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III
Niederländer

 

Hier ist das Wohlbehagen erblich,
Die Wange heitert wie der Mund,
Ein jeder ist an seinem Platz unsterblich:
Sie sind zufrieden und gesund.

Goethe

 

Hemsterhuis

Bodenständig ist er nicht. Er ist Holländer, denkt griechisch, schreibt französisch, wird aber zumeist in Deutschland gelesen, wo er seine Freunde, Gönner und Anhänger hat. Seine Hauptarbeit ist Exzerpt, bald aus Sokrates oder Plato, bald aus Hutcheson oder Shaftesbury, zumeist eine Verschmelzung aller. Vielleicht ist dieses geistige Amalgam der Grund, weshalb Hemsterhuis nur ein Schattendasein führt und nie wieder lebendig werden kann, obwohl bedeutende Stimmen den Versuch gewagt haben, ihn aus dem Totenreich zurückzurufen. Er hat seine Zeit gehabt und sie ist vorbei. Und selbst wenn die Novalis oder Hölderlin wiederkommen würden, auf die Hemsterhuis einen unermeßbar großen Einfluß gehabt hat, – er selbst kehrt nie wieder zurück. Man würde heute nicht mehr aus einem Nebenfluß schöpfen, sondern gleich zur Quelle gehen. Darum bleibt Hemsterhuis verdammt, wie der arme Achill, ein großer Held unter den Schatten zu sein. Es fehlt Hemsterhuis Eigenfarbe und Eigendenken. Er hat zuviel Kultur, zuviel Assimilationsfähigkeit. Er ist subjektiv gewiß davon überzeugt, daß das, was er schreibt, sein selbständig erworbenes geistiges Eigentum sei, so sehr hat er sich die Gedankenwelt einiger alter Philosophen und der Eudämonisten des achtzehnten Jahrhunderts zu eigen gemacht. Weil sie ihm ganz aus der Seele sprechen, weil sich die Ideen des Sokrates und Shaftesbury völlig mit seinem eigenen Empfinden decken, weiß er nicht mehr, daß er nur nachspricht.

Eines Tages kam Maupassant zu seinen Freunden gestürzt und war begeistert von einem Gedicht, das er eben geschaffen hatte. Er war ganz erfüllt davon und trug es ekstatisch vor, allein Flaubert machte ihn sofort darauf aufmerksam, daß das Gedicht zwar wundervoll sei, aber Wort für Wort von Musset stamme.

Ein ähnlicher geistiger Prozeß verläuft in der Gedankenwelt des Hemsterhuis. Er weiß gar nicht mehr, daß er nur die Gedanken von Sokrates und Shaftesbury nachzeichnet.

Um zu sich selbst zurückzufinden, muß der Mensch, der viele Kulturwerte in sich aufgenommen hat, vieles wieder vergessen können, vieles verwerfen. Hemsterhuis stapelt auf und sammelt Wissen ein, wie er alte Münzen sammelt. Seine geistige Physiognomie ist verwaschen. Wenn ich glaube, ihn selbst zu zitieren, ist es sicherlich Sokrates oder ein anderer der Alten, die man sprechen hört.

Andere Kinder erben von ihren Ahnen Geld oder Gut, Leidenschaften, Krankheiten, was weiß ich. Franz Hemsterhuis erbt Philologie und Ästhetik. In manchen Familien ist der Vater ein Literat und die Mutter eine Köchin, oder der Vater eine Krämerseele und die Mutter eine Künstlerin – und irgendwie zeigt sich das dann im Antlitz und Wesen der Kinder. Das Zuviel an Schriftstellern, das der eine Faktor mitbringt, wird durch die Natürlichkeit oder Derbheit des anderen ausgeglichen, so daß das Kind zuweilen eine gesunde Mischung beider Extreme mitbekommt. Hemsterhuis ist von beiden Eltern her mit Ästhetik belastet. Daher seine Blutleere, daher die dünne Luft in seinen Büchern, die im Geschmack jener romantischen Ästhetiker in Dialogform abgefaßt sind. Aber diese Form ist ohne Frage eine Lüge, da sie ein gewisses Leben vorzutäuschen versucht, das die Blutfülle der Ideen glaubhaft machen soll. Allein, es ist nicht wahr, daß seine Gedanken Nerven oder Blut haben. Sie kommen weder aus dem Geist, noch aus dem Herzen; sie haben ihre Quellen in Büchern. Das hindert natürlich nicht, daß sie schön sind.

