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IV

Von dem Augenblick an, wo sie den Fiaker mit ihrem Abschiedsbriefe an Friederike fortschickte, bis zu ihrer Ankunft in London, hatte Lea wie in einem Traum gelebt.

Aber als sie dann am Morgen nach ihrer Flucht bei strömendem Regen am Bahnhof von Sharing Croß ausstieg, erwachte sie plötzlich wieder zum Bewußtsein der Wirklichkeit.

Sie fühlte sich wie verwandelt, der Druck, der ihre ganze Kindheit und Jugend hindurch auf ihr gelastet hatte, war von ihr gewichen. Ihr war so leicht und frei zu Mute. Wie hatte sie es nur überhaupt so lange aushalten können?

Wie im Fieber hatte sie die ganze Reise zurückgelegt, in einem Fieber von Glückseligkeit, das sie alles andre vergessen ließ.

Da stand sie nun auf dem Platz vor der Station. Bis hierher hatte sie sich nur führen lassen, sich um alles weitere nicht gekümmert. Aber setzt galt es zu handeln, irgend einen Entschluß zu fassen.

Sie brauchte ja nur einen Hansom herbeizurufen und dem Kutscher irgend eine Adresse zu geben. – Aber welche Adresse? – Ja, das war der Zwang der Notwendigkeit, die jetzt wieder an sie herantrat, das Erwachen aus dem Traum. Wo sollte sie Georg finden, wenn er überhaupt noch in London war? Und wie seine Spur finden, wenn er die Riesenstadt verlassen hatte? Als sie Paris verließ, hatte sie sich alles das so leicht und selbstverständlich gedacht, aber jetzt kam es ihr mit einem mal unendlich schwierig und peinlich vor.

Der Kutscher fing an ungeduldig zu werden.

»I lose my best time, Ma'ame,« sagte er mit brummiger Würde.

Sie faßte einen Entschluß:

»Apple-Tree-Yard No. 3.«

Fünf Minuten später stieg sie vor ihrer alten Wohnung aus.

»Ist Mrs. Synders zu sprechen?« fragte sie das Dienstmädchen, das ihr aufmachte.

»O, Mrs. Synders ist schon vor einem halben Jahre ausgezogen. – Das Haus gehört jetzt Miß Pinkflower, bei der ich im Dienst bin. Sie vermietet übrigens auch Zimmer. – Wenn Sie vielleicht eins ansehn wollen? Es würde Ihnen gewiß bei uns gefallen, die Wohnung ist jetzt viel schöner eingerichtet als früher.« –

»Nein, danke,« sagte Lea, »ich möchte nur die Adresse eines Herrn wissen, der vor zwei Jahren mit seiner Schwester hier gewohnt hat – Mister Georg Ortsen.« –

Das Mädchen schien tief nachzudenken.

»Ich kann mich nicht an den Namen erinnern.«

»Aber es existierte hier früher ein Heft mit den Adressen der Mieter.«

»Ja, das ist immer noch da.«

Lea durchblätterte das kleine Heft und hatte bald gefunden, was sie suchte: Georg Ortsen, Professor Ebner und Frau, Adresse per Free-College, Allen Street, Kensington. –

Jedenfalls waren die Ortsens auf Reisen gegangen und fanden es am bequemsten, sich ihre Post durch Madame Sanz nachschicken zu lassen.

»Danke schön,« sagte Lea und gab das Buch zurück.

»Wollen Sie sich nicht ein Zimmer ansehn? Wir haben ein sehr hübsches nach John Street hinaus.«

Dann fügte sie etwas leiser, mit einem diskreten Lächeln hinzu:

»Miß Pinkflower ist sehr liebenswürdig, und die Damen sind bei uns ganz ungeniert.«

»Nein, ich danke,« erwiderte Lea.

»Das Haus scheint sich sehr verändert zu haben,« dachte sie im stillen. »Was würde die brave, alte Mrs. Synders dazu sagen?«

Sie stieg wieder in den Wagen. Bei einem kleinen Theesalon, wo sie manchmal mit Tinka oder Friederike gefrühstückt hatte, ließ sie halten und bezahlte den Kutscher. Dann trat sie mit ihrer Reisetasche in das Lokal, ließ sich Thee und ein paar Eier bringen und aß mit einem Appetit, wie sie ihn schon seit langer Zeit nicht mehr kannte.

Inzwischen überlegte sie, was jetzt zu thun sei.

»Eigentlich brauchte ich ja nur in den Omnibus zu steigen und nach Free-College zu fahren. Dort würde ich jedenfalls gleich erfahren, wo sie sind.«

Aber der Gedanke, mit Madame Sanz sprechen zu müssen, widerstrebte ihr. Im Grunde ihres Herzens fürchtete sie sich davor.

