dem Divan im Salon und eilte auf den geringsten Laut, der aus Leas Zimmer drang, herbei. Sie gaben sich jetzt keine Mühe mehr, einander ihre Angst zu verbergen, sie schwelgten förmlich in ihrer Verzweiflung. Unaufhörlich sprachen sie von allem, was sie aus ihrem Leben gemacht hätten, wenn sie zusammengeblieben wären. Und keiner bemühte sich, mehr zu sagen »wir wollen das und das thun« – sondern »wir hätten es gethan, wenn –«. –

Während sie sich so isolierten, schlossen die andern, die ihre Einsamkeit respektierten, sich immer enger aneinander an, Friederike war viel mit Edith zusammen, die damals in London hauptsächlich Leas Gefährtin gewesen war. Edith erzählte von ihrem Plan, nach Queensland zu gehen. Und Friederike hätte am liebsten gesagt: »Nehmen Sie mich mit. – Wenn das Unvermeidliche eingetreten ist – folge ich Ihnen.«

Sie war so müde von all den Mißerfolgen und sehnte sich nach einem neuen Wirkungskreise, wo ihre Anstrengungen nicht wie in Europa durch die Macht veralteter Anschauungen vereitelt wurden. Nur der Gedanke an Pirnitz, die trotz aller Schicksalsschläge ihr Befreiungswerk in Paris wieder aufnehmen wollte, hielt sie zurück.

Der eigenartige, magnetisch anziehende Zauber, der von Pirnitz ausging, nahm bald aller Herzen gefangen. Karola und Ida vergötterten sie und wurden nicht müde, zu lauschen, wenn Pirnitz ihnen Geschichten erzählte, was sie oft und gerne that.

Aber vor allem war Tinka völlig hingerissen von der schönen Seele dieser seltenen Frau, deren Erscheinung geradezu inspirierend auf ihr künstlerisches Empfinden wirkte. Sie ließ ihren angefangenen Roman liegen, um den ganzen Tag mit Pirnitz zusammen zu sein, mit ihr zu sprechen, sie förmlich zu studieren.

Lea verließ das Bett nicht mehr. Am Tage schob man es dicht an die Thür des Salons heran, so daß sie durch eins der hohen Fenster auf das Meer hinausblicken konnte.

Am sechsten Oktober morgens früh trat nach einer qualvoll verbrachten Nacht eine Art Lähmungszustand ein, der das ganze Haus in Aufregung versetzte. Dr. Bryce erklärte es für ein Zeichen, daß das Ende demnächst zu erwarten sei.

Gegen Mittag erholte sie sich wieder etwas und erklärte, sie fühle sich wieder besser. Der Rest des Tages verlief ganz ruhig, ebenso die Nacht.

Während der nächsten Tage schwanden ihre Kräfte zusehends. Sie nahm nichts mehr zu sich, höchstens dann und wann einen Löffel Gelee. Im übrigen sprach sie wenig und schlief viel. Georg mußte immer bei ihr sein.

Am vierzehnten klopfte Lizzie in aller Frühe an Pirnitz' und Friederikes Thür.

»Mein Gott, was ist geschehen?« rief Friederike erschrocken.

»Miß Craggs läßt die Damen bitten, so bald wie möglich hinunterzukommen. Aber Sie brauchen nicht zu erschrecken. Madame Lea fühlt sich besser, sie hat selbst nach Ihnen verlangt.«

Sie kleideten sich rasch an.

Als sie in das Zimmer traten, saß Lea, durch zwei Kissen gestützt, aufrecht im Bett und begrüßte sie mit einem seltsamen Lächeln.

Georg stand bleich und übernächtig neben ihr. Er sprach kein Wort, während die beiden sich über Lea beugten und sie auf die Stirn küßten.

