Wilhelm von Polenz
Das Land der Zukunft
Wilhelm von Polenz

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Grenzen des amerikanischen Aufschwungs

Wenn man in Deutschland eine Enquete veranstalten wollte über die Gefahren, von denen das Vaterland gegenwärtig am meisten zu befürchten habe, so würde der einzelne Befragte je nach Stand, Temperament, Partei, Konfession etwa antworten: am gefährlichsten seien die Sozialdemokraten, die Jesuiten, die Kapitalisten, die Agrarier, oder als die brennendste Frage erscheine ihm die Judenfrage, die Mittelstandsfrage, die Frauenfrage, die innere Kolonisation, die Ostmarkenfrage, die Strafrechtsreform, oder auch die Kanalfrage und der Zolltarif.

Wahrscheinlich würde eine solche Enquete noch viel mehr Antworten bringen. Die Buntheit dieses Resultats wäre für unsre verwickelten Verhältnisse charakteristisch. Die Neue Welt kennt nicht annähernd so viele Fragen, die die Gemüter der Volksfreunde ernsthaft beschäftigen könnten. Jeder sogenannten Frage liegt doch eben eine eingebildete oder eine wirkliche Gefahr zu Grunde. In Nordamerika nun sind die allgemeinen, der ganzen Nation drohenden Gefahren vielleicht geringer an Zahl, aber sie sind auch viel wilder und gewaltiger als die bei uns. Es sind keine Schreckgespenster, die durch Besonnenheit gebannt 143 werden könnten, sondern wirklich brennende, allgegenwärtige Nöte.

Ich meine vor allem die Rassenfrage und sodann die Einwandrerfrage. Beide stehn miteinander in enger Verbindung, ihnen gesellt sich der Kindermangel in den höhern Ständen gefahrdrohend für die Rassenqualität hinzu. Eine Stellung für sich haben, obgleich auch sie sich untereinander beeinflussen, die Arbeiterfrage, die Agrarfrage, das Anwachsen der Industriezentren und die Zusammenballung ungeheurer Vermögen in wenig Händen.

Das Rassenproblem hat Friedrich Ratzel in seiner »Politischen und Wirtschaftsgeographie der Vereinigten Staaten von Amerika« in unübertrefflicher Weise behandelt, und er hat damit eine Lücke, die der Engländer James Bryce in seinem großen Werke »The American Commonwealth« offen gelassen hatte, glücklich ausgefüllt.

Ratzel sah vor zehn Jahren in dem Vorhandensein von sieben und einer halben Million Neger in den Vereinigten Staaten eine ernste Gefahr für die Nation; inzwischen sind es annähernd acht Millionen geworden. Ratzel behauptete sehr richtig, daß mit einer weitern Verminderung des europäischen Zuwachses, die er nach dem damaligen Stande der Einwandrung vermuten konnte, der Prozentsatz der farbigen Bevölkerung relativ wachsen müsse. Nun ist die Einwandrung seitdem rapid angeschwollen, die von Ratzel vorhergesagte Gefahr nach dieser Richtung also nicht eingetroffen. Aber eine andre Erscheinung hat ein für die 144 Bevölkerungszusammensetzung viel schlimmeres Ergebnis gebracht; die Einwandrung aus Europa zeigt nämlich neuerdings bei rascher Zunahme der Zahlen immer weniger Vertreter hochstehender, reiner, gesunder Rassen und Nationalitäten, während der Zuzug von allerhand verbrauchten, unreinen und untüchtigen aus dem untersten Boden des europäischen Völkerkessels entsprechend zunimmt.

Den Negern gegenüber verschwinden die übrigen Farbigen in Nordamerika an Zahl und Bedeutung. Die Indianergeschichte ist ein betrübendes, für den Yankee wenig ruhmreiches Kapitel, das jedoch der Vergangenheit angehört. Die Einwandrung der Chinesen, die eine Zeitlang arges Kopfzerbrechen verursachte, ist durch ein Verbot, das nur wenig Klassen ausnimmt, zum Stehen gebracht. Hier lag die Gefahr auch nicht im Gebiete des Rassenproblems; die Chinesen kamen ohne Frauen und heirateten nicht in Amerika. Ihr Streben ging auf Gelderwerb. Gegen die Unterbietung durch billige Chinesenarbeit lehnte sich vor allem die organisierte Arbeiterschaft von Nordamerika auf. Daß nach wie vor durch Umgehung des Gesetzes oder auf dem Umwege über Kanada und Mexiko einzelne Chinesen in die Vereinigten Staaten gelangen, steht fest; aber ihre Zahl ist zu klein, als daß man noch ernsthaft von einer »gelben Gefahr« sprechen könnte. Die Mulatten aber gehören nach ihrer eignen Auffassung und gemäss der Haltung der Amerikaner ihnen gegenüber zu den coloured people, also in dieselbe Klasse wie der Nigger.

Man sollte meinen, daß neun oder zehn Prozent Schwarzer in einem Volke von der Unverwüstlichkeit 145 und dem Vorwärtsstreben der Amerikaner nicht viel bedeuten könnten. Ja nach einer Richtung möchte es als Glück erscheinen, daß bei der bekannten Abneigung der Yankees für Dienstbotenstellungen, für jede Art Abhängigkeit überhaupt, ein Volksstamm in ihrer Mitte lebt, der die verpönte Arbeit nur zu gern auf die geduldigen Schultern nimmt. Bequem sicherlich sind die Schwarzen als Kellner, Schlafwagendiener, Stiefelwichser, Hausknechte, Plantagenarbeiter und die Negerinnen als Dienstmädchen und Köchinnen. Aber diese Bequemlichkeit wird teuer bezahlt nach einer andern Richtung. Dieselben Eigenschaften nämlich, die den Nigger höchst geeignet machen für den dienenden Stand, seine Gefügigkeit, seine Urteilslosigkeit, das mangelnde Selbstbewußtsein, kurz seine Sklaveninstinkte, machen ihn auch zu einem Diener des weißen Mannes in der Politik. Einige Jahre nach dem Bürgerkriege hat er das Recht zugesprochen erhalten, als freier Bürger der Vereinigten Staaten zu wählen und gewählt zu werden. Die Peitsche seines frühern Herrn, des Sklavenhalters, hat er niemals so sehr hart empfunden, denn mit der Züchtigung ging Hand in Hand jene Fürsorge, die schließlich jeder kluge Wirt für sein Eigentum übrig hat. Und vor allem, er brauchte als Sklave nicht selbst für sich zu sorgen und zu denken; das war seinem Leichtsinn und seiner Gedankenlosigkeit sehr bequem. Jetzt aber ist er mit der politischen Befreiung auch wirtschaftlich auf eigne Füße gestellt worden. Er ist in den Kampf um das tägliche Brot geworfen. Die neuen Herren, die er gegen die 146 patriarchalischen der alten Zeit eingetauscht hat, sind zum Teil unpersönlicher Natur: Eisenbahnkompagnien, Hotelgesellschaften, Kohlenminen; sie prügeln ihn nicht, aber mit Glacéhandschuhen fassen sie ihn auch nicht an. Die politischen Vorrechte, die er gewonnen hat, erweisen sich als ziemlich illusorisch in der Praxis; er wird ja doch nur als Stimmvieh benutzt, und nur ausnahmsweise läßt man ihn in die Ämter und Stellungen gelangen, auf die er vollen Anspruch hat.

Der Staat betrachtet die Farbigen angeblich als die »Wards of the Nation«; aber gesellschaftliches Vorurteil erweist sich auch in Nordamerika stärker als offizielle Grundsätze. Die Gesellschaft lehnt jede intimere Berührung mit denen ab, die auch nur durch einen Rest von Farbe zeigen, daß ihr Blut nicht rein ist. Man will keine Vermischung. In vielen Staaten ist die Heirat zwischen Weißen und Farbigen direkt verboten. In den Krankenhäusern, Gefängnissen, Arbeitsanstalten, Kleinkinderbewahranstalten, Blinden- und Taubstummeninstituten werden die Neger von den Weißen strengstens abgesondert gehalten. Man könnte sich nicht vorsichtiger gegen Pestkranke abschließen. Die Colour Line ist von den vielen Widersprüchen zu der praktischen Betätigung der Gleichheit und Brüderlichkeit, die man drüben theoretisch verficht und als ein Charakteristikum der Neuen Welt so hoch rühmt, wohl der ärgste.

Stärker als die Paragraphen der Konstitution und kräftiger und tiefer gegründet als alle Moralsätze der Ethiker sind eben die Instinkte der Rasse. Mehr als bloßes Vorurteil ist die Abneigung gegen die anders 147 gefärbte Haut. Grausam wie immerhin die Abschließung der Weißen gegen die Farbigen erscheinen mag, äußert sich doch in ihr ein gesunder sittlicher Arterhaltungstrieb, ein Gefühl für Reinlichkeit im höhern Sinne.

Die Negerfrage würde viel leichter zu nehmen sein, wenn die Schwarzen einigermaßen gleichmäßig über die verschiednen Staaten der Union verteilt wären. So aber sitzt die große Mehrheit innerhalb des sogenannten Black Belt, in den »dunkeln« Staaten, die um den Unterlauf und die Mündung des Mississippi liegen. Ungünstig und das Problem verwickelnd wirkt ferner, daß dies gerade die Striche sind, die durch den Bürgerkrieg schwer gelitten haben, deren Boden durch fortgesetzten Baumwoll-, Zucker- und Tabakbau ausgesogen ist, deren Klima die Feldarbeit für den Weißen erschwert, die demnach die besten Elemente der Ansiedlung: die Einwandrer teutonischer und britischer Abkunft, unmöglich anziehn können. Ja die Anwesenheit so vieler ehemaliger Sklaven wirkt abschreckend auf den weißen Mann. Vielfach verlassen deshalb gerade die gebildetsten und anständigsten Leute diese Länder, an deren Fortschritt sie verzweifeln; auf diese Weise müssen die dunkeln Staaten natürlich immer dunkler werden im bildlichen wie im tatsächlichen Sinne.

Bitter rächt sich die Sünde der Sklaveneinfuhr an diesen Gebieten, die zu ihrer wirtschaftlichen Erschließung vor drei Jahrhunderten dort ihren Anfang genommen hat. Für die Schwarzen haben sich die Vereinigten Staaten dann in den blutigsten, langwierigsten Bürgerkrieg gestürzt, der wie kein andrer ihren Bestand in 148 Frage stellte. Die Abolitionsidee hat in frühern Generationen viel Begeisterung und idealen Sinn entfesselt, für ein bloßes Phantom ist das Blut der Freiheitskrieger auf keinen Fall geflossen; dieser große Kampf erst hat die Nord- und die Südstaaten zu einer dauernden Einheit zusammengeschweißt, partikularistisch-sezessionistischen Bestrebungen ein für allemal ein warnendes Quos ego! zugerufen und der Außenwelt bewiesen, daß die als Krämervolk verschrieene Nation für eine Idee das Schwert zu ziehn bereit war. Aber die hochgehenden Erwartungen jener Philanthropen, die den befreiten Schwarzen eine große Zukunft voraussagten, haben sich nicht erfüllt.

Der Nigger hat in der jahrzehntelangen Freiheit, die er nun genießt, dargetan, daß er bei vielen guten und sympathischen Eigenschaften ein untergeordneter Typus ist und bleibt. Seine Mängel liegen nicht im Intellekt, sondern im Charakter. Es fehlt ihm die Zuverlässigkeit und das Verantwortlichkeitsgefühl des weißen Mannes. Seine Kraft liegt in ungewöhnlicher Anpassungsfähigkeit, die den oberflächlichen Beobachter dazu verleiten kann, ihn für originell zu halten. Seine Talente, die unleugbar sind, weisen sich bei näherm Zusehn als Affentalente aus. Charakteristisch dafür ist, daß schwarze Kinder in der Schule weit mehr versprechen, als sie im spätern Leben halten. Die ganze Rasse zeigt kindliche Urteilslosigkeit und Lenkbarkeit. Der Freedmann scheint von Natur dazu bestimmt zu sein, nicht wie der Indianer vor dem Kaukasier allmählich hinzuschwinden, sich vielmehr zu erhalten, zu 149 vermehren, bis zu einem gewissen Grade sich sogar zu vervollkommnen, aber schließlich, von der härtern Energie und bewußtern Kraft der weißen Herrenrasse unterworfen, sich führen und bevormunden zu lassen.

Die Verantwortung für ihre Schwarzen ist also nach wie vor den Yankees aufgebürdet geblieben. Die Bestrebungen, den Nigger durch Bildung zu heben, sind nur teilweise geglückt; über eine gewisse Stufe hinaus kann der Abkömmling afrikanischer Stämme, wie es scheint, nicht gefördert werden. Auf dem Gebiete der öffentlichen Sittlichkeit müssen die leicht zu Exzessen neigenden Nigger scharf im Zaume gehalten werden. Richter Lynch spielt gerade den Farbigen gegenüber gern die Rolle der Justiz. Aber auch die Bundes- und die Staatsgesetze werden mit besondrer Strenge gegen diese Bürger zweiter Klasse angewandt. Zu Geschwornen wählt man sie ganz selten. Den farbigen Delinquenten gegenüber wird der Richter nur zu leicht zur Partei.

Am schlimmsten jedoch sieht sich der befreite Schwarze mißbraucht in der Politik. In den Baumwollstaaten gibt es sowieso viele Elemente der Korruption; es fehlen dort gerade die Stände, die im übrigen Nordamerika die solideste Grundlage abgeben für Staat und Gesellschaft, die weißen Farmer vor allen Dingen. Die großen Plantagen der ehemaligen Kavaliere sind, soweit sie nicht wüst liegen, in kleine Parzellen aufgeteilt und werden vielfach von Schwarzen besessen oder auch gepachtet. Weder als Landwirte noch als Bürger jedoch können sich diese kleinen Baumwollzüchter mit dem 150 rüstigen Farmerstande des Nordens und des Westens messen. Genau wie ihre Brüder in den Städten sind diese Zwerglandwirte der gewissenlosen Ausnutzung frivoler Politiker ausgeliefert. Gerade in Nordamerika, wo die politische Korruption blüht wie nirgendwo anders, ist ein leidlich intakter Stand wie der der Farmer, der bei wichtigen Entscheidungen sein gesundes Urteil in die Wagschale wirft, von unberechenbarem Werte. Der Nigger aber ist schlimmer als Stimmvieh; früher bezahlte man seine Stimme, bestach ihn oder schüchterte ihn mit dem Revolver ein, jetzt hält man auch das kaum noch für nötig; seine Stimme wird einfach nicht gezählt. So fügt sich zum wirtschaftlichen Stillstand dieser Striche auch noch die sittliche Verderbtheit. An alledem aber ist der gefügige, harmlose, gutartige Nigger schuld, der wie eine weiche Masse alle schlechten Eigenschaften und Einflüsse der Weißen auf sich einwirken läßt und gerade durch seine Haltlosigkeit der stärkern Rasse zur verhängnisvollen Versuchung wird.

Die Yankees behandeln den Nigger als einen fremden Bestandteil ihres Volkstums, als Bürger hat er nur Rechte in der Theorie, die Gesellschaft hält ihre Türen ängstlich vor ihm verschlossen; vor ihm und nur vor ihm macht die Amerikanisierung mit Bewußtsein Halt. Wie verhalten sich nun aber die Angloamerikaner den andern Fremden gegenüber, die in hellen Haufen, Obdach und Bürgerrecht suchend, alljährlich an den Pforten der Neuen Welt anklopfen?

Die weißen Bürger der Union stammen ja sämtlich von Vorfahren ab, denen Nordamerika das Land ihrer 151 Wahl gewesen ist. Wenn man von den Resten der indianischen Urbevölkerung, von den Schwarzen und den Chinesen absieht, ist Europa die alleinige Mutter des Volks von Nordamerika. In frühern Jahrhunderten waren es vor allem die Abenteuerlustigen, Kühnen, Aufgeweckten, die unabhängigen Charaktere, auf die die Neue Welt magischen Reiz ausübte. Damals war der Ozean, der die Kontinente heute mehr verbindet als trennt, noch ein Hindernis, das zu überwinden Mut voraussetzte. Gewaltiger Druck, sei er konfessionell, politisch oder wirtschaftlich, gehörte dazu, die wurzelstarke Landbevölkerung Englands oder Deutschlands aus ihren angestammten Sitzen zu treiben und sie zu veranlassen, mit Weib und Kind eine Reise anzutreten, die nach Monaten zählte, von der es eine Rückkehr ins Vaterland nicht gab. Alle großen Unglücke in Europa, seien es wirtschaftliche Krisen, Revolutionen, Kriege, Tyrannei, religiöse Verfolgung, Mißernten, haben die Schwärme europamüder Zugvögel vermehrt, deren letzter Grund zum Auswandern jedesmal Unzufriedenheit in irgend einer Form gewesen ist. Durch die Sünden Europas ist Amerika groß geworden.

