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Ein imaginäres Buch

Irgendwohin entführte mich der gnadenreiche Gott der Träume, und da oft in Träumen Wünsche sich verwirklichen, die im stillen keimen, sah ich mich in die Lektüre eines Buches vertieft, das zu lesen schon lange meine Sehnsucht war. Es war ein edles Buch, erlesen und köstlich, das, ach, vielleicht nie geschrieben werden wird.

Es kostete mich nicht die mindeste Anstrengung, das seltene Buch aus dem Schrein zu nehmen, mich in einen Sessel zu werfen und die Blätter umzuschlagen. Indessen, ich war wohl tief erstaunt darüber, daß mir ein so wertvolles Werk bisher entgangen war, nicht aber, daß niemand davon gesprochen hatte. Dies erst recht schien mir ein Beweis für seine Bedeutung. Ich war entzückt über meinen Fund und beglückt zugleich. Ich las ... las mit erschlossenen Sinnen Seite für Seite ... und nicht so, als erfände mein Gehirn erst Form und Fabel. Wie oft träumt man gleiches; aber sobald man wach wird, ist der kostbare Raub aus dem Traumreich dahin, und alles ist dem Gedächtnis entschwunden. Träumend war man einen Augenblick lang ein Genie, um wachend wieder in seine Nichtigkeit zurückzusinken ...

Das imaginäre Buch, das ich im Traume las, konnte von Alfred de Musset gewesen sein, dem subtilen und tönereichen Dichter, der seine Nerven zerstörte, um ihnen ein paar unvergleichlich schöne und schwermütige Bücher abzuringen.

Oder von Theodor Amadeus Hoffmann, dessen Werke ein allen menschlichen Maßen unvergleichbares riesenhaft verzerrtes Antlitz zeigen.

Oder von Fedor Dostojewski, dem abgrundtiefsten Seher aller Zeiten, der nur geboren ward, um in die grausigen Klüfte der menschlichen Seele hinabzuleuchten. Das Leben wollte wissen, wie furchtbar es ist, und schuf sich diesen Dichter, daß er es schildere.

Oder von Guy de Maupassant, dem Dichter des Horla und der Solitude, der schon das mysteriöse Reich des Wahnsinns betreten hatte, als er seine tiefsten und ergreifendsten Seiten schrieb.

Oder von Edgar Allan Poe, dem König der schrecklichen Geheimnisse, der stets in einem Palast der Albträume und Ängste lebte, und der, als seine Aufgabe erfüllt ward, von seinem Daimonion in den Rinnstein geworfen ward.

Oder von Gerard de Nerval, dem genialen Träumer, der in somnambulem Zustande aus der Welt der Wirklichkeit, in der er stets wie ein unbeteiligter Fremder umherirrte, in das Schattenreich der Ewigkeit schritt.

Oder von Georges Rodenbach, dem Hohepriester und Sänger des Todes, der, wie keiner sonst, die innigen Verbindungen ahnte, die zwischen Liebe, und Tod, Wollust und Tod, Kunst und Tod, Ruhm und Tod, Glück und Tod bestehen, und die er in seltsam schönen Analogien beschrieb.

Oder von Sigbjörn Obstfelder, den die Schwindsucht, nachdem sie seine Sinne verfeinert und verschärft und ihm die Witterung für Jenseitiges und Außerirdisches gegeben hatte, blutjung dahingerafft. Er durfte ein paar Seiten schreiben, die Kalliope ihm diktiert hatte.

Oder von Paul Verlaine, der, versunken in die mystische Betrachtung des Mondes, den Abgrund aller Zeiten witterte.

Oder von Jens P. Jacobsen, den das Leid trunken gemacht hatte und der den Schmerz der Kreatur meisterte. Die Menschenseele war eine Geige für ihn, auf der er seine melancholischen Weisen spielte.

Oder von Thomas P. Krag, in dessen Gemüt eine unaussprechliche Schwermut hauste, die aus jeder Zeile weint, die sein Herz geschrieben.

Oder von Hans Jäger, der an die Nachwelt die qualvollsten und schrecklichsten Erlebnisse des modernen Menschen verriet.

– Aber das Buch war von keinem dieser Dichter...

... Ich weiß nur, daß mich dieses selten schöne Werk meines Traumes zu tiefst erfüllte und erschütterte; so sehr, daß ich es zuweilen sinken ließ, um mir immer wieder den unbekannten Namen des Autors ins Gedächtnis zu rufen; als wollte ich mich gleichsam vergewissern, daß der Verfasser ein Mensch sei, wie ich, der irgendwo und irgendwann gelebt habe. Aber ich habe seinen Namen vollkommen vergessen; als ob dieser Name nebensächlich sei und als ob es vollauf genüge, wenn sein Werk wie eine wundervoll gestimmte Glocke forttöne, während der Name des Meisters in Vergessenheit sinken könne.