»Guten Morgen, Fédi, – guten Morgen, Romaine. – Ihr braucht euch nicht zu ängstigen, ich fühle mich ganz wohl. Ich habe euch nur rufen lassen, weil ich heute etwas besser sprechen kann. Nicht wahr, meine Stimme ist wieder ganz wie früher?«

Georg wandte sich ab, um seine Bewegung zu verbergen. Und Friederike sagte:

»Ja, liebste Lea, deine Stimme ist heute sehr klar.«

Es wurde anfangs nur über gleichgültige Dinge gesprochen, wie gewöhnlich. Dann sagte die Kranke plötzlich:

»Ich möchte endlich einmal wieder etwas von der Schule hören. Warum erzählt ihr mir nie etwas davon? Wie ist denn die Sache damals eigentlich geworden? Ich habe grade heute morgen an Daisy gedacht. – Wo sind Daisy und die arme Geneviève denn geblieben?«

Es war das erste Mal, daß Lea dieses Thema berührte. Trotz dem etwas gereizten Ton, der in ihren Worten lag, fühlte man wohl, daß es sie wirklich interessierte.

»Wir haben bisher nicht von unserm traurigen Schicksal gesprochen, Lea,« sagte Pirnitz, »um Sie nicht anzugreifen oder aufzuregen. Außerdem ist nicht viel Neues passiert, seit wir damals die Schule verließen. Sie wird jetzt von Mlle. Heurteau geleitet. Die Administration ist in Durambertys Hände übergegangen.« –

Lea dachte eine Zeitlang nach. Dann blickte sie Pirnitz fest an:

»Und Sie haben alles das ruhig geschehen lassen?«

»Es war nicht anders möglich, Lea,« antwortete Friederike – »was hätten wir thun sollen?«

Wieder spielte ein seltsames Lächeln um Leas Lippen. Sie blickte abwechselnd Pirnitz und Friederike an. Dann faßte sie Georgs Hand und preßte sie gegen ihre Wangen.

»Und Geneviève?«

»Geneviève ist seit vier Tagen aus dem Gefängnis entlassen, Daisy hat es mir geschrieben.«

»Wirklich? – Und das habt ihr mir nicht einmal erzählt. – Wo ist sie denn jetzt?«

»Daisy ist mit ihr in einer Heilanstalt und pflegt sie.«

»Und wer trägt die Kosten?«

»Uns sind noch 40 000 Francs von der Kautionssumme geblieben.« –

Lea schmiegte sich dicht an Georg, als ob sie immer noch fürchtete, daß Pirnitz und Friederike sie wieder von ihm trennen könnten.

»Also Daisy ist auch nicht mehr bei Ihnen?« fragte sie weiter.

Friederike schnürte sich bei diesen Worten das Herz zusammen, sie glaubte zu fühlen, wie schmerzlich sie Pirnitz trafen.

»Wer von uns weiß, wie die Zukunft sich gestalten wird,« sagte der Apostel. – »Aber ich glaube allerdings, daß Daisy sich nicht wieder von Geneviève trennen wird.«

»So bleibt also nur noch Friederike bei Ihnen, und sind Sie wirklich sicher, daß sie auch bleiben wird?«

»Lea,« sagte Pirnitz ernst, »wir alle haben schwere Prüfungen erdulden müssen. Ist es nicht besser, wenn wir in Liebe und Mitleid zusammenhalten, als daß wir uns gegenseitig zu kränken versuchen?«

Ihre Stimme klang so traurig, daß Lea gerührt wurde.

