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Balzac

Wer ihn zuerst durch die Statue Rodins kennen lernt, glaubt einen ringenden Gott zu sehen, keinen Menschen; einen Gott, der sich aus dem Chaos löst und der die lästigen irdischen Hüllen abstreift, die er eine Weile getragen. Diese Statue stellt in der Tat einen Prometheus dar, der in den Himmel hinaufzurufen scheint: »Hier sitz ich, forme Menschen nach meinem Bilde, ein Geschlecht, das mir gleich sei, zu leiden, zu weinen, zu genießen und zu freuen sich und dein nicht zu achten wie ich!« Nur ein Titan wie Balzac vermochte eine solche Riesenarbeit zu vollbringen, vermochte eine solche bunte, von den mannigfaltigsten Gestalten bewegte Welt aus dem Nichts hervorzurufen.

Taine hat in seiner Studie, die er über Balzac geschrieben hat, bis auf Shakespeare zurückgehen müssen, um einen Ebenbürtigen zu finden, und dieser Vergleich ist wirklich gerecht; gerechter und gemäßer als der Vergleich mit Goethe, den Hugo von Hoffmannsthal gezogen hat. Die Welt Balzacs weist nicht jene harmonischen Proportionen auf wie diejenige Goethes. Andere Forscher haben in ihm ein würdiges Pendant Napoleons gesehen, und Zola findet überhaupt keinen Menschen, dem Balzac vergleichbar wäre; er sieht in ihm einen herkulischen Gott. Soweit Vergleiche überhaupt etwas sagen, gibt schon dieses Bemühen der Balzackenner, ihn mit drei der größten Genies aller Zeiten in Analogie zu bringen, ein Bild seines ungefähren Wertes.

Das hat aber natürlich die Zeitgenossen nicht gehindert, ihn zu behandeln, als wäre er ein besessener Idiot. Kein Schriftsteller ist mehr verleumdet und mehr angespien worden als er. Er ist unter Hohngelächter groß geworden, ohne eine wahre Stütze zu haben. Wenn man die Essays jener Zeit über ihn liest, bleibt man verdutzt über so viel Dummheit und Mißtrauen. Derselbe Balzac, der einst gesagt hatte, seine beiden einzigen und ungeheuersten Begierden seien die: berühmt zu sein und geliebt zu werden, schreibt später das bittere Wort nieder: »Ruhm heißt für 12 000 Franks Artikel und für 10 000 Taler Diners«, und in betreff der Liebe: »Die geheuchelte Liebe ist vollkommener als die echte.« Heißt das nicht, die Welt in- und auswendig kennen? Und wenn sie ein so schöpferisch begnadeter Geist gestaltet, wird man, indem man sich von ihm durch seine Provinzen geleiten läßt, neben dem eigenen ein anderes, größeres und reicheres Leben leben. In dieser Welt lernt man bald die Dinge sehen, wie sie in Wirklichkeit sind, und wenn das für die optimistische Weltanschauung auch keinen großen Gewinn bedeutet, so bekommt man dafür eine gewisse Resignation geschenkt, eine Art konfessionsloser Schicksalsreligion, die das Leben doch wieder erträglich macht.

In allen Krisen des Daseins wird man sich an Balzac erinnern, und man wird mit allen Leiden, die über einen kommen, sich versöhnen. Man wird seine Entdeckung bewundern: daß Kummer und Schmerz allen Schutt und Kehricht der Seele verbrennen, daß durch Not und Pein die Gefühle sich verfeinern, die Instinkte intensiver reagieren und die Nerven auf ihre äußerste Leistungsfähigkeit gebracht werden. Die befreite Seele gewinnt in dem erschöpften Körper höhere Kräfte. Man trinkt aus Balzacs bitterem Kelch des Lebens eine heilkräftige Medizin und wird mit diesem Trunk im Leibe künftig alles Leid stark und geduldig tragen, nur nicht Erniedrigung und Unfreiheit.

