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H. G. Wells

Jener Nationalökonom, der es beklagt hat, daß die Dichter eine viel zu geringe Anteilnahme an den wirtschaftlichen und politischen Problemen ihrer Zeit bezeigten, daß sie immer an den wichtigsten Ereignissen vorbeigingen, um in alle Ewigkeit das Thema von Liebe und Leid zu variieren, würde heute vielleicht zugeben, daß – umgekehrt! – die Politiker und Nationalökonomen zweifellos besser getan hätten, früher auf die Dichter zu hören und den gedankenkühnen Jules Verneiaden der Phantasten mehr Interesse entgegenzubringen. Was unseren Politikern mangelt, ist jede Spur von Phantasie. Ihr Tun ist wenigstens danach. Sie rechnen stets mit dem Sparbuch in der Hand und schauen nicht einmal nach den Tauben auf dem Dache. Bevor sie sich in das Bereich des Unmöglichen stürzen, müssen Welten zugrunde gegangen sein.

Im Jahre 1908 war plötzlich eine große Luftschiffromanliteratur entstanden, und was damals üppige Phantasie und Utopie war, ist inzwischen durch die Wirklichkeit längst bestätigt worden. Am 13. September 1908 schrieb ich (Berliner Börsencourier): »Der Rückblick in die Geschichte der Entdeckungen und Erfindungen lehrt ja auch in der Tat, daß selbst das scheinbar Unmögliche nicht unausführbar bleibt. Solange wir unser Gehirn kräftig nützen, haben wir das Recht, an die Verwirklichung des Unmöglichsten zu glauben. Was hätte Sokrates gesagt, wenn man ihm erzählt hätte, er könnte seine philosophischen Ideen in eigener Stimmgebung durch phonographische Platten verbreiten lassen? Was hätte Noah zu den Pfälzern gesagt, die den Wein heute aus ganz anderen Dingen herstellen können, als aus Reben? Oder Goethe, wenn man ihm versichert hätte, er könne auf seinen Reisen mit Frau von Stein telephonisch plaudern?

Nun haben wir freilich das lenkbare Luftschiff, aber es ist noch immer abhängig von Wind und Wasser, von der Gasfüllung und anderen Dingen, die den Fortschritt in der Aeronautik, so groß er auch ist, doch noch als einen in den ersten Anfängen steckenden Versuch erscheinen lassen. Aber kann man daran zweifeln, daß die Luftschiffe noch eine wunderbare Leistungsfähigkeit erreichen werden?

Eine andere Frage ist es freilich, ob das Luftschiff Glück und Segen für die Menschheit bedeuten wird. Denn wenn der Streit wirklich der Vater aller Dinge ist, wird man in der Luft den Krieg weiterführen, den Kain auf der Erde begonnen hat. Man wird dann aus 4000 Metern Höhe auf den Feind schießen, der tausend Meter tiefer segelt, und ein feindliches Schiff, das – vielleicht unsichtbar – tausend Meter über uns schwimmt, wird wieder uns in seiner Macht haben. Es ist klar, daß Vorrang und Ansehen, Länderstrecken und Heere, Flotten und Festungen nicht mehr unüberwindbar sind, wenn wir erst die Luft beherrschen. Nur die Lage der Parteien, aber nicht die Parteien selbst werden sich ändern. Man wird den Krieg in vertikaler Richtung weiterführen, anstatt in horizontaler. Immer der wird Sieger bleiben, der zufällig obenauf ist. Das haben alle Luftschiffutopisten gefühlt, und darum sind ihre Werke durchweg nichts anderes, als großartige flammende Proteste gegen den Krieg. In ihren Romanen freilich wird ein unerbittlich blutiger Krieg geführt, aber nur, um die Sehnsucht nach dem Frieden desto heftiger zu entfachen.«

Das war rund acht Jahre vor dem Weltkrieg gesagt worden.

Allen voran flog der Engländer H. G. Wells mit den kühnsten Ideen der Zukunft voraus. Seine aeronautisch-phantastischen Werke »Im Jahre des Kometen«, »Der Luftkrieg«, »Wenn der Schläfer erwacht« beschäftigen sich mit phantastischen Problemen, die einige Jahre später im Weltkriege ein höchst aktuelles Interesse gewannen.

