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IV

Nicht wahr, Sie kommen heute noch einmal wieder, Herr Doktor?«

»Ja, ich will einmal sehen – vielleicht nach dem Essen. Sind Sie dann noch da, Mademoiselle?«

»Oh, gewiß, ich bleibe so lange wie möglich.«

»Also, Sie dürfen auf mich rechnen.«

Der Bezirksarzt wandte sich auf der Treppe noch einmal um und lächelte dem hübschen, jungen Mädchen, das sich über das Geländer hinabbeugte, zu. – Aber Duyvecke achtete nicht weiter darauf, sondern rief ihm noch einmal nach:

»Also sicher, Herr Doktor!«

Dann trat sie wieder in die Wohnung und schloß die Thür hinter sich. Einen Augenblick stand sie nachdenklich da, und ihre klare Stirn legte sich in Falten. Dann ging sie in das Schlafzimmer, wo der Kleine mit fieberglühenden Wangen sich unruhig hin- und herwarf.

Rémineau saß neben dem kleinen Bett. Duyvecke winkte ihm und er folgte ihr in das Eßzimmer.

»Nun, was hat der Doktor gesagt?«

»Er wird heute Abend wiederkommen,« antwortete Duyvecke. »Er meint, es wäre nichts Bedenkliches.«

»Ist das wirklich wahr, Mlle. Duyvecke?«

»Gewiß, Rémi, ich würde Ihnen doch nichts vorlügen. Der Doktor glaubt, daß es vielleicht Masern oder am Ende nur Windblattern sind.«

»Gott sei Dank, ich habe eine elende Angst gehabt. – Aber es ist wirklich sonderbar, seit Sie da sind, geht es ihm besser.«

Mit niedergeschlagenen Augen fügte der arme Teufel hinzu:

»Aber es hilft ja alles nichts – Sie müssen ja doch wieder fortgehen, Mlle. Duyvecke, in Ihre Schule zurück, und was soll dann aus uns werden?«

»Aber ich bleibe doch so lange ich kann, Rémi!«

Damit ging sie wieder ins Nebenzimmer. Als sie an ihm vorbeiging, bückte Rémineau sich und küßte rasch den Saum ihres Kleides, ohne daß sie etwas davon merkte.

Das Zimmer war nur durch eine kleine Nachtlampe erhellt. Sie setzten sich nebeneinander ans Fenster und lauschten schweigend den Atemzügen des kleinen Kranken, die allmählich ruhiger und regelmäßiger wurden, bis er schließlich in einen tiefen, festen Schlummer versank.

»Sehen Sie, Rémi,« sagte Duyvecke ganz leise.

»Ja, der Arzt hat doch recht gehabt.«

Duyvecke stand auf und ging auf den Zehenspitzen ans Bett. Sie faßte vorsichtig Gastons Hand und fühlte ihm den Puls.

»Er hat gar kein Fieber mehr,« flüsterte sie, »wir müssen ihn jetzt schlafen lassen.«

»Und seine Medizin?«

»Oh, die bekommt er, wenn er aufwacht. Die Hauptsache ist, daß er jetzt tüchtig ausschläft. Aber, wir wollen lieber hinausgehen, sonst könnten wir ihn am Ende noch wecken.«

Als sie wieder im Eßzimmer waren, fragte Rémineau:

»Haben Sie nicht Hunger, Mlle. Duyvecke?«

»Mein Gott, ja,« antwortete sie – sie war jetzt wieder ganz lustig geworden – »ich möchte ganz gerne etwas essen. Ich habe einen entsetzlichen Appetit, Rémi, und eigentlich sollte ich etwas dafür thun, magerer zu werden.«

Rémi war an das Büffet gegangen und fing an, Teller und Eßwaren herauszunehmen. Dann erwiderte er lebhaft:

»Was für eine Idee! Es ist doch grade schön, so gesund und frisch zu sein wie Sie. Ich finde nichts abscheulicher als diese knochigen Frauen, die wie Engländerinnen aussehen. – Sehen Sie, da habe ich eine Pastete für Sie gekauft – und Edamer Käse – ich weiß, daß Sie ihn gerne essen – und da sind Erdbeeren.«

»Aber, Rémi, daß Sie so an mich gedacht haben bei all Ihren Sorgen, Sie sind so gut.« Sie half ihm den Tisch decken und blickte ihn gerührt an. Er wurde so verwirrt, daß er eine Gabel auf den Teppich fallen ließ.