Den Dichtern der großen modernen Städte ist ein pessimistischer Grundzug gemeinsam, der aus ihren Lebensbedingungen entspringt. Der gesteigerte Kampf um die Existenz, der regelmäßige Sieg des Egoismus über alle edleren Naturen und die Maske der Würde, welche dieser Egoismus trägt, der verdoppelte Gegensatz der Klassen, das Kaleidoskopische in fast allen Charakteren, das Mannigfaltige in den Beweggründen zu jeder bedeutenderen Handlung: dies alles muß auch den »ruchlosesten Optimisten«, wenn er nur Augen hat zu sehen, an der Richtigkeit seiner Lebensauffassung zweifeln lassen. Vollends wenn er die Psychologie der Weltstadt in einer so suggestiven Weise vorgetragen bekommt, wie es Balzac in seiner Comédie humaine getan.

Balzac ist am 16. Mai 1799 in Tours geboren; sein Vater war Grundbesitzer in der Umgegend, ein bedeutender Mann, der etwas von Rabelais, Montaigne und dem Onkel Toby Sternes in seinem Charakter vereinigte. Seine fixe Idee war: man müsse stets gesund sein, und hundert Jahre seien das normale Alter des Menschen. Diesen Anschauungen getreu, heiratete er erst mit fünfzig Jahren eine ebenso schöne wie reiche, eine ebenso junge wie grundgütige Frau.

1814 siedelten Balzacs Eltern nach Paris über, wo der junge Honoré studierte. Er hörte Cousin, Guizot und Villemain mit Begeisterung. Dann trat er in die Schreibstube eines Advokaten ein, in demselben Augenblick, als Scribe sie verließ. Mit einundzwanzig Jahren hatte er seine Examina beendet. Sein Vater, eine Art Familienpatriarch, hatte ihm damals bereits den ganzen Plan seines künftigen Lebens vorgezeichnet; selbst die Heirat und die Höhe der Mitgift waren bestimmt. Der Sohn aber erklärte plötzlich, daß er entschlossen sei, der Literatur zu leben. Zwei Probejahre literarischer Tätigkeit wurden ihm zugestanden und, der glücklichste der Menschen, ließ sich Honoré in einer elend möblierten Mansarde nieder, wo ihn die zahllosen Gestalten künftiger Komödien und Tragödien, Romane und Novellen umgaben. Kein Sonnenstrahl fiel in seine freudlose Existenz. In dieser Lage faßte er einen Plan, der der Anfang seines Mißgeschicks sein sollte, das ihm sein ganzes Leben verbitterte. Balzac, da die zahlreichen Romane, die er unter wechselndem Namen schrieb, ihm kaum eine Existenz gewährten und die Angehörigen mißmutig machten, begann, anstatt im Bücherschreiben fortzufahren, welche zu verlegen. Man weiß, wie bitter Lessing für eine ähnliche Idee büßen mußte. Balzacs Idee war gut, aber er hatte weder die Mittel noch die Erfahrung, sie durchzuführen. Er war der erste in Frankreich, der jene billigen Gesamtausgaben älterer Klassiker herauszugeben beabsichtigte, ein Gedanke, der späterhin manchen Buchhändler bereichert hat. Er ließ einen Molière und einen Lafontaine erscheinen; aber die Buchhändler weigerten sich, die Publikationen eines Eindringlings auszustellen und zu verkaufen. Nach Verlauf eines Jahres hatte Balzac kaum 1000 Exemplare abgesetzt, und er sah sich genötigt, seine gewaltigen Vorräte einzustampfen.

Wieder ein neuer Plan: wie Richardson wollte er nun Buchdrucker werden. Sein Vater lieh ihm das Kapital; Balzac vereinigte sich mit einem Drucker, der nichts als seine Geschicklichkeit besaß, und schon nach kurzer Zeit entstanden Geldschwierigkeiten. Balzac hielt jetzt die Erweiterung des Geschäfts für das beste Mittel, aus den pekuniären Verlegenheiten herauszukommen; er kaufte noch eine Gießerei und stand kurze Zeit darauf vor dem Bankrott. Er durchlebte Zeiten so aufreibender Gemütsbewegungen, daß unverwischbare Spuren in ihm zurückblieben. Später hat er in den »Verlorenen Illusionen« diese Kämpfe in ihrer ganzen Grausamkeit mit genialer Feder dargestellt. Zunächst aber ging er seine Eltern um Hilfe an, und sie standen ihm bei, so gut sie konnten. Er verkaufte den ganzen Betrieb an einen Freund und stand nun, achtundzwanzig Jahre alt, mit einer enormen Schuldenlast da, und mit dem Gefühl, seinen Angehörigen ungewöhnliche Opfer auferlegt zu haben. An Kleinlichkeiten und Gehässigkeiten fehlte es nicht, ihm das Leben vollends zur Hölle zu machen. Er hatte wieder nichts als seine Feder.