Die heutige Auswandrung nach Amerika zeigt auch in ihren Anlässen ein ganz anderes Bild. Die Völker von Europa haben sich seit der großen Revolution zu einer Freiheit durchgekämpft, die Tyrannendruck, Leibeigenschaft, Gewissenszwang in ihren gröbsten Formen ausschließt. Wirtschaftliche Gründe vor allem sind es, die die Leute heutzutage über das Wasser treiben. Der Wunsch, ein eignes 152 Anwesen zu besitzen, ein Wesenszug des deutschen Charakters, hat nach dem siebziger Kriege gerade in der Zeit, wo unser Landvolk durch große Ereignisse, an denen es teilgenommen hatte, zum Selbstbewußtsein erwacht war, viele unsrer Landsleute aus dem endlich geeinigten Vaterlande weggelockt. Es kam hinzu, daß ein Jahrzehnt vorher in den Vereinigten Staaten das Heimstättengesetz erlassen worden war, das eine beinahe kostenlose Landprämie dem garantiert, der bereit ist, sich auf Regierungsland niederzulassen und eine Heimstätte zu gründen. Dieser Generosität der amerikanischen Gesetzgebung gegenüber stand die Engigkeit deutscher Verhältnisse, die hohen Abgaben, der Militärdienst, die gutgemeinte Bevormundung der Behörden, die das Landvolk doch meist als unnütze Schurigelei empfindet. Später freilich füllte sich der Westen Nordamerikas schnell auf, und das Land wurde auch dort teurer, während bei uns durch die Arbeit der Ansiedlungskommission für Posen und Westpreußen und durch die Rentengutsgesetzgebung im eignen Lande auf einmal viel Grund und Boden für kleine Landwirte frei wurde. Zwischen innerer Kolonisation, Ostmarkenpolitik und verminderter Auswandrung besteht ein Zusammenhang, der, soviel ich sehen kann, bisher nicht genügend gewürdigt worden ist.

Während die deutsche Wandrung nach Amerika abnimmt, hat sich die nordische vermehrt. Die Schweden, Norweger, Schotten treibt sicherlich vielfach das trostlose Klima und die Ärmlichkeit des Bodens von ihren rauhen Küsten westwärts. Nicht mehr die altgermanische 153 Wanderlust, sondern Not in irgend einer Form veranlaßt diese Bauern, ihre jahrtausendelang gehaltnen Sitze mit einem Kontinent zu vertauschen, der noch immer jungfräulichen Boden in Fülle bietet. Die germanische Wandrung hat von jeher etwas elementares, gewaltiges, unwiderstehliches gehabt; es fehlte ihr auch in modernen Zeiten nicht der Zug von Größe, Heldentum und Wucht, der die Völkerwandrung zu einer so eigentümlichen Erscheinung macht.

Viel weniger einheitlich und klar in den Anlässen ist die Einwandrung, die sich neuerdings aus dem Süden und dem Osten Europas in stetig zunehmender Menge nach den Vereinigten Staaten ergießt. Der Völkerkessel Österreich-Ungarn mit den angrenzenden altpolnischen und südslavischen Gebieten ist am stärksten daran beteiligt. Aber auch Italien, Portugal, Griechenland, Rußland schicken starke Auswandrerscharen. Diese Wandrung ist, verglichen mit der angelsächsisch-teutonischen, ein Abstoßen von Ausschuß. Nicht mehr die Kühnsten, Kräftigsten, Gesündesten greifen nach dem Wanderstabe, sondern im Gegenteil die Elenden, Verkommenen, Verstoßenen, die, für die es keinen heroischen Entschluß bedeutet, das alte Europa zu verlassen, weil sie kein eigentliches Heim, kein Vaterland haben.

Während Nordamerika früher vor allem das Ziel der Bauern und der Handwerker war, die ihr Leben verbessern wollten, zieht es jetzt alle zigeunerhaften Existenzen an sich, die, dem Plankton des Meeres vergleichbar, von der Strömung hierhin und dahin getrieben 154 werden. Neuerdings machen die durch und durch internationalen Juden einen verhältnismäßig starken Prozentsatz der jährlichen Einwandrung in die Vereinigten Staaten aus. Besonders aus Italien fahren viele Arbeiter im Frühjahr als Saisonarbeiter über das Meer und kehren im Herbst zurück; eine unsrer Sachsengängerei ähnliche Erscheinung, nur daß sie interozeanisch ist. Für die Irländer ist, auch nachdem England zartere Saiten gegen Paddy aufgezogen hat, Amerika das bevorzugte Land seiner Wahl geblieben.

Es ist durchaus begreiflich, daß die Vereinigten Staaten angefangen haben, ihr Augenmerk mit verstärktem Interesse der Einwandrungsfrage zuzuwenden; die Zuwandrung von Hunderttausenden jährlich ist eben die wichtigste Erscheinung ihrer Rassenbildung. Man muß sich den Amerikanern gegenüber immer die Tatsache gegenwärtig halten, daß sie als Volk noch nicht fertig sind. Der Zufluß fremden Bluts ändert fort und fort die Zusammensetzung der Rasse. Die Nation der Angloamerikaner läßt sich vergleichen mit einem mächtigen Strome, dessen Quellgebiet und Oberlauf wohl festgelegt ist, der aber aus wasserreichen Nebenarmen starken Zufluß erhält, durch den sein Unterlauf langsam aber sicher einen veränderten Charakter erhält.

Kein andres Volk der Welt ist in dieser Weise durch eine jahrhundertelang fließende Einwandrung entstanden. Einzig steht aber auch die Tatsache da, daß ein Volk seine eigne Rassenbildung, die doch meist etwas von Natur gegebnes sein wird, durch Gesetze regelt, wie es die Amerikaner zu tun sich anschicken.

155 Im Hafen von Newyork liegt eine winzige Insel mit einigen unscheinbaren Gebäuden: Ellis Island, jedem Zwischendeckspassagier wohlbekannt. Hier ist der dichte Filter, den die Regierung der Vereinigten Staaten für die Einwandrung von Europa her, die ja bei weitem zum größten Teil über Newyork geschieht, eingerichtet hat. Die Kontrolle ist von der äußersten Schärfe und wird nach Gesetzen geübt, wie man sie mit so rücksichtsloser Strenge in Amerika nur dem Ausländer gegenüber anzuwenden wagt.

Aus folgenden Ursachen können Einwandrer zurückgewiesen werden: weil mit ekelhaften oder ansteckenden Krankheiten behaftet, weil geistig unzurechnungsfähig, weil arm, weil Verbrecher, wegen Verdachts der Polygamie, des Anarchismus oder unsittlichen Gewerbes, schließlich auch, wenn unter Arbeitskontrakt eingeführt.

Diese Gründe sind sämtlich dehnbar und beliebig auslegbar; sie werden vom Commissioner-general of Immigration, der in diesem Departement unumschränkt regiert, durchaus autokratisch angewandt. Wer das »Land der Freiheit« in Ellis Island betritt, macht zunächst mit der Rückseite der Demokratie, nämlich mit der Willkür Bekanntschaft. Zwar die gesetzliche Regelung des Einwandrerwesens hat die schlimmsten Mißbräuche, die früher an der Tagesordnung waren, abgeschafft. Die Fremden sind den Agenten, Maklern, Landhaien, Rowdies, die ehemals ganz offen einen schwunghaften Menschenhandel trieben und den bittersten Blutzoll erhoben, nicht mehr rettungslos ausgeliefert, doch kommen auch jetzt noch arge Härten von Amts wegen vor. 156 Eheleute werden getrennt, ganze Familien auseinandergerissen, indem man einzelne Mitglieder einwandern läßt, andre abweist. Amerika ist sehr heikel in Bezug auf die Qualität seiner Einwandrer; es ist vorgekommen, daß man Leute wegen allzugroßer Häßlichkeit abgewiesen hat. Und gegen einen solchen Spruch, der häufig über ein Schicksal entscheidet, gibt es natürlich keinerlei wirksame Berufung.

Wie kleinlich solche Maßregeln auch auf den ersten Blick erscheinen mögen, so ist doch nicht zu verkennen, daß sie einer weitschauenden, voraussorgenden Politik entspringen. Die Union hat an den acht Millionen Schwarzen einen schweren Bissen zu verdauen, die Chinesengefahr hat ihr Beschwerden genug gemacht, als daß sie nicht auch gegen die Einwandrung von Europa her bedenklich werden sollte, besonders seit diese die Tendenz zeigt, in der Quantität zuzunehmen, in der Qualität aber nachzulassen.

Die Einwandrung des Jahres 1902, die nächst der von 1882 die stärkste jemals erreichte gewesen ist, brachte nahezu achtmalhunderttausend Fremde auf dem Seewege in die Vereinigten Staaten; davon kam der Löwenanteil mit 178 000 auf Italien, dann kommt Österreich-Ungarn, darauf Rußland. Deutschland steht erst an fünfter Stelle nur mit 28 000, es wird sogar durch Schweden-Norwegen und Dänemark zusammen mit 54 000 übertroffen. Die reichsdeutsche Einwandrung hatte im Jahre 1882 ihren Gipfel mit 250 000 in zwölf Monaten erreicht; Österreich-Ungarn sandte damals nur 29 000, und Rußland, das jetzt mit 157 107 000 auftritt, gar nur 21 000 Auswandrer nach Amerika. Japan, das es jetzt schon auf 14 000 jährlich gebracht hat, schickte damals überhaupt noch keine Leute über den Stillen Ozean.

So haben sich in zwei Jahrzehnten die Verhältnisse verschoben. Interessant ist, daß die relativ wenigsten Illiteraten aus Deutschland, Skandinavien und Großbritannien stammen, am schlimmsten stehn darin, der Reihenfolge nach, Italien, Österreich-Ungarn, Rußland da. Begreiflicher noch findet man diese Erscheinung, wenn man aus der Statistik ersieht, daß das Gros der italienischen Einwandrer nicht aus dem kultivierten Norden, sondern aus dem Süden und aus Sizilien stammt, und daß Österreich seine Leute aus Unterungarn, Slavonien, Kroatien und Galizien, Rußland die seinen aus den polnischen Distrikten schickt.

Daß die Neue Welt einem Bevölkerungszuwachs von so gemischter Herkunft mit geteilten Gefühlen gegenübersteht, ist wohl nicht weiter zu verwundern, und daß die Union Einrichtungen trifft und Gesetze erläßt, wie zum Beispiel die Bestimmung, daß jeder Einwandrer eine Summe Geldes aufzuweisen hat, und daß er sich auf seinen Gesundheitszustand hin prüfen lassen muß, erscheint nur berechtigt. Ernsthaft erwogen wird in den gesetzgebenden Versammlungen, ob man Illiteraten nicht ganz ausschließen solle von der Einwandrung. Dabei spielt nicht etwa Angst vor der Unbildung die Hauptrolle – es gibt in den Vereinigten Staaten genug eingeborne Illiteraten –, sondern die Erkenntnis steht hinter dieser Maßregel, daß man sich mit einer solchen 158 Prüfung elementarer Schulkenntnisse die übelsten Elemente vom Halse halten würde. Man hat eben seit einiger Zeit drüben zu unterscheiden gelernt zwischen erwünschten und unerwünschten Einwandrern. Zu den allererwünschtesten gehören neuerdings die Reichsdeutschen, die man früher als Damned Dutchmen so ganz über die Achsel anzusehen pflegte.

Die nicht zu leugnende Tatsache, daß sich die Einwandrung der letzten zehn, zwanzig Jahre nach Rasse, Moral, Bildung, Körperkraft verschlechtert hat, muß den amerikanischen Volkswirt mit Besorgnis erfüllen. Die niedrigern Rassen und Klassen zeigen auch hier die Neigung, sich stärker fortzupflanzen als die höhern; so droht auch von dieser Seite der Blutmischung eine ernste Gefahr. Aber es wird auch durch diese, an eine andre Lebenshaltung gewöhnten proletarischen Menschen der amerikanische Arbeiter mit seinen hohen Ansprüchen an Nahrung und Kleidung unterboten und gedrückt. Ferner bringen Nationalitäten wie Süditaliener, Tschechen, Polen, Kroaten, Slovenen außer allerhand schlechten Lebensgewohnheiten auch eine höchst zweifelhafte bürgerliche Gesinnung ins Land. Die Freiheitsliebe der Yankees und ihre äußere Disziplinlosigkeit sind himmelweit verschieden von den gesellschaftsfeindlichen Anschauungen und Trieben der Italiener, Polen und Irländer. Als gegen die Anarchisten gerichtet kann man wohl das in allerletzter Zeit angenommene Gesetz betrachten, wonach die Einwandrung solcher Personen verboten ist, die eine feindliche Gesinnung gegen die Regierung der Vereinigten Staaten hegen.

159 Während die Einwandrer germanischen Ursprungs meist als Ackerbauer ins Land gehn, oder wenn sie in den Städten bleiben, doch schnell ein Handwerk ergreifen, haben diese unbrauchbaren Zuzügler die Neigung, in den großen Städten hängen zu bleiben, sich in den Industriegebieten anzuhäufen. Ähnlich den Iren, die von jeher die Großstadt bevorzugten, weil es da Politik zu machen und Ämter zu ergattern gibt, setzen sich auch Italiener, Polen und Tschechen instinktiv da fest, wo Unruhen zu erwarten sind. Die Semiten aber hält das Geschäft an der Stadt fest. In manchen großen Städten findet man schon ganz ausgesprochne Judenviertel; und wenn man in bestimmte Straßen Newyorks gerät, glaubt man sich plötzlich nach Italien versetzt. Die Amerikanisierung ist den Yankees bisher glänzend an Teutonen, Kelten und Galliern geglückt, ob sie denselben Erfolg bei Juden, Italienern und Slaven haben wird, ist mehr als zweifelhaft. Die Physiognomie gewisser einflußreicher Kreise Newyorks beweist, daß auch in der Neuen Welt dem Semiten die Eigenschaft nicht abhanden gekommen ist, das eigne Wesen unverändert zu wahren und das Wirtsvolk durch seine Art tief zu beeinflussen.

Die amerikanischen Staatsmänner würden sich keinen Augenblick bedenken, auch gegen Europa hin das Tor der Einwandrung zuzumachen, wie sie es gegen die Chinesen geschlossen haben, wenn das möglich wäre, aber die Vereinigten Staaten können jetzt noch nicht der Zuwandrung entbehren. Sie ist im Laufe der Jahrhunderte zu einer feststehenden Einrichtung 160 geworden, von der wiederum andre Erscheinungen von hoher volkswirtschaftlicher Bedeutung abhängen, so zum Beispiel die westwärts gerichtete Binnenwandrung, die, gleichsam dem Drucke der europäischen Einwandrung nachgebend, sich in die leeren Räume des Westens ergießt. Amerika hat noch unendlich viel Land, das nur mit Hilfe von Fremden urbar gemacht und angebaut werden kann. Es fehlt drüben nicht bloß im Ackerbau an Händen. Ganze Berufsarten und Stände rekrutieren sich aus Eingewanderten. So sind die meisten Dienstboten, wenn nicht Farbige, dann Irländer, Deutsche oder Slaven, die Kellner Deutsche, die Waschanstalten befinden sich in chinesischen Händen. Auch in Heer und Marine kommen die Yankees nicht mit dem eignen Menschenmaterial aus.

Das Schließen der Pforten aber wird immer schwieriger, jemehr die Vereinigten Staaten mit der imperialistischen Politik ihre Machtgrenzen nach allen Seiten hinauszuschieben trachten. Abschließung und Expansion widersprechen einander.