»Madame Sanz weiß noch nichts. Aber sie wird mich nach Pirnitz und Friederike fragen. Und ich müßte ihr etwas vorlügen. – Wer weiß, ob sie nicht schon von Paris aus telegraphiert haben. – – Nein, nein, ich werde nicht hingehen, wenn es nicht absolut notwendig ist.«

Plötzlich kam ihr ein erlösender Gedanke:

»Edith.«

Das war der einfachste und zugleich der praktischste Weg. Edith hatte ihre Verbindung mit Georg von jeher begünstigt. Und wenn sie selbst nicht die Adresse der Ortsens wußte, so würde sie es gewiß gern übernehmen, sich bei Madame Sanz nach ihnen zu erkundigen.

Es galt also, Edith aufzufinden.

Lea wußte ihre jetzige Adresse nicht. Sie hatte zuletzt durch Daisy von ihr gehört, aber das war schon ziemlich lange her. Edith schrieb damals ihrer Schwester, daß sie ihre Stellung bei Clariß & Sons aufgeben und Krankenpflegerin werden wolle.

Lea entschloß sich, nach Walworth Road zu fahren und in der Fabrik nachzufragen. Vielleicht wußte man dort etwas von ihr.

So zahlte sie denn und ließ ihre Reisetasche am Büffet aufbewahren.

Dann stieg sie in den grünen Omnibus, mit dem sie schon damals immer nach Walworth Road hinausgefahren war.

Es war jetzt gegen halb zehn. Das Wetter, hatte sich aufgeklärt, und die naßgeregneten Straßen trockneten in der stechenden Julisonne. Lea sog die Luft mit vollen Zügen ein.

An der Ecke von Hampton Street stieg sie wieder aus und ging mit raschen, leichten Schritten auf die Fabrik zu.

Der alte Portier erkannte sie erst, wie sie ihm ihren Namen nannte.

»O Miß Legay-Syrier,« rief er dann – »das ist schön, daß Sie wieder da sind. Wollen Sie wieder bei uns in der Fabrik arbeiten?«

»Nein,« antwortete Lea, »ich bin nur vorübergehend in London. Ich möchte nur gern die Adresse einer Dame wissen, mit der ich damals hier zusammen gearbeitet habe. Erinnern Sie sich noch an Miß Craggs?«

»O ja – aber Miß Craggs ist seit dem Winter nicht mehr hier. Sie ist später noch einmal hergekommen. Ich habe sie damals nicht gesehn. Aber sie hat meiner Frau erzählt, daß sie als Krankenpflegerin mit einer jungen Dame nach dem Kontinent reisen wollte.«

Lea erschrak so, daß sie beinah ohnmächtig geworden wäre. Aber sie faßte sich rasch wieder.

»Wissen Sie denn nicht wohin?«

»Nein – aber ich glaube, sie sind an die Riviera gegangen.«

»Hat sie denn bis zu ihrer Abreise noch in Kensington gewohnt?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Aber ich glaube schon. Wenigstens hat sie uns nie eine andre Adresse angegeben.«

»Vielleicht kann ich es im Wesleyan-Club erfahren,« meinte Lea.

»Das glaube ich auch. Miß Craggs war ja sehr häufig dort.«

Lea drückte ihm ein Six-Pencestück in die Hand. Er bedankte sich und fragte dann:

»Sind Sie krank gewesen, Mademoiselle?«

»Nein – warum meinen Sie?«

»Sie sind so mager geworden. Aber vielleicht haben Sie sich nur überarbeitet. Aber wenn Sie sich nur wohlfühlen, das ist die Hauptsache. Sie sollten nur in London bleiben, Sie haben damals immer so gesund ausgesehen.«

Im Wesleyan-Club wußte man nur Ediths alte Adresse, in Kensington Road.

So stieg sie denn wieder in den Omnibus und fuhr an das entgegengesetzte Ende von London.

Es war schon beinah Mittag, als sie dort anlangte. Aber sie spürte keine Müdigkeit. Die Hoffnung, Edith doch schließlich ausfindig zu machen, hielt sie aufrecht.

Als sie an dem kleinen Hause läutete, wo ihre Freundin damals gewohnt hatte, machte die Hauswirtin, Mrs. Pizett, ihr selbst auf. Auch sie schien Lea nicht zu erkennen.