Ich hatte neben dem einzigen Genuß der Lektüre ein großes Dankgefühl gegen Gott in mir, der den Künsten so gnädig war, meiner Sehnsucht nach dem edlen Werk mild und gütig sein »Werde!« zu schenken. Das Genie aller Dichter, die ich genannt und die ich liebe, war hier in eins verschmolzen. Ich freute mich mit jener tiefen Freude, die einen erfüllt, wenn man Bedeutsames und Erhabenes entdeckt...

 

... Eine unerträgliche Trübsal lebte in den bangen dunklen Augen des Helden, der ein Jude war aus dem toten Jerusalem. Mit schwermütiger Ironie blickte er auf mich hoffnungsarmen Europäer, dem Zivilisation und Kultur Gebete und Frömmigkeit genommen haben, um mir dafür eine bleierne Hoffnungslosigkeit zu geben. Ich saß zurückgelehnt da und dachte über diesen Helden nach, und verglich ihn mit mir selbst, so wie ich jedes gute Buch, das ich lese, gleich in engste Beziehung zu mir selbst setze. Ich frage wenig danach, ob und was ein Buch der Allgemeinheit bedeutet; wenn es nur mich selbst vertieft und beschenkt.

In mir sprach es: Wenn der Tod mich einst in den langen Schlaf bettet, nehme ich nichts mit, als die furchtbare Gewißheit, daß die Erschaffung einer denkenden und leidenden Menschheit keinen vernünftigen Grund hat, und daß alle meine Hoffnungen und Sehnsüchte armselig und eitel waren. Er aber, der Jude des Morgenlandes, er allein besitzt das Geheimnis, dank dessen er seit Jahrtausenden alles Leid der Menschheit erduldet und überwindet: das Geheimnis und das Wissen von seiner Wiederauferstehung...

Und das, was ich weiterhin las, zog immer größere Kreise in meinem Gemüte. Ich kann die Geschichte dieses seltsamen Buches nicht wieder erzählen; sie ist mir fast völlig entschwunden, als hätte der König der Träume, eifersüchtig auf den Raub meines träumenden Gehirns, mein Traumgesicht mit schwarzen Schleiern zugeworfen und mir das Wissen von diesem Buche entrissen, damit ich seinen Inhalt nicht weiter berichte. Ich war leidenschaftlich bestrebt, das Wesentliche der geträumten Empfängnis in die Wahrheit hinüberzuretten; aber von ferne drang der resignierte Ruf ernster Genien an mein Ohr: Wozu?... Wozu?...

 

Die Juden des Ostens kennen eine eigenartige und schöne Legende:

Das Kind im Mutterleibe sei allwissend und tief vertraut mit den Dingen des diesseitigen und jenseitigen Lebens. Kurz vor seiner Geburt sträube es sich mit aller Gewalt auf die Welt zu kommen, weil es die schreckliche Qual fürchte, die im Leben seiner harre und die es verurteile zu sterben und zu büßen, viel und schwer zu büßen, ehe seine Seele gereinigt und geläutert wieder zu Gott zurückkehren könne. Aus diesem Grunde nähere sich der Engel des Mitleids dem Ungeborenen und schnippe ihm mit einem Finger leise auf den Mund. Davon rühre das kleine Grübchen her, das alle Menschen in der Mitte der Oberlippe haben. Und im selben Augenblick vergesse das Ungeborene, das zum Leben verurteilt sei, all sein mystisches Wissen, und komme dieses Verlustes wegen schreiend zur Welt ... dumm und hilflos »wie ein Kind«. Nur später, wenn der Mensch längst erwachsen und reif sei, ahne er etwas von jenem geheimnisvollen Urwissen, und oft sei ihm so, als hätte er alles, was er erfahre und erleide, schon einmal erfahren und erlitten, und als sei er schon einmal dagewesen.

Etwas Ähnliches war mir im Traume geschehen ...

Ich hatte das Buch zu Ende gelesen...

Eine unaussprechliche Melancholie hielt mich gefangen und eine unendliche Trauer hatte sich meiner Seele bemächtigt. Die Dunkelheit war herabgesunken, und alle Dinge lösten sich in geheimnisvollen Schatten auf; selbst die Bäume draußen trugen schon die Farben der Nacht. In solchen Dämmerungen krampft sich das Herz zusammen und erschauert vor den viel tieferen und unerklärbaren Finsternissen, die in den Abgründen unseres Ichs herrschen. Geliebtes, das verloren ging, kostbare Stunden, die entschwunden sind, tauchten erinnernd auf und zogen bang und gespenstisch vorüber. Alles Vergangene schien wie ein Haufen welker Blätter in mir geschichtet, und ein seltsamer Duft wie von Gräbern zog mahnend durch die Stube.

Wo ging das Leben hin? ... Alles Blutvolle war Erinnerung geworden, die immer mehr verblaßte. Die goldenen Träume der Jugend waren zerstoben, die Kränze verblüht, die Hoffnungen dahin auf ewig.

Papiere ... Bücher ... Briefe ... ein Berg vergilbter Blätter lag vor mir, aus denen ein leiser Moderduft aufstieg. Das alles war tot, als wäre es nie gewesen. Und doch war es vor noch nicht gar zu langer Zeit Glück und Zorn, Jubel und Gram, Kampf und Sieg, Lust und Träne, Liebe und Schmerz...

