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Hermann Heijermans

Die unsichtbaren grauen Schwestern: die Entbehrung, die Schuld, die Sorge und die Not, bei deren Herannahen Faust erschauert und erblindet, sind in den jämmerlichen Behausungen der Armen zu alltägliche Erscheinungen, als daß sie auf die hart am Abgrunde des Verbrechens oder des Todes hintaumelnden Elenden noch irgendeinen Eindruck machen könnten. Was haben sie noch von den grauenvollen Gespenstern zu fürchten? Schlimmer kann es nicht mehr kommen. Wenn das Leben eine Hölle ist, sind selbst dem Tode seine Schrecken genommen.

In gleicher Weise abgestumpft gegen die Gesetze des Staates wie gegen die Gesetze der Menschlichkeit, leben sie das entsetzliche Dasein der Parias, allem Schmutz, allen Krankheiten, allen satanischen Zufällen und Verbrechen ausgeliefert, eine Existenz ohne Zweck und ohne Sinn, von Diebstahl, Bettel, Hehlerei oder Mundraub sich nährend, in häßlichen Umschlingungen, die sie den eklen Würmern gleichmachen. Aus ihren giftigen Höhlen entsteigen wie der Büchse der Pandora alle Verbrechen und alle Greuel, um sich über die menschliche Gesellschaft zu stürzen, die es wagt, ein schönes Leben zu führen. Und doch sind diese Elenden noch glücklich zu preisen gegenüber den proletarischen Juden.

Der proletarische Jude, besonders der Jude Rußlands, Polens, Rumäniens und Galiziens, hat ein restlos entwürdigtes Dasein geführt. Freiwild der Völker zwar und Opfer des Prangers, an dem alle Volksbestialität und alle wilden Instinkte der entfesselten Tierheit sich ungestraft ausrasen durften, hat er nie Verständnis gehabt für die ihn bedrückenden und zurücksetzenden Gesetze des Staates, noch weniger für die Wut des entmenschten Pöbels; aber die Gesetze der Menschlichkeit hat er allezeit hochgewertet und hochgehalten. Gerade weil ethische Grundsätze von Geburt an ihm blutsvererbter Lebensinhalt waren, hat er die Blutbäder und Mordbrennereien, die Menschenschändungen und die sadistischen Akte, die selbst chinesische Folterknechte noch mit Gewinn studieren konnten, zwar mit unerhörtem Fatalismus erduldet; aber er hat nie begriffen, daß diese selben Bestien sich gute Christen nennen durften und ihre Greuel an unschuldigen Menschen unter Berufung auf Jesus Christus verüben konnten. Mit Recht hat er nur tiefste Verachtung für eine »Religion der Liebe«, die solche viehischen Exzesse am Menschenbruder nicht zu unterdrücken vermag. Während der qualvollsten Marter, die sein Leib erlitt, während er durch den feurigen Ofen schritt, war seine Seele auf Gott gerichtet. Keinen Augenblick verließ ihn sein Ideal.

Man kennt sein vom Kummer beschwertes, vom Leid verklärtes Antlitz; diese großen, blanken, zukunftsschwangeren Frageaugen, die durch melancholische Schatten einen so tragischen Ausdruck erhalten, den sinnenbejahenden, aber vom Schmerz gezeichneten Mund. Aber es ist nicht die Nase und nicht der Mund, nicht das Auge und nicht die Haarfarbe, an denen man dies gezeichnete und erlesene Volk erkennt; es ist vielmehr ein unerklärbar rassiger, seelischer Ausdruck, der in anderen Gesichtern nicht wiederkehrt. Ein Jahrtausende alter Schmerz hat sich in diesen Physiognomien verewigt.

Dieser Jude hat Mitleid mit denen, die ihn foltern, weil sie ein böses Ende nehmen werden, weil ihnen das Jenseits verschlossen bleibt. Sie werden alles tausendfach abbüßen müssen; an ihren Urenkeln wird es heimgesucht und vergolten werden. Denn alles Leid, das man anderen zuzufügen glaubt, fügt man nur sich selber zu, so wie jeder Fluch auf den zurückfällt, der ihn ausstößt. Jehova ist der Gott der Vergeltung; er ist der Gott, der in die Herzen schaut und der die Gesinnung prüft. Was ist schließlich an dieser Welt gelegen, an diesem armseligen Vorhof des Jenseits, der nur der seelischen Läuterung dient! Je mehr man leidet, desto gewisser entmaterialisiert sich die Seele. Immer geschieht nur Gottes Wille, und der himmlische Lohn bleibt nicht aus. Dieses sogenannte Leben ist die düsteren Klagelieder nicht wert; das Ganze ist nur ein wüster Traum, auf den ein seliges Erwachen folgen wird. Und wie könnte es anders sein, da die ausgleichende Gerechtigkeit Gottes alle Schicksale wägt! Was kann dem noch Schlimmes zustoßen, der sich völlig in Gottes Hand begeben hat?

Indes, nicht alle Juden denken so.