Die qualitative Verschlechterung der Einwandrung wäre an sich noch nicht so bedenklich, wenn nicht damit eine interne Erscheinung des amerikanischen Lebens, die Rassenentwicklung ungünstig beeinflussend Hand in Hand ginge: die Abnahme der Geburten in den höhern Ständen. Die Bewohner der Neuenglandstaaten haben schon lange aufgehört, ein kinderreicher Stamm zu sein. Als Ursachen des auffälligen Kindermangels werden sehr verschiedenartige Dinge angegeben. Vielfach wird dem Klima die Schuld in die Schuhe 161 geschoben; dieser Theorie widerspricht aber der Kinderreichtum der französischen Familien von Kanada und der Deutschen in Pennsylvanien. Wahrscheinlicher schon klingt die Version, daß die Hast, Unruhe und Intensität des nervenaufreibenden amerikanischen Lebens die Fruchtbarkeit praktisch und physisch zum Ding der Unmöglichkeit mache. Die Ehe wird nicht in dem Maße von den amerikanischen Mädchen als Lebensglück angesehen und erstrebt wie von dem Durchschnitt der unverheirateten Frauen in Europa. Die Ehe mehr hindernd als befördernd wirkt auch die ganze Atmosphäre, in der die Frau drüben lebt, ihre Verwöhnung in der Gesellschaft, ihre Selbständigkeit im bürgerlichen Leben, die Freiheit der Berufswahl und des Studiums. Ohne Blaustrumpf zu werden, wird das amerikanische Mädchen im College doch in einer Welt heimisch, die von der des praktischen Haushalts so verschieden ist wie die Flitterwochen von der Wochenstube. Sicherlich spielt hierbei auch eine bedeutende Rolle die gemeinsame Erziehung von Knabe und Mädchen, das ungenierte, die Sinnlichkeit zurückdrängende Verkehren der Geschlechter von Jugend an. Das nüchterne, verstandesmäßige Denken, das sich die Amerikanerin im öffentlichen Leben, im Geschäft, in der Hochschule angewöhnt hat, legt es ihr nahe, auch die Ehe als ein Rechenexempel zu betrachten, und bewirkt, daß sogar dann, wenn sie eine Verbindung eingegangen ist, kühle Erwägung die Oberhand behält. Torheiten der Sinne wird sie ebensowenig begehn wie Irrtümer des Herzens, weil bei ihr jederzeit der kluge 162 Kapitän »Verstand« auf der Kommandobrücke des Lebensschiffleins steht.

Und schließlich sind es wirtschaftliche Gründe, die einen reichen Kindersegen, der bei uns als Gottesgabe angesehen wird, drüben als schwere Last, und je höher die Ansprüche an das Leben sind, zu einer um so drückenderen Last machen. Alles, was sich dem Luxus nähert, ist in Amerika zwei-, dreimal so kostspielig wie bei uns. Die Dienstbotenlöhne sind geradezu unerschwinglich. Die Frauen aber sind verwöhnt, der Gedanke an Hausfrauen- und Mutterpflichten, den das deutsche Mädchen als selbstverständliche Zugabe der Ehe betrachtet, ist ihnen ein Greuel. Viel lieber als die Hausfrau zu spielen, geht die Amerikanerin in die Fabrik, ins Bureau oder wird sie Lehrerin. Es kommt darin ein feiner Egoismus zum Ausdruck, eine Unlust, die natürlichen Pflichten des Weibes auf sich zu nehmen, die sicher zur Unnatur führen. Sünde gegen den heiligen Geist der Familie ist es, wenn junge Paare, statt ein eignes Heim, sei es noch so bescheiden, zu begründen, ins Hotel ziehn oder ins Boardinghouse, wie es jetzt drüben mehr und mehr Mode wird. Unter solchen unnatürlichen Verhältnissen kann die Frau selbstverständlich die Mutterpflichten nicht freudig auf sich nehmen. Der Malthusianismus spielte und spielt eine bedeutsame Rolle in Nordamerika, und man scheut sich nicht, seine praktischen Konsequenzen zu ziehn. Den Volksfreunden machen solche Erscheinungen schwere Sorgen. Präsident Roosevelt nennt das Nichtheiraten ein »Verbrechen gegen die Rasse«.

163 Davon ist natürlich keine Rede, daß, wie im modernen Frankreich, der Bestand der Nation durch Sterilität bedroht würde. Aber neben dem starken Prozentsatz von Farbigen und neben der zunehmenden Einwandrung geringen Volks ist der Kindermangel bei den Ständen, die nun einmal der Sauerteig der Nation sein wollen und bisher auch gewesen sind, für die gesunde Weiterentwicklung der anglo-amerikanischen Rasse eine wirkliche Gefahr.

Daß es in einem Volke, das sich im Laufe des verflossenen Jahrhunderts von 5⅓ Millionen auf 76 Millionen vermehrt hat, irgendwo im Wirtschaftsleben an Menschenkräften fehlen könnte, ist schwer zu glauben, und doch kann man behaupten: die amerikanische Konkurrenz, schwer wie sie sich schon jetzt für Europa fühlbar macht, ist allein darum noch nicht erdrückend geworden, weil zur vollen Ausnutzung und Ausbeutung aller in Amerika schlummernden Schätze und Naturkräfte bisher nur die zureichende Menschenkraft gefehlt hat.

Vor allem merkt man das in der Landwirtschaft. Es gibt auch in der Neuen Welt eine Agrarfrage; diese besteht aber nicht in einem Mißverhältnis von Arbeit und Verdienst, in mangelhafter Verteilung des Grund und Bodens, in hohen Bodenpreisen und geringen Erträgen – von all diesen schweren Sorgen, die das tägliche Brot der deutschen Landwirte sind, ist drüben nur ganz vereinzelt etwas zu spüren. Der amerikanische Farmer kämpft auch einen Kampf, aber nicht den um die Existenz, sondern einen minder tragischen: den um die Höhe seiner Rente.

164 Die Landwirtschaft wird drüben immer zweierlei voraus haben vor der deutschen – sogar bei gleicher Güte des Bodens –: einmal größere Zuverlässigkeit des Klimas, die der Verteilung der Arbeit über das ganze Jahr die erwünschte Stetigkeit gibt, und die billigen Bodenpreise. Deshalb kann der amerikanische Landwirt auch bei viel höhern Löhnen gedeihen, wo der deutsche mit dem, was er gestern gewonnen hat, das Loch zustopft, das heute entsteht. Die Natur hat drüben auch für den Landmann auf das gütigste vorgesorgt. Aber der Mensch hat, da er an einen allzu reichlich gedeckten Tisch kam, durch gieriges Zulangen vieles früh aufgezehrt und verschwendet.

Das Bundesheimstättengesetz von 1860 bedeutet eine Agrarreform, wie sie so umfassend und einschneidend noch niemals ein moderner Staat unternommen hat. Mit Hilfe dieses Gesetzes konnte jeder Einheimische oder eben Zugewanderte nahezu umsonst ein Stück Land erwerben, das für eine Familie fast allzu reichlich zugemessen erschien. Ergänzt wurde dieses Gesetz ein Jahrzehnt später durch die Timber Culture Act, wodurch jeder Bürger ein großes Stück Prärieland unentgeltlich erhalten konnte, wenn er sich nur verpflichtete, einen Teil davon aufzuforsten. Die Grundidee dieser Gesetze entbehrte nicht hoher volkswirtschaftlicher Weisheit.

Aber wie so oft in Amerika, wurde auch hier die Tendenz einer an sich guten Verordnung durch mangelhafte Ausübung, völlige Nichtbeachtung und geschickte Umgehung in ihr Gegenteil verkehrt. Einmal beförderte 165 der Umfang der Heimstätten den Raubbau, zu dem der Yankee sowieso wegen seines nachlässigen und leichtsinnigen Charakters neigt. Der Mangel an Respekt vor der Natur, der drüben unsympathisch aus so vielem Menschenwerk spricht, fand ganz natürlich auf einem Boden Nahrung, der einem als leichterworbnes Geschenk gleichsam in den Schoß gefallen war. Die von dem Forstkulturgesetz vorgesehene Anschonung von Wäldern unterblieb natürlich so gut wie ganz. Die Maschen der Landgesetzgebung waren viel zu weit, als daß die gefährlichsten Fische, die sogenannten »Landhaie,« nicht hätten ungeniert durchschlüpfen können. Die Bodenspekulation, die schon vorher geblüht hatte, erhielt, statt durch das Heimstättengesetz unterbunden zu werden, nur neuen Aufschwung. Der Schwur nämlich, den der Käufer nach den Intentionen des Gesetzgebers leisten sollte, daß er das erstandne Grundstück ausschließlich für sich bebauen und bewohnen wolle, ohne Fremden dadurch einen Vorteil zuzuwenden, wurde die Grundlage zu einer wahren Industrie von Falscheiden. Das Spekulationsfieber ergriff die Farmer. Es entstand die vagierende Klasse von Landwirten, die so grundverschieden ist von den Bauern im guten Sinne, Menschen, die in keinem Gemütsverhältnis stehn zur Scholle, denen das zufällig erworbne Stück Land nur Mittel ist zum »landjobbing«, die immer nur an das Herausnehmen, niemals an das Hineinstecken und Verbessern denken, die den Raubbau zur Kunst erhoben haben.

Und das Gesetz hat auch den andern Übelstand, 166 den es nächst der Spekulation vor allem verhindern wollte, erst recht möglich gemacht, nämlich die Entstehung von Latifundien, desselben Großgrundbesitzes, der seinerzeit den Süden ruiniert hatte, der durch leichtfertige Vergebung von Staatsländereien an die großen Eisenbahngesellschaften stellenweise auch im Norden schon entstanden war. Latifundien, die doch dem Charakter einer Demokratie durchaus widersprechen, konnte sich nun jeder in der Union zusammenschachern, der ein paar Falscheide auf sein Gewissen nahm oder sich durch bezahlte Agenten die nötigen Besitztitel erschwindeln ließ.

Es ist dadurch in einzelnen Distrikten ein Landmonopol entstanden, das dem der berüchtigten ostelbischen Großgrundbesitzer nichts nachgibt an Ausschließlichkeit, das aber viel weniger historische Berechtigung hat. Der grundbesitzende Adel Preußens findet im großen und ganzen doch in der Bewirtschaftung des von den Vätern ererbten Grund und Bodens Halt und Lebensberuf. Die Bodenspekulation Nordamerikas aber gibt sich nur notgedrungen mit der Landwirtschaft ab; oft leben diese Leute in der Stadt oder gar in der Fremde. Die Neue Welt erlebt also den »Absentismus« der irischen und schottischen Lords in erneuter Auflage.

Wenn man die Schwierigkeiten aus eigner Erfahrung kennt, unter denen der deutsche Landwirt, sei er Großgrundbesitzer, Bauer oder Kleinstelleninhaber, seinem Erwerb nachgeht, und nun die Leichtigkeit sieht, mit der in Nordamerika jede beliebige Menge von Brotfrucht, Handelsgewächsen, Früchten, Leguminosen und 167 Fleisch erzeugt wird, so weiß man, wem das große Los zugefallen ist. Dem deutschen Landwirt einen Vorwurf daraus machen zu wollen, daß er nicht in ähnlich großem Maßstabe produziert, seine Wirtschaft nicht zu gleicher Einträglichkeit erhebt wie der Amerikaner, ist ungerecht und spricht nicht für Kenntnis der Verhältnisse. Die Industrie mag vielleicht die Arbeitsmethode und die Verwaltungsmaximen, die in einem andern Kontinente geübt werden, mit Erfolg bei sich einführen, die Landwirtschaft kann das nicht; sie ist unbeweglich und darum schwerfälliger. Einmal ist sie gebunden an den Grund und Boden und an das Klima, an die Natur überhaupt, und sodann ist sie von der Tradition abhängig.

Die geschichtliche Entwicklung hat nicht bloß dem Grund und Boden im Laufe der Jahrhunderte eine ganz bestimmte Staats- und Landeszugehörigkeit verliehen, sie hat das Land auch aufgeteilt, hier in große, dort in kleine Grundstücke, sie hat ländliche Stände geschaffen, wie den Großgrundbesitzer, den Vollbauern, den Gärtner und den Kätner, den ländlichen Tagelöhner. Sie hat im Erbrecht, in den Schuldverhältnissen, im Grundbuch, im Sachenrecht allgemein gültige Prinzipien festgelegt und Einrichtungen geschaffen, die Erwerben, Halten und Verlieren von Grund und Boden regeln. Der Stand der Landwirte ist wie kein andrer im Recht und in der Geschichte seines Volkes tief verankert. Von einem solchen Stande das Anpassungsvermögen und die Schmiegsamkeit des Handelsstandes verlangen, heißt dem Fische zumuten, daß er fliegen lernen solle.

168 Ganz andre bequemere Bedingungen, als die er daheim verlassen hatte, fand der europamüde Landmann in Amerika vor. Einen jungfräulichen Boden vor allem, weite unbesiedelte Strecken sodann, von denen er sich ein Stück nach eigner Wahl erwerben konnte, keinen Stand über sich, der ihn drückte, keinen neben sich, der ihm das Leben sauer machte, keine Hörigkeit, keine Konkurrenz, keinen Frondienst, keine Militärpflicht, keine Bureaukratie. Seine Grenzen fand dieser Glückliche scheinbar nur in der eignen Leistungsfähigkeit.

Man darf, wenn man die Blüte der amerikanischen Volkswirtschaft staunend betrachtet, den glänzenden Fortschritt bewundert, der diesen Landen in wenig Jahrzehnten das zu gewinnen erlaubte, wozu wir Jahrhunderte gebraucht haben, niemals vergessen, daß die Neue Welt auf den Schultern der Alten steht. In Europa ist das Lehrgeld gezahlt worden für Kenntnisse und Erfahrungen, die sie jetzt drüben auf weiterer Fläche, in größerer Freiheit anwenden. Kerntruppen gut geschulter Landleute haben wir durch das ganze neunzehnte Jahrhundert nach Nordamerika ziehn lassen und haben uns dadurch drüben die Konkurrenz großgezogen, die den Zurückgebliebnen das Leben verbitterte und zum immer wieder erneuten Anlaß wurde zur Auswanderung in die Länder, wo das Land so billig und die Erträge so hoch schienen.

Ein einziges Jahrhundert hat genügt, die amerikanische Landwirtschaft zu dem zu machen, was sie jetzt ist: zur gefährlichsten Rivalin für den Landbau der ganzen übrigen Welt. Vor dem Unabhängigkeitskriege 169 gegen das englische Mutterland dominierte die Baumwollzucht des Südens weitaus vor dem Ackerbau des Nordens. Erst mit der Erschließung des mittlern Westens begann die große Periode für Körnerbau und Viehzucht, der Siegeszug des Yankeefarmers, der, während er im eignen Lande nach Westen vordrang, in Europa seinen Produkten einen Markt nach dem andern unterwarf.

Es kamen hier zwei Umstände zusammen, wie sie so günstig nie wieder aufeinander getroffen sind: der rechte Mensch und das rechte Land. Die Einwanderung der tüchtigsten, arbeitsfrohesten, abgehärtetsten Männer aus den gesündesten und reinsten Volksstämmen der alten Kultur, und in der Neuen Welt ein jungfräulicher Boden, der Jahrtausende auf den scharfen Pflug und die säende Hand gewartet hatte. Braut und Bräutigam, die einander gefunden hatten.

Man kann das Glück, die Liebe, die Dankbarkeit verstehn, die der Bauer des alten Europas empfunden haben muß, als er in der Neuen Welt ein zweites, größeres und freieres Vaterland fand. Besitz eines Stückes Land, einer »Heimstätte,« die Möglichkeit, sich durch seiner Hände Werk das Leben zu verdienen, das war ja von jeher der Traum des Indogermanen, die Feuersäule, der er nachgezogen ist durch die Steppen Asiens über die Gebirge und die Ströme Europas, über die Nordsee und schließlich über den Ozean. Hier endlich fand der Deutsche, der Nordländer von Skandinaviens, Dänemarks, Finnlands Küste, der Schweizer, der Schotte, was ihnen im engen Europa 170 so oft verkümmert worden war, in Hülle und Fülle. Hier war er nicht mehr der verachtete Bauer oder Tagelöhner, hier schien er genau das wert zu sein, was er leisten konnte. Die Gesetzgebung drückte ihn nicht, sondern suchte ihn zu begünstigen; denn er war in diesem neuen Lande ein wichtiger Pionier der Kultur. In seinen starken Händen ruhte die Erschließung der Bodenschätze. Von seinem Fleiße hing die Ernährung einer rapid wachsenden Bevölkerung ab. Er zog die Herden groß und schuf die Ernten, mit denen man das Gold des Auslandes an sich lockte. Die Eisenbahngesellschaften kamen ihm entgegen, denn nur zu gut wußte der Unternehmer, daß der Landmann sein bester Kunde sein würde. Es entstand eine gegenseitige Befruchtung; der Schienenstrang wurde dorthin gelegt, wo der Ansiedler sich niedergelassen hatte, und der Lokomotive wiederum folgte der Farmer. Die Landwirtschaft bekam erst Lebensblut durch die billigen Transportwege. Die hohen Löhne aber, eine Folge wieder der dünnen Besiedlung, machten Zeitersparnis zum A und O des Betriebes und führten so zur Anwendung von Maschinenkraft, wo immer es ging.

