Wilhelm von Polenz
Das Land der Zukunft
Wilhelm von Polenz

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Ausblick

Um ganz zu würdigen, was die Neue Welt schon heute für die allgemeine Kultur bedeutet, denke man sich Amerika einmal ganz weg aus der Menschheitsentwicklung.

Schon einmal ist der große Erdteil im Westen ja entdeckt gewesen von Männern unsres Bluts. Aber damals, als Leif, der Sohn Erics des Roten, das westliche Festland betrat, war die Zeit noch nicht reif für solchen Fund. Gräber nur, keine Ansiedlungen haben die kühnen nordischen Seefahrer in jenem Lande zurückgelassen, das sie »Vinland« tauften. Es war nur ein kurzes Lüften des Vorhangs gewesen, der sich darauf für mehrere Jahrhunderte nur um so dichter zwischen zwei Erdhälften senkte.

Mit Recht wird von der Entdeckung Amerikas eine neue Geschichtsepoche datiert. Nicht die 414 Auffindung eines Landes, dessen Schoß Gold und alle edelsten Schätze der Natur in paradisischer Fülle barg, war das Epochemachende; der Wert dieser Entdeckung lag auf geistigem Gebiete, war transzendentaler Natur. Wilhelm Bölsche schreibt: »In jener Nacht vor Guanahani ist die innere starre Kristallsphäre des Menschengeistes von Jahrtausenden tatsächlich gesprungen.«

Damals stand die Erde ja noch fest, und die Sonne bewegte sich als gehorsamer Trabant um sie. Erst die Ausfahrt des Kolumbus und in erhöhtem Maße die Umseglung des Erdballs durch Magellan gaben endgültig Aufschluß über die Gestalt unsers Gestirns. Die tellurische Tatsache, daß es auf dieser Kugel kein Oben und kein Unten gibt, heute jedem Schulkinde geläufig, wurde unsern Altvordern für die Erkenntnis des Kosmos von höchster Bedeutung. Von nun ab reißt die Kette großer Forscher nicht mehr ab, die auf einfachen geographischen Tatsachen fußend, die Treppe ihrer Folgerungen kühn in den Himmel hineinbauen. Wenige Jahrzehnte nach der mit nachtwandlerischer Sicherheit ausgeführten Indienfahrt des Genuesers zerstörte Kopernikus ein für allemal den langlebigen Aberglauben eines Ptolemäus vom geozentrischen Weltsystem. Nun endlich war die Zeit reif für die Lüftung des trennenden Vorhangs; die Erweiterung des Welthorizonts folgte auf dem Fuße.

Wir können uns die Wirkung von Amerikas Entdeckung auf die Mitlebenden kaum stark genug vorstellen; etwa so, als würde heute unwiderleglich festgestellt, daß der Mars von menschenähnlichen Wesen 415 bewohnt sei, mit denen wir in Verbindung treten könnten. Von dem Augenblicke ab, wo die Neue Welt entdeckt war, hat sie die Phantasie, die Begierde, die Hoffnung der Menschen nicht wieder zur Ruhe kommen lassen. Es war, als ob sich in einer Felswand über Nacht ein Tor geöffnet hätte, dahinter strahlten die Schätze aus Tausend und einer Nacht blendend hervor. Und es waren nicht immer gerade die besten Eigenschaften, die der unerhörte Fund in denen, die sich zunächst herandrängten, entfesselte. Amerika ist jeder Rasse, jedem Volke, jedem einzelnen Ansiedler zum Prüfstein geworden dessen, was sie wert waren. Heute hat es seine Jugend-Gärung hinter sich; es steht im Familienkreis der alten europäischen Völker wie ein eben mündig gewordener jüngerer Bruder.

Wir sind eines Geschlechts. Was uns zusammen bindet mit unsichtbaren oft glühenden Ketten, ist das Menschenlos mit aller Tragik und mit aller Lust. Bei noch so großer Verschiedenheit der Lebensbedingungen hat die Neue Welt an den Grundlagen des Menschlichen doch nichts geändert. Vom Weibe unter Schmerzen geboren brauchen wir alle nur wenige Schuh Bodenraum zur letzten Ruhestätte. – Ich habe drüben im Urwalde, in der Prärie, weit von allen menschlichen Ansiedlungen, einsame Gräber gesehen, nichts von Schmuck daran, höchstens ein Holzzaun zum Schutz gegen die Tiere. Bei manchen dieser verwaisten Grabstätten kündete nicht einmal eine Inschrift, wer unter dem verfallenden Hügel schlummere. Einzig der Odem der Wildnis, der über das Gras dahinstrich, schien Anteil zu nehmen an diesen 416 Vergessenen. Nie ist mir die Welt größer, die Zeit ewiger, der Mensch kleiner erschienen, als beim Anblick solcher Gräber. Je älter das Menschengeschlecht wird, je mehr es wächst an Zahl, wie an Können, Wissen, Erfindung, desto kleiner wird der einzelne, desto unbedeutender sein Schicksal. Mit allem Erkennen vermehren wir nur die Größe des Kosmos; immer stärker und verwirrender wird die Resonanz des erweiterten Weltenraums. Menschliche Macht, menschliches Vermögen wird zum Zwerg, erscheint wie Maulwurfsarbeit auf einem riesigen Felde. Was sind alle Vanderbilts, Rockefellers, Morgans, wenn unter der Ewigkeitsperspektive betrachtet? – –