»Sie haben recht,« sagte sie – »verzeihen Sie, wenn ich Ihnen weh gethan habe. – Denken Sie daran, daß mein Schicksal doch noch trauriger ist als alles andre – ihr andern dürft doch noch weiterleben. – Und ich möchte so gerne leben, jetzt, wo ich die Wahrheit erkannt habe.«

»Sprich nicht mehr, Lea, sprich nicht mehr,« bat Georg flehend. – »Du wirst sonst noch Dinge sagen, die uns entsetzlich weh thun.«

Die andern weinten – eine Zeitlang schwieg alles. Dann begann Lea wieder:

»Ja, ich habe jetzt die Wahrheit erkannt. – Wir haben etwas Unmögliches gewollt. Romaine – Friederike – das, was wir erstrebten, war unmöglich. Wie konntet ihr glauben, daß wir mit unsern schwachen Kräften über die Männer triumphieren würden. – Und wie konnte ich glauben, daß ich ohne Georg weiterleben sollte? – Es ist mir jetzt so klar wie die Sonne, die da durchs Fenster hereinscheint, daß das, was wir damals versuchten, sinnlos und umsonst war.« –

»Bereuen Sie, daß Sie es versucht haben?« fragte Romaine.

Lea schwieg eine Zeitlang, dann schloß sie die Augen und sagte:

»Nein.«

»Und wenn dieser erste Versuch auch umsonst war?« fuhr Pirnitz fort. »Der zweite wird vielleicht gelingen. Andre, die nach uns kommen, werden erreichen, was wir nicht erreicht haben. – Wir konnten nicht anders, weil wir den Beruf dazu in uns fühlten – wir mußten – ja, wir mußten thun, was wir gethan haben. – Und die wenigen, die von uns noch zurückgeblieben sind, müssen fortfahren, unserm Werk zu dienen.« –

Alle waren still geworden, während sie sprach. Der ironische Zug war aus Leas Gesicht gewichen.

»Romaine!« rief sie.

Pirnitz beugte sich über sie. Und so leise, daß niemand von den andern es verstand, murmelte die Sterbende:

»Verzeihen Sie mir, Romaine – ich habe Ihnen weh gethan. – Und es war mit Absicht – ich wollte Ihnen weh thun. Aber Sie dürfen mich nicht zu streng beurteilen. – Es ist ja alles so entsetzlich traurig. Ich wäre so glücklich gewesen. Nicht wahr, Sie verstehen mich und sind mir nicht mehr böse? Sie haben mich doch noch lieb?«

»Ja, Lea, von ganzem Herzen.«

»Jetzt möchte ich auch noch mit Friederike sprechen.«

Friederike trat auf das Bett zu. Georg ging ans Fenster, während Pirnitz und Edith das Zimmer verließen.

Lea faßte ihre Schwester an beiden Händen.

»Hör' mich ruhig an, Fédi, – unterbrich mich nicht, denn ich bin sehr schwach. – Ich habe heute die ganze Nacht an unsre Kinderzeit gedacht. – Ich sah dich wieder vor meinem Bettchen stehen, wie ich ganz klein war. – Und dann sahst du mich an. Hab' ich das nur geträumt oder ist es wahr?«

»Es ist wahr, Lea, wie oft habe ich dich so beobachtet, als du ein kleines Kind warst. – Mir war, als ob mir auf diese Weise dein ganzes Denken gehörte.«

»Ja, Fédi, ich sah alles nur durch deine Augen. Du hattest mich ganz in der Gewalt. – Und ich liebte dich wie keinen andern Menschen auf der Welt.« –

»O Lea,« antwortete Friederike – »habe ich deine Liebe denn jetzt ganz verloren?«

»Nein, ich hab' dich wieder lieb – – seit ich dich heute nacht im Traum gesehen habe – wie du vor meinem Bett standest, – Du bist immer gut gegen mich gewesen und hast nur mein Bestes gewollt. Es ist nicht deine Schuld, wenn –«

Sie sprach es nicht aus, was nicht Friederikens Schuld gewesen war.

Friederike vermochte die Thränen nicht mehr zurückzuhalten.

»Ja, ich hab' dich lieb, Fédi, ich bin froh, daß du jetzt bei mir bist. Gieb mir etwas von deinem Mut. Ich bin so unglücklich.«

Sie umarmten sich zärtlich so wie in früheren Zeiten.