So entwickelte sich die Wirtschaftsmethode, die der europäische Landwirt neidvoll betrachtet, durch die es dem amerikanischen Farmer ermöglicht ist, seine Produkte mit Hilfe sinnvoller Maschinen und Vorrichtungen nicht bloß zu säen und zu bestellen, sondern auch zu bergen und zu verladen und so vom Silo oder vom Elevator weg auf Wasser- und Landwegen leicht und sicher, unter Umgehung des Zwischenhandels, an 171 die entferntesten Märkte zu bringen. Ähnlich der Viehzüchter, der seine Herde direkt nach dem Schlachthofe treibt, ohne daß irgend eine Mittelinstanz ihm den Gewinn beschneiden darf. Dem Obstbau ermöglichen es die Kühlhäuser und Kühlwagen, die zartesten Früchte, sogar Beerenobst, lange zu konservieren und unbeschadet ihrer Qualität über die weitesten Strecken zu schaffen.

Man hört oft die Frage: Warum könnt ihr deutschen Landwirte nicht in derselben praktischen Weise verfahren wie die Yankees? Ihr seid durch eure Schwerfälligkeit selbst an eurem Unglück schuld! Darauf ist zu erwidern, einmal, daß in Deutschland, gerade durch die amerikanische Konkurrenz erzwungen, die Herstellung und Verwendung landwirtschaftlicher Maschinen große Fortschritte gemacht hat. Für manche Maschinen allerdings sind unser Terrain und unser Klima ungeeignet; vielfach verbietet auch Zersplitterung des Grundbesitzes die volle Ausnutzung der Maschinenkraft. Die amerikanische Viehzucht aber, die uns auch oft als Muster vorgehalten wird, setzt riesige Flächen billigsten Landes voraus, wie es in den weiten Regierungsländereien der westlichen Prärien zur Verfügung steht; sie setzt ein Klima voraus, das es gestattet, Vieh im Sommer und im Winter im offnen Corral, höchstens vom leichten Shed geschützt, zu halten. Die Ranchwirtschaft erspart also die für unsern Züchter oft so lästigen und kostspieligen festen Gebäude; sie spart aber auch an Leutelöhnen, denn auf tausend Stück Rindvieh kann man bei dieser Art wilder Viehzucht 172 mit einem berittnen Hirten auskommen. Und wenn wir auch Schlachthöfe hätten wie die von Chicago, würde es uns doch nicht möglich sein, unser Vieh tausende von Meilen quer durch das Land nach dem Bestimmungsort zu treiben.

Im Körnerbau aber ist die amerikanische Wirtschaftsmethode darum vor allem nicht bei uns anwendbar, weil wir auf Fruchtwechselwirtschaft und auf Brachen angewiesen sind. Wir müßen daher vielerlei Früchte auf verhältnismäßig kleinem Boden bauen, der anspruchsvollen Art die leichter zufriedenzustellende folgen lassen, während der Yankee sich meist nur auf ein Bodenprodukt wirft, je nach Lage und Klima auf: Weizen, Mais, Hafer, Tabak, Baumwolle. Sein Boden erlaubt ihm eine so einheitliche bequeme Wirtschaft, bei der unsre ärmern Böden nur zu schnell versagen würden. Wenn er Züchter ist, zieht er eine bestimmte Rasse, deren Merkmale er nach Möglichkeit heraustreibt, wenn Obstfarmer, baut er eine Fruchtgattung, und innerhalb dieser nur wenig Sorten. Oder er erhebt einen Nebenbetrieb zur Spezialität. So habe ich in Südkalifornien eine Blumenfarm gesehen von der Größe eines mäßigen deutschen Ritterguts, wo nur Same von zweierlei Zierpflanzen gezogen wurde.

Der amerikanische Farmer ist von Industriellen gar nicht so sehr weit entfernt. Er stellt seine Produkt beinahe fabrikmäßig her, möglichst viel gleichmäßige Ware. Sein Ziel ist Geld und nur Geld. Unser Landmann will von dem Ertrage seines Guts mit den Seinen leben; was dann noch übrig bleibt, ist sein Überschuß. 173 Der Yankee, der z. B. Weizen baut, wird alle Produkte. auch die tierischen, die er für seinen Hausstand braucht, vom Händler in der Stadt kaufen; der deutsche Bauer erzeugt noch heute seine Nahrung selbst, schon darum, weil er das Gesinde zum größern Teile mit Naturalien bezahlt. Und auf den Rittergütern unsers Ostens, wo der Lohn vielfach in Deputat besteht, leben Gutsherr, Beamte und Tagelöhner einschließlich ihrer Dienstboten und Familien von dem Ertrage des einen Guts. Während hier also noch Überbleibsel der alten Naturalwirtschaft in die neue Zeit hineinragen, sehen wir die amerikanische Landwirtschaft sich stark der reinen Geldwirtschaft mit industriellem Betriebe nähern.

Die extensive Wirtschaftsmethode, der der amerikanische Farmer huldigt, findet ihre Berechtigung einmal im Überfluß an Land, und ferner in dem hohen Preise menschlicher Arbeitskraft. Dieser extensive Betrieb hat aber seine großen Nachteile. Schäden, die sich auch dem Auge des oberflächlichsten Beschauers aufdrängen, sind: Verunkrautung des Ackers und ein Zunehmen der Insektenplagen, wie wir sie bei uns, Gott sei Dank, nicht kennen. Schlimmer aber noch sind die Nachteile, die der Bequemlichkeit des Augenblicks zuliebe der Zukunft als böse Erbschaft hinterlassen werden. Vom privatwirtschaftlichen Standpunkt aus mag es ja rationell erscheinen, wenn bei der Bodenkultur möglichst an Zeit, Geld und Mühe erspart wird; für die Volkswirtschaft als Ganzes ist es doch ein Verlust, wenn die Kräfte, die im Boden schlummern, nur oberflächlich genutzt werden, wenn gewissermaßen nur der Rahm 174 abgeschöpft und die dünne Milch überdies noch weggegossen wird.

Wirklichen Schaden am eignen Leibe empfinden die Yankees schon jetzt durch die Verwüstung der Wälder, die seit jenen entfernten Zeiten betrieben wird, wo die ersten Pioniere sich mit Axt und Feuer ein »clearing« im Urwalde machten. Gegen das Roden der Wälder zur Urbarmachung des Grund und Bodens ist nichts zu sagen, obgleich an manchen Stellen, ähnlich wie bei uns, in Nordamerika guter Wald wertvoller wäre als Feld von zweifelhafter Güte. Auch besäßen in vielen Distrikten die Ansiedler heutzutage ein bessres Klima, wenn ihre Vorgänger der Erhaltung der Gehölze und dem Bodenschutz durch Bäume, Sträucher und Streudecke mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätten. Zum unverzeihlichen Verbrechen aber wird die Waldverwüstung, wenn man sie, wie es neuerdings der Fall ist, zwecklos, achtlos, ja geradezu systematisch über das ganze Land übt.

Was die Eisenbahnen nicht vernichtet haben, deren Trakte durch meilenbreite, vom Funkenflug angesteckte, heute nur noch mit weißen Baumleichen bestandne, ehemals prächtige Waldbestände gehen, das vernichtet der Leichtsinn der Ausflügler mit ihren Picknickfeuern. Die Ziegen, Schweine, Schafe und Rinder der Farmer treiben sich unbewacht in den Gehölzen umher, lassen den jungen Nachwuchs nicht aufkommen und beschädigen die ältern Bäume. Am gierigsten aber und grimmigsten arbeiten die kleinen und großen Sägemühlen, die an den Wasserläufen entlang überall 175 hindringen, wo es noch guten Wald gibt. Sie wüsten im Material, als ob der Holzreichtum unerschöpflich wäre. Nur das Kernholz verarbeiten sie; der Abfall, aus dem wir noch die schönsten Bretter schneiden würden, wird verbrannt. Edeltannen, Zedern, Sequoia, Föhren von zehn, zwanzig Festmetern Inhalt werden in doppelter Manneshöhe über dem Boden abgeschnitten, der Stumpf bleibt dem Verfaulen überlassen, und wenn der herrliche Baum, den aufzubauen Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende nötig waren, zur Mühle geflözt und geschleppt ist, wird er häufig zu Schindeln kleingeschnitten. Neben jeder Mühle aber dampft ein mächtiger Haufen, wo Sägespäne und Holzteile verbrannt werden, die anderweit zu verwerten sich angeblich nicht lohnen soll.

Der Yankee hat sich, verführt durch Reichtum, Geduld und scheinbare Unerschöpflichkeit der Natur, ein blindes Wüsten in ihren Schätzen angewöhnt. Er scheint geradezu Freude am Vergewaltigen der Schöpfung zu empfinden. Zu diesem Behufe hat er die sinnreichsten Einrichtungen getroffen, die seiner Erfindungsgabe alle Ehre machen, aber seine Ehrfurcht vor Gottes Gabe und seine Scham vor der Kreatur keineswegs rühmen. So wurden die Büffel, das stolze Wild der Prärie, weil ihre Ausrottung den ungeduldigen Weißen nicht schnell genug von statten ging, schließlich mit einer Art von Kugelspritze beschossen. So werden noch jetzt an den Mündungen von Strömen und Flüssen, wo die wichtigen Aufstiegwege zu den Laichplätzen sind, Fischzüge großen Stils mit riesigen, durch Maschinen angetriebnen Netzen unternommen. Der 176 Wald in den Ost- und Nordoststaaten ist dem schrankenlosen amerikanischen Individualismus zum Opfer gefallen.

Es gibt natürlich auch in den Vereinigten Staaten Bestrebungen, die dem sinnlosen Verschwenden der Naturgaben entgegenarbeiten. Tierschutzvereine sind tätig, eine Liga für Baumpflege besteht, es ist ein Tag bestimmt, an dem jeder Amerikaner einen Baum pflanzen soll. Die Indianer haben ihre Reservationen, der Büffel wird an ein paar Stellen in Parks gehegt. Das Holzkulturgesetz hat die Tendenz, die Aufforstung der Prärie zu befördern. Viele Staaten haben Einrichtungen für den Forstschutz getroffen und sogenannte Fire-Wardens angestellt. Aber die besten Maßnahmen und Gesetze nützen in solchem Falle nichts, wenn nicht das ganze Volk mit ernstem Willen dahinter steht. Es wird in Amerika unendlich viel geschrieben und gesprochen über die Notwendigkeit rationeller Forstwirtschaft zur Erhaltung der noch bestehenden Wälder, schon um der nicht mehr abzuleugnenden Verschlechterung des Klimas Halt zu gebieten. Vor mir liegt der siebente Jahresbericht des »Chief Fire Warden« von Minnesota, der in drastischer Weise durch Wort, Bild und graphische Darstellung die Verwerflichkeit des amerikanischen Raubbaus illustriert und demgegenüber Beispiele aus der deutschen Forstwirtschaft zur Nachahmung anführt. Hie und da merkt man also Zeichen des bösen Gewissens. Man sucht dem Fremden gegenüber nach Entschuldigungen und Bemäntelung des jetzigen Zustandes. Aber der 177 Vorsatz, selbst Hand anzulegen zur Besserung oder nur schonender umzugehen mit den Wäldern, hat die große Menge noch nicht durchdrungen.

Neuerdings erwerben vereinzelte reiche Leute Waldbesitz, nicht um die Bäume rücksichtslos zu schlagen und den Boden dann wüst liegen zu lassen, wie es früher Mode war, sondern um den Wald für sich und ihre Nachkommen zu schonen, von den Zinsen, nicht vom Kapital der Forsten zu leben. Bei keinem andern Wirtschaftszweig hat der Großgrundbesitz so tiefe Berechtigung, ja ist er geradezu das einzig vernünftige, wie beim Forstbau. Nur der Besitzer einer größeren Waldfläche kann rationell wirtschaften. Umgekehrt wie bei der Landwirtschaft verführt beim Wald der Kleinbesitz zum Raubbau.

Endlich in zwölfter Stunde fängt auch der Staat an, besonders bedrohte, weil besonders kostbare Strecken Landes, vor der Verwüstung durch die Menschen zu schützen. Die Nationalparks verdanken diesem gewiß guten Gedanken ihre Ausnahmestellung. Der Wald, der, soweit er nicht bereits verschleudert ward, noch im Bundeseigentum ist, steht unter Aufsicht der Division of Forestry.

Charakteristisch für die Laxheit der Eingebornen auf diesem Gebiete ist es, daß ein Deutscher kommen mußte, um die Amerikaner auf die Schädigung hinzuweisen, die sie durch Vernachlässigung eines wichtigen Wirtschaftszweiges dem Nationalvermögen zufügten. Karl Schurz erst hat als Staatssekretär des Innern durch einen inzwischen berühmt gewordnen 178 Bericht den Anstoß gegeben zur Einrichtung des Forstschutzes. Vor allem hat Schurz den für Amerika noch nicht proklamierten, in Deutschland längst befolgten Grundsatz aufgestellt, daß es Strecken gibt, die von Natur dazu bestimmt sind, Wald zu sein, und daß man die Volkswirtschaft schädigt, legt man solche Strecken nieder, ohne sie wieder aufzuforsten, oder versucht sie in Ackerland, das immerdar minderwertig bleiben muß, umzuwandeln.

Seitdem sind mancherlei Verbote erlassen worden gegen Waldfrevel; aber wie so oft in Amerika stehen die Gesetze nur auf dem Papier. Die kleinen Diebe hängt man, die großen läßt man laufen. An die kapitalkräftigen Sägemühlenbesitzer und Waldspekulanten, an die allmächtigen Eisenbahngesellschaften mit ihrem Grundbesitz wagt sich der Arm des Richters nicht heran. Und gerade hier wäre der Hebel anzusetzen. Solange dem Großkapital erlaubt ist, an einem der kostbarsten Güter der Nation Raubbau zu treiben, werden alle Schutzmaßregeln Flickwerk bleiben. Einige kleine Risse und Löcher am Bau kleistert man zu, während mächtige Hände daran sind, das Ganze abzutragen.

Die Grenzen der Schleuderwirtschaft sind auch im Landbau schon an vielen Stellen erreicht, wenn nicht überschritten worden; vor allem im Osten, wo armer Boden und ältere Besiedlung zusammentreffen. Hier stehn viele Farmen leer, und der Boden fällt wieder der alten Verwilderung anheim. Damit auch Nordamerika seine Ruinen habe, zeigt der Süden 179 auf ausgesognem Plantagenland die Überbleibsel alter Sklavenhalter-Herrlichkeit.

Auch die Benutzung der Maschinen hat ihre Grenze, besonders im schwierigen, steinigen oder abschüssigen Terrain. Je mehr sich aber das Land füllt, desto sicherer wird auch unbequemes und geringes Land unter den Pflug genommen werden müssen. Haushalten und sparen, Dinge, die dem deutschen Landwirt durch die Not anerzogen worden sind, können dem Yankeefarmer auf die Dauer auch kaum so fremd bleiben wie heute. Man wird sich drüben zum Düngen bequemen müssen, das man an den vielen Stellen, wo die Natur reiche Reserven von Nährstoffen im Boden angesammelt hatte, bisher überhaupt kaum kannte. Hackfrucht und Brache wird zwischen den reinen Körnerbau eingeschoben, rationelle Fruchtfolge angenommen werden müssen. Diese Maßregeln aber setzen vermehrte menschliche Arbeitskräfte voraus.

Hieran jedoch fehlt es. Schon heute können die höchsten Löhne, die zum Bestellen des Landes und zum Bergen der Ernte nötigen Arbeiter nicht mehr heranlocken. Die Farmerssöhne, bisher der beste Ersatz des fehlenden Tagelöhnerstandes, werden ihren Eltern weggelockt durch Industrie, Handel und nicht am wenigsten auch durch die gelehrten Berufe. In den großen Städten, die einerseits ja die besten Konsumenten ländlicher Produkte sind, ist genau wie bei uns dem Landbau eine arge Gefahr erwachsen; sie ziehn den Landmann an wie das Licht die Motten, proletarisieren ihn und machen ihn für die eigentliche 180 Landwirtschaft unfähig. In der Großstadt bleibt aber neuerdings auch ein guter Teil von den Einwandrern hängen, die sich früher dem platten Lande zuwandten.