Alles roch nun fade nach Staub ... Alles war entschönt... Wie fremd die Möbel aussahen!... Welch eine Schwermut lastete auf den stummen Dingen!...

Und die Einsamkeit wie schwer! Sonst tiefste Freude des Lärmscheuen! Zuflucht und Trost des Müden! Insel der Stille! Lockendes Mysterium! Nun aber Fülle der Trostlosigkeit und qualvollen Trauer, in der das Herz erfror und der Atem stockte. Wenn nur ein Hund zu meinen Füßen geschnarcht oder doch eine liebebedürftige Katze ihren Buckel an meinen Beinen gerieben hätte!

Es roch nach Schimmel und Schwamm, nach welken Stoffen und giftigen Blumen ...ein Totenduft überall.

Und ein schmerzendes Heimweh wurde wach... Heimweh nach Glück und nach einer Liebe, die es unter Menschen vielleicht nicht gibt; nach einer weniger stürmischen, als vielleicht nach einer tiefen Liebe, die inmitten höchster Lust als letzte reichste Erfüllung den Tod ersehnt. Heimweh nach einer Innigkeit, der das Wort gebricht und die es als ausdruckslos verwirft, und nach einer Verbundenheit, die stark ist wie der Tod. Heimweh nach einem Zusammen und nach Verschmelzung, daß Raum- und Zeitgefühl schwinden, und daß man sich selbst in einer völlig mystischen Weise transsubstanziiert fühlt.

»Allein die Menschen lieben sich nicht so ...«

Solche Liebe, solche Verschmelzung, solch ein Einswerden gibt es nicht.

Die Menschen mißverstehen sich und häufen, vom Dämon der Perversität und des Hasses getrieben, scheinbar mit Absicht das Mißverstehen. Von der Natur zur Geselligkeit und Gesellschaftsbildung bestimmt, flieht jeder ängstlich in seinen gefeiten Kreis der Isolierung zurück; jeder sondert sich bewußt vom andern ab und wird doch wieder von einer ihm selbst unerklärlichen Angst gepeitscht, den Nachbar aufsuchen und sich seine Freundschaft zu erschmeicheln. Jeder meidet gern den Nächsten, obwohl er ihn braucht. Aufsprießendes Vertrauen wird im Keime erstickt; überall prallt das Herz und der vertrauensselige Sinn gegen Steinwände, gegen Mauern feindlicher Speere und gegen stahlgehärtete Panzer. Weil jeder von seinem Nächsten weiß oder voraussetzt, daß er ihn belügen und betrügen, sein Vertrauen – das holdeste Geschenk, das zwei Seelen austauschen können! – mißbrauchen, seine Hoffnungen und Erwartungen enttäuschen, und im Falle der Not oder des Schiffbruchs ihn elend umkommen und versinken lassen wird.

Es ist schwer, so zu leben.

Und es ist schade, daß zwischen den Menschen so viel Haß und Bosheit herüber- und hinüberweben. Seit jenem Zwiegespräch zwischen Siegfried und Mime, der stets etwas anderes sagen möchte, als die giftigen Worte, die ihm selbstverräterisch über die geifernden Lippen sprudeln, setzt jeder, diese Erfahrung nützend, beim Nächsten stillschweigend voraus, daß just das Gegenteil sich hinter den Worten verberge, die der Freund spricht ...

Solcher Art war die Stimmung, die das imaginäre Buch in mir auslöste ... ein schönes Buch, das mir verloren ging ... Nur dies haftet noch in mir:

 

Der Held Eli stand da, in die Wüste einer trostlosen Einsamkeit geworfen wie Hagars Sohn Ismael. Da trat Gott auf ihn zu in Gestalt eines schönen Jünglings, und sagte: So du gern leben möchtest, kämpfe mit mir!

Und er kämpfte. Aber es war kein Kampf, wie man ihn mit Menschen besteht. Eli fühlte, daß er mit Gott kämpfte. Und schon wollte er ablassen, als eine mutige Stimme in ihm raunte: Wenn Gott Mensch geworden ist, will ich mit ihm kämpfen und ihn besiegen.

Denn er erinnerte sich, daß schon einmal vor vielen tausend Jahren Gott auf die Erde gekommen war, um mit Jaakob zu kämpfen, und daß Jaakob ihn besiegt hatte.

Und Eli besiegte ihn.

Da gab Gott sich zu erkennen und sprach zu ihm: Wünsche, und ich werde es erfüllen.

Eli tat seinen tiefsten Wunsch: Gib den Menschen die Liebe!

Ich habe sie ihnen von Anfang an gegeben, sprach Gott.

Da erbleichte der Held und verstummte lange.

Als er wieder aufschaute, war aber Gott verschwunden.

Von tiefem Schrecken ergriffen, erhob Eli seine Stimme und rief zu den Himmeln hinauf: Warum hassen sich dann die Menschen?

Aber ihm wurde keine Antwort.

Der Wüstenwind spielte um seinen Rock und die endlose Einsamkeit nahm ihn auf.

Und er begann seine leidvolle Wanderung...


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