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IV
Vlamen

 

Die schönen Bilder, die sie bringen,
Sind nicht ein leeres Zauberspiel.

Goethe

 

Georges Rodenbach

Man geht durch die Dichtungen Georges Rodenbachs wie durch einen schweren melancholischen Traum. Gespensterhaft schwimmen phantastische Nebelfetzen durch die stummen Straßen, die auf die lauten Schritte eines belebenden Menschen lauern. Grauer Himmel drückt auf die altersmüden winkligen Giebelhäuser, die wie verwitterte Schönheiten einer prunkvollen Vergangenheit nachtrauern. In den zahlreichen Kanälen, die sich wie riesenhafte Würmer durch die Stadt winden, fließt schiefergraues Wasser; es hat eine Melodie, als lägen Tote auf dem Grunde. Schlafende Kähne, die wie märchenhafte Riesenschwäne ihre Brust bespülen lassen, träumen leise vor sich hin. Unnütz und düster bohren sich die Masten der Schiffe gleich drohenden Fingern in den Himmel, und wenn man mitternachts an den Kais entlang wanderte, würde man sicherlich den unheilbringenden Klabautermann erblicken.

Und Glocken tönen von den einsamen Kapellen, und Glocken rufen von den Türmen der ernsten Kirchen ..., dumpf und schwer kommen die Töne über die schweigenden Gewässer ... warnend und drohend wie mitleidlose Engel ... keifend und schrill wie bösartige Nonnen ... hell und wimmernd wie das Armesünderglöckchen ... bang und tief wie die Märchenglocke, die im See liegt ... singend und klagend wie heiße Menschentränen. Und die Symphonie der Klänge schwimmt ineinander und wird zu einem dröhnenden Orgelgebraus, das die Seele mit wilden Ängsten füllt. Und dann wieder Stille ... Totenstille über knienden Menschen in kalten Kirchen, in denen noch der Ruch erloschener Kerzen steht und der Weihrauch von gestern, der nicht flüchten konnte.

Die Menschen gehen still ihres Weges, als triebe keinen ein Gewerbe oder ein Beruf, als kämen sie vielmehr vom Traumreich Thule, wo das Vergessen wohnt und die Schmerzlosigkeit, Versonnen schauen sie vor sich hin, uralten Blicks, von vagen Gedanken zu Boden gedrückt.

Alles ist leise und sanft ergeben; selbst die Möwen, die sich zuweilen auf vermorschten Giebeln niederlassen, um zu ruhen, scheinen verzauberte Jungfrauen; sie schreien nicht, und sie zanken nicht miteinander. Beten auch sie? ...

Wie verwunschene Grafentöchter, die einem tyrannischen Hexenmeister nicht zu willen sein mochten, wandeln die Mädchen vorüber. Sie haben keinen Blick für den Fremden ... ihre Gedanken sind anderswo ... in unergründbaren Weiten ...

Und welch eine Armut! Und welch ein stilles Elend! Als ob böse Ifriten allen Reichtum und allen einstigen Glanz davongetragen hätten. Ernst und ergeben ragen die zahllosen Türme und Türmchen. Demütig und rührend in ihrer Armseligkeit, wie die Gestalten Memlings, wandern die Menschen vorüber, als beschwerte sie alle ein Alpdruck. Alte Weibchen sind es zumeist, verhutzelte Geschöpfe, von Kummer gekrümmt, mit seltsamen Körbchen am Arm. Was mögen sie wohl darin verbergen? Ihre Armut oder erbetteltes Brot? Worauf warten sie alle? Auf den Tod? ... Oder auf ein Wunder? ... Vielleicht wird eines Tages Karl der Kühne sich von seinem Grabe erheben und in sein Horn stoßen, daß alle Armut weiche und alle alten Weiblein sich in junge Schönen verwandeln!