Denn was Wells schildert, entspringt ja niemals der Phantastik oder der bloßen Lust am Fabulieren, sondern der Freude über die Entwicklungsmöglichkeiten des menschlichen Geistes. Wie kein Zweiter verbindet Wells die Gabe des Erzählers und des voraussehenden Forschers. Er ist durch und durch Ethiker, der nur zufällig Romane schreibt. Indem er uns beispielsweise in seinem »Luftkrieg« die schrecklichen Bilder vor Augen führt, die der Expansionstrieb der Völker und die Eroberersucht kriegerischer Nationen notwendigerweise heraufbeschwören müssen, wenn erst das Luftschiff Gemeingut aller »Zivilisierten« sein wird, übt er scharfe Kritik an unserer Ausnützung genialer Erfindungen, um neue und noch furchtbarere Greuel zu verbreiten. Man muß einmal solch einen Luftkrieg aus der Feder Wells lesen, um zu begreifen, welch ein glühender Friedensapostel diese apokalyptisch geschauten Wereschtschagingemälde entworfen hat. Nun haben wir das Luftschiffproblem gelöst, das noch vor wenigen Jahren ebenso unlösbar schien, wie heute die Konstruktion des Perpetuum mobile; aber was wird das Ende dieser epochalen Tat sein? Die Nationen werden wetteifern, jeweils die größte Luftschiffflotte zu besitzen, um im Nachbarland Schrecken verbreiten zu können und man wird, wenn es sein muß, in der Luft noch sehr viel erbittertere Kriege führen, als ehedem auf dem Lande. So fragt und so antwortet Wells in diesem Buche, das alle Greuel antizipiert, die durch das Luftschiff schon hervorgerufen worden sind. Er zeigt, wie die Epoche, die ihr Vertrauen auf Maschinen gesetzt hat, gerade durch diese Maschinen zugrunde geht; wie diese Epoche sich auflöst und alle Zivilisation zusammenbricht, zusammenbrechen muß, solange »Zivilisation« und »Krieg« noch immer zwei zusammengehörige Begriffe sein werden. Wells ersehnt den Völkerfrieden. Und wie er sich den Anbruch des strahlenden Frühlingsmorgens denkt, das hat er in dem anderen Buche, dem »Jahre des Kometen«, ebenso schön wie fortreißend dargestellt.

Eine andere aeronautische Utopie betitelt sich »Wenn der Schläfer erwacht«. Welch eine unheimliche Durcheinanderwirbelung von Maschinen und Motoren, von Aeropilen und Aeroplanen, elektrischen Flugmaschinen und Fallschirmen, die dazu benützt werden, Städte und Menschen zu vernichten. Denn die Luftflotte Wells, die hoch über Newyork aufgestellt wird, wirft kleine, weiße, blitzende, runde Dinger auf das Häusermeer Newyorks hinab, um es durch Feuer und Rauch zu vernichten. Lest dies Buch, ihr Aeronautiker, und ermordet eure Enkel. Denn man ist ein Barbar, wenn man seiner Nachkommenschaft zumuten will, in dieser Wellsschen Welt zu leben, in der der Mensch eine absolute Null, Stahl und Eisen dagegen alles ist, in der die Persönlichkeit ein Monstrum, und die Elektrizität der neue Gott ist.

Aber nicht nur auf dem Gebiete der Luftschifffahrt hat Wells vorausschauend gewirkt. Alle seine Romane sind nach irgendeiner Seite hin Prophetien und antizipieren auf den Gebieten der Chemie und Physik, der Technik und Mechanik Tatsachen, die als Ergebnisse der menschlichen Bestrebungen unbedingt kommen werden und kommen müssen. Denn solche Prophezeiungen setzen nichts anderes als einen logisch denkenden Geist voraus, der aus gegebenen Faktoren die unerbittlichen Folgerungen zu ziehen vermag.

In der grotesken Erzählung » Dr. Moreaus Insel« wird Mr. Prendick auf eine kleine, einsame Insel verschlagen, die nur von dem berühmten Vivisektor Dr. Moreau bewohnt wird, bei dem Prendick eine Unterkunft findet. Die übrige Inselbevölkerung besteht aus etwa sechzig seltsamen Geschöpfen, einer Art Tiermenschen, die ihre monströse Existenz der Kunst Dr. Moreaus verdanken. Er versteht es, indem er die Tiere zerschneidet und mit dem Blute und mit den Gliedmaßen anderer Tiere wieder zusammenkuriert, indem er sie streckt und schindet und zusammennäht und an ihrem Gehirn herumoperiert, indem er Transplantationen und Transfusionen vornimmt, ihnen allmählich menschliche Charaktereigenschaften und menschliche Form zu geben und sogar die menschliche Sprache beizubringen. Das Menschliche in diesen Tieren ist freilich noch sehr primitiv und verzerrt, und sie vermögen auch nicht ihren Ursprung zu verbergen; man erkennt trotz der gelungenen Transfusion, trotz ihrer Entstellung den ehemaligen Affen, Ochsen, Esel, die Sau, die Ziege, die Hyäne, das Rhinozeros, das Kalb. Damit aber ihre ursprüngliche Natur nicht durchbreche und Schaden stifte, hat Dr. Moreau ihnen strenge Gesetze eingeimpft, die sie täglich aufsagen müssen; eine Abweichung, ein Zurückfallen in den Tierzustand bedeutet für sie den Tod. Der Vivisektor hat ihnen aber die Erinnerung belassen an die schmerzreichen Tage im Laboratorium, wo sie von Tieren zu Menschen umgemodelt wurden. Mr. Prendick empfindet anfangs ein schauderndes Grauen vor diesen Tieren; er fühlt allzu deutlich, daß es noch Tiere sind; aber allmählich gewöhnt er sich an ihren Anblick, an ihre Sprache, an ihre Lebensweise. »Sie leben eine Art Spottbild auf ein vernünftiges Leben – die armen Bestien!« sagte Dr. Moreau zu Prendick; »sie haben etwas, das nennen sie das Gesetz. Sie singen Hymnen. Sie bauen sich ihre Hütten, sammeln Frucht und heiraten sogar. Aber ich durchschaue das alles, sehe ihnen bis in die Seelen und sehe nichts dort als die Seelen von Tieren, Tieren, die untergehen – und die Lüste, zu leben und sich zu befriedigen ... Und doch sind sie merkwürdig. Kompliziert, wie alles Lebendige. Es liegt eine Art Streben nach oben in ihnen, teils Eitelkeit, teils überschüssige Geschlechtserregung, teils überschüssige Neugier.«