»Verfluchte Ungeschicklichkeit,« murmelte er, – »o, verzeihen Sie, Mademoiselle.«

Wie manchesmal hatten sie und Rémineau in früheren Zeiten so zusammen soupiert, und der kleine Gaston pflegte dann zwischen ihnen zu sitzen und sie mit seinem muntren Geplauder zu belustigen! –

Seit Duyvecke im Schulhause wohnte, waren diese harmlosen, kleinen Feste immer seltner geworden, was ihnen einen um so höheren Reiz verlieh. – Duyvecke machte sich im stillen Vorwürfe darüber, daß es ihr so viel Vergnügen machte, daß sie sich im Beisammensein mit Rémineau glücklicher und heimischer fühlte als bei ihren Kolleginnen. Ja, es war schlimm genug, aber sie konnte nicht anders. Was Rémineau ihr von seiner Arbeit und von dem Kleinen erzählte, interessierte sie weit mehr als die Gespräche, die Pirnitz, Friederike und Mlle. Heurteau miteinander führten.

»Nein, gewiß,« dachte sie, »ich bin einfach eine dumme Gans und gar nicht wert, mit diesen Damen zusammenzuleben.«

Rémineau war ganz glückselig, er fühlte sich von einer schweren Sorge befreit, und dazu die Freude, Duyvecke bewirten zu dürfen! Aber dann plötzlich fragte er ganz ängstlich: »Aber Sie gehen doch nicht früher weg, weil der Kleine jetzt besser ist, Mlle. Duyvecke?«

»Nein, Rémi, ich habe Geneviève Soubize gebeten, mich nach ihrem Abendessen abzuholen. Sie hat Medizin studiert und versteht sich sehr gut auf Kinderkrankheiten. Ich habe vielmehr Vertrauen zu ihr, wie zu Eurem Doktor hier.«

»Nun, und dann müssen Sie doch wieder heimgehen?«

»Natürlich, Rémi, ich kann doch nicht auf der Straße schlafen.« –

Rémis ehrliches Gesicht wurde dunkelrot. Er schwieg eine Zeit lang, dann begann er zögernd, als ob er nicht recht wüßte, wie er seine Gedanken richtig formulieren sollte:

»Ihre Schule ist sehr schön gebaut und praktisch eingerichtet, fast wie ein Kloster. Wenigstens kommt es mir so vor. Es ist alles so reich – ganz wie im Kloster.«

Duyvecke lächelte, wobei ihre kleinen, gesunden Zähne sichtbar wurden:

»Aber nicht doch, Rémi, es hat gar nichts mit einem Kloster zu thun, wir haben keine Ordensregeln und brauchen keine Gelübde abzulegen. Sie sehen doch selbst, wir können gehen, wohin wir wollen. Wenn ich in einem Kloster wäre, hätte ich auf Ihr Telegramm hin heute gar nicht kommen können.«

»Ja, das ist wahr – wenn ich denke, daß ich überhaupt den Mut gehabt habe, Sie herzurufen. Aber sehen Sie, Mlle. Duyvecke, ich wußte gar nicht, was ich thun sollte. Wenn der Kleine nicht wohl ist, so verliere ich völlig den Kopf, und Sie sind für mich wie der liebe Gott.«

»Armer Rémi!«

Er faßte die Hand, die sie ihm reichte und führte sie mit einer rührend unbeholfenen Bewegung an seine Lippen. Duyvecke errötete und entzog sie ihm wieder. Dann schwiegen sie beide eine Zeit lang. Duyvecke aß langsam ihre Erdbeeren, die sie vorher sorgfältig im Zucker umdrehte. Rémineau hatte sich in den Lehnstuhl zurückgelegt und schien tief nachzudenken.