Deutschland kennt diesen Juden, von dem ich spreche, und der nicht etwa einem imaginären Porträt nachgezeichnet ist, sondern der den Typ von zwei Dritteln aller Juden repräsentiert, überhaupt nicht. Die dumpfe Atmosphäre und grauenhafte Stagnation, in der selbst der bürgerliche deutsche Jude lebt, ist von vorurteilslosen jüdischen Köpfen längst festgestellt und statistisch erwiesen. Vollends der deutsche proletarische Jude ist eine bemitleidenswürdige Kreatur; er hat kein Geld und keinen Gott, keinen Glauben und keine Weltanschauung (ich schwöre, daß er nicht einmal weiß, was eine Weltanschauung ist). Er ist einfach ein Bettler, und steht in ethischer und idealer Beziehung unausdenkbar tief unter dem polnisch-russischen Juden, den er wahrscheinlich sogar noch verachtet. Dieser deutsche proletarische Jude, Zufallsjude, stolz auf sein Wahlrecht und auf sein bißchen Zivilisation (mit dem Wahlspruch: wir fürchten den Gendarm, sonst nichts auf der Welt!), von Beruf Trödler und dem Wesen nach Schnorrer, steht auf der Stufe jenes bedauernswerten Proletariers, von dem ich zu Anfang sprach.

Es scheint, daß der holländische proletarische Jude ein Bruder des deutschen Juden ist. Denn ebenso wie ich die hohe Verehrung restlos mitfühle und selbst empfinde, die jeder dem polnisch-russischen Juden entgegenbringt, der seine sittliche Welt und sein reines Leben näher kennenlernt (so ist es Arnold Zweig ergangen, der in seinem wunderschönen Buch »Das ostjüdische Antlitz;« warmherzig Zeugnis davon ablegt), ebenso verstehe und teile ich vollkommen den Haß, ja die Verachtung gegenüber dem jüdischen Proletarier, den Heijermans seinen holländischen Ghettojuden gegenüber bekundet. Als Jude hat man solchen Juden gegenüber das gleiche erbitterte Gefühl, wie gegenüber einem mißratenen oder verkommenen Bruder: man schämt sich.

Shylock verdient sein Los, und er beschwert sich zu Unrecht, daß ihm Antonio ins Gesicht spuckt und ihn Bluthund nennt. Aber Shylock stammt nicht von jenen Juden Polens, denen der Glanz der Schechinah aus den Augen leuchtet. Der polnisch-russische Jude kennt die Rache nicht. Er hat leiden gelernt ohne zu klagen. Er würde lächeln über den ihm zugefügten Schimpf. Er hat kein Verlangen nach dem Pfund Fleisch seines Schuldners. Er würde sein Guthaben in den Kamin schreiben und froh sein, wenn ihm der »edle« Antonio um den Preis der verlorenen Summe seine Sabbathruhe nicht stören würde. Vor den Richter würde er nicht gehen, bestimmt nicht; sogar ganz bestimmt nicht. Und wenn er dennoch vor den Richter ginge, würde er sein Recht niemals so überspitzen. Denn wo sollte er den Mut hernehmen, auf ein weltliches Gesetz zu bauen, wenn er nicht mehr auf Gott bauen kann? Und wenn er – was ins Gebiet der Märchenpsychologie gehört – auch noch so starrsinnig sein Recht forderte, niemals würde er ein Messer zücken, um es vor den Augen der Richter in das Herz seines Gläubigers zu stoßen (welch ein frevelhafter Unsinn, o großer Shakespeare, und welch eine frivole Konzession an den Geschmack deiner Zeit!), und niemals würde er zu diesem Zweck im Gerichtssaal sein Messer an den Schuhen wetzen. Ich nehme zu seiner Ehre an, daß er es schlimmstenfalls schon gut geschliffen mitbringen würde! Und er könnte nie eine geile Hure zur Tochter haben, wie die »süße« Jessica, die ihren christlichen Zuhälter mit dem gestohlenen Gut des Vaters aushält. Shylock ist Trödler, Schacherer, Händler, Vater jener sogenannten Juden, die heute im Londoner Whitecheaple, in der Berliner Grenadierstraße und im Amsterdamer Ghetto ihr übles Handwerk treiben. Worin besteht denn ihre Auserwähltheit?

Man kann verstehen, daß jüdische realistische Dichter, gewohnt, den Menschen weniger als göttliche Wesenheit, vielmehr als Summe seiner Erziehung und Umgebung zu betrachten, sich die Frage vorlegten, warum wohl die auserwählten Lieblinge Gottes in Europa dazu verdammt sein mögen, alle alten Hosen zu verschachern, wie Tiere zu leben, in Ghettis eingepfercht zu sein, dem Gespött infamer Christen zu dienen, an Leib und Seele zu verkommen, den Haß der Welt auf sich zu laden, verfolgt zu werden, verhöhnt, verunglimpft und ausgestoßen aus jeder anständigen menschlichen Gemeinschaft. Diese realistischen Dichter, die, um die Antwort zu erhalten, nicht erst seufzend oder anklagend zu den stummen Wolken emporblickten und auch nicht auf ein Wunder warteten, sondern, von Haus aus Nationalökonomen, Ärzte, Journalisten oder sonst welche praktischen Berufsmenschen, sich zu dem Satze bekannten, daß jede Erscheinung und Wirkung auch eine Ursache haben müsse, gingen hin und studierten ihre Modelle. Wie alle guten Maler trieben sie Anatomie, ehe sie an eine Darstellung ihrer Menschen gingen. Und dies tat auch Hermann Heijermans, den sein fanatischer Wahrheitseifer zu einem der stärksten Entrüstungs- und Verzweiflungspessimisten gemacht hat.