Worin – fragt Prendick sich am Ende – worin unterscheidet sich nun ein solches Menschen- Rindvieh von einem wirklichen menschlichen Hans Jockel, der seine Lasten schleppt? Und ist man dieser Mischung einer Füchsin, Bärin und Wölfin, einer Mischung, die ein seltsam menschenähnliches weibliches Wesen voll spekulativer List ergibt, nicht schon öfters in irgendeiner Stadt begegnet? Notgedrungen befreundet Prendick sich allmählich mit diesen Tiermenschen und ist gezwungen, den heillosesten Unsinn, den sie schnattern, mit anzuhören. Am aufdringlichsten ist der Affenmensch, der auf Grund seiner fünf Finger schon annimmt, er sei ganz und gar Prendick gleich. Und je länger Prendick sich in das Studium dieser neugeschaffenen vermenschlichten Tiere vertieft, desto stärker wird in ihm die Gewißheit, daß er hier in groben Linien und grotesken Formen im kleinen die ganze Bilanz des menschlichen Lebens vor sich hat. Ehedem waren es Tiere mit – ihrer jeweiligen Umgebung angepaßten – unverdorbenen Instinkten. Sie waren glücklich, wie nur ein vegetierendes Lebewesen glücklich sein kann. Jetzt aber stolpern sie in den Fesseln der Menschlichkeit umher, leben in einer Angst, die niemals stirbt, von einem Gesetz gequält, das sie nicht verstehen; ihre halbmenschliche Existenz beginnt in einer Qual, ist ein einziger langer innerer Kampf, eine einzige lange Furcht vor Dr. Moreau.

Sein ist das Haus des Schmerzes.
Sein ist die Hand, die schafft.
Sein ist die Hand, die verwundet.
Sein ist die Hand, die heilt.

Dies ist der ewige Singsang dieser Tiere.

Bis hierher liest sich das ganze Werk wie ein Jules Verne für Erwachsene; man lebt in einer phantastischen Welt, die mit geistreichen grotesken Strichen geschildert wird. Erst gegen Schluß hin wird die Groteske ganz durchsichtig und macht eine Interpretation der Tendenz völlig überflüssig.

Nach Jahren ins Leben zurückgekehrt, plötzlich wieder unter Menschen, fühlt Prendick sich von einer unheimlichen Krankheit befallen. Alle Männer und Frauen, denen er begegnet, hält er hinfort für Tiere, die halb in das äußere Abbild menschlicher Seelen umgeformt waren. Da sieht er scharfe und listige Gesichter, stumpfe oder gefährliche, unstete und unaufrichtige; keine, die die ruhige Herrschaft einer vernünftigen Seele verraten. Auf den Straßen miauen ihm herumschweifende Weiber nach; verstohlen verlangende Männer lauern ihm mißtrauisch auf; blasse, müde Arbeiter gehen mit schnellen Schritten an ihm vorüber wie verwundetes schweißendes Wild; in den Kirchen schwatzen Priester dummes Zeug, wie die Affenmenschen auf der Insel Moreaus, Prendick hat sogar manchmal die krankhafte Empfindung, als wolle das Tier in diesen Menschen zum Durchbruch kommen. Er weiß, daß das eine Täuschung ist, daß diese scheinbaren Männer und Frauen um ihn herum wirkliche Männer und Frauen sind, vollständig vernünftige Wesen, voll von menschlichen Wünschen und zärtlicher Sorge, emanzipiert vom Instinkt und keine Sklaven eines phantastischen Gesetzes – ganz andere Wesen, als das Tiervolk, und doch schreckt er vor ihnen zurück, vor ihren neugierigen Blicken, ihren Fragen, ihrem Tun; und er sehnt sich danach, wieder allein zu sein.

Kann man seine vollkommene Verachtung der Menschheit, kann man die Verhöhnung dieses großen zoologischen Gartens, der die Welt heißt, in ein trefflicheres Symbol kleiden? Kann man den Menschen in einer noch brüskeren Form sagen, daß sie noch Tiere sind? Und ist in irgendeiner Timoniade der Hader gegen Gott stärker ausgedrückt als in dieser kurzen Kritik der mißlungenen Experimente Dr. Moreaus? In der Tat ist Wells in diesem Buche oft nahe daran, vor seinem Leser auszuspeien und etwa wie Multatuli zu rufen: »Publikum, ich verachte dich mit großer Innigkeit!«

Und doch glaubt Wells an eine große Entwicklung der Menschheit. Diesen Glauben hat er in der stofflich reichen und komplizierten Groteske » Die Riesen kommen« mit überzeugender Kraft ausgesprochen. Es ist ein humorgetränktes, lichtvolles Buch.