Er ist irgendwie unfertig, irgendwie macht er den Eindruck eines Homunkulus. Ich meine das nicht in herabsetzendem Sinne; im Gegenteil; er scheint mir oft nur ein Gehirn zu sein, das ausschließlich nach der ästhetischen Seite hin gezüchtet wurde. Ohne die Fürstin Amalie von Galizin, deren Kinder er erziehen darf, und die, zum Danke dafür, ihn selbst erzieht, wäre er zeitlebens ein fein kultivierter Gemmensammler geblieben. Durch sie erst wächst er, durch sie reift er. Von Hause aus eine problematische Natur, von eifersüchtigen und hypochondrischen Anfällen hin und her geworfen, sieht man ihn bald als einen Mann von Sentiment, bald weichmütig, bald hochfahrend, bald zart und bald verletzend. Frau Herder bezeichnet ihn als einen »jungfräulichen alten Jüngling und lieblichen Philosophen«; weniger zärtlich sagen wir dasselbe, wenn wir ihn eine alte Jungfer nennen. Er ist genau so empfindsam und mißtrauisch. Jetzt beschimpft er seine Freundin; einen Augenblick später bereut er alles. Er schwärmt und gerät in Verzückung, und im nächsten Augenblick schachtelt er seine Gefühle in eine Systemkiste. In der Unterhaltung liebenswürdig und immer der Meinung seines Partners, macht er sich lustig über seine Gegner, sobald er der Gesellschaft den Rücken kehrt. Sein hochstrebender Gräcismus nimmt sich gegen Hamanns Innerlichkeit aus, wie eine Wachspuppe neben einem lebendigen Menschen.

Auf seinen Reisen machte er die Bekanntschaft von Goethe, Lessing, Herder, Hamann, Mendelssohn, Jacobi, Lavater, Claudius. Sie kennen alle seine Schriften, sie schätzen alle den Verfasser hoch. Lessing ist so entzückt vom »Aristäus«, daß er das Werk ins Deutsche übertragen will. Jacobi schreibt ihm: »Nicht um Sie zu unterrichten, sondern Unterricht von Ihnen zu begehren, nehme ich die Feder in die Hand. Möchten Sie die Belehrung, die ich wünsche, mir gewähren.« Goethe spricht oft über den »fein gesinnten Niederländer« und »schätzenswerten Mann« und gesteht: »Hemsterhuis' Philosophie, die Fundamente derselben, seinen Ideengang konnt' ich mir nicht anders zu eigen machen, als wenn ich sie in meine Sprache übersetzte.«

Herder bewundert ihn, übersetzt ihn, propagiert ihn. Herders »Kritik der Sprache« empfängt reiche Nahrung aus Hemsterhuis' Abhandlung »Der Mensch und die Beziehungen desselben«. Herders Aufsatz »Liebe und Selbstheit« dankt Hemsterhuis' Arbeit »Über das Verlangen« seine Entstehung, seinen Ideengang und Ideengehalt. Man achte darauf, wie Herder ihm dankt; es ist allerhand: »Vielleicht hat seit Plato über die Natur des Verlangens in der menschlichen Seele niemand so reich und fein gedacht, als unser Autor. Sein System ist so groß wie die Welt, ewig wie Gott und unsere Seele; aber seine Bemerkungen konnten nur, dem Zwecke seines Briefes gemäß, leicht hingeworfen werden. Habe jemand ein System, welches er wolle, es wäre übel, wenn er die schöne Reihe echter philosophischer Perlen in diesem Briefe nicht lieb gewänne, oder wenigstens werthielte.«