»Aber eigentlich ist es doch wie ein richtiges Kloster,« sagte er dann, »weil Sie sich nicht verheiraten dürfen.«

»Wie kommen Sie eigentlich darauf, Rémi? Sie irren sich nämlich. Keine von uns hat sich verpflichtet, nicht zu heiraten.«

»O,« sagte Rémi mit einer Kühnheit, die sie an ihm gar nicht gewohnt war, »Sie müssen sich nicht schriftlich dazu verpflichten, das weiß ich ganz gut. Aber die Damen sind alle unverheiratet, und wenn eine von ihnen sich verheiratete, so könnte sie nicht mehr in der Schule bleiben.«

»Nun ja, das glaube ich auch. Oder nur unter der Bedingung, daß sie nicht mit ihrem Manne zusammenlebte!« »Nun, das ist doch kein Verheiratetsein –.«

Duyvecke wußte selbst nicht warum, aber es machte ihr immer großes Vergnügen, Rémineau die Pirnitzschen Theorien auseinander zu setzen. Es war beinahe, als ob sie ihn dazu bekehren wollte.

»Aber, Rémi, Sie müssen doch begreifen, daß wir so viel freier sind und mehr Zeit haben, uns mit den Kleinen zu beschäftigen.«

»Bah, wenn Sie alle verheiratet wären, so würden Sie sich eben mit Ihren eigenen Kindern beschäftigen.«

»Und all die armen Kleinen, die keine Eltern haben? wie können Sie so reden, Rémi? Sie haben doch selbst einen mutterlosen, kleinen Buben.«

»Man brauchte deshalb doch nicht schlecht gegen die elternlosen, kleinen Kinder zu sein – man könnte sie mit seinen eigenen zusammen erziehen. Jede Familie müßte ein paar zu sich nehmen, jede nach ihren Mitteln. Die Reicheren müßten eben den Ärmeren zu Hilfe kommen –.«

Er schwieg. Ihm fehlten die rechten Worte, um ihr die verschwommenen, kommunistischen Ideale zu entwickeln, die im Grunde jeder ehrlichen Arbeiterseele schlummern.

»Nein,« erwiderte Duyvecke.

»Das sind alles Luftschlösser, Rémi; in der Praxis finden alle Eltern, daß sie kaum für ihre eigenen Kinder genug haben. Sie werden sich hüten, noch fremde bei sich aufzunehmen. Nein, für die Kinder, die keine Mütter haben, brauchen wir Mütter ohne Kinder.«

»Ihre Schülerinnen sind doch nicht lauter Waisen,« fiel Rémineau ihr ins Wort.

»Aber die Kinder, die schlechte Eltern haben, sind noch viel schlimmer dran. Glauben Sie mir, daß unsere Kleinen, die von Pirnitz, Mlle. Heurteau, Friederike und den andren erzogen werden –«

»Vor allem von Ihnen, Mlle. Duyvecke –.«

»Glauben Sie mir, daß diese Kleinen zu ganz andren Frauen erzogen werden, als die übrigen Pariser Mädchen, die von gewissenlosen Eltern erzogen sind.«

»Ja, das mag wahr sein,« gab Rémineau zu.

»Es kann ja auch gar nicht anders sein. Man lehrt sie keine andre Moral, als daß sie ihren Körper verkaufen sollen, und daß es ein Unglück ist, Kinder zu bekommen. Dabei haben sie die abscheulichsten Beispiele vor Augen. Sehen Sie, Rémi, für viele von diesen Kindern bedeutet das Elternhaus den sittlichen Ruin. Und die muß man davor retten.«

Rémineau antwortete nicht. Er rückte seinen Stuhl etwas vom Tische ab und blickte stumm auf seinen Teller.

»Nun, was meinen Sie dazu?« fragte Duyvecke triumphierend.

»Sie verstehen es besser, sich auszudrücken,« antwortete Rémineau, »Sie haben studiert, und Sie wissen auf alles zu antworten. Aber ich finde trotzdem: die jungen Mädchen sind in erster Linie dazu da, sich zu verheiraten, und dann, um Kinder zu bekommen. Sie können dann immerhin noch Gutes genug thun, wenn sie in der Lage dazu sind und es wollen.« – Er hielt inne und fuhr dann, durch ihren Blick ermutigt, fort:

»Nehmen wir z. B. an, daß Sie, anstatt in diese Art von Kloster einzutreten – oder auch nicht Kloster, wenn Sie so wollen, Sie haben ja auch recht, es ist nicht so viel Mumpitz dabei, wie bei einem Kloster – kurz, – daß Sie nicht mit diesen Damen zusammen wären – nehmen wir an, daß Sie einen braven Mann kennen gelernt hätten –, der Sie von ganzem Herzen liebte – der eine Art von Gottheit in Ihnen sieht, die Sie ja auch wirklich sind – ich kenne ja die andren Damen nicht näher, aber ich bezweifle, daß es überhaupt noch eine einzige, wie Sie – – –«

Er hatte sich so in seinen Satz verwickelt, daß er nicht mehr weiter konnte. Und als Duyvecke ihm jetzt lächelnd und errötend in die Augen sah, verlor er völlig den Faden.