»Ich bin so unglücklich,« fuhr Lea fort, »ich möchte so gerne bei Georg bleiben, mit ihm zusammenleben. Wenn es auch nur ein paar Jahre wären. – Ich bin noch so jung, Fédi. – Ist es nicht entsetzlich, jetzt sterben zu müssen, wo das Glück endlich gekommen ist? Fédi, rette mich, hilf mir – damals, als ich klein war, hättest du mich nicht sterben lassen.«

Sie brach in heftiges Schluchzen aus, Georg stürzte rasch herbei.

Allmählich beruhigte Lea sich wieder. Sie legte sich in die Kissen zurück und sagte:

»Wenn ich jetzt in Paris wäre, könnte man mich vielleicht doch noch retten. Glaubst du nicht, Fédi, daß ein großer Arzt wie Bonchardon mich retten könnte? Aber man kann mich wohl jetzt nicht nach Paris transportieren?«

»Jetzt nicht,« sagte Friederike – »aber wenn du dich etwas erholt hast.«

Lea blickte ihre Schwester an, und wieder trat jener seltsame, feindliche Ausdruck in ihre Augen.

»Geh jetzt, Fédi,« sagte sie, »ich will mit Georg allein sein, bis der Arzt kommt.«

Der Doktor kam bald. Nur Edith und Georg waren bei seinem Besuch zugegen. Als Bryce das Zimmer verließ, traf er Tinka und Friederike auf der Treppe.

»Nun?« fragten sie.

»Sie ist sehr schwach. – Nehmen Sie Ihren Mut zusammen. Es geht zu Ende.«

Damit ging er rasch die Treppe hinunter.

Tinka faßte Friederike am Arm:

»Es geht zu Ende – sagt er – Friederike, ist es denn möglich, daß Lea einmal nicht mehr sein wird?«

Jetzt ging die Thür zum Krankenzimmer auf. Edith trat heraus und sagte:

»Lea möchte die Kleinen sehen.«

»Ida und Carola?«

»Ja, sie klagt darüber, daß sie nicht mehr zu ihr kommen. Sind sie da?«

»Ja, ich habe sie oben lachen hören,« sagte Leas schwache Stimme vom Bett her.

»Ich werde sie gleich holen,« sagte Tinka.

Friederike trat wieder in das Zimmer ihrer Schwester. Obgleich sie es vor kaum einer Stunde verlassen hatte, erschrak sie über die Veränderung, die in Leas Gesicht vorgegangen war.

»Der Doktor hat euch wohl gesagt, daß es aus mit mir ist?« fragte Lea in beinah hartem Ton.

Friederike versuchte eine ausweichende Antwort zu geben.

»Siehst du – du kannst nicht nein sagen. – Ja, es ist aus. Aus und vorbei.«

Es lag etwas so herzzerreißendes in dem Ton, mit dem sie das sagte, daß Friederike sich nicht länger beherrschen konnte. Sie warf sich auf einen Lehnstuhl und brach in Thränen aus. Dabei verbarg sie das Gesicht in beide Hände, um nichts mehr zu hören und zu sehen. Und doch hörte sie immer noch den röchelnden Atem der Kranken und Georgs dumpfes Schluchzen.

Dann kam Tinka mit den beiden Kindern. Lea richtete sich etwas empor und umarmte zuerst die kleine Ida, die sie blaß und erschrocken anstarrte. Dann kam Carola an die Reihe, sie hielt Lea ruhig beide Wangen zum Kuß hin.

»Ihr süßen Kleinen,« sagte Lea dann. – »Sind sie nicht entzückend, Georg? – Tinka, wie bist du glücklich.« –

Ein schmerzlicher Seufzer rang sich aus ihrer Brust. Und nun schrie Ida plötzlich laut auf: »Mama, Mama, ich will hinaus.« Das Kind bebte am ganzen Körper. Als Carola ihre Schwester in diesem Zustande sah, fing sie ebenfalls an zu weinen. Man mußte beide so rasch wie möglich hinausbringen.