Hermann Heijermans ist am 3. Dezember 1864 in Rotterdam geboren. Sein Vater hatte ihn zum Kaufmann bestimmt; er aber fand eine andere Bestimmung in sich. Er floh nach Amsterdam, um dort zu hungern und zu frieren und den Weg zu sich selbst zu finden. Er lebte da unter armen Menschen, unter bedrückten, freudelosen Juden, deren Leiden bald die seinen wurden, deren Elend in seinem Herzen eine starke Resonanz fand, und die auf sein Gemüt eine so große dichterische Wirkung übten, daß er den tiefen Eindrücken jener Zeit in zahlreichen Werken beredten Ausdruck verleiht. Die Mitleidstimmung, die allen seinen Schilderungen eine höhere Weihe gibt, hat in jenen Jugendtagen reiche Nahrung empfangen, und die Fittiche der Melancholie, die über seinen meisten Dichtungen zu schweben scheinen, sind ihm gewiß in der Amsterdamer Jugendzeit gewachsen. Mühevoll mußte er sich in Amsterdam mit journalistischen Arbeiten seinen Unterhalt verdienen. Er versuchte sich aber auch an größeren Erzählungen.

Zunächst schreibt er, völlig unter dem Einflusse Zolas stehend, eine ebenso schlechte wie konventionelle Novelle »Trinette«, über die man kein Wort zu verlieren braucht.

Inzwischen hatte er viel Leid kennengelernt – eigenes und fremdes –, hatte tief ins Leben geblickt und sich unter Qualen zu seiner eigentlichen Aufgabe durchgerungen. In Amsterdam kommt er in die elendesten Winkel, in die die Sonne nie einen Strahl wirft. In das Ghetto fällt kein Licht, hier ist alles fruchtbar ohne Sonne. Krumme Häuser sieht er, als hätten Blinde sie aufgebaut; Gesichter, als hätte die Hölle sie ausgebleicht. Freude und Lust, Paläste und schöne Frauen, Tempel und Theater, kostbare Juwelen und seltene Gemälde – alles, was dem Leben den Firnis des Genusses gibt, erscheint ihm plötzlich furchtbar und tyrannisch. Wie eine klug ausgetiftelte Riesenpumpe erscheint ihm die Stadt, die alles aus den Grenzen ihres Weichbildes sog, was Menschen genommen werden kann, um ihre Schönheit daraus aufzubauen. Voll stolzer Verachtung zwang diese Stadt die Demütigen und Armen, die Erniedrigten und Beleidigten in menschenunwürdige Gassen, in diese Gassen voller ekler Dünste, voller Kehricht und Moder. Hier warf sie die Tausende von Sklaven her, denen sie einen jämmerlichen Unterschlupf gewährt, und die sich am Tage um eines Cent willen bekämpfen und beneiden, verfluchen und töten.

All das schaut der Dichter, und schwere Beklommenheit befällt ihn. Das sind die Wohnungen der armen Juden. Wo er hinblickt, gewahrt er das schändliche Zeugnis eines heißen, aber vergeblichen Kampfes. Die Seelen hacken alle wild aufeinander los. Wie? Ist er nicht selbst ein Jude? Gehört er nicht zu ihnen?

Aber er wird nie mit alten Röcken handeln können oder mit altem Eisen. Er wird nie verstehen, wegen eines alten Paar Stiefels schwere Eide zu schwören und wegen eines Sackes Lumpen sich so wild zu erregen. Aber gehört er nicht zu ihnen?

... Und in der Stille der Nacht hört er die Stimme Gottes in sich sprechen und fühlt sich berufen. Er wird hingehen und der Dichter dieser Armen werden, ein Dichter des Ghetto. Und nun schreibt er, dem ein Gott gegeben hat, zu sagen, was er leidet, in rascher Folge die Novelle »Ein Judenstreich«, den Einakter »Ahasver«, das Drama »Ghetto«, die Erzählung »Sabbath«, den großen Ghettoroman »Diamantstadt« neben einer großen Reihe anderer Werke, die sich mit dem allgemeinen sozialen und gesellschaftlichen Elend beschäftigen: die Sittenkomödie »Das siebente Gebot«, das Militärdrama »Der Panzer«, das Seestück »Die Hoffnung auf Segen«, das Schauspiel »Kettenglieder«, das friesische Drama »Ora et labora« und etwa sieben Bände kleiner Erzählungen und Skizzen. Aber seine eigentliche Kraft und Stärke holt er doch aus jenen dumpfen Gassen und Winkeln, wo er seine Rasse so elend dahinsiechen sah.

