Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Stern Napoleons

Mehr als ein Staatsmann befragt die Wahrsagerinnen; mehr als ein Philosoph hat an Träume geglaubt. Die Königin und die Zofe, der Herrscher und der Knecht, der Neger und das Kind, der Kluge und der Dummkopf, sie alle appellieren an Gott, wenden sich an den, den man nicht nennen und nicht bekennen darf, pilgern nach Delphi oder in das Zigeunerlager, gehen zu den Theosophen, Okkultisten oder Spiritisten, rufen die übernatürlichen Mächte an, fürchten das Außerirdische, Überirdische. Und in der Tat ist es auch wunderbar, wie wir in unserm Leben fortwährend bis in die geringsten Alltäglichkeiten auf das Übernatürliche hingewiesen werden.

Darf es dann verwundern, wenn wir den großen Napoleon sein ganzes Vertrauen auf einen Stern setzen sehen? Seine Erwartung, daß ihm in verzweifelten Augenblicken Hilfe von oben kommen müsse, die Worte, die er an den göttlichen Gebieter richtete, der alle Berechnungen, alle Ereignisse in seiner Hand hielt, die eigentümliche Aufregung, in die er beim Glockengeläute geriet und die ihn in Träumereien und in unbekannte Ekstasen versetzte, die Kreuzeszeichen, die er beim Nahen der Gefahr schlug, das alles beweist, daß er an eine überirdische Kraft glaubte, die sich in seinem Stern sichtbar machte. Schließlich war er ein Korse, ein Halbwilder, dessen Blut die Atavismen seiner Ahnen nicht verleugnete.

Er gestand ein, daß an jedem Schlachttage, nachdem er alle genau berechneten Dispositionen getroffen, nachdem er alles vorberechnet, um nicht zu sagen vorhergesehen hatte, es stets einen Augenblick gab, wo der Erfolg nicht mehr von ihm abhing, wo das Verhängnis seine Rolle zu spielen begann. Und in solchen Augenblicken verzweifelte Napoleon niemals; er glaubte an seinen Stern. Die Vorsehung spielte die größte Rolle bei seinen strategischen Unternehmungen. Ihr schiebt er die Schuld an allem Mißgeschick, wie auch an allem Glück zu. Er überließ sich seinem Schicksal, niemand anders vertrauend als seinem Stern. Auch die Wahrsagerinnen bilden ein wichtiges Kapitel in Napoleons Leben. Als er 1794 Marseille durchreiste, suchte er eine Pythia auf, die ihm wörtlich prophezeite: »Sie werden übers Meer fahren; Sie werden siegen; Sie werden zurückkommen und größer sein denn je!« Und als er in Ägypten war, vertrat ihm, da er mit seinen Offizieren eines Tages in Kairo spazieren ging, ein altes Weib, eine Schwester der Phorkyas, den Weg, um ihm zu prophezeien. Sie wandte sich just an ihn, ebenso wie die Jungfrau von Orleans sich direkt an den König gewandt hatte, und sie prophezeite Bonaparte: »Du wirst zwei Frauen haben; du wirst eine verstoßen – mit großem Unrecht – das wird die erste sein; die zweite wird durch ihre großen Eigenschaften jener nicht nachstehen. Sie wird dir einen Sohn schenken. Du wirst in allen deinen Hoffnungen getäuscht werden. Du wirst mit Gewalt verjagt und auf eine von Meer und Klippen umgebene vulkanische Insel verbannt werden. Hüte dich, auf die Treue deiner Nächsten zu bauen; dein eigenes Blut wird sich gegen deine Herrschaft auflehnen.«

Die Entwicklung seines weiteren Lebens bestätigte die hellseherische Voraussage. Kein Wunder, daß Napoleon – wie einst die Pharaonen – die Gelehrten, die um ihn waren, über die Auslegung der Träume und Bedeutungen der Ahnungen ausfragte, und daß er, obwohl sie nur spöttelnd darüber sprachen, dennoch an die Prophetie seiner Vorgefühle glaubte. Und an Ahnungen glauben heißt, das über die Erfahrung Hinausgehende anerkennen, das Ewige im Endlichen, das Unsichtbare in der Wirklichkeit. »Meine Ahnungen täuschen mich nie«, war ein Wort, das man ihn oft anwenden hörte. Und er hatte Grund dazu. Die Explosion der Höllenmaschine in der Rue St. Niçaise am 24. Oktober 1800 war, wie man weiß, eine der größten Gefahren, die das Leben Napoleons bedrohten. Man spielte ein Oratorium, und Josephine und einige Freunde drängten ihn, das Konzert zu besuchen. Er zeigte aber eine außergewöhnliche Unlust auszugehen und schlief auf einem Kanapee ein. Man mußte ihn wecken und mit Gewalt fortschicken.