Von 1827 bis 1836 hat er seine Existenz nur dadurch gehalten, daß er Wechsel auf Wechsel ausstellte; er hatte genug zu tun, um die wucherischen Zinsen bezahlen zu können. Sein Leben war ein Gehenna, und es nimmt nicht wunder, daß er oft an Selbstmord dachte. Und doch empfing er inmitten solcher Nöte die Einsicht in sein wahres Können. »Beglückwünsche mich,« ruft er seiner Schwester zu, »ich bin auf dem Wege, ein Genie zu werden.«

Ein neuer Plan war in ihm aufgetaucht; ihn beseelte und befeuerte der Gedanke, eine grandiose Analyse der sozialen Welt seiner Zeit zu geben. Diese ›Etudes des moeurs‹ sollten ein Abbild des gesamten gesellschaftlichen und moralischen Frankreich darstellen, wie keine Zeit noch ein solches je besessen. Die umfassendste Schilderung der menschlichen Komödie schwebte ihm vor. Er wußte nun, was er wollte. Er hatte das Material einer Lebenserfahrung gesammelt, die aus bitteren Ereignissen herausgewachsen war. Er hatte die Tiefen der Gesellschaft und des Menschenherzens durchschaut. Und in angestrengtester Arbeit, Tag und Nacht an den Schreibtisch gefesselt, vollendet er nun ein Werk nach dem andern. 1829 entstanden fünf, 1830 zehn, 1831 sieben, 1832 elf Romane und Novellen. Sein Stern begann zu leuchten; er erhielt große Summen für seine Werke. 1833 schreibt er seiner Schwester: »Alles geht gut. Noch einige Anstrengungen, und ich werde über eine große Krisis triumphiert haben durch ein schwaches Instrument – eine Feder. Wenn nichts dazwischen tritt, werde ich 1836 niemandem mehr als meiner Mutter etwas schuldig sein, und wenn ich an meine Mißgeschicke denke, an die traurigen Jahre, welche ich durchwandert habe, so kann ich mich eines gewissen Stolzes nicht erwehren, daß ich durch die Kraft des Mutes und der Arbeit mir meine Freiheit erobert habe.«

Es ging aber nicht alles so gut, wie er gehofft hatte. Scherereien und Prozesse mit den Zeitschriften, an denen er Mitarbeiter war, Kümmernisse des Herzens, verunglückte Versuche, eine Zeitung herauszugeben, Anklagen gegen die Moralität seiner Werke verbitterten ihm sein Leben und nahmen ihm die Freude an seinem Aufstieg. Und dessen ungeachtet arbeitete er rastlos weiter an seinem gigantischen Lebenswerk. Dazu kam, daß ihm das Korrekturlesen eine Menge Zeit stahl, denn er erteilte gewöhnlich erst nach zwölfmaligem Korrekturlesen die Erlaubnis zum Druck. »Der Stil allein gibt den Werken Dauer.«