»Sie fürchten sich vor mir,« murmelte Lea. Dann sank sie in die Kissen zurück und schloß die Augen.

Als sie wieder mit Georg und Edith allein war sprach sie kein Wort mehr. Georg saß schweigend neben ihrem Bett, während Edith in einer Ecke des Zimmers kniete und leise betete. Es war so still im Zimmer, daß man jeden Atemzug der Kranken hörte. Friederike und Tinka hatten sich draußen auf der Treppe niedergelassen, sie konnten sich nicht entschließen, von der Thür des Krankenzimmers fortzugehen. Pirnitz stand vor ihnen, mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt. – Sie erwarteten jeden Augenblick, daß die Thür aufgehen und man sie rufen würde. Friederike weinte still vor sich hin.

Es schlug zwölf Uhr mittags. Bald darauf kam der Arzt wieder. Er sah finster und zugleich etwas verlegen aus.

»Wie steht's?« fragte er.

»Noch ebenso wie vorhin,« antwortete Tinka. »sie ruht sich aus.«

Nach einer Viertelstunde trat er wieder heraus, von Edith gefolgt, deren Augen vom Weinen gerötet waren.

Auf Tinkas Frage antwortete er achselzuckend:

»Sie will mir ihrem Mann allein sein. – Lassen Sie sie in Ruhe. Ihr kann doch niemand mehr helfen.«

Damit ging er.

– – – – – – – – – – –

Lea hatte wirklich gebeten, sie mit Georg allein zu lassen, und Bryce bedeutete Edith daraufhin, das Zimmer zu verlassen.

Sie hatte hohes Fieber. Ihre Augen glänzten unnatürlich und zwei scharf abgegrenzte rote Flecken brannten aus ihren eingefallenen Wangen.

Als Edith und Bryce fort waren, seufzte sie tief auf:

»Georg.«

Er setzte sich zu ihr auf den Bettrand. Sie richtete sich etwas empor und strich ihm über das Haar.

»Laß mich dich anschauen. – O, mir scheint jetzt, ich habe dich lange nicht genug angesehen, wie ich dich noch hatte – und jetzt, jetzt –«

Schluchzend sank sie in die Kissen zurück. Mit ihren schwachen, zitternden Händen versuchte sie ihn zu sich hinabzuziehen:

»Komm, Georg, komm.«

Er kniete neben dem Bett nieder. Sie klammerte sich krampfhaft an ihn an und stammelte:

»Laß mich bei dir bleiben – laß mich nicht sterben. Nein, ich werde nicht sterben, wenn du es nicht willst.« –

Eine sinnlose Hoffnung stieg in ihm auf, als er ihre fieberglühenden Augen auf sich gerichtet sah, ein wahnsinniges Verlangen, ihre entfliehende Seele festzuhalten.

»Ja, ich will, daß du bei mir bleibst. Du sollst leben. Ich halte dich fest mit meinem ganzen Willen, meiner ganzen Kraft. Lea, Lea, du mußt bei mir bleiben. – Ich trage dich mit mir fort, weit von hier, in ein wärmeres Land, wo du wieder gesund wirst – nach Italien, von dem wir so oft zusammen geträumt haben. Du sollst leben, Lea.« –

»Italien,« murmelte sie in seliger Verzückung – »ja, nimm mich mit dir fort. Siehst du, ich muß ja noch leben, damit unser Schicksal sich erfüllt. – Georg – du Geliebter – wir haben uns gegenseitig befreit. Denkst du noch daran, wie wir damals geküßt haben – droben auf deinem Felsen – am Meer? – Ich weiß, daß ich unter deinen Küssen ein Kind von dir empfangen habe. – Und deshalb muß ich doch weiterleben – ich kann jetzt nicht sterben.« –