Alle leben nach innen, und niemand ahnt, welche purpurnen Geheimnisse in den Seelen schlafen. Hier wird Heraklits Wort wahr: »Der Seele Grenzen kannst du nicht auffinden, und ob du jegliche Straße abschrittest; so tiefen Grund hat sie!«

Das ist wahr, und zehnfach wahr in der sonderbaren Dichtung Georges Rodenbachs, die »Bruges la morte« heißt.

Ja, diese Stadt ist zum Wahnsinnigwerden, und sie muß jeden sensitiven Menschen in Monomanien hetzen und muß seinen Verstand verrücken.

Wie kann man sich in dieser Stadt niederlassen, wenn man liebt und glücklich ist? Kann man in einem Kirchhof jauchzen? In jede Umarmung läutet der Tod hinein, und wenn man im Kusse versinkt, ruft das Memento der Glocken den Beseligten zurück in das Land der reichen Schwermut. Oder vielleicht hält man es in dieser träumebeladenen Stadt just dann nur aus, wenn man so leidenschaftlich liebt, daß darüber die ganze Umwelt versinkt und daß man taub bleibt gegenüber allen Mahnungen des Todes.

Aber wehe, wenn die Geliebte stirbt! Wehe, wenn der Liebende erwacht und sich zurückgeworfen sieht in das Reich der bösen Geister, der stummen Nonnen, der endlosen Prozessionen, die aus dem Jenseits zu kommen scheinen, der ehernen Glocken, die läuten und rufen und mahnen und dröhnen. Dann schneidet man eine lange Flechte vom blonden Haupte der toten Geliebten und legt diese kostbare Reliquie in einen kleinen gläsernen Sarkophag. Die bebenden Finger streichen liebkosend über die seidenen Gewänder, die nun wie arme Erhängte im Schranke vermodern. Und fortan sind alle Räume, in denen die zu sehr geliebte Frau gelebt und geatmet, Heiligtum.

Und Jahre kommen und Jahre gehen ... Und wenn die Sehnsucht ihre Peitsche schwingt und Striemen in das Herz haut, stürzt man hinaus auf die toten Straßen und trinkt sich satt an der Ödenei des grauen Himmels, der nutzlos schönen Häuser und der überflüssigen Brücken.

Die kranken Augen suchen nur sie ... sie allein ... die Verlorene, die unwiederbringlich Verlorene ... vielleicht, daß sie plötzlich aus einem dichten Nebelstreif hervortritt und lächelnd die Arme breitet: Hier bin ich!

Und während die Glocken singen und schallen und die Vergänglichkeit alles Irdischen in die Seele hämmern, sinnt man im Schatten der verschlossenen Klöster über die Geheimnisse des Todes nach. Hier in dieser Stadt, in der der Tod wohnt, glaubt man nicht an den Tod; der feierliche Aufzug, in dem er sich der Menge zeigt, ist nur ein furchtbarer Mummenschanz ...

An anderen Tagen wieder, besonders wenn die Dämmerung ihre melancholischen Fittiche ausbreitet und die ganze Stadt in eine mystische Dunkelheit hüllt, glaubt man in der Unterwelt zu sein, wo Admetos seine Alkestis sucht. Er wird sie anrufen und mit den stärksten Worten der Liebe beschwören. Sein Herz wird sprechen. Und dann wird er sie zurückführen in die lichte Welt ... Kann ein Mythos denn nicht Wirklichkeit werden?

Und eines Tages begegnet man ihr unverhofft, wie man zuweilen seinem Glück begegnet ... Ist es Traum? ... Trugbild? ... Das ist sie! ... ihr Gang! ... ihre Gestalt! ... ihr Haar! ... ihre Bewegung! ...

Alles war nur gräßliche Täuschung neidischer Geister. Sie ist nie tot gewesen! Man spricht sie an und sie antwortet mit ihrer Stimme! Natürlich! ... Man bringt sie nach Hause. Natürlich! ..