»Miß Edith ist mit einer kranken Dame nach dem Kontinent gereist,« antwortete sie auf Leas Frage. »Aber ich kann Ihnen ihre Adresse geben. Wollen Sie nicht einen Augenblick eintreten?«

Sie führte Lea in das kleine Wohnzimmer der Pension. Dann setzte sie ihre Brille auf und suchte die Adresse unter einem Haufen von Visitenkarten.

»Da ist sie – Miß Craggs, Hotel Metropole, Nizza.«

»Von welchem Datum ist diese Adresse?«

»Ende April.«

»Haben Sie seitdem nichts von Miß Craggs gehört?«

»Nein, sie hat ihr Zimmer damals gekündigt. – Übrigens hat bisher auch noch niemand nach ihr gefragt.«

Sie blickte Lea jetzt prüfend an

»Sind Sie nicht früher schon manchmal hier gewesen?« fragte sie dann.

»Ja, vor zwei Jahren.«

»O, aber damals sahen Sie viel besser aus.

– Nehmen Sie sich in acht, Mademoiselle, das Klima in London ist gerade jetzt um diese Zeit gefährlich.«

Schon wieder jemand, der sie schlecht aussehend fand! Lea ärgerte sich so darüber, daß sie ganz verstimmt wieder aufbrach.

Übrigens beunruhigte es sie nicht weiter. Sie dachte nur: »Wenn Georg jetzt auch findet, daß ich schlecht aussehe! Nein, ich muß wieder schön und frisch sein, wenn er mich wiederfindet.« –

Sie hatte ihre Toilette während der letzten Jahre sehr vernachlässigt, aber jetzt erwachte plötzlich wieder der Wunsch zu gefallen in ihr.

»Ich werde mir ein neues Kostüm kaufen,« nahm sie sich vor, während sie ihr abgetragenes, schwarzes Kleid betrachtete.

Inzwischen war sie wieder bei den Kensington Gardens angelangt. Es war drückend heiß. Lea suchte sich eine schattige Bank und ließ sich erschöpft nieder.

Jetzt hatte sie doch wenigstens Ediths Adresse. Sie beschloß, gleich nach Nizza zu telegraphieren. Aber für die Rückantwort mußte sie doch irgend eine Adresse angeben, und sie wußte noch nicht einmal, wo sie wohnen sollte. Es war also jedenfalls am besten, sich zuerst nach einem Zimmer umzusehn und dann zu telegraphieren. Auf alle Falle wollte sie gleichzeitig an Georg und Tinka schreiben, um ihnen mitzuteilen, daß sie in London war. Sie konnte ja an Free-College adressieren. Immerhin würde es aber ein paar Tage dauern, bis eine Antwort eintraf, und wo sollte sie so lange bleiben?

Durch ihre vielen Spaziergänge mit Georg hatte sie London so ziemlich kennen gelernt. Sie entschloß sich für die Gegend beim British-Museum, wo es zahlreiche und billige Zimmer gab.

Als sie diesen Entschluß gefaßt hatte, stand sie wieder auf und machte sich auf den Weg.

Nach längerem Suchen fand sie denn auch ein Zimmer, das ihr zusagte. Nachdem sie sich mit der Hauswirtin, Miß Cockington, über den Preis geeinigt hatte, setzte sie sich gleich hin, um ihre Briefe und das Telegramm zu schreiben. Dann brachte sie alles selbst auf die Post und bat Miß Cockington, ihre Reisetasche holen zu lassen.

Als das geschehen war, warf sie sich in voller Kleidung auf das Bett und schlief sofort ein.

Als sie wieder erwachte, fing es schon an, dunkel zu werden. Sie zündete das Gas an und trat vor den Spiegel. Und nun erschrak sie selbst darüber, wie sie aussah, in ihrer vernachlässigten Kleidung, mit dem fahlen Gesicht und dem glanzlosen, schlecht frisierten Haar.

»Mein Gott, wie hab' ich mich verändert.«

Sie war beinah froh, daß sie Georg nicht gleich aufgefunden hatte.

»Er würde mich kaum wiedererkennen. Ich bin so viel häßlicher und älter geworden seit dem letzten Mal, wo wir uns sahen.«

Sie nahm ein Bad und machte dann sorgfältige Toilette. Noch nie in ihrem Leben hatte sie ihr Äußeres einer so eingehenden Prüfung unterzogen, noch nie sich soviel Mühe mit ihrer Frisur und ihrer Kleidung gegeben.