Man kann die fünfzig Bände, die Balzac geschrieben hat und in denen viertausend Menschen auftreten, nicht ohne tiefe Rührung lesen, wenn man daran denkt, welch ein abscheuliches Leben dieser gewaltige Epiker führen mußte. Wenn er an den Schreibtisch gekettet, die Nächte durchwachte, um seinen Namen zu Ehren zu bringen, so stieg ihm das Fieber bis in die Feder. Wenn er mittels starken Kaffees und Tabaks den notwendigsten Schlaf verscheuchte und sein Genie unbarmherzig ausbeutete, reife und unreife Früchte pflückte, so geschah es, um seine Ehre zu bewähren und die Gläubiger sich vom Leibe zu halten. Er wußte, wie dem ruinierten Geschäftsmann zumute ist, wie dem Spieler, dem Hungrigen und wie dem Verzweifelten, der mit durchgelaufenen Schuhsohlen das Pariser Pflaster tritt. Er selbst war Brideau, Marneffe, Hulot, Rastignac, Lucien, Ferragus. Nur er, der selbst so unsäglich unter den Geldsorgen litt, konnte die ganze furchtbare Pathetik des Geldes entdecken. Nur er, der so sehr von seiner Zeit gequält wurde, konnte diese Zeit so unnachahmlich malen. Er fühlte die Peitschen der Manichäer auf seinen Rücken sausen und schuf in Aufbietung einer bewundernswürdigen Konzentration Werk um Werk. Alle Qualen seines Lebens grollen mit einem donnernden und tiefen Ausbruch in seiner Gigantomachie.

Und dennoch würde man ihn erniedrigen, wollte man behaupten, daß das Geld der Ansporn seiner Tätigkeit gewesen sei. In ihm war ein gewaltiger Tatendurst, und da er die Welt nicht mehr mit der Waffe erobern konnte – das hatte Napoleon schon getan –, bezwang er sie mit der Feder. Und hier zeigt sich wieder, daß die Eroberungen in der geistigen Welt von ungleich größerer Bedeutung sind und einen wichtigeren Kulturfortschritt darstellen, als selbst die tollkühnsten und unerwartetsten Erfolge des strategischen Genies. Frankreich, das unter Napoleon eine solche Expansion erlebt hatte, daß es nicht nur Europa, sondern die ganze Welt zu beherrschen schien, ist wieder in seine alten Grenzen zurückgedrängt worden, aber das Gebiet, das Balzac erobert hat, und die Siege, die er in der geistigen Welt ausgefochten hat, das sind positive Gewinne, die niemals mehr verloren gehen können. Im politischen Leben mag alles den Gesetzen des Kreislaufes unterliegen, da mögen bald die Perser, bald die Griechen oder die Römer die Welt beherrschen, da mag bald der Engländer, bald der Franzose oder der Deutsche obenauf sein; in der geistigen Welt aber gibt es keinen Kreislauf, da gibt es nur Entwicklung. Was erworben ist, ist erworben für alle Ewigkeit. Denn im Geistigen gilt es nicht, ein Volk, eine Nation vorwärts zu bringen, sondern die ganze Menschheit. Napoleon, der von Balzac beneidete und verherrlichte, ist heute zu den historischen Akten gelegt, wie Alexander oder Cäsar; Balzac aber ist so lebendig wie zuvor.

Und doch hat in beiden nichts anderes gewirkt als ein ungeheurer Wille, und wie Napoleon, beginnt Balzac mit der Eroberung von Paris, um später alle Länder an sich zu reißen. Wir begegnen seinen Menschen an den norwegischen Fjorden, in den spanischen Sandwüsten, im Wunderlande der Pyramiden, in den Alpen. Er zeigt uns die elende Hütte des Arbeiters, den Schlupfwinkel des Verbrechers, die Paläste der Großen, die Gemächer des Kaisers. Er erklärt uns die Maschinerie der Börse, des Theaters, der Polizei, der Justiz und der Regierung. Er nimmt das ganze soziale Getriebe vor unseren Augen auseinander wie ein Mechaniker eine Uhr und beschreibt erst die einzelnen Räder, um schließlich zu zeigen, wie geschickt eins ins andere übergreift und wie alles miteinander zusammenhängt. Er analysiert die Seele des Fürsten, des Bettlers, des Gelehrten, des Dummkopfs, des Bankiers, des Soldaten, der Magd, der Künstlerin, der Heiligen, der großen Dame und der Dirne. Er kennt die Leidenschaften in allen ihren Nüancierungen und Zusammensetzungen. Er hat wuchtige, überlebensgroße Gestalten geschaffen, eines Shakespeare würdig – ich denke just an Vautrin –, und er hat auch ganz moderne Menschen geschildert, die aus J. P. Jacobsens Welt zu kommen scheinen, wie z. B. Frau von Mortsauf.