Die Agrarfrage in Nordamerika ist tatsächlich eine Menschenfrage. Höhere Löhne, als sie sie jetzt schon zahlt, kann die Landwirtschaft drüben nicht ertragen, besonders da die Bodenpreise längst nicht mehr so niedrig wie ehemals sind, und da der natürliche Bodenreichtum an vielen Stellen von der durch den Raubbau hervorgebrachten Müdigkeit abgelöst wird. Auf den Farmen aber, die in Händen von Geldleuten oder Gesellschaften sind, die nicht selbst wirtschaften, drücken der übertrieben hohe Pachtschilling und die kurzen Pachtungstermine den Pächter und machen ihn zu einem Werkzeuge des mobilen Kapitals.

Das bedeutsamste »Halt!« wird der amerikanischen Landwirtschaft durch die Natur selbst zugerufen. Ein großer Teil des westlichen Nordamerikas nämlich ist dem Ackerbau und auch der Viehzucht verschlossen durch die Felsigkeit und die steile Lage im Hochgebirge, durch Dürre, Wassermangel und das Vorkommen von Salzen im arid West, die vereinigt das Wachstum aller edlern Pflanzen verhindern. Zu der Wildheit des Gebirgscharakters und der Kahlheit der Wüste tritt in diesen Strichen die Unberechenbarkeit des Steppenklimas kulturerschwerend hinzu. Glühende Sommer ohne Niederschläge, eisige Winter, Frühjahrsfröste und orkanartige Stürme bedrohen Ernten wie Viehbestände.

In dieser regenarmen Zone hängt für den Feldbau fast alles von der Möglichkeit künstlicher Bewässerung 181 ab. Die Natur hat auch hier dem Menschen bedeutsame Winke gegeben; mitten im wüstenartigen Lande liegen Oasen überall da, wo ein Quell zutage tritt, ein Bach, ein Fluß seine erfrischenden Wellen hinträgt. Schon die Indianer hatten angefangen, Bewässerungsanlagen zu bauen, und die Spanier waren ihnen darin nachgefolgt. Die Mormonen machten mit Hilfe der künstlichen Bewässerung aus dem Salzseedistrikt fruchttragendes Land. Jetzt sind die Yankees drauf und dran, überall, wo im Westen gutes Wasser in günstiger Lage auftritt, es für die tiefer gelegnen wasserarmen Distrikte nutzbar zu machen. Der Erfolg ist in der Tat überraschend. Man glaubt zu träumen, wenn man tagelang durch kahle, graue Steppe gereist ist, die nichts hervorbringt als dürres Gras, Kakteen und den bittern Sage-Brush, wo die bleichenden Gerippe und Schädel der Pferde und Rinder von Seuche, Wasserarmut und Futternot erzählen, und man kommt mit einem Mal in eines der durch Bewässerung aus dem Wüstenboden gezauberten Paradiese, wo neben dem dunkelgrünen Alfalfa, Mais, Weizen, Hopfen, Wein, Pfirsiche, Orangen, Melonen alle Feld- und Gartengewächse in herrlicher Fülle und Pracht gedeihen. In solchen Oasen trifft man dann freudig überrascht auch das, was dem amerikanischen Lande mit seinen Einzelhöfen sonst fehlt: dorfartige Anlagen. Der Wasserlauf lädt zu geschlossener Ansiedlung ein, und seine Ausnutzung zum werktätigen Zusammenschluß der Anwohner.

Der Unternehmungsgeist der Yankees hat hier ein weites Feld gefunden, auf dem sicherlich großes 182 geleistet werden kann, wenn man erst die Wasservergeudung, die jetzt noch getrieben wird, einschränkt, und wenn man eine vernünftige Regelung der rechtlichen Seite der ganzen Frage gefunden haben wird. Aber die Erwartung, daß durch Bewässerung ein überwiegend großer Teil des arid West der Bodenkultur gewonnen werden könne, ein Projekt, das vom amerikanischen Optimismus längst als gelöst ausposaunt worden ist, wird wohl immerdar eine schöne Hoffnung bleiben. Die Rocky Mountains sind von Natur nicht wasserreich; ewiger Schnee, die beste Nährmutter der Gewässer, ist in den südlichen wasserbedürftigsten Teilen des Gebirgsstocks nicht vorhanden. Das Wasser mancher Flüsse ist zudem seiner mineralischen Bestandteile halber dem Pflanzenwuchse schädlich. Viele Wasseradern und Seen liegen auch zu tief, als daß sie für die höher liegenden Landstrecken überhaupt in Frage kommen könnten.

Trotzdem hat die künstliche Bewässerung für den regenarmen Westen, das ist für den fünften Teil der Vereinigten Staaten, die allergrößte Bedeutung. Zwei Vorzüge hat der Boden des arid West vor den Strichen voraus, wo häufiger Regenfall den Pflanzenwuchs befördert: er ist nicht ausgelaugt, das heißt: seine mineralischen Verwitterungsstoffe sind nicht ausgewaschen vom Wasser. Ferner ist der Boden fast durchweg leicht, oft in pulverförmigem Zustand; tote, undurchlässige Böden fehlen ganz. Dadurch kann die Verwitterung tiefer dringen, und wenn es dem Menschen gelingt, Wasser auf dieses seiner besten Bestandteile nicht beraubte Land zu 183 bringen, dann schlagen die Pflanzen tief Wurzeln und holen sich aus den natürlichen Nährstoff-Reserven der untern Schicht die herrlichste Kraft. Es entsteht unter tropischem Sonnenbrand ein Wachstum, das an's Märchenhafte grenzt.

Die Berieselung durch Wasser hat den Vorzug, daß sie allen Fruchtarten zugute kommt, und daß sie jede Wirtschaftsweise fördert. Großbetrieb wie Kleinbetrieb bis zum Zwerg-Gartenbau hinab gedeihen dort, wo Staubecken und Kanäle das Wasser sammeln und es in feinen Adern und Äderchen über das Land verteilen. Die Riesenfarm mit Zuckerrüben- und Weizenbau sowohl als der Orangenhain und das Blumengärtchen sind an dieselbe Lebensbedingung geknüpft. Die Irrigation ist darum wie gemacht, die leichtfertige Wirtschaftsweise der Yankees von Grund aus zu modeln, sie weist gebieterisch auf intensive Ausnutzung des Grund und Bodens hin. Ein Stück Prärieland, das bisher vielleicht nur wenigen Rindern oder Schafen magere Kost gewährte, mag, wenn berieselt, tausenden von Menschen Auskommen und Lebensfreude schenken.

Die Zukunft der künstlichen Bewässerung ist, soviel ich sehen kann, von deutschen Volkswirten durchweg nicht genügend gewürdigt worden. Die Irrigation hat nicht nur für die ariden Striche Bedeutung, sondern für ganz Amerika, ja für die gesamte Weltwirtschaft. In dem Maße wie es gelingt, größere Strecken der westlichen Wüsteneien fruchtbar zu machen, wird das sowieso von Ost nach West rückende Dichtigkeitscentrum der Bevölkerung in beschleunigtem Tempo 184 nach der pacifischen Küste zu wandern. Das Volk von Nordamerika richtet unwillkürlich seine Blicke und Schritte immer lebhafter nach jenen Strichen, denen zum gelobten Lande bisher nur der Tau des Himmels fehlte. Für Süd-Kalifornien, Neu-Mexiko, Arizona, Utah, Colorado, grosse Teile von Texas, Arkansas und andere Staaten des Westens und Südens wird Irrigation immer mehr zur Frage der Fragen. Man fängt an, sich dessen bewußt zu werden, daß Maßregeln wie die Ausnutzung der natürlichen Wasservorräte zur Berieselung, eine eminent öffentliche Seite haben, daß hier eine nationale Angelegenheit vorliegt. Eine National-Irrigation-Association hat sich gebildet, und es ist im Jahre 1900 ein allgemeiner Kongreß für Irrigation abgehalten worden.

Diese Bewegung berührt sich nahe mit einer andern für die Vereinigten Staaten in der Luft schwebenden großen Frage: Der der Verstaatlichung. Amerika ist bisher das Land gewesen, wo Privat-Unternehmungsgeist, im guten wie im schlechten, das Größte erreicht hat. Einzelne Unternehmungen oder Gruppen von Unternehmern haben das Wunderwerk der amerikanischen Eisenbahnen geschaffen, haben die Naturkräfte und Schätze des Bodens im großen Stile ausgebeutet. Spekulanten und Promotoren haben aber auch die Wälder verwüstet und das Tierreich decimiert. Jetzt sind die Wasserkräfte dran, von ihnen mit Beschlag belegt und spekulativ ausgenutzt zu werden. Fließendes Wasser aber wird überall in der Welt wie Luft und Sonnenschein, als Gemeingut aller Menschen angesehen; ein 185 Vorrecht des einzelnen darauf ist wie nichts andres geeignet, die bedenkliche Seite der Monopole zu enthüllen. Theodor Roosevelt hat das mit einem kurzen Wort treffend dargelegt: »Privater, vom Besitz des Grund und Bodens getrennter Wasserbesitz kann nicht ohne dauernde Interessenschädigung herrschen.«

In der Frage, wie die künstliche Bewässerung praktisch und rechtlich zu regeln sei, stehen sich augenblicklich drei Richtungen feindlich entgegen: Das Privatmonopol, das die Schneefelder, Quellen, Bäche, Ströme in seine mächtige Hand zu bringen sucht und den Besitzer des feuchtigkeitsbedürftigen Landes zwingt, zu hohem Preise Wasser von ihm zu entnehmen. Ferner die Genossenschaften, die dasselbe tun, nur daß bei ihnen an Stelle der rücksichtslosen Geldspekulation der berechtigte Nutzen der Mitglieder tritt. Und schließlich taucht hinter beiden neuerdings die Idee der Staatskontrolle auf. Denn, sagen die Verteidiger dieses Gedankens: »Die Gewässer sind ausgesprochen öffentliche Güter und sollen daher vom Volk für's Volk besessen und verwaltet werden.« –

Der Vergesellschaftungsgedanke bleibt aber nicht bei der Ausnutzung fruchtbringender Wässer stehen, schon hat eine politische Partei die Verstaatlichung der Hartkohlengebiete von Pennsylvanien in ihr Programm aufgenommen. Auch der interozeanische Kanal wird ja ein staatliches Unternehmen großen Stiles werden. Man hört in der Neuen Welt seit einiger Zeit überall warnende und mahnende Stimmen, die nach staatlicher Kontrolle rufen: die Indianerreservationen zu erhalten, 186 der Naturverwüstung so lange es noch Zeit ist, entgegenzutreten. Ja noch viel weitergehende Vorschläge kann man lesen: Das gesamte Prärieland soll der Bundesregierung zur Verwaltung übergeben werden, um den blutigen Kämpfen ein Ende zu machen, die dort noch heute zwischen den einzelnen Interessenten um die Weidegerechtigkeit toben. Auch die Art und Weise, wie die Mineralschätze von jedem Beliebigen ohne entsprechende Abgaben an die Öffentlichkeit ausgebeutet werden können, fängt an das Bedenken der nicht völlig in die neuweltliche Schrankenlosigkeit Verliebten zu erregen. Der Staat als Vertreter der Allgemeinheit soll eintreten, soll schützen. Hier ist offenbar ein neuer Zug am amerikanischen Charakter in Entwicklung begriffen. Bisher huldigte man der Ansicht, daß das Volk von Natur so weise, gerecht und gut sei, daß es sich überall selbst helfen könne. Durch Schaden am eignen Leibe scheinen nun doch die Einsichtigeren dahinter zu kommen, daß Freiheit und Willkür an der Beschränktheit der Einzelnatur einerseits und an der Wohlfahrt des Ganzen andrerseits ihre Grenzen finden müssen.

Es gibt auch in Nordamerika, das seiner leichten Produktionsbedingungen halber vielfach für das Eldorado der Landwirtschaft angesehen wird, agrarische Krisen. Diese treffen den einzelnen Wirt härter als bei uns. Der Farmer hat den ganzen Zuschnitt seiner Wirtschaft fast immer auf die Produktion einer oder doch nur weniger Fruchtarten oder auf die Züchtung einer Tiergattung eingerichtet; versagt die Hauptfrucht, oder hat er Seuchenunglück, so verliert er mit einem Schlage 187 alles. Die Vielseitigkeit der deutschen Wirtschaftsweise, die nicht alles auf eine Karte setzt, wirkt solchen Kalamitäten gegenüber ausgleichend.

Bankrotte und Subhastationen kommen auch drüben im Stande der Landwirtschaft oft genug vor; aber der Hintergrund ist kein so tragischer wie bei uns, und die Folgen werden leichter ertragen. Wenn der deutsche Bauer mit nichts als dem »weißen Stabe« in der Hand das Gut seiner Väter räumt, ist er ein gebrochner Mann, der zu nichts anderm mehr taugt. Dem Yankeefarmer ist, wenn er bankrott geworden ist, nur eine Spekulation mißglückt. Er versucht es leicht noch einmal, vielleicht mit besserm Erfolg. Ihm ist eben keine Lebenswurzel durchschnitten worden, als er von Haus und Hof gejagt wurde.

Die amerikanische Landwirtschaft zeigt die Tendenz, vom Großbetrieb zum Kleinbetrieb überzugehn, wenigstens im Körnerbau. Bei der Viehzucht ist es etwas andres, die setzt, besonders im Westen, wo der Stall so gut wie unbekannt ist, ausgedehnte Weideflächen zur Aufzucht und Mast voraus. Die Steppenviehzucht wird denn auch vielfach auf riesigen von der Regierung überlassenen Territorien ausgeübt. Für gewisse Zweige der Landwirtschaft aber, die besondre Sorgfalt erfordern, wie die Pflege der Handelsgewächse, und für alle Früchte, die keine Maschinenkultur vertragen, wie Hopfen, Wein, Zuckerrübe, Baumwolle, ist eine Intensivität der Bestellung am Platze, die der einzelne nur einem kleinen Stück Land widmen kann.

Andrer Ansicht ist N. S. Shaler in seinen 188 »United States of America.« Er glaubt, daß der Kleinbesitz des Farmers allmählich ganz aufhören werde, und daß an seine Stelle vom Großkapital dirigierte Plantagen treten werden. Ich will Amerika diese Entwicklung nicht wünschen. Wer solche dem Industrialismus entnommene Zustände als ideal, ja nur als möglich für das Land bezeichnet, der hat das innerste Wesen des Landbaus verkannt. Nordamerika würde damit auf die Stufe des Südens vor dem Bürgerkriege zurücksinken; es hätte Latifundien und Sklaven, nur mit dem Unterschiede, daß ihre Besitzer nicht die altpatriarchalischen Kavaliere, sondern die Geldleute von Wallstreet wären. Mit einer solchen Wandlung würde der beste Hort des Individualismus in der Union, der selbständige Farmerstand, bedroht. Ich denke vielmehr, das Genossenschaftswesen wird wie in Deutschland, so auch in Nordamerika die Agrarfrage am besten lösen können.

Im Süden hat sich der Prozeß der Latifundienaufteilung längst vollzogen, und im Norden ist er im vollen Gange. Sering sah im Jahre 1883 im Red-Rivertale die fürstentumgroßen Weizenfarmen dieser Distrikte in den Händen weniger Großgrundbesitzer; zwanzig Jahre später fand ich dieselben Farmen in der Auflösung begriffen zu Gunsten des Kleinbesitzers. Diese Entwicklung erscheint durchaus gesund und normal. In neuen Ländern wie Nordamerika ist der Großgrundbesitz eine Übergangserscheinung. Er kann nur durchgeführt werden mit einem Tagelöhnerstand, wie er sich bei uns im Osten historisch entwickelt hat, oder mit Farbigen wie im Süden. Aber wie schlecht 189 diese Art Wirtschaft zum Geiste und zu den Gesetzen einer Demokratie paßt, lehrt eben der blutige Bürgerkrieg, der nicht am wenigsten um der überlebten Agrarverfassung des Südens willen geführt worden ist.

Von der Landwirtschaft abgesehen drängt in Nordamerika alles zum Großbetriebe. Überall, in Industrie, Handel, Verkehrswesen, Geldgeschäft, findet Konzentration gleichgearteter Interessen statt. Das Motiv dabei ist, wie für so vieles in der Neuen Welt, durch Vereinfachung der Methode Zeit zu sparen, das Arbeitsprodukt zu verbilligen und dadurch höhern Gewinn zu erreichen. Es kommt aber auch neben dem materiellen Nutzen die Freude des Yankees am Zweckmässigen und seine Lust am Organisieren zum Ausdruck.