Forster nennt Hemsterhuis den »batavischen Plato« und rühmt an ihm: »Feinheit der Empfindung, Reichtum und Macht der Ideen, Politur des Geschmacks verbunden mit der Fertigkeit und den subtilen Stacheln des echten Witzes, mit der lichtvollen Ordnung einer herzlichen Philosophie und dem Dichterschmuck einer alles verjüngenden Einbildungskraft.«

Johann Weeb, ein Zeitgenosse Goethes, äußert sich folgendermaßen: »Ich kenne kein dichterisches Genie, das einen so feinen, philosophischen Geist, und keinen Philosophen, der ein so zartes dichterisches Gefühl besaß, als dieser gelehrte Bürger vom Haag. Er verstand die Kunst, den Strahl der majestätischen Vernunft durch die Grazien zu mildern, und den männlichen Verstand mit der jugendlichen Einbildungskraft zu gatten. Ihre blühenden Kinder scherzen um des Tiefsinns strengen Ernst, und unter dem Spiele des attischen Witzes verjüngt sich der bedächtige Scharfsinn.«

Zu all diesen Urteilen haben wir heute kein Verhältnis mehr. Es bleibt nur die melancholische Erkenntnis zurück, daß selbst die Meinungen der größten Geister keinen Ewigkeitswert besitzen und daß uns die Tyrannei der überkommenen Meinung niemals die Verpflichtung auferlegen kann, dieselbe Meinung weiterzutragen. Nicht alles, was Goethe und Herder vor hundertfünfzig Jahren behauptet haben, muß oder kann heute noch zutreffen.

Was ich in all diesen Bewunderungen vermisse, ist die Distanz zu dem Werk; was sie mir wiederum erklärbar macht, ist die leidenschaftliche Liebe des Goetheschen Kreises zum Attizismus. Wahrscheinlich wird man in hundert Jahren unsere Urteile ebenso belächeln und ebenso komisch und ungerecht finden.

Aufrichtig schließe ich mich Hemsterhuis' »Aristäus« an, der das Gespräch des Diokles öfters mit der Wendung unterbricht: »Ich bitte dich, Diokles, wiederhole, was du gesagt hast, sonst kann ich dir nicht folgen.«

Ich kann mir nicht denken, daß es anderen Lesern, und mögen es Goethe oder Lessing gewesen sein, anders erging.

Vielmehr verstehe ich Goethe, wenn er erklärt, er konnte sich Hemsterhuis' Ideen nicht anders zu eigen machen, als daß er sie erst in seine Sprache übersetzte, so, daß sie ihm im Original absolut unverständlich waren und daß er nur zu höflich war, um dies dem lebenden Zeitgenossen unumwunden zu sagen. Es handelt sich einfach um Unklarheiten des Ausdruckes, denen die Unklarheit des Gedankenganges entspricht, und nicht etwa um orphische Dunkelheiten oder pythagoräische Stilmagie. Die Gedanken sind – um es deutlich zu sagen – nicht ausgegoren und nur deshalb zuweilen unverständlich. Man muß schon ein wenig lügen und aus eigenem hinzutun, um klarzumachen, was der »batavische Plato« sagen will. Ist es nicht höchst reizvoll, wenn Herder betont: »Die Bemerkungen des Verfassers werden durch die französische metaphysische Sprache, die der deutschen Philosophie fremd ist, dunkel. Deshalb habe ich ihm unvermerkt nachzuhelfen versucht.«

Großer Montaigne, wie würdest du wohlgefällig lächeln über diese Demut eines Großen, über diese Nachsicht eines Gütigen. Und würdest du nicht das Aperçu hinwerfen: »Was man klar denkt, kann man auch klar sagen!«