Ihre Reisetasche war inzwischen angekommen und Lea packte die wenigen Habseligkeiten aus, die sie an jenem letzten Abend in der Schule mitgenommen hatte. Zum Glück war eine Bluse aus melonenfarbenem Foulard dabei, die ihr gut stand. Aber weder Stiefel noch Unterkleider zum Wechseln! Und dieser abscheuliche Lehrerinnenhut, den sie in Paris immer getragen hatte! Nein, in diesem Aufzug konnte sie Georg nicht unter die Augen treten. Sie mußte sich äußerlich verwandeln, wie sie sich innerlich verwandelt hatte. Denn sie war jetzt nicht mehr jene Lea, die sich von Pirnitz und Friederike beherrschen und leiten ließ.

Als sie dann zum Souper hinabging, machten Mrs. Cockingtons Töchter, Rosa und Mary, ihr zahllose Komplimente über ihre Schönheit und ihre Toilette. Die Mutter stimmte ihnen bei und erklärte, die Französinnen wären doch die einzigen, die sich so zu kleiden verstünden.

Lea fing an, sich wieder schöner und gleichsam verjüngt zu finden und freute sich selbst über die etwas aufdringlichen Huldigungen der Familie Cockington.

Sie erzählte ihnen, ihr Koffer sei ihr während einer Reise auf den Kontinent abhanden gekommen, sie wolle sich nur ein paar Tage in London aufhalten, um auf eine Adresse zu warten und diese Zeit benützen, um ihre Toilette etwas zu vervollständigen. Die kleinen Cockingtons erboten sich, ihr zu helfen, sie sagten, daß sie sich aufs Nähen verständen und waren auch wirklich ganz nett angezogen. Man kam überein, gleich morgen an die Arbeit zu gehen. Übrigens fragten sie Lea nicht weiter aus. Die Engländer sind im allgemeinen sehr diskret und pflegen sich nicht um die Angelegenheiten andrer zu kümmern.

Das Gefühl der Freiheit berauschte Lea so, daß sie sich ohne allzu große Ungeduld in ihre jetzige Lage fand und ruhig abwartete. So verflossen mehrere Tage, ohne daß auf ihr Telegramm und ihre Briefe Antwort kam. Aber es war ja eigentlich nicht zu verwundern, da sie keine direkten Adressen gehabt hatte.

Außerdem verging ihr die Zeit wie im Fluge, während sie sich mit Rosas und Marys Hilfe eine förmliche Aussteuer beschaffte. Übrigens glaubten die kleinen Cockingtons schon längst nicht mehr an Leas Geschichte mit dem verloren gegangenen Koffer. Sie neckten Lea damit und sagten ihr, sie wären fest überzeugt, daß sie sich verheiraten wolle und auf ihren Bräutigam warte.

Sie hatten sich einen ganzen Roman zurechtgemacht: die junge Französin war gewiß ihren Eltern weggelaufen, um hier in England den Mann, den sie liebte, zu heiraten. Sie fanden das entzückend und ganz selbstverständlich und versicherten Lea, daß sie es ebenso machen würden, wenn »Mama« sie von ihrem »Sweet-Heart« trennen wollte. Die beiden Schwestern hatten nämlich jede einen »Schatz,« mit dem sie Sonntags und in ihren Mußestunden spazieren gingen.

Was Mrs. Cockington selbst betraf, so pflegte sie manchmal einen bis zwei Tage einfach von der Bildfläche zu verschwinden, ohne daß ihre Töchter sich darüber zu wundern schienen.

Als die ganze Woche verging, und immer noch keine Antwort kam, fing Lea an, unruhig zu werden. Sie schlief schlecht und sah leidend aus: Mrs. Cockington machte sie darauf aufmerksam. Sie dachte daran, daß sie für Georg schön sein müßte, wenn er nun endlich kam, und bezwang ihre Erregung. Sie war jetzt beinah fertig mit ihrer Ausstattung, der Anblick der zierlichen, mit Spitzen geschmückten Wäsche und der eleganten Kostüme, die sie mit Hilfe der kleinen Cockingtons zusammengeschneidert hatte, machte ihr mehr Freude, als sie es jemals für möglich gehalten hätte. Manchesmal, wenn sie so beim Lampenschein mit den jungen Mädchen zusammensaß und fleißig nähte, mußte sie an ihre verstorbene Mutter denken: die arme Christine hätte es gewiß so gut verstanden, daß Lea sich für den Mann, den sie liebte, schmücken wollte.