Als Heijermans sich der Ghettogeschichte zu widmen begann, gehörte sie bereits zu den verlorenen Posten der Weltliteratur. Einst von Künstlern gepflegt, wurde sie in den neunziger Jahren mit großer Scheu gemieden. Sie führte nur noch ein Scheinleben in kleinen jüdischen Zeitungen, und es waren verschlossene Tore, hinter welchen die Romantik des Ghetto ihre Poesie spann. Kein Dichter deutete sie mehr; sie lag im Bann. Es war das schlafende Dornröschen der Literatur geworden, seitdem es wieder eine Judenfrage gab. Die Psychologie wurde von dem Leitartikel, die Kunst von der Partei abgelöst. Und so kommt es, daß man mit vagen Vorstellungen vom Wesen des Juden herumgeht. Mit der Phantasie eines Kolportageromanciers sehen ihn die einen, und als ob er ein Ausschnitt eines Gartenlaubenromans wäre, so denken ihn sich die andern.

In den Großstädten des Westens verblich aller Glanz und alle Größe der jüdischen Tradition im Wohlleben; bei den Juden, die sich scheu in den dunklen Großstadtwinkeln verkrochen, verkümmerte und erstarrte sie im Elend. Es war hauptsächlich die ungeheure wirtschaftliche Not, die in furchtbarster Weise diese proletarischen Juden des Westens umformte. Sie schufen sich, bedrängt und hilflos wie sie waren, gefährliche Arten des Erwerbes; in ihrer Seele erstarb jedweder ethische Gehalt, und von allen religiösen und weltlichen Idealen blieb ihnen nichts, nichts, nichts. Alte Hosen, altes Eisen. Von der Verblutung des besseren und von der Verderbtheit des schlimmsten Teiles mußte endlich der Schleier gerissen werden. Und dies hat Hermann Heijermans unerschrocken und unerbittlich getan. Er gehört zu denen, die schwer an den Sünden ihrer Väter trugen, die eine Reform ihres Volkes erstrebten. Sein »Rafael« im Drama »Ghetto«, sein Eleazar in »Diamantstadt« sind solche jungen Reformerköpfe, die voller Utopien stecken, und es ist nicht zu leugnen, daß sie der Schimmer eines großen Ideales umleuchtet. Es sind zwar moderne Menschen, aber sie wurzeln mit ihrer Seele dennoch im Ghetto. Denn noch lebt sie, die Romantik des Ghetto; sie ist nur tiefer geworden und blutiger. Und sie ist grauenvoll geworden durch die unheimliche Angst, die der Haß der Feinde in ihre Seelen getrieben hat. Und noch lebt das Ghetto, obgleich die alten Gassen und Mauern gefallen sind, denn die alten Ghettomenschen sind noch da. Richard Voß hat es in seinem kitschigen Drama »Daniel Danieli«, das in Rom spielt, zu beweisen unternommen. In Frankfurt, Wien, Berlin, London, Amsterdam, Newyork, in allen großen Städten findet man ihre Rudimente. Man findet sie, aber man liebt sie nicht. Welche Gemeinschaft könnte man auch mit dieser Art Mensch haben? Und wenn wir alle Dichter wären und solche Juden darstellen wollten, würden wir sie auf die Art Defreggers oder Auerbachs »idealisieren«? Würden wir unsere Augen Lügen strafen und die Wahrheit leugnen? Oder würden wir nicht vielmehr allen inneren und äußeren Schmutz, alle Schliche und krummen Wege dieser Zufallsjuden scharf und hart kritisieren? Dies und nichts anderes tut Hermann Heijermans, und er erreicht seine Wirkungen durch das künstlerische Mittel des Naturalismus. Denn diese Kunstform ist die einzige, in der all das gesagt werden kann, was vom westeuropäischen Ghettojuden gesagt werden muß.

Man hatte schon alle möglichen Erklärungen des Naturalismus versucht; aber man fand immer wieder, daß sie nicht paßten. Und eines Tages begriff man, daß die verschiedenen Vertreter der naturalistischen Literatur gar nicht unter einen Hut zu bringen wären. Als man genauer zusah, fand man sogar, daß einige Matadore des Naturalismus verkappte Romantiker und beinahe alle Idealisten waren. Indessen, tiefer betrachtet, sah man doch wieder ein, daß es einen gemeinsamen Zug der naturalistischen Literatur gab, und das war der Haß; der Haß gegen die Kultur, gegen das Weib, gegen das Volk, gegen die Politik, gegen die Natur, gegen die ganze Welt. Der Haß, beinahe der Ekel als Folge der äußersten Verfeinerung, des letzten Aristokratismus der Menschennatur. Die naturalistische Literatur des vorigen Jahrhunderts war eine Folge dieser Erschütterungen, die der Haß hervorgebracht hat, war der Ausdruck des Schauderns vor einer Welt, die man entweder umwälzen oder vernichten wollte. Und nach den verschiedenen Ursachen, die den Haß erzeugt oder ihn am stärksten gereizt hatten, lassen sich die Abzweigungen des Naturalismus am besten erklären. So ist Zola der Vertreter des politischen Ekels oder Hasses, Strindberg des sexuellen, Nietzsche des demokratischen, Maeterlinck des rationellen, Tolstoi des intellektuellen, Gorki des kulturellen, Ibsen des gesellschaftlichen usw.