Ein Gelehrter, Mr. Bensington, entdeckt eines Tages einen Nährstoff, der ein ungeheures Wachstum alles Lebendigen zur Folge hat. Er nennt ihn »die Nahrung der Götter«. Wespen, die davon fressen, werden groß wie Eulen, Ratten erreichen die Größe der Tapire; Hühner werden wie Strauße groß; Disteln schießen zu häuserhohen Kakteen auf, und einige Säuglinge, denen man den Nährstoff zu experimentellen Zwecken eingibt, nehmen bald gigantische Formen an. Es scheint, als waren die Menschen nie kleiner als jetzt; sie leben in einer engen Welt; ihre Forschungen erfordern unendliche Aufmerksamkeit und eine fast mönchische Abschließung; was übrig bleibt, ist nicht viel. Wenn man irgendeinen wunderlichen, selbstgefälligen kleinen Entdecker großer Entdeckungen sieht, der lächerlich mit dem Bande irgendeines Ritterordens geschmückt ist, oder wenn man einem unermüdlichen Flechtenforscher lauscht, der über das Werk eines anderen unermüdlichen Flechtenforschers in einem ungeheuer wichtigen Tone redet, so zwingen einen solche Dinge zu der Erkenntnis von der unentwegten Kleinheit des Menschen.

Aber die Nahrung der Götter soll Abhilfe schaffen. Freilich ist klar, daß der allgemeine Gebrauch dieses Nahrungsmittels nicht ohne großen Kampf eingeführt werden wird. Wenn die Eltern z. B. auch den Wunsch und das Recht haben, ihre Kinder als Riesen heranwachsen zu lassen, kann die Schule für die paar Riesenkinder nicht besondere Schulsysteme einführen, besondere Bänke bauen, kann der Staat nicht besondere Gesetze erlassen. Andererseits liegt es in der Natur dieses Nahrungsmittels, daß es, dem Vorurteil zum Trotz, dem Gesetz und Reglement zum Trotz, all jenem hartnackigen Konservatismus zum Trotz, der der formalen Ordnung der Menschheit zugrunde liegt, seinen feinen und unbezwinglichen Gang verfolgt, wenn es erst einmal in Bewegung gebracht ist. Das Ende ist ein Kampf der Riesen mit den kleinen Menschen. »Sie sind hart gegen uns,« sagt ein junger bürgerlicher Riese zu seiner Geliebten, einem adeligen Riesenfräulein, »sie sind hart gegen uns, weil sie so klein sind. Und weil unsere Füße schwer auf die Dinge treten, die ihr Leben ausmachen. Aber auf jeden Fall hassen sie uns jetzt; sie wollen keinen von uns; erst, wenn wir wieder zu ihrer gewöhnlichen Größe zusammenschrumpften, würden sie uns zu verzeihen beginnen. Sie sind in Häusern glücklich, die für uns Gefängniszellen sind; ihre Städte sind zu klein für uns; wir gehen ihre engen Straßen im Elend hin; wir können in ihren Kirchen nicht anbeten.«

So oft diese Riesen stolpern, schreien die Normalmenschen Zetermordio. Und alles, was diese groß und wundervoll finden, ist für die Riesen puppenhaft. Die Kleinlichkeit der menschlichen Maße, Methoden und Erfindungen hindert und schlägt die Kräfte der Riesen. Ihre Größe wird durch tausend unsichtbare Bande in Sklaverei gehalten. Sie müssen mit denselben Werkzeugen arbeiten, die die Zwerge ihnen zurechtschmieden, und nur, um jene Zwergenlaunen zu befriedigen. Die Menschen lehren, daß Kraft und Größe eine Sünde sei, daß es besser sei, klein zu sein, daß alle wahre Religion darin bestehe, die Schwachen und Kleinen zu schützen, sie zu ermutigen, ihnen zu helfen, daß sie sich mehren, solange mehren, bis sie übereinander hinwegkriechen und sich ineinander verknäulen. All ihre Kraft sollen die Riesen ihren kleinen Zielen opfern. Das kleine Volk will die Riesen nicht so leben lassen, wie sie leben müssen, und also wird ein Kampf unvermeidlich sein. Freilich, die kleinen Menschen werden mit ihren tausend kleinen Waffen die Riesen schon zu töten wissen. Aber was dann? Wird das die Menschen retten? Nein! Denn die Größe lebt nicht nur im Nährstoff, sondern im Zweck aller Dinge. Sie liegt in der Natur aller Dinge; sie ist ein Teil von Raum und Zeit. Wachsen und immer weiter wachsen, vom Anfang bis zum Schluß, das ist der Sinn des Daseins, das ist das Gesetz des Lebens. In die Gemeinschaft und in das Verständnis Gottes hineinwachsen, das ist das Ziel. Wachsen, bis die Erde nur noch ein Schemel ist.

Kann man – frage ich – dem Kultus des Genies einen größeren Hymnus singen?

In zwei anderen Werken » Die Zeitmaschine« und » Die ersten Menschen im Mond« werden die großen Probleme der Zeit und des Raumes poetisch grotesk behandelt.

Mittels einer Maschine, die so fein konstruiert ist, daß man mit ihr in die fernste Vergangenheit bis zum Weltenanfang hin, und in die fernste Zukunft bis hin zum Weltenende reisen kann, tritt ihr Erbauer die Fahrt an. Er reist zunächst in die Zukunft, in das Jahr 2800, um zu erfahren, ob und wie die Rätsel unserer Zeit und die Probleme unserer Tage gelöst sind, ob die Menschheit sich wirklich weiterentwickelt hat. Denn es ist undenkbar, daß unser schwaches Experimentieren, fragmentarisches Theoretisieren, unser Leben voller Mißklänge wirklich der Höhepunkt der Menschheit wären. Es erweist sich, daß die Menschen der Zukunft dem Menschheitsideale noch weniger nahekommen als heute. Aber ist das ein Wunder? Kann der wachsende Turm der Zivilisation etwas anderes sein als ein törichtes Häufen, das unweigerlich auf seine Schöpfer zurückstürzen und sie vernichten muß?