Aber trotz alledem steigerte ihre Unruhe sich von Tag zu Tag. Noch einmal erwog sie die Möglichkeit, sich an Madame Sanz zu wenden. Sie versuchte, sich mit diesem Gedanken zu befreunden: Mein Gott, ich bin ja doch frei. – Und Madame Ganz ist vernünftig. – Wie aber, wenn sie auf diese Weise vielleicht gezwungen würde, Pirnitz und Friederike wieder gegenüberzutreten? Sie fühlte, daß das über ihre Kräfte ginge. Sie hatte es über sich gewonnen, ihnen zu entfliehen, aber sie würde nicht im stande sein, ihnen ins Gesicht zu sagen: »Nein, ich will frei sein, ich will nicht mehr bei euch bleiben.«

Aber sie hatte ja an Madame Sanz schreiben können, sie unter dem Siegel der Verschwiegenheit um Hilfe bitten? Schon war sie halb und halb entschlossen, als ein unerwarteter Zwischenfall die Ausführung ihres Planes wieder verzögerte.

Etwa elf Tage nach ihrer Ankunft in London ließ sie sich verleiten, mit Mrs. Cockington und ihren Töchtern einen Ausflug nach Wimbledon zu machen.

Man fuhr im Boot zurück. Der Tag war heiß und sonnig gewesen, aber gegen Abend senkte sich plötzlich ein feuchter, eisiger Nebel über die Themse herab. Sie legten an und mußten eine halbe Stunde zu Fuß gehen, um die nächste Eisenbahnstation zu erreichen. Alle waren durchgefroren und in unbehaglicher Stimmung. Lea hatte heftige Rückenschmerzen. Zu Hause angelangt, legte sie sich sofort ins Bett und bekam einen heftigen Fieberanfall.

Mrs. Cockington ließ am nächsten Morgen sofort einen Arzt holen, der eine leichte Bronchitis konstatierte. Sie mußte ein paar Tage im Bett bleiben.

Wieder verging eine Woche, und Lea hatte noch keine Antwort. Als sie wieder völlig hergestellt war, fand sie eines Morgens ein Kouvert auf dem Tische. Es war die Rechnung des Arztes.

Lea erschrak. Sie war Mrs. Cockington auch noch den Pensionspreis für eine Woche und die Auslagen für Apotheke u.s.w. schuldig.

Sie hatte fast all ihr Geld für Toilettenanschaffungen ausgegeben, in dem festen Glauben, daß es nicht lange dauern könne, bis sie Georg wiederfand.

Nachdem sie alles bezahlt hatte, blieben ihr nur noch sechs Shilling.

Sie faßte einen raschen Entschluß, kleidete sich an und fuhr direkt nach Walworth Road.

Da man sie in der Fabrik von Clarris & Sons von jeher als tüchtige Kraft geschätzt hatte, wurde sie sofort wieder angestellt mit einem Gehalt von 3 £ pro Woche. Nur mußte sie sich auf drei Monate verpflichten. Sie unterschrieb alles, was vorgelegt wurde.

»Es ist schließlich am besten so,« dachte sie, »wenn Georg mich wieder wie früher an der Arbeit findet.« –

Die rastlos angestrengte Thätigkeit, die von jetzt an wieder ihr Leben ausfüllte, half ihr wenigstens die innere Unruhe besser zu ertragen. Sie mußte von neun Uhr morgens bis sechs Uhr abends in der Fabrik sein. Dann eilte sie heim, um an ihrer Aussteuer zu nähen, die immer mehr anwuchs. Der Gedanke, daß all diese feinen, weichen Stoffe und zarten Spitzen für Georgs Augen bestimmt waren, erfüllte sie mit lebhafter Seligkeit. Sie kam allmählich dahin, zu finden, daß für seine Braut nichts zu kostbar und nichts zu luxuriös sei. So gab sie alles, was sie verdiente, für ihre Toilette aus. Seit sie soviel Aufmerksamkeit an ihr Äußeres verwandte, kam auch ihre Schönheit wieder zur Geltung. Das schlanke junge Mädchen mit der geschmeidigen Gestalt, dem lichten Kraushaar und den fast allzu leuchtenden Augen erregte allgemeine Bewunderung. Aber Lea achtete nicht darauf, all ihre Gedanken konzentrierten sich in fieberhafter Erwartung auf den Augenblick, wo Georg sie in seine Arme schließen würde. »Und dann werde ich sein Weib sein,« dachte sie. Manchmal, wenn sie allein war, sagte sie es ganz laut vor sich hin, wiederholte es sich immer wieder wie eine erlösende Zauberformel.

Und dann beschwor sie die seligen Stunden der Vergangenheit wieder vor sich herauf. Sie ging jetzt ganz auf in diesen Erinnerungen, vor denen sie sich lange Zeit förmlich gefürchtet hatte, und hütete sie wie einen kostbaren Schatz, von dem niemand etwas ahnte.

Während sie so in seligen Träumen befangen einherging, war es schon Mitte August geworden und noch immer war keine Nachricht eingetroffen. Lea hatte stillschweigend darauf verzichtet, sich an Madame Sanz zu wenden, obgleich es der einzige sichere Weg gewesen wäre. Es war wie eine Art Aberglaube in ihr, daß das Schicksal sie auch so wieder mit dem Geliebten vereinigen müsse.