Ich nehme ein beliebiges Werk vor – etwa den 1787 erschienenen »Simon oder von den Kräften der Seele« – und finde, daß andere, etwa Lessing, über die Seelenkräfte des Dichters und Künstlers wesentlich Besseres gesagt haben und weniger »systematisiert«. Wenn ich schon lese, daß die Künstler »zerfallen«, wittere ich einen »Hämorrhoidarier und blase sofort zum Abmarsch, und wenn die Seelenkräfte »eingeteilt werden« in erstens, zweitens, drittens, viertens, habe ich das Gefühl über einem Schmöker zu sitzen, und finde dann die Fliegen, die mir eben um die Ohren summen, viel weniger langweilig und viel aufschlußreicher. Ernsthaft teilt Hemsterhuis die Menschen in folgende Gruppen:

Erstens, in gemeine Seelen ohne Tugend und ohne Laster, die sich lediglich durch ihre Instinkte bestimmen lassen.

Zweitens, in gewöhnliche Menschen mit moralischem Sinn, die bald tugendhaft, bald lasterhaft sind.

Drittens, in lasterhafte Menschen, in denen bei der Ohnmacht des Gewissens eine große Energie und ein großer Verstand wirksam sind.

Viertens, in tugendhafte Menschen, in denen alle Seelenkräfte harmonisch ineinander wirken.

Der Anschauung des modernen Menschen, der die ungeheure Kompliziertheit und Mannigfaltigkeit der Seelenkräfte kennt, widerstrebt diese engherzige und höchst willkürliche Annahme von nur vier Seelenkräften und einer dementsprechenden Einteilung der Menschen in nur vier Arten; und dem Menschen unseres Jahrhunderts, der die Freiheit des künstlerischen Schaffens als erstes künstlerisches Gebot anerkennt, widerstrebt auch die von Hemsterhuis gewollte gesetzliche Bevormundung des Künstlers aus moralischen Gründen.

Die Romantiker waren mit Recht einer solchen schematischen Systematik abhold. In ihrer Gottestrunkenheit und in ihrer Verherrlichung der menschlichen Individualität und ihrer unendlichen Variationsmöglichkeit wäre es ihnen wie Lästerung erschienen, von Gott und seinem irdischen Ebenbilde zu sagen, Gott oder der Mensch ließen sich in a, b und c einteilen.

Und dennoch hat Hemsterhuis stärker auf die führenden Romantiker eingewirkt, als man weiß. Aber nicht der Systematiker hat diesen Einfluß ausgeübt, sondern der Schwärmer. Denn auch der lebt in Hemsterhuis in starkem Maße.

Es schien umsonst, daß das achtzehnte Jahrhundert die Wirklichkeit als seine Weltanschauung ausgerufen hatte; daß die Philosophen der Aufklärung religiöse Unabhängigkeit gefordert hatten, und daß auch auf künstlerischem Gebiete realistische Kunst angestrebt worden war. Winkelmann erhob die Antike zum großen Ideal, und die Verehrung der Alten schien offenbar auch Hemsterhuis der einzige Weg, um jene hohe Kulturstufe wieder zu erreichen.

Innerhalb der Geschichte sind die Griechen für ihn das ideale Volk χατ έξοχην, seit dessen Verschwinden die geschichtliche Bewegung nur abwärts gegangen ist. Wie für Rousseau der moderne Mensch ein imbécile ist, so ist er für Hemsterhuis un être physique; aber kein freies, seinem »moralischen Organ« folgendes Wesen. Die Griechen dagegen sind für ihn die letzten Typen freien Menschentums, denn der antike Mensch, unter günstigen Umständen aufgewachsen, konnte sein eigenes Ich bewahren; auf Grund seiner klimatischen, politischen und religiösen Verhältnisse konnte sein Gefühlsleben in unerhörter Stärke sich entwickeln; seine Sprache, Religion, Moral und Kunst trugen den Stempel innerer ethischer Freiheit.