Man kann dies Buch von Wells als eine Selbstkritik betrachten, die er an seinen in den »Riesen« ausgesprochenen Gedanken übt, als eine sehr pessimistische Antwort auf die Frage nach der Zukunft des Menschen, die die Grade der Verzweiflung und Resigniertheit zeigen, von denen der Autor erfaßt und durchdrungen ist. Nichts anderes spricht auch aus der »Mond«-Groteske. Was ist dieser Geist im Menschen, der ihn ewig drängt, sich von Glück und Sicherheit zu trennen, sich zu plagen, sich in Gefahr zu begeben, selbst eine ziemliche Gewißheit des Todes zu riskieren? fragt der Autor. Gegen sein Interesse, gegen sein Glück wird der Mensch beständig getrieben, unvernünftige Dinge zu tun. Aber warum? Wessen Zwecken und welchen Zwecken dient er? Warum dient er nicht den Zwecken seines eigensten Lebens? Wo strebt er hin? Was sucht er auf dem Monde? Was beschäftigt er sich mit Dingen, die seine Entwicklung um keine Haaresbreite fördern? »Es ist nicht, als ob der Mensch irgend etwas mit dem Monde anfangen könnte. Was könnte der Mond den Menschen nützen? Selbst aus ihrem eigenen Planeten haben sie nichts gemacht als ein Schlachtfeld und einen Schauplatz unendlicher Narrheit,« ist das bittere Schlußwort dieser Dichtung.

» Der Unsichtbare« ist eine faszinierende Groteske, in der der fruchtbare Dichter ein neues Problem mit glücklichem Gelingen in das Bereich der Kunst gezogen hat.

Griffin, ein englischer Chemiker und Physiker, hat einen neuen Stoff erfunden, kraft dessen er seinen Körper vollkommen unsichtbar machen kann. Da ihm aber die Witterung nicht immer erlaubt, nackt zu gehen (z. B. im Winter), so kann er sich natürlich, wenn er Kleider trägt, unmöglich unter Menschen begeben, denn man sieht dann nichts von ihm, als seinen wandelnden Paletot oder seinen spazierengehenden Anzug, der innen jeweils hohl zu sein scheint. Weil es ihm also ganz unmöglich ist, unter solchen Umständen in der Großstadt zu leben und zu arbeiten, flüchtet er in ein Dorf. Aber dort wird er durch Neugierde und Roheit bald aus seiner Zurückgezogenheit vertrieben und noch schlimmer gehetzt als ein Freiwild. Denn sobald die Menge erst einsieht, daß es einem völlig unsichtbaren Menschen sehr leicht möglich ist, ein ganzes Land in Schrecken zu versetzen, ungehindert Diebstähle, Einbrüche, Morde begehen zu können, sich alles anzueignen, wozu er Lust verspürt, hat sie auch keinen lebhafteren Wunsch, als dieses unheimlichen und gespenstigen Menschen habhaft zu werden und ihn zu vernichten. Denn er ist wohl durchsichtig, aber nicht unverletzbar. Sein Körper unterliegt, abgesehen davon, daß er unsichtbar ist, allen physiologischen Gesetzen. Man wird also, wenn er gerade gegessen hat, ein Häuflein Nahrung in der Luft dahinwandern sehen, bis der Körper diese Nahrung völlig assimiliert hat. Oder man wird, wenn er irgendwo Geld gestohlen hat – denn natürlich braucht er auch Geld – die Münzen in der Luft dahinwandern sehen, ohne den Menschen zu bemerken, der sie hält. Würde er Schuhe tragen, so würde man die wandernden Schuhe sehen, und da er also barfuß gehen muß, könnte man, indem man Glassplitter auf seine Wege streut, seinen Füßen Verletzungen beibringen und könnte seine Blutspur verfolgen. Endlich könnten Hunde ihn wittern, wenn sie ihn auch nicht sehen. Kurz, es gibt Möglichkeiten genug, seiner habhaft zu werden und man kreist ihn, durch den Verrat eines Jugendfreundes, endlich auch ein und schlägt ihn tot wie eine Ratte. Gebrochen und verstümmelt, verraten und unbeweint beschließt dieser geniale Physiker sein seltsames und schreckliches junges, tiefunglückliches Leben auf dem schäbigen Bett einer schlechtbeleuchteten Bauernstube.

Das ist die flüchtig angedeutete Fabel dieser ungemein packenden und kurzweilig erzählten Geschichte des Genies, das vom erregten und unwissenden Pöbel mißverstanden und getötet wird; ein nicht nur künstlerisch hochstehendes, sondern auch ethisch bedeutsames und satirisch köstliches Werk.