»Was red' ich denn da,« stammelte er mit einem so unglücklichen Gesicht, daß sie hell auflachte. – »Ich weiß gar nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte. Oh, Mlle. Duyvecke, Sie machen sich über mich lustig.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. Duyvecke stand auf und faßte seine Hand.

»Nein, Rémineau, ich mache mich über Sie nicht lustig. Sie wissen, daß ich Ihre Freundin bin, und wie gerne ich immer zu Ihnen und Gaston komme.«

»Ist das wirklich wahr?« sagte Rémineau, und seine dunklen Augen leuchteten.

»Aber gewiß,« antwortete Duyvecke, die plötzlich nachdenklich geworden war. – »Man kann sich das Leben nicht immer so einrichten, wie man möchte,« fügte sie dann mit etwas verschleierter Stimme hinzu. – »Aber jetzt sehen Sie nach, was Gaston macht, ich werde dann hier alles wieder in Ordnung bringen.«

»Oh, Mlle. Duyvecke, das kann ich doch ebenso gut –.«

»Nein, gehen Sie –.«

Er gehorchte, Duyvecke begann langsam den Tisch abzuräumen und alles wieder an seinen Platz zu stellen. Von Zeit zu Zeit hielt sie inne und strich sich nachdenklich über die Stirn.

Als sie beinah fertig war, wurde geläutet. Sie hörte, daß Rémineau an die Thüre ging, um aufzumachen.

»Ob der Doktor schon kommt?« dachte sie.

Dann nahm sie die Lampe und ging in das Krankenzimmer. Der Kleine wachte auf, als sie eintrat: »Mama Vecke!« –

Sie lief rasch auf das Bett zu, beugte sich auf das Kind nieder und küßte es. Gaston vergaß bei ihrem Anblick all seine Schmerzen und lachte sie fröhlich an. Duyvecke preßte den zarten, kleinen Körper fest an sich und murmelte:

»Mein armer Liebling!«

»Ich möchte doch wissen,« dachte sie, »weshalb ich den kleinen Kerl so viel lieber habe als all meine Schülerinnen. – Ah, Geneviève!«

Geneviève Soubize trat, von Rémineau gefolgt, in das Zimmer. Duyvecke drückte ihr die Hand:

»Da ist der kleine Patient,« sagte sie und zeigte auf Gaston, der plötzlich wieder ernst geworden war und sich etwas vor der Fremden zu fürchten schien, – »ich glaube, ich hätte dich gar nicht zu bemühen brauchen.«

Geneviève näherte sich dem Bett, ohne zu antworten, faßte die Hand des Kleinen und fing an, die Pulsschläge zu zählen.

Duyvecke und Rémineau beobachteten sie schweigend.–

Ihre zarte Gestalt hatte etwas knabenhaft Schlankes – das unregelmäßige Gesicht mit dem beweglichen, nervösen Mund, den schönen ins Grünliche spielenden Augen und der wundervollen rotblonden Haarkrone war entschieden anziehend. –

»Der Puls ist völlig normal,« sagte sie dann. – – »Hast du Hunger, Kleiner?« »Nicht viel,« sagte das Kind mit schwacher Stimme.

»Geben Sie ihm ein paar Apfelsinenschnitten,« sagte Geneviève zu Rémineau. – »Sonst wüßte ich nicht, was man ihm verordnen sollte. Krank ist er nicht, aber sehr nervös, scheint mir.«

»Ja, das ist er,« antwortete Duyvecke.