Eine so hohe Einschätzung des antiken Lebens hatte natürlich eine ebenso große Geringschätzung des modernen Lebens zur Folge. Denn trotz Lessings epochaler Tat: der Schöpfung des bürgerlichen Dramas, trotz Herders und des jungen Goethe eifriger Hinweise auf die Urdichtung und Volkspoesie, trotz des Beispiels der Stürmer und Dränger endlich, die allem Akademischen und jeglicher Nachahmung den Krieg erklärten und dem erstaunt aufhorchenden Volke ins Bewußtsein riefen, daß die Alten nur deshalb groß gewesen seien, weil sie eben noch nichts nachzuahmen gehabt hätten, und daß sie aus eben demselben Grunde ebenfalls nicht nachahmen, sondern neu schaffen, aus den Quellen des Chaos schöpfen wollten, – allen diesen Genies und Genietäten zum Trotze behielt Winkelmann recht.

Rousseau zog als Erster gegen die Aufklärung zu Felde. Vom erkenntnistheoretischen Positivismus und Skeptizismus wendet er sich fort und erkennt den weit höheren positiven Wert des inneren Erlebnisses; er bekennt sich zu Sokrates, und den Standpunkt teilt bald auch Hemsterhuis. Denn er ist mit unter den Ersten, die die Aufklärungsepoche ihrem Ende zuzuführen beginnen und die die rationale Erkenntnis verabscheuen. Vernunft allein reicht nicht hin, um eine Kultur der Seele herbeizuführen. Man strebt nach einer festlichen Erhöhung des Lebensgefühls. Religion, Ethik und Politik sollen zu persönlichen Werken umgeschmolzen werden. Das Dasein Gottes soll nicht allein durch Verstandesgründe bewiesen, es soll im Innersten gefühlt werden, »Wenn ihr's nicht fühlt, ihr werdet's nicht erjagen«, ist ein Wort, das in mannigfacher Variation bei Hemsterhuis wiederkehrt. Die Kunst sei der enthusiastische Ausdruck der sinnlichen und seelischen Erlebnisse; keine nüchterne Abstraktion mehr, sondern eine innerlich erlebte und tief empfundene Wahrheit. Hemsterhuis vor allen versucht »auf allen Gebieten, in die der Mensch mit einem Teil seines Wesens eingeht, die Unabhängigkeit und Einzigartigkeit des Individuums, seine Unantastbarkeit allen Normen gegenüber darzustellen.« Im Gegensatz zur Aufklärung, die der Intelligenz den höchsten Wert beimaß, legt er das Hauptgewicht auf die Natur und die Eigenart des Menschen.

Eine solche Lehre, die die seelischen Werte über die verstandesmäßigen stellte, mußte Männern wie Novalis und Schlegel höchst willkommen sein, die nicht die konventionellen Wege des Denkens gehen wollten. Sie folgten willig jedem Geiste, der ihrer Seele größere Expansion verhieß. Für sie hat Descartes' Cogito ergo sum, wo das Sein lediglich durch die Vernunft bewiesen wird, keine Bedeutung mehr. Sie jubeln Hemsterhuis zu, der statt dessen sagt: Je sens, ainsi je suis, und der ihnen eine Erhellung der seelischen Grundkräfte verspricht und fortwährend auf die Alten hinweist, die den unekstatischen Dichter vom Parnaß verbannten.