Dieser Zug zur Interessenzusammenballung schafft Monsterindustrien wie die der amerikanischen Schuhmacher, Erntemaschinenfabriken und Schlachthäuser von Chicago, er ruft gigantische Unternehmungen ins Leben wie die Standard Oil Company Rockefellers, die Powerhouses der Niagarafälle, die Eisenbahn- und Schiffahrtsgesellschaften, die Billionendollartrusts, die Steel Corporation eines Charles M. Schwab und eines Pierpont Morgan. Das Ziel ist, möglichst alle in Frage kommenden Zweige von sich abhängig zu machen, in seine Gewalt zu bekommen, zu »kontrollieren«.

Die Tendenz zum Monopol zeigt sich aber auch auf Gebieten, die der Industrie fern liegen, zum Beispiel in dem Zustandekommen der Associated Press, dieser erstaunlich schnell zur Alleinherrschaft gelangten Gesellschaft mit dem Sitz in New York, die den 190 Nachrichtendienst für sämtliche grösseren Zeitungen Nordamerikas besorgt. Ja schließlich ist die ganze innere Politik der Union mit ihren beiden großen gleich mächtigen Parteien, die, wo und wann sie am Ruder sind, unumschränkt regieren und den Sieg ausnutzen, nichts anderes als ein Monopol großen Stils für Stellenvergebung und Ämternutzung.

Die Vorzüge dieser Art und Weise sind nicht zu verkennen; sie bestehen in der Vereinfachung der Verwaltung durch rationelle Arbeitsteilung, Übersichtlichkeit und erhöhte Schlagfertigkeit. Wenn viele Kapitalien und Menschenkräfte vereinigt, unter Kontrolle weniger dazu geeigneter Führer, vorgehn, so werden sie, genau wie es im Kriege ist, auch bei den Feldzügen der Industrie und des Handels mehr erreichen, als wenn eine Menge kleiner Streifkorps mit noch so viel Bravour aber ohne einheitlichen Plan angreift. Die Überlegenheit amerikanischer Industrien über die von Europa ist nicht zum geringen Teile auf die geschickte Konzentrierung von Kapital- und Interessengruppen zurückzuführen, die sich bei uns bis aufs Messer bekämpfen. In den einzelnen Unternehmungen aber herrscht die engste Verquickung der mehr technischen Zweige: Urproduktion und Verarbeitung und der eigentlichen Finanzierung. Die Großfinanz, die bei uns hie und da wohl die Industrie befruchtet, leitet drüben das ganze Verkehrs- und Geschäftsleben, durchdringt auch das Detail mit ihrem Genie.

Das amerikanische Wirtschaftsleben hat sich durchaus folgerichtig entwickelt: vom Einfachen zum 191 Komplizierten. Der goldne Untergrund aber der amerikanischen Volkswirtschaft, ihres Reichtums und ihrer Kraft, ist die Landwirtschaft. Die Lage der dreizehn Kolonien an der Ostküste des Kontinents wies auf den Handel mit dem Mutterlande hin. Das Rohprodukt wurde auf den Plantagen des Südens erzeugt und von den Handelsemporien des Nordens verschifft; eingeführt dagegen wurden die Fabrikate Europas. Der Unabhängigkeitskrieg mit seiner das Bewußtsein aufstachelnden Kraft ist auch für die Wirtschaftsgeschichte Nordamerikas der Wendepunkt. Nachdem erst das Band politischer Abhängigkeit zwischen Kind und Mutter gelöst war, nahm die geistige Selbständigkeit eine immer schnellere Entwicklung an. Der Louisiana-Ankauf verdoppelte und verdreifachte das Gebiet des jungen Staatswesens, beseitigte die französische, den Osten und den Westen, die neuenglische, und die spanisch-mexikanische Welt trennende Barriere mit einem glücklichen Schlage. Nun erst konnte die teils kriegerische, zum größten Teile aber friedliche Eroberung des Westens erfolgen, bei der der Yankee anglokeltisch-teutonischen Ursprungs die Reste romanischer Bevölkerung fast mühelos aufsog.

Parallel zu den politischen Erfolgen lief die Erschließung der neugewonnenen Ländereien durch den Ackerbau. Mit den aus aller Herren Ländern in die aufstrebende Republik einströmenden Auswandrern war zum natürlichen Reichtum der Neuen Welt erst der rechte Schatzgräber gekommen. Kohlen, Erz, Holz, Steine, Salze, Öl und natürliches Gas hatten von Anfang an in dem von Gott überreich bedachten Kontinent 192 gelagert, aber der Wilde hatte nur wenig mit ihnen anzufangen gewußt. Jetzt, wo eine große, intelligente, vom Genius der kaukasischen Rasse geleitete Bevölkerung heranwuchs, die, sich rasch vermehrend, selbst einen konsumfähigen innern Markt schuf, wurde energisch an die Hebung und Verarbeitung auch dieser Schätze gegangen. Gegründet auf die beiden mächtigen Grundpfeiler: Kohle und Eisen, schoß eine gigantische Industrie empor. Unternehmungslust und Erfindungsgabe der inzwischen durch die demokratische Verfassung zur großen Nation zusammengeschweißten Wandrer nach dem Westen warfen sich auf dieses neue Gebiet mit derselben Kraft und Kühnheit, durch die sie vorher die Naturkräfte in Prärie, Gebirge, Urwald, Fluß und See ihren Zwecken dienstbar gemacht hatten.

Der Bruderkrieg zwischen Nord und Süd, mörderisch wie er war, konnte Arbeit, Erwerb und Verkehr nicht zum Stillstand bringen, feuerte nur zu gewaltigerer Betätigung aller Kräfte an, befreite den in der Volksseele schlummernden, opferfreudigen Enthusiasmus, schuf mehr ideelle Güter, als er materielle zerstörte, und verlegte, nachdem die Entscheidung gefallen war, das Schwergewicht nach dem zähern männlichen Norden.

Das Land füllte sich immer mehr an mit Menschenkraft. Städte schossen auf, wo eben noch der rote Mann den Bison gejagt hatte, als Etappen östlicher Kultur auf dem Wege nach dem Westen. Am Stillen Ozean, dessen weltferne Gestade durch die Goldfunde Kaliforniens auf einmal das fieberhaft ersehnte Ziel vieler Gewinnlustigen wurde, entstanden Städte und 193 Staaten von dem speziell westlichen Typus, der unter dem Anschein von Wildheit und Roheit die edelsten Keime zukünftiger Zivilisation birgt. Das Zentrum der Macht und Wohlfahrt aber blieb nach wie vor der Osten mit seinem Europa zugewandten Gesicht.

Durch die gewaltigen Aufgaben, die von einer mächtigen Natur dem Menschengeist aufgedrängt wurden, angereizt, erstanden dem Volke große Erfinder; Männer, die Stoffe fanden, Kräfte entdeckten und latente Energien ans Tageslicht zogen, durch die Technik und Verkehr befruchtet und ganz neue Industrien erschaffen wurden. Handwerkszeug und Maschinen, die dem Menschen der Alten Welt jahrhundertelang genügt hatten, wurden von der jungen ungeduldigen Rasse umgewandelt, neuen Zwecken praktisch angepaßt. Die Dampfkraft, der elektrische Funke schienen erst in den ungeheuern Räumen dieses Landes ihren wahren Sinn zu bekommen.

In der organischen, dem jeweiligen Augenblick angepaßten Entwicklung der Industrien Amerikas liegt eine Ursache ihrer Kraft und Gesundheit. Erst lieferte die Technik dem Hauptgewerbe des Volkes, der Landwirtschaft, die nötigen Maschinen. Dann stellte die Ingenieurkunst mit Dampfschiff und Lokomotive auf Wasser- und Landwegen die schnellste Verbindung her für den Absatz der Bodenerzeugnisse. Zugleich nahm sie mit der verbesserten Spinnmaschine und andern mechanischen Ersatzmitteln dem langsamen Handwerk die veralteten Werkzeuge aus den Händen. Die Industrie kleidete Millionen, wo das Handwerk nur für 194 Tausende zu sorgen gehabt hatte. Die Technik gestaltete auch das Heim des Menschen um, schuf verfeinerten Komfort für das alltägliche Leben. Zuletzt mit der Erfindung der Elektrizität und dem, was die Ausbeutung dieser Kraft im Gefolge hatte, begab sich des Yankees angeborner Ingenieurgeist, der bis dahin vor allem die Heimat versorgt hatte, ins Weite. Die amerikanische Industrie trat neben die längst allmächtige amerikanische Rohproduktion, Aufsehen erregend erst und bald Besorgnis einflößend hinaus auf den Weltmarkt.

Reichtümer schufen nun alle Teile des Landes, je nach Lage und besondern Gaben. Der Süden: Reis, Baumwolle, Zucker, Tabak. Kalifornien: Getreide, Wein, edles Obst aller Art. Die Steppe gab Rinder- und Schafherden. Das Mississippibecken steuerte Mais und Weizen, Hopfen und Gerste. Das Felsengebirge: Gold, Silber, Kupfer, Blei, Salze. Der Norden: Eisen, Hölzer, Fische und Pelzwerk. Pennsylvanien: Öl und Hartkohle. Florida: herrliche Südfrüchte. Kentucky: feine Pferde. Der Staat New York: Äpfel, Butter und Molkereiprodukte.

Von Anfang an hatte dieser Kontinent zu allen seinen natürlichen Schätzen auch noch in seinen Strömen, Flüssen und Seen die Wege gehabt, auf denen sich der Verkehr billig und leicht entwickeln konnte. Und wo die Natur einmal vergessen hatte, selbst die Strassen für die Binnenschiffahrt vorzuzeichnen, da half man mit künstlichen Kanälen nach. Der Eriekanal macht die grossen Seen zu einer Bucht des Atlantischen Ozeans, 195 und tief im Binnenlande liegende Städte wie Chicago oder Duluth, die Getreidestadt, zu Seeplätzen. An die Häfen aber schliessen sich die Eisenbahnlinien an; Wassertransport und Landbeförderung greifen ineinander ein, und so wird im ganzen Lande das Rohmaterial, z. B. Erz, auf dem kürzesten und bequemsten Wege nach den Stellen geschafft, wo es verarbeitet werden soll. Die Binnenschiffahrt, obgleich überholt durch die überall hindringende Eisenbahn, ist durchaus nicht veraltet in Nordamerika, sie ist gleichsam die linke Hand des Verkehrs, die der kräftigern rechten unschätzbare Hilfsdienste leistet.

Die Eisenbahnen folgten der Entwicklung der Volkswirtschaft, anderseits gingen sie ihr auch führend voraus. Sie drangen, vom Osten ausgehend, sich nach allen Seiten hin verästelnd und die wertvollen zukunftverheißenden Striche aufsuchend, als echte Pioniere der Kultur nach dem Westen vor. Jetzt durchbrechen sie, Kanada eingerechnet, in fünf großen Linien den mächtigen Wall der Kordilleren und bringen die pacifische und die atlantische Küste einander auf wenig Tagereisen nahe. An der Peripherie des Kreises aber schließt sich nun wieder die Seeschiffahrt an, Einfuhr und Ausfuhr regelnd und das Verkehrsnetz des Binnenlandes mit der übrigen Welt verbindend. Der Ring wird geschlossen sein mit der Vollendung der friedlichen Eroberung Kanadas, die schon im Gange ist, und mit dem Ausbau des Panamakanals – nur noch eine Frage der Zeit! Tatsächliche Macht, politischer Besitz und unbeschränkte Verkehrsmöglichkeit werden 196 dann zusammenfallen und den Kontinent zur Union und die Union zum Kontinent gestalten.

Wie schon die Besiedlung des platten Landes mit Einzelfarmen sehr verschieden ist von unsern Dorfanlagen, so trägt auch die Entstehung der Städte in der Neuen Welt einen ganz besondern Charakter. Zunächst fehlt die Hauptstadt: denn Washington ist ein aus politischen Gründen mit Absicht vom Geschäfts- und Parteitreiben des übrigen Amerikas weit entfernt festgelegter, abstrakter Punkt, nicht ein wirtschaftliches Zentrum, wie es alle andern Großstädte dieses Landes sind. Die Städte der Neuen Welt, frei einmal von der Notwendigkeit, sich gegen äußere Feinde zu umwallen, frei von Gildenwesen und Zunftzwang, frei schließlich von Territorialfürsten und Patriziergeschlechtern, konnten sich ganz ungehindert entwickeln. Sie waren von vornherein auf eigne Füße gestellt und wuchsen darum nur dort, wo Lage und Entwicklung der Umgegend sie gleichsam zur wirtschaftlichen Notwendigkeit machten.

So entwickelten sich mit historischer Selbstverständlichkeit in der Zeit kolonialer Unselbständigkeit zuerst eine Anzahl großer Städte an der dem Mutterlande nächstgelegnen Küste: Baltimore, Philadelphia, New York, Boston. Die Empire City New York behielt dank ihrem unvergleichlichen Hafen ihre dominierende Stellung als internationaler Einfuhr- und Ausfuhrplatz, und durch ihre allmächtige Börse blieb sie der Hauptsitz des Kredits und der Kapitalorganisation für den ganzen Kontinent. Aber je mehr das Innere des Landes erschlossen wurde, desto mehr entstanden an den 197 Knotenpunkten der großen Verkehrslinien bedeutende binnenländische Handelsstädte. Chicago schoss im Lauf einer Generation aus kleinen Anfängen zur Millionenstadt und furchtbaren Rivalin New Yorks empor. Das Geheimnis seiner traumhaften Entwicklung liegt in seiner see- und landverbindenden Lage; das Erz des Nordens und die Kohle des Südostens trafen sich hier auf halbem Wege. Genau an der Stelle, wo die Schiffbarkeit des Mississippi beginnt, erwuchs die mächtige Doppelstadt St. Paul-Minneapolis. Hier inmitten des getreideerzeugenden Flachlandes, nahe bei den günstigsten Wasserkräften, erblühte die größte Mühlenindustrie der Welt. St. Louis wurde das wirtschaftliche und das Bildungszentrum der Staaten, in denen sich der alte Gegensatz von Nord und Süd allmählich versöhnt. Denvers Wachstum beruht auf seinem Vorsprung vor den pilzartig in den neuen Minendistrikten Colorados aufsprießenden Bergstädten; es sieht, recht am Fuße des Felsengebirgs gelegen, zu dem erzreichen Bergland hinauf, wie hinaus in den fleischproduzierenden Präriegürtel. San Franzisko wurde die Metropole der pacifischen Küste, mit Kalifornien zum Hinterland, flankiert von dem jungen, mächtig aufstrebenden Seattle im Norden, das der Zukunftshafen ist für Alaska und Ostasien, und von der altspanischen Städteperle Los Angeles im Süden, die in einer an allen herrlichsten Schätzen der Natur reichen Oase liegt und sichrer Prosperität entgegengeht. New Orleans aber, die Golfstadt, war durch ihre Lage an der Mississippimündung der gegebne Ausfuhrhafen der Baumwollregion.

198 In keinem andern Lande der Welt hat das Wachstum der Städte, insbesondere der großen, solchen Umfang angenommen, wie in den Vereinigten Staaten. Es wird gar nicht mehr lange dauern, dann wohnt die Hälfte aller Amerikaner in »incorporated Cities«. Man hört auch drüben von den Volkswirten die Klage, daß die Großstädte das Mark des Landes aufzehren. Statt eines Wasserkopfes, wie Frankreich an Paris, hat die Union deren ein halbes Dutzend. Der Zug zur Stadt ist diesseits wie jenseits des Ozeans keine erfreuliche Folge der Wirtschaftsentwicklung in der neuen Zeit. Schwindelhafte Bodenpreise, hohe Mieten, Wohnungselend, Arbeitslosigkeit, schlechte Luft, moralische und physische Epidemien, politischer Radikalismus, das sind so einige von den ärgsten Symptomen der Großstadtunnatur. Es kommen für amerikanisches Städtewesen erschwerend hinzu die mangelhafte Verwaltung und die politische Korruption, für die die großen Städte mit ihren vom Pöbel erwählten Beamten und Magistratspersonen die eigentlichen Hochschulen sind. Dazu nimmt die Jagd nach dem Dollar nirgendwo so brutale Formen an, wie in diesen Zentren des Verkehrs, des Bankwesens und der Industrie.