Sie blickte ihn immer noch mit leuchtenden, verklärten Blicken an. Dann sank sie plötzlich halb ohnmächtig zurück:

»Mein Gott, wie bin ich schwach,« seufzte sie. Das Fieber schüttelte sie von neuem und sie fing an, vor sich hin zu phantasieren:

»Später – später – wenn es erst geboren ist – die Wahrheit, ja – ich sehe – das Meer – und die wunderbare Stadt – Georg.« –

Sie röchelte leise und ihre Hände strichen unruhig tastend über die Bettdecke. Dann und wann stieß sie seinen Namen hervor wie einen letzten Hilferuf: »Georg!«

Er wußte nicht, wie lange es dauerte. Er hatte jedes Bewußtsein der Zeit verloren. Dann fühlte er plötzlich, daß sie ihn ansah. Eine dumpfe, verzweifelte Resignation lag in ihrem Blick.

Sie schien jetzt wieder völlig bei Besinnung zu sein:

»Georg, wenn ich tot bin, sollst du wieder dorthin gehen, wo es so hell und licht ist.«

»Ja,« sagte er, ohne zu verstehen, was sie meinte.

»Verstehst du mich – du sollst wieder nach Italien gehen. Damals hätte ich dir dorthin folgen sollen – jetzt ist es zu spät für mich. Aber du sollst wieder hingehen und bei allem, was du siehst, an mich denken. – Und niemals – niemals sollst du ein andres Weib berühren. –Schwörst du mir das?«

»Ja, ich schwöre es dir.«

»Du bist so gut, und ich hab' dich so lieb.«

Sie küßten sich.

»Georg, jetzt hilf mir, nimm mich in deine Arme.« –

Sie richtete sich halb empor, ihr Gesicht verzerrte sich vor Anstrengung.

»Siehst du meinen weißen Schlafrock dort an der Thür? Komm, bring' ihn mir.« –

Er gehorchte. Sie blickte ihn an und sagte:

»Ich will aufstehen.«

Er glaubte, daß sie im Fieber redete. Aber sie wiederholte:

»Ja, ja, ich will aufstehen. – O, sag' nicht nein – ich bitte dich, du würdest es nachher bereuen. Hilf mir, aber ruf niemand von den andern ich will mit dir allein sein. – Es geht schon.«

Sie warf die Decke zurück und nun half er ihr den Schlafrock überwerfen.

Mit fast übermenschlicher Anstrengung richtete sie sich empor. Er nahm sie in die Arme, ihre Haare hingen aufgelöst über die Schultern herab.

»Dorthin,« sagte sie und zeigte auf das Fenster, »ich muß das Meer sehen – die Stadt – –«

Er wußte nicht, ob sie phantasierte, aber wie hypnotisiert that er alles, was sie wollte.

Sie preßte ihre Stirn gegen die Fensterscheiben. Dann wandte sie sich um und sah ihn mit einem eigentümlich vagen Blick an.

»Die Stadt – wo ist die Stadt?«

Er verstand nicht, was sie wollte.

»Die Stadt,« wiederholte sie ungeduldig wie ein eigensinniges Kind – »die wunderbare Stadt, wo wir uns fanden – wo ich dich geliebt habe – wo ist sie?«

Dann, als ob sie plötzlich eingesehen hätte, daß ihr Wunsch unerfüllbar war – warf sie den Kopf zurück und sah ihn verzweifelt an, – Sie seufzte tief auf und führte die Hand an die Lippen, als ob sie ersticken müßte.

»Lea!« sagte er.

Dann fühlte er mit einem Male, daß er nur noch einen leblosen Körper im Arme hielt, – das Blut rieselte von ihren Lippen. Und nun schrie er laut auf:

»Lea! Lea!«

Die Thür ging auf, er hörte eilige Schritte und blickte in die entsetzten Gesichter von Tinka, – Friederike – Edith – – –


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