Inzwischen hatte Mrs. Cockington zu ihrer großen Freude einige Miether bekommen. Es war eine Familie aus Chicago: Mr. und Mrs. Smith, mit zwei erwachsenen Töchtern und einem etwa zwölfjährigen Knaben.

Die ganze Gesellschaft interessierte sich lebhaft für den geheimnisvollen Roman der jungen Pariserin und kam ihr mit großer Sympathie entgegen. Nur erregte ihr Gesundheitszustand die Besorgnis der amerikanischen Familie. Mr. Smith hielt sie für schwindsüchtig und fürchtete die Ansteckung für seine Kinder. Mrs. Cockington suchte ihn darüber zu beruhigen, sie zitterte davor, diese einträglichen Pensionäre wieder zu verlieren, die den ganzen Winter in London zu bleiben beabsichtigten.

Lea selbst ängstigte sich nicht weiter über ihre Gesundheit, obgleich sie jetzt manchmal heftige Schmerzen zwischen den Schulterblättern spürte. Sie hielt es für eine Folge des vielen Sitzens. Auch die häufigen Nachtschweiße, die in letzter Zeit eintraten, erschreckten sie nicht. Sie wußte nicht, was dies Symptom bedeute und sprach mit niemand darüber. Die andern versuchten, sie darauf aufmerksam zu machen, daß sie sich schonen müsse, daß die Schwindsucht in London grassiere. Aber Lea tröstete sich damit: »Ich huste ja nicht – ich habe noch nie Husten gehabt.« Sie war sogar eigentlich nie erkältet, nur hatte sie manchmal das Gefühl von einem Hindernis in der Kehle, das sie jedoch nicht besonders belästigte.

Eines Morgens im Atelier bekam sie einen leichten Blutsturz. Man brachte sie nach Hause, und sie fühlte sich so schwach, daß sie sich gleich zu Bett legte. Während sie so dalag und sich bemühte, den Atem nicht anzuhalten, um nicht zu husten, dachte sie nur: »Gott sei Dank, daß ich mit meiner Aussteuer fertig bin, denn jetzt bin ich krank und kann fürs erste nicht arbeiten.«

Aber sie ängstigte sich immer noch nicht. Der Glaube an die Zukunft war zu stark in ihr. »Ich muß ja leben, um Georg wiederzusehen und ihm anzugehören.« –

Die andern konnten ihre ruhige Heiterkeit nicht begreifen. Sie waren sich völlig klar darüber, wie es um sie stand. Mrs. Cockington war außer sich, denn die Familie Smith erklärte rücksichtslos, wenn sie Lea nicht fortschickte, würden sie sich eine andre Wohnung suchen.

»Aber wo soll das arme Kind denn bleiben?« sagte sie, »sie hat keinen Menschen hier in London.«

»Mein Gott, so soll sie einfach zu ihrer Familie zurückkehren, oder ins Krankenhaus, wo sie jedenfalls die beste Pflege haben würde. – Sie sollten einmal zu ihrem Chef gehen und mit ihm darüber sprechen, Mrs. Cockington.« –

Mrs. Cockington wußte sich schließlich nicht mehr zu helfen und begab sich zu Clarris & Sons. Man gab ihr zur Antwort, daß die Fabrikleitung bei Erkrankung ihrer Angestellten für einen Monat die Kosten übernehme. Nur waren sie in diesem Falle verpflichtet, in das Working-Royal-Hospital zu gehen.

– – – – – – – – – – –

Die gute Dame hatte erwartet, daß Lea sich heftig gegen diese Idee sträuben würde. Aber sie nahm es mit absoluter Gleichgültigkeit hin. Sie hing nicht besonders an diesem Hause, wo sie so lange vergeblich auf Georg gewartet hatte. Und wenn sie doch einmal im Bett liegen mußte, war es ja schließlich einerlei, wo.

Aber als sie dann wirklich im Hospital lag und ganz sich selbst überlassen, nur noch eine Nummer unter so und so viel andern Nummern war, da kam das Gefühl ihrer traurigen Lage ihr mit einemmal überwältigend zum Bewußtsein.

Sie lag in dem Saal für Schwindsüchtige: rings um sich her konnte sie an so manchen andern die schrecklichen Verheerungen dieser Krankheit wahrnehmen, von der sie sich selbst befallen wußte. Schwindsucht – unaufhörlich klang das verhängnisvolle Wort an ihr Ohr, aus den Gesprächen der Krankenpflegerinnen, der Ärzte, ja selbst der Patienten.