Hermann Heijermans ist vom Haß gegen die eigene Rasse inspiriert. Vergessen wir nur nie, daß, wer so stark haßt, auch sehr stark lieben kann und daß dieser Haß gegen das Häßliche, dieser Kampf gegen das Gemeine, den Heijermans kämpfte, uns seine Wunde am deutlichsten bloßlegt, uns unausgesprochen sagt, daß auch er an den endlichen Sieg des Guten in uns glaubt, ohne den die Natur weder Musik noch Sinn hätte und nur Fels, Baum, Fluß und Kreatur wäre und sonst nichts. Vergessen wir ihm nicht, daß er die Kostbarkeiten seines Lebens an seine stumpfen Stammesgenossen verschwendet hat.

Im »Ahasver«-Drama betrat Heijermans zum erstenmal das Gebiet, auf dem er später Meister werden sollte: das der jüdischen Milieuschilderung. Er führt uns im »Ahasver« – der Titel ist freilich zu wuchtig für diesen Einakter – in das Innere Rußlands, auf ein kleines Gehöft in der Nähe Nishnij Nowgorods, zu orthodoxen Juden, die ein Opfer der Judenverfolgungen werden sollen. Früher schon war der Großvater ermordet worden, und die Großmutter ist darüber wahnsinnig geworden. Sie verbringt ihr vegetierendes Dasein am Kamin, auf dem gerade das Jahrzeitlämpchen brennt zur Erinnerung an den Ermordeten. Am Tage bevor die Handlung beginnt, ist wieder ein Überfall auf die Einwohner des Häuschens ausgeführt worden, und während draußen das tumultarische Geschrei tobte »Holt sie 'raus und schlagt sie tot, die Juden«, ist der einzige Sohn der Familie, Petruschka, aus dem Hause entflohen. Sobald der Vorhang aufgeht, beginnt der Sabbath, und der geflüchtete Sohn ist noch nicht heimgekehrt. Statt seiner erscheint der Pope und bringt der Mutter die Kunde, daß ihr Sohn aus Furcht vor der Verfolgung sich hat taufen lassen. Bevor die Mutter aber noch Gelegenheit findet, dem Vater das Unerhörte mitzuteilen, betritt Petruschka die Wohnung. Der Vater bricht in überschwengliche Freude aus und vergißt all die kummervollen Stunden, vergißt, daß vor seiner Tür die Kosaken lauern. Und eben, als die Familie sich zu Tisch begibt – der Vater hat gerade das Gebet über Wein und Brot gesprochen und Gottes Schutz erfleht –, wird die Tür aufgerissen, um die Juden, welche überall Fremdlinge sind, welche nirgends Wohnrecht haben, aus dem Hause zu jagen. Nur Petruschka darf bleiben, denn – er ist getauft. Dem Vater erstirbt das Wort im Munde. Mit dem Messer stürzt er sich auf seinen Sohn, und als er die bittere Wahrheit aus seinem Munde vernimmt, schleudert er dem Glaubensverräter, dem abtrünnigen Sohne, die gräßlichsten Flüche zu:

»Hätten sie dich gestern gesteinigt, daß dein Gehirn auf dem Wege gelegen hätte, den Wölfen zum Fraße! Hätten sie dir die Zunge herausgerissen, die Zunge, mit der du Gott gelästert hast! Wärst du gestickt, als du geboren wurdest, gestickt beim ersten Atemzuge! Wärst du blöde geworden, wie ein Idiot, wie ein Wahnsinniger ... als du vorhin das Gebet sprachst! ... (Ein Glas nehmend und es in Stücke werfend.) So wahrhaftig, als dieses Glas niemals wieder ganz wird, so fluche ich dir, so reiße ich dich aus meiner Seele, so ekelt es mich vor dir, so speie ich dich an! ... Mögen deine Gebeine sich wälzen in der Erde, bis die Würmer sie kahl gefressen!... Mögest du herumlaufen wie ein räudiges Schaf, wie ein Aussätziger! Mögest du leben dein Leben lang mit Vorstellungen, wie die Pest! ... Deine Kinder verfluche ich und deine Kindeskinder! Du bist ein Hund, ein ein ...« (Stickend in seiner Wut fällt er nieder.)

Die Eltern werden weggeführt. Den Fluch Ahasvers teilend, werden sie ruhelos von Land zu Land wandern. Sie haben die Eltern verloren, den Sohn verloren, die Heimat verloren – es ist ihnen nichts mehr geblieben, was des Verlierens wert wäre, außer ihrem nackten Leben, das ihnen nur noch eine schwere Bürde sein wird.