Wir, die gerade Lebenden, gleichen den Passagieren eines gewaltigen Ozeandampfers. Schwerer Sturm hat die Nacht über getobt. Der Morgenwind fegt eben die grauen Nebelschleier von den Wellenkämmen. Der Meeresgrund unter uns und die Wolkenwand vor uns enthalten manch düstre Drohung. Die Nadel steht in eine unsichre Zukunft gerichtet; aber wir finden Trost darin, in den Zügen der Mitreisenden unsre eignen Gedanken und Hoffnungen wiedergespiegelt zu sehen.

Alles Große und Gute bindet uns mit den Brüdern ebenso fest zusammen, wie die Tragik des Menschenloses. Ist es nicht erhaben, daß ein schöner Gedanke, hier gedacht, drüben die Herzen von Tausenden erheben mag, daß eine Melodie, hier gefunden, jenseits der Ozeanwölbung Millionen schönheitsdürstender Menschen beglückt, daß eine Erfindung, dort ersonnen, uns hier zu Lande vorwärts hilft bei unsrer Arbeit. Nichts beweist 417 deutlicher den innigen Zusammenhang alles Lebens, nichts klarer die Ewigkeit des Geistes.

Eines ist vonnöten: wir müssen uns frei machen von allem kleinlichen Neide. Die Tatsache einer größern Welt, als die unsrige bisher gewesen ist, bedeutet Glück für uns und Wohltat für unsre Kinder. Die Erde der Alten war eine Scheibe, erst durch die Entdeckung der andern Hälfte ward sie zur Kugel. Mit einem Schlage bekam die Welt einen neuen Durchmesser, einen neuen Himmel und einen neuen Horizont.

Der Bau, den die Menschheit aufführt, an dem sie sich müht seit jenen ins Dunkel des Schöpfungsmorgens gehüllten Tagen, da unser Vorfahr sich bewußt zu unterscheiden begann von der übrigen Kreatur, dieser ehrwürdige Bau rundet sich unter den Händen der Baumeister. Jedes Volk der Erde hatte scheinbar für sich geschaffen, die Weltgeschichte schien mosaikartig zu zerfallen, die Kultur aus Millionen unverbundner Atome zu bestehn. Heute sehen wir, daß nicht allein die gewordne Natur eine Einheit ist, auch die Menschheitsentwicklung stellt einen festgefügten Organismus dar.

Wir stehen auf dem obersten Kranze des großen Baus. Die Bauleute von hüben und drüben rufen einander Worte des Einverständnisses und der Ermutigung zu. Die Anfänge des Werks verschwinden in purpurnen Tiefen urzeitlicher Vergangenheit. Immerfort stürzen Individuen, Völker, ganze Rassen ab in den dunkeln Raum unter uns. Nur die Tüchtigen bleiben eine kurze Spanne auf ihrem Posten und reichen dann die Werkzeuge der Arbeit weiter an die Kommenden. 418 Aber jede neue Generation übernimmt den Bau etwas höher als die abtretende. Der Himmel über uns bewacht unser Tun, ein großes, nie schlummerndes Auge. Wir bauen ihm zu. Nicht daß wir ihn jemals wirklich erreichen könnten, aber im Streben machen wir uns seine Tiefe zu eigen.

»Wirken so lange es Tag ist!« bleibt die Losung aller rüstigen Männer und tapfern Frauen, die, mögen sie ihr Vaterland diesseits oder jenseits des Ozeans haben, das Angesicht gegen die Zukunft gewandt, ihre Seele nach der Ewigkeit ausschicken.

 


 

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Ausserdem zahlreiche Artikel in deutschen, englischen, französischen und amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften, vor allem in der »Deutschen Rundschau«, der »Deutschen Monatsschrift«, den »Grenzboten«, der »Zukunft«, der »New Yorker Staatszeitung«, der »Columbia« u. a. m.

 


 


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