Aber – – sie geht nicht in das gemeinsame Heim zurück ... Sie hat sich neckischerweise irgendwo anders ein Zimmerchen gemietet ... offenbar aus Freude am Scherz ... als sei sie seine heimlich Geliebte, die er, um von niemanden gesehen zu werden, unter tausend Ängsten aufsuchen muß. Dort wohnt sie jetzt unter fremdem Namen. Sie läßt sich Jeanne nennen, nicht Genoveva mehr. Wie natürlich das alles ist und doch wie seltsam ...

Und sie plaudert von tausend und aber tausend unbekannten Dingen. Aber er vernimmt kaum den Sinn der Worte; überglücklich, ihre liebliche Stimme wieder im Ohr zu haben, überglücklich, sie wieder leibhaftig vor sich zu sehen, hört er ihrem traulichen Geplapper zu wie einem freundlichen Wassergefälle, Und dann – nach fünf langen schweren Jahren der Trauer- und furchtbaren Entbehrung – winkt der Liebe süßer Lohn in ihren Armen. Welch ein unausdenkbares, unfaßbares Glück!

Und von nun ab geht man täglich zur Geliebten ... ohne zu fragen, ohne zu denken. Sein ist der Wille, sein ist die Kraft. Er hat sie zurück erobert aus dem Totenreich ... aber das Geheimnis muß er gut wahren ... sie darf nie erfahren, daß sie tot war, sonst müßte er sie aufs neue und für ewig verlieren ... Oh, über dieses unsagbar tiefe Glück! Und selbst wenn alles Illusion wäre, Glück ist es dennoch! Es ist namenlos beglückend, sich vorzutäuschen, Jeanne wäre Genoveva!...

Man kann sogar die Täuschung noch um einige Nüancen vollkommener machen. Man bringt Jeanne endlich doch einmal in das einstige gemeinsame Heim zurück, wo eine alte Nonne wirtschaftet und weiß durch allerhand Ränke Jeanne dahin zu bringen, daß sie das alte rosenrote Brautkleid Genovevas anzieht. Und nun sie geschmückt dasteht, ganz Duft und dennoch Wirklichkeit, ganz Traum und dennoch Leben – ah! wer beschreibt dieses tiefe, tiefe Glück und diese süße, süße Liebesnacht!

Aber sobald das Blut seinen Willen hat und der Brand der Sinne zurückgeflutet ist, kommen doch leise die Zweifel herauf ... Ist alles Selbstbetrug? ... Süße Täuschung? ... Wer ist diese Jeanne, die seiner Genoveva so ganz und gar gleicht?

Eine Hure, sagt ein Freund. Und gibt die Beweise. Aber das ist ein Wort, das nur den Verstand von weitem berührt, diesen nüchternen Wächter, der längst geknebelt ist. Das Herz aber und alle Sinne wissen, daß Jeanne Genoveva ist. Sie hat zwar außer ihm noch mehrere Geliebte in der Stadt. Was tut das? Seiner Wirklichkeit wird dadurch nichts geraubt.

Zuweilen allerdings tut es gar weh, die süße Frau im Besitz noch anderer Männer zu wissen. Und dann bäumt sich ein letzter Rest von Wachheit gegen den Selbstbetrug aus Liebe zur Toten. Aber das Blut ist stärker, stärker die Lust und Lockung. Das Weib ist stärker. Und der Mann versklavt, wird hörig. Die Sehnsucht ist so groß, so riesengroß; da nimmt man, da man die Heilige nicht haben kann, die Hure, die ihr äußerlich so gleicht. Und kehrt zur Sünde zurück.