Die Lektüre der Wellsschen Bücher ist sowohl für verwöhnte als für unverwöhnte Leser ein Genuß. Es wird jeder seinen Gewinn aus ihnen ziehen: der Künstler, der Philosoph, der Techniker, der Kaufmann. Dieser Dichter ist für alle gleichermaßen fesselnd, denn er hat allen etwas zu sagen. Sogar die Phantasie der reiferen Jugend, die nur nach dem Stofflichen einer Dichtung fragt, wird hier reiche und keineswegs ungesunde Nahrung finden. Man könnte die Wellsschen Bücher feine Jules-Verneiaden nennen; aber das würde ihren wirklichen Wert und ihre eigene Art auch nicht annähernd charakterisieren. Im Stofflichen, in ganz äußerlichen und technischen Dingen besteht natürlich eine entfernte Ähnlichkeit zwischen Verne und Wells, insofern als auch dieser wie jener an die modernen technischen Erfindungen anknüpft, um seine Phantasie frei walten und schalten zu lassen. So hatte Wells in »Die Riesen kommen« die Nährstoffpräparate zum Vorwand genommen, um das geistige Wachstum zu symbolisieren, um das Genie darzustellen; in »Die ersten Menschen im Mond« knüpft er an unsere Phantasien vom Menschenleben auf dem Mars an, um zu symbolisieren, daß wir erst mit unserer Erde suchen müssen fertig zu werden, ehe wir beginnen, auf den Mond zu klettern; in »Dr. Moreaus Insel« an die Fortschritte der Vivisektion, die Probleme der Transformation und der Okulierungskunst; in »Die Zeitmaschine« an die Probleme von Raum und Zeit usw. usw. Aber diese Probleme waren für Wells ja nur ein Vorwand, um bedeutende ethische Ideen zu propagieren.

Es war klar, daß diese Einkleidung wissenschaftlicher und anderer Ideen, diese Einkleidung der Ironie und Satire viele Nachahmer finden würde, und sie blieben denn auch nicht aus. Von den zwei wichtigsten sei hier die Rede. Maurice Renard mit seinem Werk »Der Doktor Lerne« ist der eine. Er nennt seine Wellsiade, in der Wells selbst wieder verhöhnt wird, »einen Schauerroman«, und er widmet ihn H. G. Wells, seinem großen Meister. In der Tat ist die Idee dieses Buches nicht originell; sie ist nur mit schauerlicher Konsequenz und mit den Mitteln der französischen Satanisten durchgeführt. Die Idee ist im wesentlichen dieselbe, wie in Dr. Moreaus Insel, mit dem Unterschiede, daß Dr. Moreau sich darauf beschränkt, durch Transfusion Tiere in Menschen zu verwandeln, während Dr. Lerne die Menschen wieder in Tiere verwandelt und durch Austausch der Gehirne die Interversion der Persönlichkeit des Menschen bezweckt. Der fortschrittgläubige Wells macht aus Tieren Menschen, und der pessimistische und blasierte Renard sagt: die Menschen sind maskierte Tiere. Der phantastische Dr. Lerne geht von der Idee aus, daß die Kunst des Okulierens sich auch auf die Chirurgie anwenden lassen müsse; daß, was im vegetativen Reiche möglich sei, auch im animalischen möglich sein müsse, denn alles in der Natur sei ein Reich. Es steht fest, daß man die Pflanzen untereinander okulieren kann; wenn weiter feststeht, daß es Pflanzen gibt, die fast tierähnlich sind oder polypenartige Meertiere, die kaum von Pflanzen zu unterscheiden sind, so kann man auch jene hochentwickelten Pflanzen mit diesen primitiv organisierten pflanzenartigen Tieren okulieren. Dr. Lerne gelingt das natürlich und somit befindet er sich bereits im animalischen Reich, wo komplizierte Okulationen vorzunehmen im Prinzip nicht mehr unmöglich ist. Diese Operationen erfolgreich auszuführen, ist nur Sache einer entwickelteren Chirurgie. Die alten Inder haben ja diese Art Okulationen vielfach vorgenommen. Feststeht, daß man bei demselben Individuum Hautstücke vom Schenkel auf die Nase verpflanzen kann; daß es auch noch gelingt, Hautteile vom Sohn auf die Mutter zu verpflanzen, vom Bruder auf die Schwester usw. mit um so sichererem Erfolge, je näher die Blutsverwandtschaft ist. Aber es gibt auch Ausnahmen. Ein Forscher hat einen Zeisigflügel und einen Rattenschwanz auf einen Hahnenkamm gepfropft, so daß beide Fremdkörper weiterlebten. Es gibt noch andere Experimente gleicher Art. Man hat gesunde Zähne fremder Individuen in frisch ausgesogenem Zustande in die frisch blutende Wunde anderer Individuen verpflanzt, welche genügend Geld hatten, dieses Opfer zu bezahlen. Und die Zähne verwuchsen. Alle diese und andere Tatsachen, die wissenschaftlich feststehen, bringen Dr. Lerne auf die Idee, diese Experimente auf das Gehirn auszudehnen. Er verpflanzt also das Gehirn der Schlange in den Kopf eines Sperlings und das des Sperlings in den Kopf der Schlange; die Folge ist, daß die Schlange vom Spatzenblick hypnotisiert wird und ängstlich vor dem Sperling flieht. Er vertauscht die Gehirne zwischen Fisch und Huhn, schafft also einen fliegenden Fisch und ein schwimmendes Huhn, tauscht die Gehirne zwischen Mensch und Hund, Stier und Mensch, zwischen Mensch und Mensch und man kann sich denken, welche seltsamen Naturwunder dies zeitigt. Wenn Gehirn und Seele identisch sind, dann vertauscht man einfach operativ die Gehirne der Menschen miteinander und schafft so einen glücklichen Ausgleich zwischen der Kluft, die zuweilen zwischen dem inneren und äußeren Menschen besteht. Man denke sich das alles in einem Romane erzählt, der in raffinierter Weise eine unheimliche Spannung hervorruft, dann hat man einen schwachen Begriff von dem tollen Buche Maurice Renards, der übrigens dort, wo er von der Liebe spricht – denn natürlich fehlt es hier nicht an einer ebenso sonderbaren Liebesgeschichte – in etwas allzu salzigen Wogen plätschert. In diesen Partien wird er absichtlich pornographisch, ohne einen anderen Grund als den, Wells zu ironisieren, der stets sehr keusch von der Liebe spricht.