»Heute morgen, wie ich Mademoiselle telegraphierte, war er ganz elend,« sagte Rémineau, »aber seit sie hier ist, hat das Fieber nachgelassen. Es ist immer dieselbe Geschichte.«

»Ja, ich glaube, das Kind besteht überhaupt nur aus Nerven,« murmelte Geneviève, »aber wir wollen lieber hinausgehen, er hört alles, was wir sprechen.«

Sie gingen in den Eßsaal, Rémineau zündete die große Lampe an. Dann setzten alle drei sich an den Tisch, und Rémineau erzählte von den verschiedenen Krankheiten der Kleinen.

»Sehen Sie,« fügte er dann zu, »der Bub' verzehrt sich einfach vor Sehnsucht nach Mlle. Duyvecke. Er hat sie von jeher so lieb gehabt und es nicht verwinden können, daß sie von uns fortging. – Und was soll ich thun, um ihm zu helfen? – Ich tröste ihn, so gut ich kann, er bekommt alles, was er will. – Aber Mlle. Duyvecke kann ich ihm doch nicht ersetzen.« –

Duyvecke hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt. Ihre Augen schwammen in Thränen. »Zu schade, daß er kein Mädchen ist,« meinte Geneviève. »Dann könnten wir ihn einfach mit in die Schule nehmen.« –

»Geht es nicht auch so,« sagte Rémineau schüchtern, »er ist doch noch so klein.« –

»Unmöglich,« antwortete Duyvecke, »Pirnitz ist prinzipiell gegen die gemischte Erziehung.« –

»Ja, aber was soll dann aus Gaston und mir werden?« –

»Ich komme so oft wie möglich zu Ihnen, Rémineau, verlassen Sie sich darauf.«

Er schüttelte den Kopf, ohne zu antworten. Genevièves Gegenwart machte ihn befangen. Er getraute sich nicht, so zu Duyvecke zu reden, wie er es wohl sonst gethan hätte. Duyvecke erriet seine Gedanken und war ganz froh, daß er sich nicht aussprechen konnte.

Geneviève war die erste, die das Stillschweigen brach.

»Wir haben heute in der Schule einen stürmischen Tag gehabt.« –

»Wieso?« fragte Duyvecke.

»Der Schulinspektor war da.« –

»Nun und? – Das ist doch schon öfters vorgekommen.«– – –

»Gewiß – aber diesmal war es ein gewisser Monsieur Lecointe-Dupré, der bei weitem nicht so höflich und liebenswürdig ist, wie seine Kollegen. Er markierte die Autorität, – hat die Kinder geprüft, unser Programm und die Schulordnung kritisiert – – kurz, es war eine förmliche kleine Revolution.«

»Aber was macht das? – Unsre Schule ist doch unabhängig?« –

»Heurteau behauptet, es wäre trotzdem bedenklich. Sie schließt daraus, daß die Autoritäten uns nicht mehr günstig gesinnt sind – und den Inspektor geschickt haben, um uns gewissermaßen eine offizielle Rüge zu erteilen.« –

»Aber ich bitte Sie,« unterbrach Rémineau, »was kann man Ihrer Schule denn vorwerfen? Ich glaube, es giebt nicht viele Anstalten, die von so achtbaren Damen geleitet werden.«

Der gute Mann war ganz erregt. Es kam ihm vor, als ob man Duyvecke persönlich beleidigt hätte.

»Mlle. Heurteau hat nachher mit dem Inspektor gesprochen, sie behauptet, er hätte unsre Schule für ein unmoralisches Institut erklärt.«

»Unmoralisch?« rief Duyvecke.

»Ja – Mangel an Aufsicht – den Kindern würde viel zu viel Freiheit gelassen – z. B. daß sie allein ausgehen dürfen. – Wir suggerieren ihnen gefährliche Ansichten – stellen ihnen Ehe und Mutterschaft als etwas Verwerfliches dar.«– – –

»Da sieht man, wie die Ideen der Pirnitz von den Leuten verdreht werden. – Besonders an meinem Kursus hat man Anstoß genommen. Es geht in St.-Charles das Gerücht, ich erzählte den Kindern die unpassendsten Details über die Pflege der Wöchnerinnen. Du weißt doch selbst, mit welcher Vorsicht ich derartige heikle Themata zu berühren pflege.« –

»Aber von wem können denn all diese Verläumdungen herrühren?«

»Das weiß ich nicht. – Mlle. Heurteau will aus den Reden des Inspektors erraten haben, daß der Gemeindevorstand gegen uns agitiert. – Ich meinesteils möchte eher glauben, daß die Geistlichkeit – –«

»Aber Geneviève, hältst du es für möglich, daß ein Priester sich mit solchen Sachen befaßt?« sagte Duyvecke.