Jetzt weiß man, daß man sich an eine Dirne gekettet hat; aber man kann nicht mehr los ... kann nicht. Aus Treue zur Toten hat man sich von einer Dirne quälen, erniedrigen, ausnützen lassen; hat sie mit zahllosen Männern geteilt, hat ihr selbst das wohlbehütete Geheimnis der Trauer ausgeliefert, unter dem man fünf lange Jahre gelitten hat. Sie weiß nun alles, weiß den närrischen Willen zum Selbstbetrug. Sie weiß, daß man in ihr nur die Ähnlichkeit mit der heißgeliebten Toten liebt; daß man ernüchtert, abgestoßen, ja sogar angeekelt ist, aber nicht mehr los kann. Aber eines Tages, als es sie wieder nach neuen Machtproben gelüstet, und sie aus dem durch Schmerz und Erinnerung geheiligten kleinen Glassarkophag die blonde Flechte Genovevas nimmt, um ihn mit dieser Profanierung zu höhnen und zu quälen, wird sie mit eben derselben Haarflechte auf der Stelle von ihm erwürgt.

Während draußen die tote Stadt auferstanden zu sein scheint und, um der Fronleichnamsprozession beizuwohnen, alle Gestalten van Eycks und Memlings, die Helden und Heiligen, die Krieger und Nonnen für einen Tag lebendig geworden sind, um die Stadt zu bevölkern, liegt Jeanne, das Ebenbild Genovevas, erwürgt am Boden, über die sich ein lächelnder Irrer beugt ... Die Tote hat sich gerächt.

Das alles ist originell konzipiert, suggestiv erzählt und selbst in den künstlerischen Schnörkeleien recht fein und absonderlich; aber es ist nicht das Wesentliche, das dem Werk die Unsterblichkeit sichert. Das Wesentliche ist vielmehr die Schilderung der Stadt.

Das tote Brügge hat diesen Zauberer bezaubert, und diese Stadt, die sein Herz besitzt, drängt sich in allen seinen Dichtungen vor. Darum ist das Drama »Das Trugbild«, in dem Rodenbach denselben Stoff auf die Bühne gebracht hat, bei weitem nicht so packend wie die einzigartige Erzählung. In dem Schauspiel ist nur der Stoff dramatisiert; aber die unvergleichlichen Stimmungen der toten Stadt, die in »Bruges la morte« wie kostbare Juwelen eingestreut sind, sind in dem Drama ausgebrochen.

Rodenbachs Romane und Novellen: »L'art en exil«, »Le voyage dans les yeux«, »L'arbre«, »Le carilloneur«, »Le musée de Béguines«, »Le règne du silence«, »Le miroir du ciel natal«, »Le rouet des Brumes« u. a. sind immer faszinierend durch ihre lässige müde Schönheit; selbst dort, wo man die Einflüsse Poes, Flauberts, Baudelaires, Mallarmes unverkennbar wahrnimmt, bewahrt er sein eigenes feines Gesicht, denn er erweckt immer Bewunderung durch die Mannigfaltigkeit der Töne und Farben, mit denen er Brügge schildert. Man kann seine Geliebte nicht leidenschaftlicher besingen. Taine hat viel von Rodenbach gelernt, und Huysmans ist nicht umsonst sein Bewunderer. Er hat alle seine Landsleute neugierig gemacht, Brügge kennen zu lernen, und es gab seit Rodenbachs Tod keinen französischen oder gar belgischen Dichter, der über Kunst schrieb und nicht nach der Stadt wallfahrtete, die Rodenbach erst in die Sphäre der Poesie erhoben hat. Anatole France, die Goncourts, Mirbeau, Rollinat, Bourget und andere haben sich von den Impressionen und eigenartigen Träumen des Dichters gefangen nehmen lassen.

Rodenbach hat die Stadt entdeckt, hat sie zu der seinen gemacht, so sehr, daß assoziativ sein Name sich auf die Lippen drängt, wenn von Brügge die Rede ist. Er hat den alten Ruhm der einst regsamen und reichen Hafenstadt, den die mittelalterlichen Handelsherren zu erhalten nicht verstanden haben, wieder neu befestigt. Er hat die Ehre seiner Vaterstadt wieder hergestellt. Zum Dank dafür haben Brügges Stadtväter das Monument, das Maeterlinck, Verhaeren und Lemonier ihm zu setzen gedachten, aufzustellen verweigert.


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