Nun, das alles ist zum größten Teile – Theater. Heijermans kennt das Milieu nicht, in das er sich da gewagt hat, denn so würde sich der Vorgang im Hause eines russisch-polnischen Juden niemals abgespielt haben. Erstens wäre es ganz unmöglich, daß der Sohn eines russisch-polnischen Juden sich in seinem Heimatstädtchen taufen ließe. Wenn er solche Absichten hätte, ginge er nach Deutschland. Zweitens würde der Sohn eines russisch-polnischen Juden, der sich hat taufen lassen, niemals in das Elternhaus zurückkehren; drittens würde der Vater, wenn die beiden falschen Voraussetzungen selbst zuträfen, sich niemals so benehmen, oder gar mit dem Messer auf den Sohn losgehen; es wäre vielmehr des Vaters gesetzliche Pflicht, die Kleider zu zerreißen und dem Sohn nachzutrauern wie einem Toten.

Solche Einwände – es lassen sich viel mehr erheben! – sind einem Schriftsteller gegenüber berechtigt, der vorgibt, die Wahrheit naturalistisch zu schildern. Diese äußere Situation der Taufe mag bei einem westeuropäischen proletarischen Juden möglich sein; aber man verlegt nicht als naturalistischer Schilderer eine Handlung, die nur in Schantung möglich wäre, ungestraft nach Paris. Und was im Amsterdamer Judenviertel durchaus möglich sein kann, ist in einer russisch-polnischen Judenfamilie vollkommen undenkbar.

Mit den russischen Judenverfolgungen beschäftigt sich Heijermans noch einmal flüchtig in der »Diamantstadt«, wo er auch zu dem Problem des Judenhasses, dem er seine besten Kräfte gewidmet hat, persönlich Stellung nimmt.

In der Tat hat der Judenhaß der modernen Völker noch seine Urmotive, die den Krieg aller Wesen überhaupt bestimmen. Erstens, das Anderssein, denn die Juden unterscheiden sich von allen andern Völkern. Zweitens das wirtschaftliche Interesse. Denn als Volk ohne Land, mit der längsten Vergangenheit, weitesten Entwicklung und stärksten Hemmung sind die Juden historisch auf eine Erwerbsart vorbereitet und gestimmt, die sich mit der ihrer Wirtsvölker durch die Schuld der Wirtsvölker nur selten vertrug.

Die östlichen Juden, überhaupt alle Ghettojuden, die nach dem Gesetze leben und geschieden bleiben wollen von den andern Völkern und auf Leiden gefaßt sind, erwarten gar nicht, daß ihre Feinde nachgeben. Die andern hingegen, die modernen Juden, die im Geiste ihrer Wirtsvölker leben oder doch zu leben versuchen, und zuweilen nur noch durch die Verfolgungen an ihre Abstammung erinnert werden, sind oft geneigt, sich im Kampfe auf die Seite ihrer Feinde zu stellen. Und so haben wir denn heute eine Reihe von Schriftstellern, Gelehrten und Politikern, die noch antijüdischer sind und feindlicher über Juden und Judentum urteilen, als die Antisemiten selbst. Zu ihnen gehört auch Heijermans. Was ihm diesen Haß eingegeben hat, das ist vor allem die wirtschaftliche Seite der Judenfrage. Die Juden als Vertreter des Handelsgeistes haben einen ungeheuren Haß auf sich geladen, und »jüdisch« und »händlerisch« und »kapitalistisch« sind in vielen Köpfen Synonyme geworden; »Schacherjude« gilt schon als Pleonasmus. Ein Jude aber, der sich von diesem Geiste freigehalten oder befreit hat, kann sich gegen den Genius der andern feindlich verhalten, denn es ist nicht sein Genius. Hier sind wir im Falle Heijermans. Sobald der Jude aber sich in Gegensatz stellen kann zu den andern Juden, ist sein Judenhaß auch nicht mehr auffällig. Ganz anders liegt der Fall, wenn der, der selbst Jude ist, prinzipiell das Judentum verneint im ganzen Umfange seiner Bedeutung, als Religion, Rasse, Kultur, Wesenheit. Solche Typen sind beispielsweise Rafael im Drama »Ghetto« und Eleazar im Roman »Diamantstadt«.

Dieser Rafael kann aber keineswegs vermeiden, daß er alles, was er gegen die Juden sagt, auch gegen sich selbst sagt, und er erinnert deshalb lebhaft an den berühmten Kretenser Sophismus. Alles kann man ändern und leugnen, nur nicht seine Abstammung, seine Art und Familie. Religion, Kultur, Weltanschauung, Sitten und Gesetze kann man wechseln; nur eine andere Mutter, als die einen geboren, kann man sich niemals geben. Gegen das eigene Volk und die eigene Geschichte sich verneinend wenden, heißt sich selbst verneinen und macht den Verneiner verdächtig, wie den Kreter Isidorus, der die Kreter Lügner schilt und sich selbst zugleich der Lüge bezichtigt.