Ekstase, Aufschwung, Begeisterung, Enthusiasmus, Überschwang sind denn auch die reichsten Quellen der Romantiker. Liebe ist das mächtige Band, durch das die ganze Welt zusammengehalten wird. Und zunächst meint Hemsterhuis nicht die geistige, sondern die erotische Liebe, die in Pflanze, Tier und Mensch gleich stark und begehrend zum Ausdruck kommt; selbst das Leblose und Anorganische hat das Streben, sich zusammenzuschließen. Diese Anziehung, die zwischen allen Körpern besteht, ist die ewige Sehnsucht nach Vereinigung und Anpassung. Beim Menschen wird diese Liebe zum Organ der Erkenntnis, das uns das wahre Verständnis der Mit- und Umwelt vermittelt. Die äußere Liebe bildet nur den Ausgangspunkt für die Erkenntnis, die über die Wirklichkeit hinausgehen will. Denn im Grunde ist die Kraft, die die Gestirne nach ewigen Gesetzen lenkt, ganz dieselbe, die auch die Sehnsüchte der Menschen beherrscht. Ebenso ist unsere Ernährung nichts anderes als eine Assimilation gleichartiger Stoffe. Dieser Trieb nach Vereinigung, der sich bald als Liebe, bald als Schwerkraft, hier als Kristallisation, da als Anziehung gleichartiger Körperteile oder ganzer Körper untereinander, dort als Verschmelzungsprozeß mit Homogenem äußert, ist Assimilationsbedürfnis, Anpassungstrieb, im letzten Grunde also Liebe, die das ganze All umschließt: das eine Wesen sucht ein anderes oder mehrere, die zu ihm passen. Man sucht im Inneren und Äußeren einander ähnlich zu werden, um restlos ineinander aufgehen zu können. Beim Tier findet die Liebe ihren Höhepunkt und ihre Befriedigung in der geschlechtlichen Vereinigung; eben weil sie nur eine rein körperliche ist, muß das Tier stets einsam bleiben. Das Neugeborene, die Frucht der Vereinigung, ist für das Tier kein starkes Band. Es ist nur die Art und Gattung, die dadurch erhalten und fortgepflanzt wird; das Individuum ist dabei ohne jede Bedeutung. Beim Menschen dagegen geht die Sehnsucht nach Vereinigung über das Körperliche hinaus. Es offenbart sich noch ein höheres Prinzip in ihm, dessen Kenntnis ihm das moralische Organ vermittelt. Seine bloße Begierde und Assimilation wird zur Sehnsucht nach Wesensvereinigung, wird Liebe. Er erhebt bewußterweise das Naturgesetz zu einem Moralgesetz, das auf rein seelischer Basis ruht. Denn hierin unterscheidet sich der Mensch wesentlich vom Tiere: Was bei diesem im Körperlichen Befriedigung und Endziel findet, endet beim Menschen im Geistigen. Und darum wird man die Geliebte weniger lieben als das höchste Wesen. Denn völlig und restlos aufgehen kann der Mensch nur in Gott.

Aber während des Lebens ist eine restlose Vereinigung mit Gott unmöglich. Unser körperliches Sein hemmt uns. So kann sich unsere Sehnsucht nach dem völligen Einswerden mit Gott nur im ewigen Streben danach erfüllen; wir sind in ewiger Annäherung begriffen; wir nähern uns ihm wie »die Hyperbel der Asymptote« und finden ihn erst im Unendlichen. »Da es nun fast unmöglich scheint, daß zwei einzelne Wesen völlig gleich geartet und gestellt sind, so muß es uns ebenso unmöglich scheinen, daß die Verhältnisse zweier Individuen zum höchsten Wesen völlig Eins seien, und daß es gar ein allgemeines Verhältnis einer gewissen Anzahl von Individuen zur Gottheit geben könne, die aus den verschiedenen Verhältnissen jedes einzelnen zu ihr zusammengesetzt wären.«

Darum ist alles religiöse Fühlen und jede Beziehung zu Gott individuell verschieden, und folglich hat jeder Mensch immer nur eine geringe und teilweise Kenntnis Gottes.