Und zum erstenmal trat der Gedanke an die Möglichkeit ihres eigenen Todes an Lea heran, wenn sie all diese abgezehrten Gestalten um sich her sah, die bleich und still in ihren Betten lagen. Es standen etwa zwanzig Betten in ihrem Saal – fast lauter junge Frauen, wie sie, die husteten und über dieselben Schmerzen klagten wie sie.

»Nein, ich kann nicht sterben.«

Sie blickte sich um in dem großen, öden Raum mit den hellgrün getünchten Wänden – die warmen Strahlen der Augustsonne drangen durch die Fenster. Draußen sah man nur die dürftigen Platanenwipfel des Hospitalgartens und darüber ein Stückchen blauen Himmel. Dann und wann bewegte ein leichter Luftzug die Kattunvorhänge.

»Nein, ich will nicht sterben. Es ist unmöglich, daß ich jetzt sterben muß.«

Sie schloß die Augen, um all die Jammergestalten nicht mehr zu sehen, sie wollte das ohrenzerreißende Stöhnen der Kranken nicht mehr hören – sie verschanzte sich förmlich hinter dem Gedanken an die Zukunft – sie sprach mit Georg, als ob er selbst da wäre, und baute ein Luftschloß nach dem andern. Sie sah sich mit Georg vereinigt in irgend einem wunderbaren Lande, wo die Sonne schien und alles grünte und blühte.

Mit verzweifelter Hartnäckigkeit suchte sie diese Vision immer wieder und wieder hervorzuzaubern, wenn das Fieber in ihren Adern glühte, wenn die Schmerzen sie quälten, und in den langen, schlaflosen Nächten.

Wenn dann der erste dämmernde Morgenschein durch die Fenster drang, versank Lea in tiefen, erquickenden Schlummer. Aber wenn sie wieder erwachte, war sie so in Schweiß gebadet, daß sie wie in einem warmen Bad dalag. Sie mußte die Wäsche wechseln, die üble Laune oder die Unachtsamkeit der Wärterinnen ertragen, die Schmerzen bei der geringsten Berührung, – denn sie war entsetzlich abgemagert und konnte es kaum ertragen, daß man sie anfaßte. Wenn das vorüber war, fühlte sie sich an allen Gliedern wie zerschlagen. Und dann kam das Frühstück. Lea nahm fast gar nichts zu sich, ihr ekelte beim bloßen Anblick der Speisen. Der Arzt ihrer Abteilung, Dr. Ainsworth, war sehr unzufrieden mit ihr. Nach seiner Ansicht war Überernährung das einzige Mittel, um Schwindsucht zu heilen.

Er hielt ihre Weigerung für bloßen Eigensinn und behandelte sie mit großer Strenge.

»Wenn Sie nicht essen wollen, werden Sie auch nicht wieder gesund. Sie büßen infolge Ihres Leidens täglich ein Quantum von Lebenskraft ein, das durch kräftige Nahrung wieder ersetzt werden muß. Aber Sie wollen nichts zu sich nehmen, und so verringert sich Ihre Lebenskraft von Tag zu Tag.«

Die angehenden jungen Ärzte, die mit ihm um das Lager standen, stimmten ihm überzeugt bei. Lea schloß die Augen, sie wollte nur in Ruhe gelassen werden. Sonst war es ihr jetzt völlig gleichgültig geworden, die Blicke all dieser Männer auf sich gerichtet zu sehen.

Sie litt jetzt nicht mehr viel, und die Traumbilder, die immer wieder vor ihrem inneren Auge aufstiegen, halfen ihr über die langen Stunden des Tages hinweg.

Mit ihren Leidensgefährtinnen hatte sie bald Freundschaft geschlossen. Es waren zum größten Teil einfache Fabrikarbeiterinnen, aber Pirnitz und Friederike hatten sie nicht umsonst in ihren apostolischen Ideen und Sitten unterwiesen. Es machte ihr sogar Freude, sich mit ihnen zu unterhalten und ihre Herzen zu gewinnen. Eine von ihnen, namens May Bodson, war ihr mit der Zeit besonders lieb geworden. Sie war ihrer Familie fortgelaufen, um mit ihrem Schatz zusammenzuleben. Aber dann hatte er sie verlassen und es war immer tiefer herabgegangen mit ihr.

Was Lea am meisten bewegte, war die heitre Sorglosigkeit, mit der May Bodson von ihrer Krankheit und ihrem nahen Tode sprach. Sie machte sich nicht die geringsten Illusionen darüber.