Heijermans scheut die Konsequenz nicht, die aus den Anschauungen seiner Helden sich ergibt. Aber es liegt nicht im Wesen dieser Helden, daß sie sich am Ende taufen ließen, obwohl sie doch innerlich mit dem Judentum längst gebrochen haben. Denn der Jude, der heute mit dem Judentum fertig geworden ist, ist gewöhnlich auch mit dem Christentum fertig. Der getaufte Jude ist eine Verlogenheit und Unsauberkeit mehr in unserer Gesellschaft. Die Taufe ist immer nur ein Vorwand, wenn auch ein begreiflicher, so doch meist ein häßlicher. Heine nannte sie das Entreebillett zur europäischen Kultur. Aber die Kultur hängt nicht mehr vom religiösen Bekenntnis ab. Für sein Judentum kann der Jude ebensowenig, wie der Christ für sein Christentum. Wenn ein Jude sich Jude nennt, gesteht er nur ehrlich seine Abstammung ein. Seine Taufe aber ist bewußte Lüge, mit der er anständigerweise doch nicht in die moderne Kultur eintreten kann. Er kann es nicht einmal aus Höflichkeit gegen seine Umgebung, denn der Kreis, in den er als moderner Kulturmensch eintritt, ist doch meist so wenig christlich gesinnt als er selbst. Seine Taufe wäre sogar eine Herausforderung gegen den modernen Geist und zugleich auch gegen die Juden. Er beleidigt beide Gruppen und nützt sich selbst gar nicht. Denn die Taufe wischt seine Rasse und seine Geschichte nicht ab.

Dies hat Heijermans sehr wohl gefühlt. Seine Reformer sind Pantheisten, sind vielleicht Kosmopoliten – aber keine Renegaten. Was sie wollen, ist nichts anderes als das Glück ihrer armen Brüder. Sie befolgen das Gebot Salomos und schlagen ihre Kinder, weil sie sie lieben.

Der große Roman »Diamantstadt« spielt im Amsterdamer Ghetto unter den Diamantschleifern (der Titel ist natürlich ironisch zu verstehen!) und leuchtet in einen Abgrund dreifachen Elends und dreifacher Verkommenheit hinein. Der Roman ist aus tiefstem sozialen und aus tiefstem jüdischen Empfinden heraus geschaffen, und man fühlt es ordentlich, wie sehr Heijermans von seinem Stoff gequält und gepeinigt wurde, ehe er sich entschloß, sich der Sorgen um seine armen Brüder zu entlasten, indem er sie künstlerisch bannte. Aber bei dem peinigenden Ernst der Schilderungen, in die kaum ein Licht hineinfällt, der Schilderungen des Wohnungselends, der Krankheiten, der Unzucht, der sozialen Verbitterung, die sich in einem Streik der Diamantenschleifer von düsterer Tragik ausgibt, zieht durch das Buch so eine leichte, kaum noch merkliche Unterströmung, die wohl eigentlich nur der jüdische Leser empfinden kann. Roheit ist dort im Ghetto nicht zu Hause, auch Trunksucht nicht; dagegen eine leichte Art mit müden Augen zu witzeln. Die Freude am Scherzchen, die Anhänglichkeit aneinander, bleibt bei aller Verelendigung. Die meisten von ihnen wissen gar nicht, daß es für sie etwas anderes geben könnte als zu verkommen. Die Frau stirbt, gut! Der Mann wird eine andere heiraten. Kinder sterben, gut! Der liebe Gott wird andere schenken. Sie leben wie die Tiere, schlimmer als Tiere in schmutzigen Löchern – aber was soll man tun? Man lebt eben. Besser als in Rußland hat man es ja auf alle Fälle; wenigstens schlägt einen der Pöbel nicht tot.

Bilder voll düsterer, schwerer Tragik hat Heijermans hier aufgerollt, nicht mit dem grandiosen Temperament, mit dem ein Zola solch einen Vorwurf angepackt hätte, aber doch wiederum wärmer, inniger, anteilvoller; es ist mehr Liebe, mehr Seele darin und weniger Notizbuchaufzeichnung.