Solche Vorfälle, die sich oft ereigneten, waren sie das Ergebnis eines bloßen Zufalls oder eines warnenden Vorgefühls? Es ist von den Historikern außer Zweifel gestellt, daß Napoleon eine große Divinationsgabe besaß. Die Unschlüssigkeit, die man ihm manchmal vorwarf, hatte keine andere Ursache, als seine dunklen inneren Mahnungen, sein unbestimmtes Vorwissen von bevorstehenden Dingen, die Stimmen des Unterbewußtseins, die ihn vor einer Gefahr, die unabwendbar schien, retteten.

»Der oft erwähnte Zufall« – sagt er –, »dieser Zufall, aus dem die Alten einen Gott machten, der uns jeden Tag in Verwunderung setzt, uns jeden Augenblick betrifft, scheint uns nur so sonderbar, so seltsam und so außergewöhnlich, weil wir die geheimen und ganz natürlichen Ursachen, die ihn herbeiführen, nicht kennen; und diese geheimnisvolle Kombination genügt, um Wunderbares zu schaffen und Mysteriöses zu erzeugen.«

Trotz dieser Erklärung war er beständig von einem unbestimmbaren, quälenden Glauben an das Übernatürliche ergriffen.

»Sehen Sie was Bestimmung ist,« sagte er zu Bousset; »im Gefecht von Arcis-sur-Aube tat ich alles, um Fuß für Fuß die heimatliche Erde verteidigend, einen glorreichen Tod zu finden. Ohne Rücksicht habe ich mich bloßgestellt, die Kugeln regneten um mich; meine Kleider wurden von ihnen durchlöchert und keine konnte mich treffen.«

Die Folge davon war, daß Napoleon in den Augen der Soldaten für unverwundbar und kugelsicher galt; sie glaubten, daß er die Kugeln bezaubert hätte. Sie sahen, daß er gefeit war und unterwarfen sich der Tyrannei der unbekannten Kraft, die von ihm ausging.

Auch wir Angehörigen einer hochgesteigerten Kultur wurzeln in jenem geheimnisvollen Untergrund des Unerklärlichen und Spukhaften. So sehr unsere Erkenntnis dahinstrebt, immer nur das Recht des allgemein einleuchtenden Beweises gegenüber den verschiedenen Nuancierungen des Glaubens zu betonen und zu fordern, so sehr ruht letzten Endes doch unsere ganze Weltanschauung auf subjektiven Voraussetzungen, die eben für andere Menschen nicht beweiskräftig sein können. Selbst eine Reihe naturwissenschaftlicher Kriterien, die zuletzt auf Hypothesen beruhen, streifen schon das bedenkliche Gebiet des Metaphysischen. Ja, nicht bloß die allgemeinen Wahrheiten sind unbeweisbar, sondern selbst die einfachsten Ausgangspunkte unseres Denkens, die elementarsten mathematischen Bestandteile unserer Logik. Mit andern Worten: Nicht der Verstand allein, sondern auch das Gefühl und das Gemüt sind wesentliche Faktoren unseres geistigen und praktischen Verhaltens. Unsere ganze Bildung, Erziehung und Entfaltung beruht hierauf, einfach deshalb, weil tiefgreifenden, nachhaltigen Einflüssen eine viel wirksamere Handhabe geboten ist, als ausschließlichen Verstandesgründen. Diese Eindrucksfähigkeit steigert sich begreiflicherweise, wenn wir uns dem Grenzgebiete menschlicher Erkenntnis nähern, wo alle gewöhnlichen Erklärungen versagen, wo wir die altgewohnten Gleise der Logik verlassen und einem unfaßbaren Zufall gegenüberstehen. Dann stellt unser Inneres den geeigneten und gut vorbereiteten Boden dar für Suggestionswirkungen.

Vom Zufall zum Wunder ist nur ein Schritt. Napoleon glaubte an das Wunderbare, und es ist kein Gegenbeweis, daß er Charlatane und Betrüger gebrandmarkt hat, die in der Sphäre des Wunderbaren nur geschickte Gaukler waren. Es beweist auch nichts, daß er den Hypnotiseur Mesmer, den Abgott Poes, verachtete, obwohl Napoleon selbst nur durch seine hypnotische Kraft auf die Menge wirkte. Da sein Leben eine Kette der wunderbarsten Zufälle ist, war er stets bemüht, sich über das Wesen des Zufalls klar zu werden.