Wenn man durch die Geschäftsviertel von New-York oder Chicago geht und beobachtet die Menge, blickt in diese abgehetzten, nervösen, dabei harten, von Gier verzehrten Menschenlarven, sieht, wie sich Eitelkeit, Hysterie, Frivolität in tollen Zuckungen überschlagen, sieht, wie der eine verzweifelt niederreißt, was der andere hastig aufzubauen bestrebt ist, wie 199 jeder nur den einen Gedanken zu kennen scheint: »Erst ich!« und wie sie allesamt dabei doch tief unbefriedigt bleiben, dann sollte man glauben, die moderne Großstadt sei ein Tollhaus, dann könnte man verzweifeln an einer Kultur, die so deutlich den hippokratischen Zug im Angesicht trägt, und man müßte notwendig hoffen, solche monströse Bildungen möchten, je eher je besser, von der Erdoberfläche verschwinden.

Aber, wie so oft, erzeugen die schlimmsten Entartungen ihre Gegengifte selbst. Die Entwicklung der modernen Städte findet bis zu einem gewissen Grade ihre Berechtigung in der Notwendigkeit der Arbeitsteilung. Das Land bringt das Rohprodukt hervor und die Nahrung für das Volk. Schon Adam Smith bemerkte, daß die Städte vom »Überschußprodukt des Landes zehren. Die Stadt aber verarbeitet das ländliche Erzeugnis und schafft alles das, was der Mensch außer der täglichen Nahrung und Notdurft an verfeinerten Lebensbedürfnissen verlangt. Nur die Stadt mit ihrer Häufung von Kapital und Konsum, von Arbeitsgelegenheit und Arbeitskräften, von Bildungsmöglichkeiten und Lerntrieb, von Angebot und Nachfrage auf einem kleinen Raum einander nahe geführt, konnte gewisse Aufgaben des modernen Wirtschaftslebens lösen.

Während die Städte unzweifelhaft eine verhängnisvolle Agglomerationskraft ausüben und alle besten materiellen und intellektuellen Kräfte rücksichtslos an sich ziehn, zeigen sich bei diesem Prozeß hie und da doch auch schon Anzeichen der Besserung. In der 200 amerikanischen Stadt scheiden sich die Geschäftsviertel sehr deutlich von den Wohnquartieren. Um den rußigen, schmutzigen, geräuschvollen, unästehtischen Kern der Industriestadt bildet sich ein Ring von Villen und Einfamilienhäusern, umgeben von Rasenplätzen und Bosketts; die breiten Avenuen sind mit Bäumen bepflanzt, gelegentlich ist ein Spielplatz eingesprengt. Das ist die Gartenstadt, in die sich der abgehetzte Geschäftsmensch nach des Tages Mühen zu seiner Familie flüchten kann. Die Städte haben drüben infolge ihrer Entwicklung nicht den scharfen Abschluß nach außen hin, wie vielfach bei uns. Die Stadt wächst ins Land hinaus mit ihren vorgeschobenen Posten von locker gebauten Vororten, und das Land kommt mit Gärtnereien, Milchfarmen und Summer-Resorts von allen Seiten an das städtische Weichbild heran. Gelegentlich ziehn sich auch schon ganze Manufakturzweige aus den großen Städten auf das Land hinaus. Die Industriestadt wird zur Industrieprovinz.

Dieser Zug aber, der die Großstadt allmählich auflöst und Freiheit und Natur des Landes wieder herstellt, findet starke Unterstützung in den modernen Verkehrsmöglichkeiten. Vor allem die elektrischen Bahnen, von denen man drüben ausgiebigen Gebrauch zu machen versteht, schaffen ein schnelles und billiges Verbindungsmittel, das dem einzelnen ermöglicht, Stadt und Landleben, Arbeit und Erhohlung, Zurückgezogenheit und Geselligkeit in einer Weise zu verbinden, die frühere Zeiten nicht gekannt haben.

Daß das amerikanische Wirtschaftsleben einige 201 Seiten besonders stark und charakteristisch herausgetrieben, einige Teile scheinbar zu Gunsten andrer bevorzugt hat, ist sicher. Es ist das psychologisch und physiologisch erklärlich: Säfte und Kräfte ziehn sich in die Teile eines Organismus, die am meisten gebraucht werden, und stärken ihn auf Kosten der ruhenden Gliedmaßen. Nordamerika steht im Übergang vom Agrarstaat zum Industriestaat. Das zwanzigste Jahrhundert wird die Überlegenheit der Union auf industriellem Gebiet vor aller Welt offenbaren. Die uns bisher so lästige Konkurrenz der amerikanischen Landwirtschaft wird nicht jäh aufhören, aber sich langsam mildern, je mehr die Bevölkerung drüben wächst, und je dichter das Land besiedelt wird. Die Industrie aber hat keine solchen Grenzen. Ihre wichtigsten Hilfsmittel: Kohle, Erze, Wasserkraft, Baumaterial sind im reichsten Maße und in vorzüglicher Qualität vorhanden. Nordamerika steht seit 1890, wo es zum erstenmal England in der Roheisenproduktion übertraf, jetzt unbestritten an der Spitze der eisenproduzierenden Länder in beiden Hemisphären. Großbritannien, das sich noch um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts rühmen durfte, »the worlds workshop« zu sein, gibt die Führung auf industriellem Gebiete immer mehr an die ehemalige Kolonie ab.

Alles treibt in dieser Richtung. Der Geist der Zeit ist kommerziell. Das Genie des Yankees für das Praktische und seine Neigungen reißen ihn mächtig nach dieser Seite hin. Die Unzahl der jährlich in den Vereinigten Staaten angemeldeten Patente beweist die 202 Freude dieser Menschen am Erfinden. Die ganze Erziehung, die die praktische Seite betont, die Realfächer pflegt und das Technische nirgends vernachlässigt, stärkt diese Fähigkeit. Von der Public school aufwärts bis zum College werden Naturwissenschaften, Chemie, Elektrizität gelehrt, aber auch in praktischen Fächern, wie Telegraphie, Buchführung, ja selbst in Schmiedekunst und Tischlerei wird Unterricht erteilt. Die eigentlichen Technischen Hochschulen aber nehmen stetig zu an Zahl und Güte.

Andrew Carnegie, der Gründer von Bibliotheken und Hochschulen, dem man Feindschaft gegen die Wissenschaft gewiß nicht wird vorwerfen können, stellt in seinem »Empire of Business« eine Untersuchung darüber an, wieviele Männer von eigentlicher Collegebildung heute an der Spitze großer Handels-, Finanz- und Industrieunternehmungen stehn, und er sieht sich in Verlegenheit, Namen zu nennen. Dagegen ist nach ihm die Zahl derer erstaunlich groß, die sich vom einfachen Kommis, officeboy oder mechanischen Arbeiter emporgeschwungen haben zum Captain of Industry und zum Großfinancier. Carnegie selbst ist mit seinem selbsterworbnen Riesenvermögen das leuchtendste Beispiel in dieser Hinsicht. Neben solche selfmademen ohne jede wissenschaftliche Vorbildung stellt er als eine andre hoffnungerweckende Klasse die vielen jungen Polytechniker, die neuerdings mit Erfolg an die Spitze großer Unternehmungen getreten sind.

Es wird in Nordamerika systematisch ein Heer von Technikern und Ingenieuren herangebildet, von 203 Menschen überhaupt, die die wissenschaftliche Grundlage sowohl wie das A B C der Praxis aus eigner Erfahrung kennen. Die stärksten Leistungen des amerikanischen Geistes sind fürs nächste auf diesem Gebiete zu erwarten.

Es ist keine Frage, daß der Industrialismus, als das jüngste Kind der modernen kapitalistischen Entwicklung, in Nordamerika die höchste bisher bekannte Form erreicht hat. Vom praktisch technischen Standpunkt aus erscheint die Einrichtung ideal; ihre Stärke liegt nach der Seite der Sachen, sie hat ihre Schwäche nach der Seite der Persönlichkeit. Wir sehen auch hier die geheime, durch das ganze Leben der Demokratie gehende Kraft am Werk, die auf's Gleichmachen hinstrebt, auf ein Verwischen der Individualität, auf das Unterjochen der Persönlichkeit durch mechanische Zwecke.

Gesellschaften, wie die großen Aktienunternehmungen, Warenhäuser, Riesenetablissements aller Art, Stahltrusts, Eisenbahnkartelle haben etwas Unpersönliches. Es fehlt ihnen die Beseelung. Die Kräfte, die sie treiben, bleiben unsichtbar im Hintergrunde. Der einzelne ist nur eine kleine Schraube, ein Maschinenteil, mechanisch angetrieben, einer Kraft gehorchend, die nicht aus ihm selbst stammt. Der Arbeiter braucht, ebenso wie er nur bestimmte Muskeln tagein tagaus anstrengt, auch nur gewisse Geisteskräfte anzuwenden zu seiner ihm von der Maschine diktierten Arbeit.

Ein Beispiel für diese Mechanisierung des Menschen 204 wird mir ewig erinnerlich bleiben als besonders charakteristisch. Im Armour Packing House von Chicago mit seinen elftausend Angestellten, wo täglich neben vielen tausend Rindern und Schafen auch fünftausend Schweine geschlachtet und verarbeitet werden, steht vor dem großen Rade, woran die Schweine lebend befestigt werden, um sie emporzuheben, ein einzelner Mann mit einem Fleischerdolche bewaffnet, mit dem er die Schweine, während sie zappelnd und quiekend vom Rade an ihm vorbeigeführt werden, mit blitzschnellem Stoße absticht. Dieser Mann steht jetzt schon siebenundzwanzig Jahre an derselben Stelle, und der einzige Handgriff, den er zu tun hat, ist eben der, mit dem er den Schweinen die Kehle öffnet. Für die Stockjards ist dieser Virtuos natürlich unbezahlbar. Er soll sich ein großes Vermögen erworben haben und kann, wenn er stirbt, jedenfalls auf den größten im Schweineabstechen bisher erreichten Rekord zurückschauen.

Ich denke keineswegs an das Ekelhafte des blutigen Handwerks, wenn ich die Frage aufwerfe: Führt dieser Schlächter ein menschenwürdiges Dasein? Ist hier der Mensch bei aller Eleganz der Arbeitsleistung nicht zum Maschinenteile hinabgesunken? Kann er seine Seele in eine solche Arbeit legen? Kann er irgend etwas der Künstlerfreude des selbständig Schaffenden ähnliches empfinden, von der jeder einfachste Handwerker immer noch einen Hauch zu spüren vermag?

Solche Existenzen, nicht ganz so kraß natürlich wie die geschilderte, erzeugt eben der zum 205 Riesenwuchs entartete, in der Spezialisierung der Einzelleistung auf die Spitze getriebne Großbetrieb. Je grösser das Unternehmen, desto tiefer muß die Selbständigkeit des einzelnen gedrückt werden. Je besser abgeschliffen und aufeinander eingeschlagen die Teile sind, desto glatter arbeitet das Ganze. Ein Mensch, ein Handgriff! Schließlich bekommen wir Naturen, die wie Uferkiesel einander gleich sind. Wahrhaftig, wenn das das Kulturergebnis des verflossenen Jahrhunderts wäre, dann hätten Männer wie Goethe, Emerson, Ruskin umsonst gelebt!

Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß auch dem Arbeiter Vorteile aus dieser Arbeitsweise entspringen. Die Leistungsfähigkeit amerikanischer Industrien erlaubt ihnen bessere Bezahlung ihrer Leute, und der höhere Lohn macht wieder die Leute leistungsfähiger. Und was mehr bedeutet als Geld: bei erhöhten Leistungen kann die Arbeitszeit verkürzt werden. Freie Zeit bedeutet die Möglichkeit, sich persönlich zu vervollkommnen und geistig weiterzubilden, für den, der den Trieb dazu in sich hat.

Ein Gegenmittel gegen die abstumpfende, geisttötende Wirkung der Maschine liegt in der fortschreitenden Verbesserung der Technik. Je vollkommner die Maschine wird, desto mehr nimmt sie dem Menschen die gröbste Arbeit ab. Der Arbeiter wird zu einer Art von Aufsichtsbeamten, der nur noch nachhelfend und korrigierend einzugreifen braucht. Je mehr sich die Maschine vergeistigt, desto leichter werden die Handgriffe, desto höhere Intelligenz und desto tieferes 206 Verständnis für das Ganze des Betriebes wird aber auch vorausgesetzt. So mag vielleicht die mechanische Arbeit in der Fabrik, die den Arbeiter scheinbar zum gedankenlosen Sklaven hinabdrückt, ihn schließlich zum raschdenkenden, kenntnisreichen Ingenieur emporheben. Anzeichen für diesen Gang der Dinge sind in der hochentwickelten Maschinenindustrie der Vereinigten Staaten zu finden.

Der einzelne Arbeiter wird sich auch niemals seiner Erniedrigung zum Atome recht bewußt werden. Gerade weil die Leitung unpersönlich ist, weil die Kapitalgötter, verborgen hinter Wolken sitzend, die Geschicke der dem gewöhnlichen Sterblichen unübersehbaren Geschäftswelt geräuschlos nach ihren klugen Gedanken regieren und den Anschein äußerer Despotie weise vermeiden, lebt in Nordamerika die große Menge der Unselbständigen in dem angenehmen Wahne, daß sie frei und Herren ihres Geschickes seien. Nichts ist dem Yankee unangenehmer, als das Gefühl der Abhängigkeit von einer Einzelperson. Darum die Schwierigkeit drüben, Dienstboten zu bekommen und zu halten, daher auch die Unbeliebtheit des militärischen Berufs. Das Dienen widerspricht dem Scheinwesen »Gleichheit«, das in der Neuen Welt so viele Leute täuscht. Wenn man nur den Tyrannen, dem man dient, nicht merkt! Sobald der Arbeiter seinen Arbeitskittel ausgezogen hat, ist er äußerlich genau das, was der Direktor der Fabrik oder der Manager der Gesellschaft ist, ein freier Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika.

Wir bekommen in Deutschland so viel von der 207 sogenannten Mittelstandsfrage zu hören; in Amerika ist wenig davon zu spüren, weil die Stände, die vor der Macht des Großkapitals etwa zu schützen wären, wirtschaftlich schon längst nicht mehr selbständig sind. Von der Hautefinance ist drüben fast jeder in irgend einer Form abhängig. Der Inhaber von Aktien sieht auf die großen Wettermänner der Banken und der Börsen. Der Farmer ist durch Tarif und Frachtsätze der Eisenbahnen in den Händen der Eisenbahngesellschaften, die wieder auf die Preisbildung des Getreides wirken. Der Kaufmann, der Handwerker in mittlern und kleinen Städten ist durch Rohmaterial, Maschinen, Handwerkszeug, die er bezieht, durch Kohle und Öl, die er konsumiert, abhängig mindestens von einer der großen Finanzgruppen, Ringe, Trusts, deren Sitz vielleicht Tausende von Meilen entfernt auf der andern Seite des Kontinents sein mag. So wird in ganz Nordamerika Handel und Wandel kontrolliert von einer kleinen Gruppe hochbegabter Männer, die mit Recht als die eigentlichen Führer der Nation im Empire of Business angesehen werden. In ihnen kommt das eigentliche amerikanische Genie, der Geschäftsgeist, zur charakteristischen Verkörperung. Die Macht dieser ungekrönten Fürsten eines angeblich demokratischen Landes erfährt aber dadurch eine enorme Steigerung, daß kein Stand vorhanden ist, der ihnen das Gleichgewicht halten könnte, kein erbliches Fürstentum, keine Geburtsaristokratie, kein angesehener Beamten- und Offizierstand. Gewiß hat auch die Union ihre Staatsmänner, aber sie hängen durch die kurzen Termine, für die sie 208 bestellt werden, vom Wahlzettel und damit vom schlimmsten Tyrannen ab: der öffentlichen Meinung. Wenn man in dem Amerika des letzten Vierteljahrhunderts nach den wirklich genialen Menschen sucht, dann wird man sie viel eher unter den Großindustriellen, Bankiers und Eisenbahndirektoren finden, als unter Beamten und Staatsmännern.