Eleazar, ein junger holländischer Jude, Diamantschleifer von Beruf, kehrt aus Amerika in die Spelunke zurück, in der seine Brüder und Schwestern hausen. In der Neuen Welt hat lange Krankheit seinen Verdienst aufgezehrt, er will nun in der Heimat wieder sein Brot verdienen. An Wissen und Bildung überragt er seine Umgebung bedeutend. Er kennt Spinoza, Marx und Lasalle. In der Neuen Welt hat er eine neue Lebens- und Weltanschauung gewonnen. »Das hohle Geschwätz hatte er verlernt, sein jugendlicher Eifer war zum besonnenen Widerstand geworden, sein Haß gegen den jüdischen Gott zum simplen Mitleid mit den Menschen.« Er kennt den traditionellen Gott vergangener Jahrhunderte nicht mehr. Und als er nun hier das entsetzliche Elend dieser zusammengepferchten, in Schmutz und Krankheit erstickenden Familien sieht, packt ihn der Ekel. Er reißt die Mesuse vom Türpfosten – denn (fragt er) wie soll man die Gebote und das Gesetz halten in diesem grauenhaften Elend? Und eines Tages spricht er von der Streikkanzel und predigt Aufruhr. Sein armes, junges, mitleidiges Herz, das für sein Volk glüht und es in so tiefer Knechtschaft weiß, möchte helfen. Dieses Herz bringt ihn auch in Konflikt mit seinem modern geschulten Gehirn. Nie – das hatte er sich geschworen! – nie wollte er eine Jüdin heiraten, denn die Wissenschaft, deren Sklave er ist, verbot Ehen in so engen Kreisen. Weil seit Jahrtausenden der Cousin die Cousine gefreit, gab es im Ghetto diese ausgemergelten, schwachbrüstigen, mit Grind und Schwären bedeckten Kinder, diese entstellten Menschen – sicher keine Ebenbilder Gottes. Und trotzdem verliebt sich Eleazar in eine schöne Jüdin, aber da gesteht sie ihm – ohne zu ahnen, was sie ihm eigentlich sagt – ihr Verbrechen der Blutschande. Eleazar taumelt die Treppe hinab, schlägt sich den Kopf blutig, und als er heimkehrt, im Innersten durchwühlt und zerrissen, da brennt es im Ghetto. Die Geliebte findet Eleazar als verkohlten Leichnam wieder, und er selbst, der sich an den Rettungsarbeiten beteiligt hat und mit schweren Brandwunden ins Krankenhaus geschafft worden ist, stirbt dort, als er am nächsten Tag die Berichte über das Brandunglück liest. Das reiche Amsterdam liest die grauenvollen Zeitungsnotizen und schauert zusammen. Das reiche Amsterdam verhält sich den armen Juden gegenüber wie das deutsche Volk sich seinen lebenden Dichtern gegenüber verhält: erst läßt es sie in Gnaden verhungern, und hinterher setzt es ihnen ein prachtvolles Denkmal.

Heijermans schildert in Eleazar einen aus der jungen Generation, eine zarte Pflanze, bestimmt Zu frühem Sterben, weil ihr Boden unsäglich verkümmert ist, die Pflanze eines Gewächshauses, behaftet mit einer überfeinen Sensibilität. Es ist ein Mensch, der sich nicht überwinden, der nicht groß und fruchtbar werden kann, weil er an der Vergangenheit leidet und an verhaltenen Gefühlen, die sich in den tiefsten Untergründen der Seele verbohren und sie krank machen. Er hat die neuen Gedanken und die alten Gefühle, über die keine Sonne scheint und die nur den Schauer der Tränen kennen. Er hat seine Heimat verloren und seinen Glauben; die Ghettojuden verstehen ihn nicht, aber er kann von ihnen nicht lassen; er liebt sie und kann ihnen doch nur Haß zeigen, und langsam verglüht sein Herz, bis der Tod ihn in seine sanften Arme nimmt. Er stirbt nicht wie die Menschen dekadenter Geschlechter; in ihm klingt keine Vergangenheitssehnsucht, sondern an der Zukunft, die kalt und ungewiß vor ihm steht, krankt seine Seele. Er kennt das Leben noch nicht, er hat es noch nicht genossen und ist doch schon übersättigt.

Aber nicht nur diese Individualität, in der gleichwohl der junge, kritisch gewordene Judentypus personifiziert ist, hat der Dichter geschaffen; es ist eine ganze und bunte Galerie von Gestalten. Und er läßt seine Menschen in ihrer eigenen Sprache reden, in einem mauschelnden Argot, einem Idiom, das soviel Eigenart an sich hat, uns bald berührend wie der üble Geruch schmutziger Wäsche und bald wie die Erinnerung an Tränen; Sätze, von Menschen geformt, die, verarmt und verkommen, ihren Humor dennoch nicht verlieren konnten: Sonnenlicht in der Armeleutestube.

Der Künstler, der dies Buch schreiben konnte, war zugleich ein Naturforscher des Menschen; ohne Zaudern hat er den grauen Vorhang vom Amsterdamer Judenviertel weggezogen und hat als ein mutiger Taucher, den all der Unrat nicht verdroß, den er auf dem Grunde sah, diejenigen ans Licht gebracht, die im Verborgenen lebten. Reich an Typen und an Individualitäten sind diese holländischen Ghetto-Juden mit ihren unzähligen Klassen und Berufen; hart und feindlich aneinander leben die verschiedensten Lebensanschauungen, geprägt von einer alten religiösen Kultur und von beispiellosen wirtschaftlichen Verhältnissen. Noch liegt der alte prachtvolle Widerschein über den tiefsten Dingen ihres Lebens. Das jüdische Volkstum ist jener ewige Jude, der, mit all den Gebrechen, aber auch mit aller Weisheit und Würde des Alters, nimmer den Tod wird finden können in der Assimilation an andere Völker. Dies war lange ein vager Traum, aus dem man nun erwacht ist. Wer so lange Sämann der Kultur ohne Dank gewesen wie die Juden, der verdient schon einen ungeschmälerten Platz als Individualität im Leben der Nationen.


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