Und wie wahr es ist, daß sich oft Dinge ereignen, die über unseren Verstand gehen und für die es vorläufig noch keine Erklärung gibt, zeigt das folgende Erlebnis:

In der Nacht vom 15. auf den 16. August 1769 hatte der große Fritz, der damals in Breslau weilte, diesen Traum, den er am nächsten Tage seinem Adjutanten erzählte: »Ich sah den Stern meines Königreiches und meines Genies leuchtend und strahlend am Himmel glänzen. Ich bewunderte seinen Glanz und seine Höhe, als plötzlich über meinem Stern ein anderer erschien, der mein Gestirn verfinsterte. Beide Sterne trafen sich in hartem Kampf; ich sah sie einen Augenblick ihre Strahlen kreuzen, und mein Stern, verdunkelt, bedeckt von der Größe des andern, sank bis zur Erde, niedergedrückt von einer Kraft, die ihn zu erlöschen und zu vernichten schien. Der Kampf war lange hartnäckig; endlich befreite sich mein Stern, aber mit knapper Not; er nahm wieder seine Stelle ein und glänzte weiter am Firmament, während der andere erlosch.« Erklärt es etwas, wenn man den mysteriösen Zusammenhang zwischen diesem Traum Friedrichs und der Geburt Napoleons einen Zufall nennt?

Nach der Schlacht von Jena, nachdem Napoleon zweimal Preußen besiegt hatte, fragte er Wieland: »Kennen Sie den Traum Friedrichs des Zweiten?«

»Ja, Sire.«

»Nun, und glauben Sie an Konstellation?«

»Der Traum ist wahr, Sire, das ist alles, was ich sagen kann.«

»Merkwürdige Drohung, dieser Traum; er kündet uns Unglück.«

»Wieso das, Sire?«

»Ja, Unglück, denn der Stern des Toten soll über den Stern des Lebenden triumphieren.«

So sonderbar das alles ist, man kann nicht zweifeln, daß dieser mystische Einschlag ein starkes Übergewicht in allen Handlungen Napoleons hatte. So stark seine Willenskräfte auch wirkten und sein konzentrierter Verstand Herr über seine Leidenschaften war – er vertraute oft blindlings seinem Stern, der ihn, wie er oft selbst gestand, sicher durch alle Schlachten führte.

Maeterlinck hat diesen unerklärlichen Hang der Menschenseele, auf die unterbewußten Stimmen zu hören, in einem besonderen Buche untersucht. »Der fremde Gast« nennt er diesen prophetischen Warner in unserer Brust, jenen hellseherischen Unsichtbaren, den wir bald als das Unbewußte, bald als das Unterbewußtsein bezeichnet haben und der nur in jenen Geschöpfen seine Stimme mit Nachdruck erhebt und seinen Willen durchzusetzen weiß, die nicht nur mit dem Kopfe leben, die nicht nur in Börsenschiebungen, Jobbereien, Krämergeschäften und anderen materiellen Nichtigkeiten aufgehen, sondern die der dunklen Gottheit hingegeben sind, die uns ebenso sicher durch das Leben geleitet wie sie unschuldige Kinder an Abgründen entlang zum Ziele führt. Die gestalt- und formlosen Gefühle, die sich manchmal zu Visionen formen, die inneren Kräfte, die Schwache zuweilen in Giganten wandeln, die Ahnungen, die uns hellsichtig und voraussichtig machen, die unbestimmten Unruhen, die alle Nerven aufpeitschen, das oft unbegreifliche Zaudern und Haudern, wenn wir vor Gefahren, Ungemach oder Schreck gewarnt werden sollen, die erstaunlichen Manifestationen aus unbekannten Welten, Träume, die wie Offenbarungen wirken, unerklärbare Intuitionen, die über alle Menschenkraft gehen, Inspirationen, die plötzlich aus der Nacht unseres Wesens aufleuchten, alles das sind mystische Geschenke jenes namenlosen allnamigen »fremden Gastes«, die wir nur nicht zu würdigen und mit denen wir noch nichts anzufangen wissen.