Erst nach dem Tode kann die Seele, vom Körper befreit, in Gott eingehen, und erst dann beginnt ihr eigentliches Leben. Das ist das neue, zukunftsferne und herrliche ewige Leben, das unser harrt. Aus der Enge irdischer Gequältheit, aus dem Traumzustand armseligen Daseins, wird der Mensch durch den Tod befreit werden und zu einem lichtvollen süßen Leben erwachen. Darum hat der Tod all seine Schrecken verloren. Der Tod ist nur Durchgangsstation, zur Befreiung und Höherentwicklung der Seele notwendig. Er leiht der Seele Schwingen. Er ist nichts als ein Stadium, das der Mensch durchlaufen muß, um aus dem Joch des Staubes in ein lichtes Eden einzugehen. Der Tod erst zerreißt das Gewölk, das unserer Seele den Himmel verdunkelt. Drüben ist Helle.

Aus vollem Verständnis für diese prophetische Lehre des Holländers, daß eigentlich erst der Tod unser irdisches Leben kröne, geht Friedrich Schlegel einmal so weit, zu sagen: »Unglücklich, wer ihn versteht! Unter Umständen könnte dies Gedicht augenblicklichen Selbstmord veranlassen, bei einer Seele von zartestem moralischem Gefühl.«

Ein leises Vorgefühl der Seligkeit, die Hemsterhuis schildert, empfindet der Mensch schon im körperlichen Dasein, wenn alle seine Kräfte ihre Steigerung erfahren im Enthusiasmus. Nichts kann diesen Enthusiasmus mehr beflügeln als die Liebe. Und in der Liebe hat der Mensch keinen tieferen Wunsch als den, sein Ich aufzugeben und das All zu umarmen. Nur in der Liebe wird dem Menschen seine himmlische Abstammung offenbar.

Diese begeisterte Überzeugung von der steten Entwicklungsfähigkeit des menschlichen Geschlechts fußt also nicht auf dem Glauben an eine beständige Vervollkommnung und Verfeinerung des Intellekts, sondern auf der metaphysischen Hoffnung eines immer höheren Aufschwungs der Seele. Mittels des moralischen Organs erkennt man die geistigen Zusammenhänge und lernt Gott verstehen, denn Gott selbst ist, nur in unendlich höherem Maße, mit diesem moralischen Organ begabt. Man fühlt die Verwandtschaft mit Gott und lernt ihn lieben. Mensch und Gott werden dann von einem gemeinsamen Bande der Liebe umschlossen. Und daß der Mensch diese Möglichkeit besitzt, daß er kraft einer immer höheren seelischen Vervollkommnung sich jener himmlischen Welt wenigstens schon ahnungsvoll nähert, ist ein geradezu göttliches Bewußtsein.

Dieses Zu-Gott-Emporwachsen, das Hemsterhuis so bewußt betont, hat ihn seinen Zeitgenossen als einen Heiligen erscheinen lassen, dem eine Dirne nicht einmal Modell stehen wollte, weil sie sich vor einem »Heiligen« nicht nackt sehen lassen wollte.

Durch solche Gedanken lenkt er die romantischen Geister jedenfalls weit über sich selbst hinaus. Durch seine enthusiastische Kraft wird er ihnen für ihre Poesie zur unerschöpflichen Quelle, und durch die Sehnsucht nach Unendlichkeit, die er ihnen gibt, ist auch die Dankbarkeit zu verstehen, die die Romantiker Hemsterhuis entgegenbringen. Die Sehnsucht nach dem Unendlichen wird als Grundkraft gespürt; sie verwirklicht sich aber nur in der Liebe, und deshalb sind Enthusiasmus und Liebe die Bildungsideale der Romantiker.

Keiner hat dies stärker geweckt und gefördert als Hemsterhuis. Darum wird sein Name von allen Romantikern immer mit den besten Namen zugleich genannt. »Ich habe den Geist einiger großer Männer zu ergründen gesucht,« schreibt Friedrich an August Wilhelm Schlegel, »als Kant, Goethe, Hemsterhuis, Spinoza, Schiller; anderer von weniger Bedeutung nicht zu erwähnen.« Er findet, Hemsterhuis sei der einzige Philosoph, dessen Gedanken das hätten, was die Alten »Duft« nannten.