Und dieser Balzac hat ein Leben geführt wie ein gehetzter Karrenhund; ein Leben, das durch die verächtlichsten und gewöhnlichsten Miseren, die dieses ungewöhnliche Genie durchzukämpfen hatte, jener alten Lüge recht zu geben schien, daß nur die Not die Lehrmeisterin des Genies sein könne. Ein wenig mehr Sonnenglanz in seinem Dasein, und seine Werke wären ausgeglichener gewesen. »Wenn wenigstens noch irgend jemand einen Lebensreiz in meine kalte Existenz würfe«, schreibt er in einem Briefe. »Ich habe die Blumen des Lebens nicht und stehe doch in der Jahreszeit, wo sie blühen. Was sollen mir Menschen und Freunde, wenn die Jugend vorüber sein wird? Was nützen die Komödiengewänder, wenn man keine Rollen mehr spielt? Der Greis ist ein Mann, der diniert hat und die anderen essen sieht, und ich, der ich jung bin, habe Hunger und leere Teller.« Sein Leben war eine Hölle, und es nimmt nicht wunder, daß er oft an Selbstmord dachte. Um so mehr begreift man, welch eine Genialität dazu gehörte, unter solchen Verhältnissen das zu werden, was er aus sich gemacht hatte. »Man verbringt die zweite Hälfte des Lebens damit, daß man wieder abmäht, was man in seinem Herzen in der ersten emporwachsen ließ; das nennt man dann Lebenserfahrung erwerben.«

Man kann ihn immer wieder lesen, und jeder kann ihn lesen; sei er Kaufmann oder Arbeiter, Gelehrter oder Künstler, Politiker oder Regent. Jeder wird von ihm lernen, jeden wird er bereichern. Alles, was zwischen Himmel und Erde sich abspielt, wird bei ihm dargestellt. Seine »Menschliche Komödie« ist kein Kunstwerk, ebensowenig wie das Leben; sie ist das Leben selbst. Er spielt nicht mit den Worten, wie viele Poeten; das Wort ist für ihn dazu da, um etwas auszudrücken. Er ist voller Schlacken, aber sich ihn verbessert wünschen, heißt einen anderen Balzac wollen. Es würde ihn verkleinern. Was er an Feinheit vielleicht gewänne, würde er zweifellos an Kraft verlieren. Er hat ein verblüffend sicheres Formgefühl, und wenn er einmal ein Bild anwendet, so tut er es nicht, um im Poetischen zu glänzen, sondern um größere Klarheit zu schaffen. Deshalb wirkt er direkt und unmittelbar. Jeder kann ihn verstehen. Er wird keine Person einführen, ohne uns gründlich mit ihr bekannt zu machen; wir sehen sie im Lichte ihrer Zeit, in ihrem individuellen Milieu; wir erfahren ihre Entwicklungsgeschichte. Wir sehen, wie Eltern und Amme, Ort und Zeit, Luft und Wetter, Kost und Kleidung, Gehirnkonstruktion und Erfahrung, Erziehung und Umgebung, Gelegenheit und Studium usw. einen Menschen zu dem gemacht haben, was er ist. Wir bekommen die Schlüssel zu allen Herzen in die Hand. Und alle Gestalten scheinen ein Auszug des Lebens zu sein.

Es ist töricht, Balzac einen unbarmherzigen Physiologen oder Materialisten zu nennen; er ist vielmehr gläubig, gutmütig und duldsam. Er ist ein Baumeister großen Stils, und das Gebäude, das er errichtet hat, ist nicht nur für ein Jahrhundert gebaut. »Wenn auch in einer fernen Zukunft der furchtbare Sturm der Zeit unsere Sprache und unsere Zivilisation vom Erdboden weggefegt und wenn er dann auch den Grund des Gebäudes niedergerissen haben wird, das Balzac aufgebaut hat, dann werden – prophezeit Emile Zola – doch noch die Trümmer ein solches Gebirge aufgetürmt haben, daß kein Volk an ihm vorübergehen könnte, ohne auszurufen: »Da ruhen die Ruinen einer Welt.«


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