Maeterlinck umtastet diesen fremden Gast mit seinen Verstandesfühlern und sucht sein unfaßbares Wesen greifbar zu machen, wenn er sagt: »In den dunkelsten Tiefen unseres Ich lenkt es unser wahres Leben, das unsterbliche, unbekümmert um unser Denken und alle Hervorbringungen unseres Verstandes, der unsere Schritte zu leiten wähnt. Es allein kennt die lange Vergangenheit vor unserer Geburt und die endlose Zukunft, die auf unsern Abschied von dieser Erde folgt. Es ist diese Zukunft und diese Vergangenheit selbst, es umfaßt alle, von denen wir geboren sind, und alle, die aus uns entstehen werden. Es vertritt im Individuum nicht nur die Gattung, sondern auch das, was ihr vorausgeht und ihr nachfolgt und hat weder Anfang noch Ende. Darum wird es durch nichts berührt und durch nichts erregt, mit Ausnahme dessen, was sein eigenes Wesen angeht. Mag uns eine Freude oder ein Leid begegnen, es weiß augenblicklich, was sie wert sind und ob sie die Quellen des Lebens öffnen oder verschließen. Es ist das, was sich nie irrt. Umsonst beweist ihm der Verstand mit zwingenden Gründen, daß es sich im Irrtum verliert; es schweigt in seiner starren Maske, deren Ausdruck wir noch nicht erfaßt haben, und setzt seinen Weg fort. Es behandelt uns wie inkonsequente, urteilslose Kinder, gibt nie eine Antwort auf unsere Einwände, versagt uns, um was wir es bitten und überschüttet uns mit dem, was wir abweisen. Gehen wir zur Rechten, so führt es uns zur Linken. Pflegen wir die und die Tugend, die und die Fähigkeit, die wir zu besitzen glauben oder gern besäßen, so begräbt sie es unter irgendeiner andern, auf die wir nicht gefaßt waren und die wir nicht haben wollten. Es rettet uns aus einer Gefahr, indem es unsern Gliedern unverhoffte, untrügliche Bewegungen gibt, die sie nie gemacht haben und die den ihnen beigebrachten zuwiderlaufen; es weiß, daß die Stunde noch nicht gekommen ist, wo alle Verteidigung umsonst ist. Es wählt unsere Liebe trotz des Sträubens unseres Verstandes oder unseres armen kurzlebigen Herzens. Es lächelt, wenn wir uns fürchten, und bisweilen fürchtet es sich, wenn wir lächeln. Und stets gibt es den Ausschlag, demütigt den Verstand, zermalmt die Weisheit und erlegt den Vernunftgründen wie den Leidenschaften das verächtliche Schweigen des Schicksals auf. Die größten Ärzte sitzen an unserm Krankenbett und täuschen sich und uns mit der Versicherung unserer Genesung oder unseres Endes; es allein flüstert uns die entscheidende Wahrheit zu. Tausend scheinbar tödliche Schläge fallen auf uns herab, ohne daß es mit der Wimper zuckt; aber eine ganz geringe Erschütterung, die unsere Sinne nicht mal unserm Verstand übermittelt haben, weckt es jählings auf. Dann richtet es sich empor, blickt um sich, begreift. Es hat den Spalt in der Wölbung, die unsere beiden Leben scheidet, klaffen sehen und gibt das Zeichen zur Abreise. Sofort verbreitet sich Panik von Zelle zu Zelle, und der gewaltige Zellenstaat, der wir sind, stößt Schreckens- und Klagerufe aus und drängt sich wild um die Pforten des Todes.«

Vom Orakel zu Delphi und noch weiter zurück in die Zeit, als die ägyptischen Astrologen noch mit ihren Göttern sprachen, bis hin zu der verrufenen alten Vettel unserer Tage, die in irgendeiner verfallenen Baracke aus schmutzigen Karten »wahrsagt«, zieht sich eine gerade Straße, die uns an den altjüdischen Propheten, mittelalterlichen Horoskopstellern, Geisterbeschwörern, Besessenen, Zauberern, Jesubräuten, Ekstatikern, Heiligen, Yogis, Fakiren, Geistersehern, Gedankenlesern, Hellsehern, Magnetiseuren, Hypnotiseuren und Medien vorüberführt.

Alle denken an die gleiche Kraft; den Wilden und den Höchstkultivierten hat sie sich zu allen Zeiten in gleicher Weise offenbart. Über den ganzen Erdball ist sie verbreitet, den Tieren selbst ist sie bekannt. Und der Mensch tut sie ab und verweist sie verächtlich in das Gebiet des Zufalls. Aber ist der Zufall nicht eine bloße Umschreibung für das Unbekannte? Selbst Denker von eisiger Klarheit sind hin und wieder von diesem Glauben an das Übernatürliche ergriffen worden. »Welcher Philosoph« – fragt Kant – »hat nicht einmal zwischen den Beteuerungen eines vernünftigen und festüberzeugten Augenzeugen und der inneren Gegenmacht eines unüberwindlichen Zweifels die einfältigste Figur gemacht, die man sich vorstellen kann?«

Dann aber sind unsere Märchen mehr als bloße Seifenblasen, an deren opalisierendem Glanz sich die Kinder freuen. Die Kinder glauben. Und es ist darum ganz natürlich, daß in ihnen, deren Seele vom Verstand noch nicht an die Wand gedrückt ist wie die des Erwachsenen, diese Stimme des Übernatürlichen vernehmlicher spricht als in uns, die wir vor lauter Verstand schon blöde geworden sind.


 << zurück weiter >>