»Vielleicht glaubt er, der Kirche einen Dienst damit zu erweisen.«

»Hat der Inspektor auch mit Pirnitz gesprochen?«

»Nein, aber mit Friederike. – Er kam grade während der französischen Stunde in ihre Klasse und fing an, die Schülerinnen in ziemlich unliebenswürdiger Weise zu examinieren. Schließlich hat er dann nach ihren Zeugnissen gefragt. Die Kleinen sahen ihn ganz verwundert an und begriffen nicht recht, worum es sich handelte, bis Friederike dann antwortete:

»Nein, mein Herr, die Kinder brauchen bei uns keine Prüfungen zu bestehen und bekommen keine Zeugnisse, Ich dachte, dieser Umstand wäre Ihnen bekannt.« –

»Aber warum denn nicht?« hat er gefragt, worauf Friederike erwiderte:

»Der Gesellschaft ist nicht mit Zeugnissen und Auszeichnungen gedient, sondern mit tüchtigen, gewissenhaften Menschen.«

»Daraufhin ist er feuerrot geworden und hinausgegangen. – MIle. Heurteau ist fest überzeugt, daß er einen ungünstigen Bericht einschicken wird.« –

»Der kann uns doch gleichgültig sein. Was kann man uns denn thun, wir stehen doch auf eigenen Füßen.« –

»Heurteau meint, man könnte uns die Autorisation wieder entziehen. – Und du wirst sehen – es kommt noch so weit,« fuhr sie in höchster Erregung fort. Ihre Augen verdunkelten sich, und sie wurde ganz bleich, – »Man wird uns verfolgen, weil wir für Freiheit und Unabhängigkeit kämpfen. Die ganze innerlich verrottete Bourgeoisie von St.-Charles und das ganze offizielle Paris wird sich gegen unsre Schule erheben. Aber glaube mir nur, es ist wenigstens Eine unter uns, die sich nicht hinauswerfen läßt. – Eher ließe ich mich umbringen.« –

Sie schwieg. Ihre Lippen bebten vor verhaltenem Zorn, und ihre Züge waren förmlich entstellt. Rémineau blickte sie ganz erstaunt an. Duyvecke lächelte, sie kannte Genevièves stürmisches Temperament, ihre revolutionären Neigungen, ihre plötzlichen Wutausbrüche.

Seit sie ganz in der Schule lebte, waren all diese Charakterzüge immer schärfer hervorgetreten. Sie sprach fast nur noch von Rebellion, von Auflehnung gegen die wurmstichige, tyrannische Gesellschaft, an der man sich für die Unterdrückung rächen müsse. –

Plötzlich erscholl eine schwache Kinderstimme aus dem Nebenzimmer:

»Mama Vecke!«

Duyvecke eilte rasch an das Lager des Kleinen, Rémineau und Geneviève folgten ihr.

Gaston schlang die Arme um ihren Hals, zog sie zu sich nieder und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Aber ich komme doch wieder,« antwortete das junge Mädchen.

»Nein,« sagte der Kleine laut, »du darfst nicht weggehen, du mußt dableiben – immer dableiben.« –

Duyvecke gab ihm einen Kuß.

»Nun ja, ich bleibe hier.«

Gaston legte sich wieder in die Kissen zurück, aber seine großen schwarzen Augen blickten sie unruhig forschend an. Er war fest entschlossen, sich nicht hinters Licht führen zu lassen. – »Was hat er Ihnen ins Ohr gesagt?« fragte Rémineau, als sie wieder im Zimmer waren.