»Ja, mit mir ist's aus,« sagte sie. »Aber was thut das? Ich bin ganz mit meinem Schicksal zufrieden. Fünf Jahre lang bin ich mit meinem Schatz glücklich gewesen, und er war so gut gegen mich, – Wenn seine Mutter ihn nicht gezwungen hätte, eine andre zu heiraten, wäre ich jetzt vielleicht seine Frau. Aber so ist es mir lieber, zu sterben, als ohne ihn zu leben. – Nein, ich möchte nicht einmal wieder gesund werden. – Und little Tom (so nannten die Kranken den Dr. Ainsworth) hat neulich zu den andern gesagt: ›Die macht es keine vierzehn Tage mehr‹ « – –

Lea beneidete sie beinah.

»May hat Recht,« dachte sie. »Sie kann ruhig sterben, es ist sogar besser für sie, wenn sie stirbt. Aber ich – ich bin nicht fünf Jahre lang mit meinem Geliebten glücklich gewesen – ich kann noch nicht sterben.«

Gegen Ende August änderte das Wetter sich, es wurde kalt und regnerisch. Dieser Umschlag machte sich auch bei den Patienten fühlbar. Sie wurden unruhig, husteten mehr, zwei von denen in Leas Saal erlagen ihrer Krankheit, für die der Herbst der gefährlichste Feind ist.

Mit May ging es rasch abwärts, aber sie lächelte immer noch. Sie schien sich zu freuen, daß die Erlösung immer näher heranrückte.

Auch Lea fühlte sich von Tag zu Tag schwächer. Sie nahm jetzt gar nichts mehr zu sich. Der Doktor gab es auf, sie zu überreden, und kümmerte sich kaum mehr um sie.

Ein Gefühl von dumpfer Verzweiflung bemächtigte sich ihrer. Sie fühlte einen bittren Groll in sich aufsteigen, gegen diejenigen, die sie soweit gebracht hatten. Denn in ihrem Herzen klagte sie Pirnitz und Friederike an, daß sie sie von Georg getrennt, ihr Lebensglück zerstört hatten. Sie fühlte, wie ihre Kräfte schwanden, wie der Husten immer qualvoller wurde, und gab allmählich alle Hoffnung auf.

Um diese Zeit fing sie wieder an, Blut auszuwerfen. Dann trat heftiges Fieber ein. Mehrere Tage hindurch lag sie halb bewußtlos da. Als sie allmählich wieder zur Besinnung kam, fühlte sie sich unsagbar schwach. Langsam schlug sie die Augen auf – es war früh am Morgen. Draußen schien wieder die Sonne.

Lea mußte sich erst besinnen, wo sie war. Allmählich erkannte sie den Saal wieder mit seinen hellgrünen Wänden, mit all den weißen Lagerstätten.

Sie warf einen Blick auf das Bett, das neben ihrem stand. – Es war leer.

»May,« murmelte sie. Dann versuchte sie sich aufzurichten und rief noch einmal etwas lauter: »May Bodson.«

»May ist nicht mehr da,« antwortete eine Stimme von der andren Seite des Bettes. »Christus hat sie zu sich gerufen.«

Lea hatte nicht die Kraft, sich umzuwenden, um zu sehen, wer da gesprochen hatte. Aber jetzt kamen leichte Schritte auf sie zu. Eine Krankenpflegerin mit weißer Haube und Schürze beugte sich über sie.

»Wie fühlen Sie sich jetzt?« fragte sie.

Erst jetzt erkannte Lea sie.

»Edith.«

»Regen Sie sich nicht auf,« sagte Edith und bettete Leas Kopf wieder in die Kissen. »Sie müssen noch etwas schlafen. – Ich bin seit zwei Tagen bei Ihnen, Ihr Brief hat große Umwege gemacht, bis ich ihn bekam.«

Lea blickte sie an, als ob sie sich nicht satt sehen könnte. Ein Gefühl von unsagbar frohem Hoffen zog wieder in ihr Herz ein.

»Edith, gehen Sie nicht wieder fort.«

»Nein, ich bleibe bei Ihnen. Wir sprechen später miteinander. Sie müssen jetzt noch etwas schlafen. Es wird alles wieder gut werden.«

»Wissen Sie –?« fragte Lea. Sie hatte nicht die Kraft, mehr zu sagen. Aber Edith hatte sie verstanden.

»Ja, ich weiß, wo sie sind. – Sowie Sie besser sind, fahren wir zusammen hin.«

Lea atmete tief auf.

»Jetzt will ich wieder leben.«

Dann schloß sie folgsam die Augen und schlief wieder ein, während Edith neben ihr saß und in ihrem Gebetbuch las.


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