In gleicher Weise spricht Novalis von Hemsterhuis. Er allein »ahndete den heiligen Weg zur Physik deutlich genug«. Ihm verdankt Novalis »die Idee einer moralischen Astronomie«, ihm »die Entdeckung der Religion des sichtbaren Weltalls«.

Von der zu stolzen Höhen führenden Gefühlsreligion des Hemsterhuis, von diesem inbrünstigen Seelenkultus, in dem man am liebsten die lästige körperliche Hülle abstreifen möchte, um die ganze göttliche Kraft auszuströmen, von dieser weit über den Tod hinausweisenden unendlichen Hoffnung auf ein dereinst wiederkehrendes goldenes Zeitalter, von dieser expansionsreichen Liebe, die gottestrunken immer himmelwärts weist, von dieser mystisch gesättigten Welt des Hemsterhuis führt eine direkte Brücke zur überschwenglich reichen Welt des Novalis, der mit Worten, die Hemsterhuis entlehnt sein könnten, in seinen »Studien zu Hemsterhuis« sagt: »Erstes Gesamtphilosophieren ist also ein gemeinschaftlicher Zug nach einer geliebten Welt« – und der einmal ausruft: »Hemsterhuis' Erwartungen vom moralischen Organ sind echt prophetisch.«

Die geistige Abhängigkeit unseres Novalis von Hemsterhuis ist groß; aber sie erstreckt sich nicht nur auf allgemeine Züge und Gedankengänge, sondern läßt sich bis in viele Einzelheiten verfolgen, die ich in meiner Monographie über Hemsterhuis ausführlich behandelt habe. So war zum Beispiel die Mathematik für Hemsterhuis geradezu eine göttliche Wissenschaft, eine Leier ohne die Hand des Meisters. Selbst die Metaphysik ist für Hemsterhuis nur »das immanente Resultat mathematischen Denkens«.

Nicht ohne Grund spricht Madame de Staël von seiner langue mathémacienne. Aber wer Novalis kennt, weiß, mit welcher Begeisterung auch er immer und überall die Mathematik lobpreist; er nennt sie das eigentliche Element des Magiers, eine Kunst, die lehrt, Genie zu sein, Ersatz der Natur durch Vernunft, Offenbarung der Musik, produktiven Idealismus, himmlische Gesandtin, Religion, Gottes Wort, ja das Leben der Götter selbst scheint ihm nichts anderes als Mathematik.

Ebensoviele reiche Zusammenhänge wie zwischen Novalis und Hemsterhuis bestehen auch zwischen ihm und Hölderlin, der den holländischen Philosophen ebenfalls mit großer Vorliebe gelesen hat und sich von seinen Ideen befruchten ließ.

In gleicher Weise sieht man Friedrich Schlegel von den »aromatischen« Definitionen des Hemsterhuis, die er vom Enthusiasmus, von der Liebe und vom Tode gibt, mit Begeisterung Besitz ergreifen.

Kein Zweifel, Hemsterhuis war einer der Gefeiertesten und Populärsten unter den Romantikern. Sein Geist war so intensiv in den Geist der Romantiker aufgegangen, daß sie oft als eigenes Gedankengut ausgeben, was nur Leihgut von Hemsterhuis ist, der es seinerseits wieder von den Alten ausgeborgt hat. Lebendig ist erst, was namenlos in Leben und Bildung der Nation übergegangen ist –, so charakterisierten die Romantiker einst das Volkslied, das sie ja ebenfalls zuerst in »Des Knaben Wunderhorn« der Nachwelt erhalten haben. So namenlos und doch lebendig wirkte auch Hemsterhuis in dieser Literaturepoche, die eine der lebendigsten des deutschen Geistes war. So weit sie lebendig ist oder bleibt, wird auch Hemsterhuis – wenn auch ungenannt und ungekannt – lebendig sein. Sein geistiges Weiterleben ist für alle Zeit mit unseren Romantikern aufs innigste verknüpft.


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