In der » Blauen Gefahr« hat Maurice Renard das Thema des unsichtbaren Menschen aufgegriffen, das Wells in seinem »Unsichtbaren« behandelt hatte; freilich wird auch hier wieder der ethische Gedanke von Wells zu politisch-satirischen Zwecken ausgebeutet. Denn die Oniweig Renards sind die Preußen, die im Jahre 1912 die ganze Welt, besonders aber die Franzosen, durch die Tatsache des erfundenen und praktisch verwendbaren lenkbaren Luftschiffes in apokalyptische Schrecken versetzt hatten. Denn es stellt sich heraus, daß die unsichtbaren Oniweig durchaus nichts Böses oder Feindliches im Schilde führten, sondern ihre unheimlichen Expeditionen nur zu wissenschaftlichen Zwecken unternahmen. Anstatt einen unsinnigen Kampf gegen die Oniweig zu organisieren, hätte die ganze Welt sich zusammentun und die Vereinigten Staaten der Erde bilden müssen, um den gemeinsamen unsichtbaren Feind aller zu bekämpfen: die sieghafte Dummheit. Manch edler Schwärmer hat dies erhofft (Renard spielt hier auf Péladan an, der, ein erbitterter Hasser des Krieges, ebenso wie einige Jahrhunderte früher schon der Abbé St. Pierre, den Nationen den Vorschlag gemacht hatte, die »Vereinigten Staaten der Menschheit« zu bilden); aber die Menschen sind noch zu weit entfernt, um zu erkennen, daß sie alle nur ein gemeinsames Ziel haben: das Glück des Menschen.

Über die Oniweig, den unsichtbaren und vermeintlichen Feind über uns, war man grauenvoll entsetzt; aber die unsichtbaren Feinde in uns, etwa die Mikroben und Bazillen, die unendlich viel mehr Opfer fordern als alle Kriege, fürchtet man bei weitem nicht so sehr. Man hat sich daran gewöhnt, daß diese unsichtbaren Feinde mörderische Epidemien entfachten, die ganze Erdteile entvölkerten. Folglich zwingt die Unsichtbarkeit durchaus nicht immer zur hypothetischen Annahme eines Wunders. Die Unsichtbarkeit der Oniweig klärt uns vielmehr darüber auf, daß wir »die Gegenwart unsichtbarer und ungreifbarer Lebewesen innerhalb der Menschheit annehmen dürfen. Diese wären gasförmig oder aus X-Strahlen gemacht, so wie wir aus fleischlicher Materie gemacht sind. Unsere beschränkten Sinne wären nicht imstande, sie auch nur im geringsten wahrzunehmen. Irgendeine schwerlose Substanz würde den Seelen dieser zarten Wesen als Träger dienen, – und ich halte diese Vermutung für vernünftiger und annehmbarer, als den Glauben an eine Seele ohne Träger, wenngleich dieser Glaube von allen Anhängern eines ewigen Lebens, also von Millionen intelligenter Menschen geteilt wird. Diese unfaßbaren Geschöpfe könnten unsern Grund und Boden bewohnen – und leben hier vielleicht und wir wissen es nicht. Vielleicht wissen sie auch nicht mehr von unserer Existenz, als wir von der ihrigen. Vielleicht gehen wir durch sie hindurch und sie durch uns; vielleicht sind unsere Wüsten von ihrer Menge erfüllt und unser Schweigen von ihrem Geschrei ... Vielleicht aber sind auch wir ihre Sklaven und wissen es nicht. Dann nehmen unsere Gebieter, die wir nicht kennen, Aufenthalt in uns selbst und lenken uns nach ihrem Gutdünken. Dann regten wir die Hände nicht ohne ihren Willen; kein Wort entflöhe unseren Lippen, das sie nicht geformt. Von dieser Vorstellung freilich wendet sich der Geist mit Grauen ab . . .  . . .  . . .  . . .  . . .  . . .  . . .  . . .  . . .  . . .  . . .  . . .  . . . 