»Er sagte, ich müßte dableiben. Natürlich habe ich es ihm versprochen. – Aber es ist schon spät. Wir müssen jetzt gehen, Geneviève ... Ich brauche nicht mehr auf den Doktor zu warten, da es ihm soviel besser geht. Außerdem bezweifle ich, daß er überhaupt noch kommt.« –

»Es ist nach zehn,« sagte Geneviève. »Ich will rasch meinen Hut aufsetzen, und dann schleichen wir uns leise hinaus.«

»Wenn er es nur nicht merkt,« seufzte Rémineau, »dann ist wieder der Teufel los.«

»Bah, – Sie müssen ihm einfach sagen, ich hatte mich etwas niedergelegt, um auszuruhen, und er dürfte mich nicht stören. – Ich denke, er wird auch bald einschlafen.«

Während sie sprach, hatte sie ihren schwarzen Strohhut aufgesetzt. – Als sie schon im Korridor waren und sich leise Adieu sagten, ging plötzlich die Korridorthüre auf und Gaston erschien im Hemd, mit bloßen Füßen auf der Schwelle.

»Gott im Himmel,« rief Duyvecke.

Sie nahm ihn rasch auf den Arm und trug ihn in sein Bett zurück. Dabei bedeckte sie ihn mit Küssen und schalt in zärtlichem Ton.

»Du böses Kind – ohne Erlaubnis aufzustehen. – Wenn du so unartig bist, komme ich überhaupt nicht wieder.« Der Kleine umklammerte ihren Hals mit seinen mageren, durchsichtigen Fingern, und seine Augen glänzten fieberhaft, während er immer wieder sagte:

»Mama Vecke soll nicht fortgehen – ich will es nicht haben – ich will es nicht haben.«

Dabei zitterte er am ganzen Körper, und seine Zähne schlugen krampfhaft aufeinander.

»Er wird wieder Fieber bekommen, wenn du nicht dableibst,« sagte Geneviève leise.

Duyvecke kniete neben dem Bette nieder und versuchte, ihn zu beruhigen. Er griff mit seinen nervösen kleinen Händen nach ihrem Hute und versuchte, ihn ihr abzunehmen. Duyvecke lachte:

»Aber du thust mir weh, du reißt mir ja die Haare aus.« –

Schließlich gab sie nach und nahm selbst den Hut ab... Und nun wurde er ruhiger, aber als Duyvecke Miene machte, ins Nebenzimmer zu gehen, wäre er beinah wieder aus dem Bett gestiegen.

»Was soll ich thun?« fragte Duyvecke.

»Da ist nichts zu machen, du mußt dableiben,« antwortete Geneviève, und Rémineau stammelte ganz verwirrt:

»O ja, Mlle. Duyvecke, ich bitte Sie, bleiben Sie. Wenn Sie gehen, ist er nicht mehr im Bett zu halten. Wenn Sie es wünschen, gehe ich fort. – Ich werde draußen auf der Treppe sitzen bleiben, – Oder ich bitte eine von den Nachbarinnen, Ihnen Gesellschaft zu leisten. – Dann hat kein Mensch das Recht, schlecht von Ihnen zu sprechen.«

Duyvecke zuckte die Achseln:

»Was die Leute hier im Hause sagen, ist mir ganz gleichgültig – aber in der Schule?« –

»Ich erzähle ihnen, wie die Sache liegt,« sagte Geneviève. »Glaubst du nicht, daß Daisy oder Pirnitz an deiner Stelle ebenso handeln würden?«

»Daisy gewiß – aber Pirnitz – – das weiß ich nicht recht. – Aber in Gottes Namen, ich bleibe da. – Du mußt versuchen, ihnen klar zu machen, daß ich nicht anders konnte.«

Als Geneviève fort war, faßte Rémineau Duyveckes Hand und wollte sie küssen. Aber sie wurde plötzlich verlegen und unsicher:

»Lassen Sie mich mit dem Kleinen allein, Rémi, ich bitte Sie.«

Er flüchtete sich in die Küche, Duyvecke blieb neben dem Bett sitzen. Sie legte ihren Kopf auf das Kissen neben den des Kleinen. Gaston streichelte und liebkoste sie noch eine Zeit lang, dann schlief er ein. Und es dauerte nicht lange, so versank auch sie in tiefen, gesunden Schlummer. Rémineau saß währenddem auf einem Küchenstuhl und blickte durch das offene Fenster auf die Dächer und Schornsteine der Nachbarhäuser, über denen ein Stück tiefblauer Nachthimmel sichtbar war. – Regungslos saß er da und dachte nicht daran, zu schlafen. – Er war unsagbar glücklich.«


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