 

Die Menschheit blickt nur durch eine kleine Anzahl winziger Luken – unsere Sinne! – auf einen lächerlich winzigen Zipfel des Weltalls hinaus. Stets muß sie auf Überraschungen gefaßt sein, die aus all dem Unbekannten hervorgehen, das ihren Blicken entzogen bleibt, Überraschungen aus jenem unermeßlichen Teil des Universums, dessen Kenntnis ihr heute noch verwehrt ist. Sie wappne sich also mit Entsagung und rüste sich mit Wissenschaft, um die Stöße zu ertragen und mit der Zukunft zu ringen. Aber ohne Unterlaß – o zartfühlende, feinnervige und tapfere Menschheit! – blühe ein Lächeln auf deinen zahllosen Lippen, je reicher das wunderbare Rüstzeug wird, vor dem das Unbekannte Tag für Tag weiter zurückweicht! Und sage dir stets trotz deiner Leiden und Kümmernisse:

»Trotz allem und allem hat das Schicksal dem Menschen ein Geschenk ohnegleichen gemacht, als es ihn mitten in die unendlich herrliche und vielfältige Welt setzte und ihm die Freude gab, sie nach und nach, Wunder für Wunder, durch die Kraft des Genius und der Arbeit ganz allein zu enträtseln.«

Renard erwartet also alles Heil vom Genie des Menschen; einst wird es selbst den Schlüssel zu jenen Reichen anfertigen, die vorerst noch in mystischen Wolken hängen und wird erfolgreich die Beschwörungsformel sprechen: Sesam, öffne dich!

Anderer Art und feiner, aber ebenfalls eine Wellsiade ist Villiers de l'Isle-Adams »L'Eve future«, ein in der französischen Literatur seit einigen Jahrzehnten bekanntes, sehr geschätztes Werk des berühmten Franzosen, das nur Max Nordau (in der »Entartung«) »ein ganz wahnsinniges Buch« zu nennen gewagt hat, was aber in dem Augenblick ein hoher Ruhmestitel für den Dichter wurde, da Nordau ja auch Ibsen, Wagner, Tolstoi, Maeterlinck, Nietzsche u. a. ebenfalls »Idioten« genannt hat.

Villiers de l'Isle-Adam, ohne Zweifel einer der bedeutendsten und feinsten Köpfe der modernen französischen Literatur, knüpft an die wunderbaren Erfindungen Edisons an, und indem er an die Möglichkeit denkt, die wir noch von der Wunderkraft der Elektrizität zu hoffen haben, kommt er auf die Idee der Androide, die uns von Vaucanson her gut bekannt ist. Es gibt nichts Neues unter der Sonne. Seine groteske Phantasie konstruiert ein künstliches Weib, das dem natürlichen Weib weder in den physischen noch in den seelischen Funktionen irgendwie nachsteht; dagegen hat es den Vorzug, daß alles Unglück, das das natürliche Weib seit Schaffung der Welt angerichtet hat, vom künstlichen nicht mehr ausgehen kann. Kann man sich seine Frau in der Fabrik erst so bestellen, wie man sie braucht, so wird man ein absolut harmonisches und vollkommen glückliches Leben führen; Morde, Duelle, kurz alle Greuel, an denen zumeist das Weib schuld ist und die Gier, es besitzen zu wollen, werden verschwinden.

Lord Ewald, der einst den hungernden, unbekannten Edison dem Elend entriß und ihn finanziell stützte, besucht seinen inzwischen weltberühmt gewordenen Schützling, um ihm sein seelisches Leid zu klagen. Er ist sterblich in ein Weib verliebt, das der milesischen Venus an Schönheit nicht nachsteht, das aber seelisch ein kalter, gefühlloser und unempfindlicher Mensch ist. Magnetisch angezogen von ihrer wunderbaren Schönheit und rauh zurückgestoßen durch ihre innere Häßlichkeit und Leere, sieht er in seiner Verzweiflung keinen anderen Ausweg, als den, sich Zu erschießen. Da rettet ihm Edison das Leben, indem er ihm diese Androide schafft, ein elektrisches Wunderwerk, ein künstliches Weib, das in allen Nuancen und in allen Lebensäußerungen der natürlichen Geliebten gleicht und das innerlich diese Geliebte an Denken und Empfinden weit überragt. Daß diese künstliche Geliebte im Augenaufschlag, im Atmen, in ihrem natürlichen Dunstkreis, in allen Bewegungen ganz und gar das Ebenbild der Geliebten ist, das ist natürlich nur das geringste Wunder, das der Zauberer von Menlo-Park vollbringt; komplizierter wäre es schon, zu erzählen, wie er auf elektrischem Wege eine Seele in diesen künstlichen Leib verpflanzt, d. h. eine Summe von wunderbar konstruierten Phonographen, die stets eine schöne, und zwar die erhoffte Antwort auf die Fragen des Geliebten geben.

Das ist das Äußere des Romans, auf das ohne Zweifel unser E. Th. A. Hoffmann stark eingewirkt hat, erzählt mit einer geradezu satanischen Gewalt und mit einer bestrickenden Kraft der Spannung. Das Ganze ist natürlich ein Hohngelächter auf den Materialismus unserer Zeit.

Die technischen Errungenschaften, die in all diesen Büchern die Grundlage bilden, sind natürlich entstanden, weil der spekulative Sinn des menschlichen Geistes immer neue Mittel und Wege sucht, die Natur zu überlisten und sich ihre Kräfte dienstbar zu machen. Während das Hirn des Kaufmanns darauf bedacht ist, sie in Geldwerte umzuwandeln, sucht das Hirn des Dichters nur ihre poetischen und ethischen Werte und fragt, inwieweit sie ihm als Symbol dienen können. Es unterliegt für mich keinem Zweifel, daß der Dichter den einzig bleibenden Gewinn daraus zieht. Denn der Kaufmann strebt nur nach dem Möglichen, der Dichter aber will das Unmögliche, und darum ist er der Führer der Menschheit.


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