Die Kommunen wie die Territorien und Staaten im Süden und Norden, im Osten und Westen sehen mit Scheu auf die Allmächtigen von Wallstreet. Die großen Kreditinstitute von New York regeln die Kapitalbewegung in dem ganzen ungeheuern Lande. Dort münden schließlich sämtliche Kanäle, die das Blut, einem lebendigen Herzen vergleichbar, durch alle Glieder des Leibes treiben und wieder an sich ziehn. Im Lande liegen die Schätze der Natur, aber sie können nur erschlossen werden, wenn sich Tatkraft, Organisationstalent und Kapitalmacht dieser Kreise dazu bereit finden lassen, Kanäle und Eisenbahnen zu bauen, Schiffahrtslinien zu legen und Geld darzuleihen für geplante Verbesserungen. Ob eine Stadt aufblüht, ob sie zurückgeht oder ganz verfällt, kann unter Umständen von dem Präsidenten einer Eisenbahnkompagnie abhängen. Die Financiers haben oft die großen Zeitungen in der Hand oder stehn doch mit ihnen in enger Fühlung, und fügen so zur Kapitalmacht die fast noch weiter reichende des gedruckten Wortes. Auf die Gesetzgebung haben sie Einfluß; ihre Freunde sitzen im Senat, ihre Kreaturen im Repräsentantenhause. Sie können es verhindern, daß Gesetze durchgehn, die ihren Interessen und 209 Monopolen ungünstig sind, oder wenn solche Gesetze der öffentlichen Meinung zuliebe doch einmal erlassen wurden, daß sie nicht allzu streng angewandt werden. Meist sind sie Schutzzöllner; begreiflicherweise, denn dem Schutze des heimischen Produkts verdanken sie viel von dem enormen industriellen Aufschwung der letzten Jahrzehnte. Sie sind friedliebend, weniger aus Philanthropie als von der nüchternen Erkenntnis geleitet, daß sie durch Unsicherheit und Geschäftsstockungen kriegerischer Zeitläufte allzuviel zu verlieren hätten. Aber es gibt doch Leute, die den letzten Krieg mit Spanien auf eine mächtige Geldgruppe zurückführen, die um ihrer kubanischen lnteressen willen mit Hilfe der feilen Presse den Funken alter Zwietracht zwischen den beiden Ländern zum Kriegsbrande geschürt hätte.

Die Entfaltung solches Einflusses im Geschäftsleben wie in der Politik, mag er äußerlich noch so geschickt verhüllt werden, kann nicht verfehlen, den Widerspruch herauszufordern. Von den eigentlich dazu Berufnen, den Volksboten, den Beamten, der Presse, geht die Auflehnung nicht aus, denn diese Kreise stehn in engster Fühlung, wenn nicht gar in direkter Abhängigkeit von der Hautefinance. Auch nicht durch den Wahlzettel erfolgt der Widerspruch; denn die Kapitalisten haben sich gehütet, als solche aktiv in den Wahlkampf einzutreten, etwa in der Art politischer Verbindungen mit wirtschaftlicher Etikette, wie unser Bund der Landwirte, dem ein Verband der Industriellen gefolgt ist. Sie wissen, daß sie ohne solche Kampforganisationen viel mächtiger und unangreifbarer bleiben. 210 Die Reaktion ist vielmehr aus dem eignen Lager gekommen. Sie ging von der untersten Schicht aus, dem groben Fundament, ohne das alle Arbeit des Kopfes, alles Organisationstalent und Finanzgenie hilflos wäre, weil es an den ausführenden Händen für ihre Pläne fehlte. Die Arbeiter waren es, die sich auflehnten; sie setzten den Aktiengesellschaften, Kompagnien und Ringen des Kapitals ihre Organisationen entgegen. Das Mittel aber, ihre Forderungen geltend zu machen, war und ist hauptsächlich der Ausstand. Nordamerika ist das Land der Streiks. Bei uns erregt jeder Lohnkampf immer noch ein gewisses Aufsehen, ja oftmals Besorgnis für die öffentliche Ordnung und Sicherheit; drüben vergeht kaum ein Jahr, wo nicht in einem der großen Industriezweige mindestens der Streik tausende und aber tausende von Händen feiern machte. Die Arbeiterorganisationen (Labour organizations) haben natürlich neben dem Kampf um günstigere Arbeitsbedingungen noch andre programmatische Zwecke, wie den der Fürsorge für den einzelnen und seine Familie durch Versicherung und Kassenverbände aller Art. Im allgemeinen aber tragen sie doch den Stempel der Schutz- und Trutzverbindungen mit deutlich gegen die Unternehmer gerichteter Front. Caroll D. Wright, der hervorragende Volkswirt, berechnete im Jahre 1890 die organisierte Arbeiterschaft der Vereinigten Staaten auf anderthalb Millionen Mann. Seitdem ist diese Zahl gestiegen, da die Industrie im verflossenen Jahrzwölft bedeutend gewachsen ist und die Organisationsidee steigende Werbekraft entfaltet.

211 Ein Unterscheidungsmerkmal fällt, wenn man die Streiks im außerenglischen Europa mit denen der Vereinigten Staaten von Amerika vergleicht, vor allem in die Augen: die Politik wird so gut wie gar nicht in den Lohnkampf hineingezogen. Als Präsident Roosevelt im Herbst 1902 die Vermittlung im Kohlenarbeiterstreik übernahm, hielt er es für nötig, öffentlich zu erklären, daß er es als Mensch und Bürger, nicht als Bundesoberhaupt tue. Weder mischt sich die Behörde als solche offiziell ein, noch steht hinter den Arbeitern eine politische Partei, die aus der Schürung des Klassenhasses Kapital zu schlagen suchte. Der Lohnkampf wird als legaler Austrag von wirtschaftlichen Differenzen zwischen Parteien im Sinne des Prozeßrechts betrachtet. Bei dem letzten großen Grubenarbeiterausstand lag die Sache insofern anders, als durch die Kohlennot, die er im Gefolge hatte, Leben und Gedeihen weiter Kreise bedroht wurde, also ein ganz bedeutendes öffentliches Interesse in Frage kam.

Streiks werden nicht in der Absicht begonnen, den Gegner durch Anwendung physischer Gewalt niederzuzwingen. Ausschreitungen sind nicht Folgen der sich im Laufe des Ausstands ansammelnden Erbitterung. Wenn es zu Gewaltakten und Racheakten kommt, wenn, wie im Homesteadstreik von 1892, das Bajonett hat arbeiten müssen, wenn, wie im Kohlengräberausstand von 1902, einige zwanzig Morde vorgekommen sind, so lag die Schuld daran weniger an den Trade Unions, die gute Disziplin unter sich halten, sondern an Outsidern, an fremdländischem, anarchistisch-nihilistischem 212 Gesindel, das seine gesellschaftsfeindliche Gesinnung durch sinnlose Bluttaten bewies.

In den beiden großen Ausständen der letzten Zeit, dem der Stahlarbeiter und dem der Kohlengrubenarbeiter, handelte es sich viel weniger um einen Lohnkampf im engern Sinne als um Prinzipien. Wie aus vielen Reden ihrer Wortführer für ein feineres Ohr klar hervorging, lehnte sich bei diesen Kämpfen das Selbstbewußtsein, die Persönlichkeit im Arbeiter auf gegen die Gefahr, der Unselbständigkeit anheimzufallen, gegen die Knechtung durch den Großbetrieb. Obgleich die Ausständigen sich dessen nicht immer bewußt gewesen sein mögen, der letzte Grund, warum sie zu dem immer gefährlichen Mittel griffen, war nicht das Verlangen nach Verbesserung ihrer materiellen Lage, sondern nach Anerkennung ihrer Organisation, mit einem Wort, ihre Selbstbehauptung. Beide Streiks wurden, abgesehen von ihrem äußern Umfang und der Wichtigkeit der in Mitleidenschaft gezognen Produktionszweige, auch darum besonders interessant, weil sich in den Führern der Arbeiterschaft und in den Unternehmern bedeutende und charaktervolle Persönlichkeiten gegenübertraten. Im Stahlarbeiterausstand: der Präsident der Amalgamated Association of Iron, Steel and Tin Works, namens Shaffer, der ehemals dem geistlichen Stande angehört hatte, ein Idealist, der von reinen Absichten beseelt, aber seinem genialen Gegner Pierpont Morgan, dem Haupt der United States Steel Corporation, nicht entfernt gewachsen war. Im Kohlengräberstreik wurde die Arbeiterschaft glücklicher 213 vertreten durch John Mitchell, den jungen Präsidenten der United Mine Workers of America, während sich aus der Zahl der »Operators« George F. Baer, der Chef der Philadelphia and Reading Coal and Iron Company, durch energisches Verfechten des Unternehmerstandpunkts hervortat. Aus den Ausgleichsverhandlungen, die von Präsident Roosevelt geführt wurden, und später aus den Zeugenaussagen vor der Kommission der von dem Bundesoberhaupt ernannten Schiedsrichter trat ganz klar das eine hervor, daß die Unions um Selbstbehauptung fochten, das verbündete Unternehmertum aber zu allem andern zu haben war, als zur Anerkennung der Tatsache, es mit einem gleichberechtigten Gegner zu tun zu haben. Baer leugnete in wiederholten temperamentvollen Ausbrüchen des Unternehmerbewußtseins die Existenzberechtigung von Arbeiterkoalitionen schlechthin.

Der Kampf zwischen der organisierten Arbeiterschaft und dem kapitalstarken Unternehmertum ist drüben noch lange nicht beendet. Die vorläufige Unterwerfung der Parteien unter das neutrale Schiedsgericht wird allgemein nur als Scheinfriede aufgefaßt. Gerade der Umstand, daß es Organe desselben Körpers sind, die einander befehden, gibt dem Streit etwas von der Erbitterung des echten Familienzerwürfnisses. Das Bewußtsein, daß keines ohne das andre existieren kann, daß der Gegner nachgeben muß, weil er den andern braucht, steigert die Hoffnung auf beiden Seiten und macht das Nachgeben schwer.

Es ist schwierig, zu sagen, auf welcher Seite 214 Selbstbewußtsein, das bis zum Übermut geht, und Solidaritätsgefühl, das in Herrschergelüst ausartet, größer sind. Man hält meist die Trusts für stärker als die Unions, das vereinigte Kapital für mächtiger als die koalisierte Arbeiterschaft; aber im Baufach zum Beispiel haben die Arbeiter längst die Oberhand gewonnen über die Unternehmer und diktieren diesen ihre Bedingungen. Man nimmt an, daß in der letzten Zeit ungefähr ein Drittel aller Ausstände von den Streikenden gewonnen sind. In mehr als einem Boykott hat ein mißliebiger Prinzipal klein beigeben müssen. Die Trade Unions übertreffen ihre Gegner nicht selten an tyrannischen Gebarungen den eignen Leuten und den Außenstehenden gegenüber. Bekannt ist die Unduldsamkeit solcher Organisationen, der Haß, mit dem sie alle verfolgen, die sich ihnen nicht anschließen wollen, die Strenge und Ausschließlichkeit ihrer Ordensregeln, die Überhebung, die sie zur Schau tragen, sobald sie sich im Besitz der Macht sehen. Beim Kohlengräberstreik sagten zahllose an den Telegraphenstangen aufgehängte Puppen, denen Zettel mit den Namen der Streikbrecher aus dem Munde hingen, welches Schicksal der Nichtunionsleute warte, sobald sie sich aus dem Militärkordon herauswagten.

Die Arbeiterverbindungen streben in ihrer Art genau so nach Monopolen wie die Großkapitalisten, und es fragt sich, welche Art Despotie schlimmer ist, die der Unions, wenn sie weiter an Macht wachsen, oder die der Trusts, die an den Grenzen ihrer Entwicklungsmöglichkeit allem Anschein nach angelangt sind. Der Zug zum Monopol äußert sich zum Beispiel in dem Recht, das 215 sich die meisten großen Arbeiterkorporationen anmaßen, sämtliche Artikel, die von ihren Leuten angefertigt worden sind, mit Erkennungsmarken zu versehen, und den Mitgliedern zu untersagen, andre Ware als die auf diese Weise als selbstgefertigt gekennzeichnete zu kaufen. Aber es gibt noch ganz andre Mittel, mit Hilfe deren eine kampflustige Arbeiterschaft ihren Willen geltend machen oder ihren Unwillen zeigen kann. Der Boykott, der einem Etablissement, einem ganzen Geschäftszweig die Lebensader unterbindet. Die »Schwarze Liste«, ein in Amerika sehr beliebter Ostrazismus, von dem Unternehmer und Arbeiter wechselseitig Gebrauch machen. Wendet die Arbeiterschaft ihre Streiks an, so antwortet ihnen der Gegner mit dem lockout, der ohne vorausgehende Kündigung den Angestellten die Arbeitsmöglichkeit durch Schließen der Arbeitstätte abschneidet. Denn wie im wirklichen Kriege die Waffen durch die Anwendung vervollkommnet werden, so bilden sich auch im wirtschaftlichen Kampf immer neue raffiniertere Methoden aus, dem Feinde Abbruch zu tun und ihn endlich zum kapitulieren zu bringen.

Solche Kämpfe bis aufs Blut haben unter allen Umständen schweren wirtschaftlichen wie moralischen Schaden im Gefolge. Beide Parteien verlieren: die Unternehmer an Einnahmen und an Aufträgen, ja ihr ganzes Geschäft geht möglicherweise, während die Arbeit feiert, in die Hände der Konkurrenz über; und die Arbeiter durch Verlust der Löhne, ihre Ersparnisse gehn drauf, und die Gelder ihrer Organisationen werden 216 erschöpft. Trotz vieler abschreckender Beispiele aus der Streikchronik eines ganzen Jahrhunderts aber werden sich die Ausstände schwerlich in nächster Zeit vermindern oder gar aufhören. Die Lohnkämpfe entspringen der Freiheit des einzelnen, seine wirtschaftliche Lage zu bessern und sich zur Vertretung gemeinsamer Interessen zu Kampforganisationen mit andern zusammenzutun. Besonders in einer Demokratie wird es schwer sein, dieses Recht zu verweigern. Aber die Freiheit des Privaten und der einzelnen Korporation findet ihre Grenze an der Verantwortlichkeit des Staates für das Wohl und Wehe der Gesamtheit. Bekanntlich war der Gedanke der Verstaatlichung öffentlicher Einrichtungen in Nordamerika bis vor kurzem äußerst unpopulär, weil der Staatssozialismus dem jedem echten Yankee angebornen Hang zu schrankenlosem Individualismus widerspricht. Aber man wird sich mit der Zeit auch drüben mit der Kontrolle durch den Staat befreunden müssen auf Gebieten, wo das willkürliche Walten der freien Konkurrenz allzu offenbar Schaden stiftet. Keime der Staatsfürsorge sind denn auch schon in dem klassischen Lande des Laissez faire vorhanden. Die Bundesregierung hat sich wiederholt genötigt gesehen, in Lohnkämpfe einzugreifen; besonders ist das geschehn bei den in Nordamerika so häufigen Streiks der Eisenbahnangestellten, die ja den Verkehr nicht bloß im Kreise des Ausstandes stören, sondern die gesamte Volkswirtschaft schädigen und das Leben gänzlich Unbeteiligter bedrohen. Ähnlich beim Kohlenstreik von 1902, der, wenn er bis in den Winter hinein 217 fortgesetzt worden wäre, eine Kohlennot über die großen Städte der Ostküste, die vorwiegend Hartkohle aus dem pennsylvanischen Ausstandsgebiet feuern, heraufgeführt hätte, die dem Wohlbefinden und der Gesundheit von Millionen schwere Gefahr gebracht haben würde.

Einzelne Staaten der Union haben schon früher einige von den für Amerika so charakteristischen apodiktischen, jede geringste Übertretung mit schweren Strafen bedrohenden Gesetzen gegen streikende Eisenbahner erlassen. Der Bund erließ im Jahre 1887 die Interstatecommerce-Act und im Jahre 1890 die Anti-Trust-Act. Diese Gesetze suchen beiden Teilen gerecht zu werden, den Angestellten wie den Prinzipalen. Das Interstate-commerce-Gesetz gibt der Bundesregierung das Recht der Intervention sowohl gegen die Überspannung der Tarife und gegen Übergriffe der Kompagnien wie gegen frivole Arbeitseinstellung der Angestellten, indem es diese das Gesamtwohl tief berührende Materie über die Einzelstaaten hinweg vor das Forum der höchsten Instanz bringt. Das Anti-Trust-Gesetz aber geht noch schärfer vor, indem es alle Trusts, die den Verkehr der Staaten hindern könnten, alle Monopole überhaupt als »conspiracy« brandmarkt und, weil ungesetzlich, verbietet.

Diese Gesetze mit ihren verschiednen Amendements lassen etwas von dem besten Geist des amerikanischen Verfassungsgedankens spüren, der jedem Bürger gleiches Recht und gleiches Fortkommen wahrt; aber ihre Handhabung hat freilich bisher bewiesen, daß sich 218 Maßregeln, die vom Gesetzgeber zunächst gegen die Übermacht der Unternehmer gerichtet waren, leichter gegen die Angestellten handhaben lassen, und daß ein rigoroses Gesetz wie die Anti-Trust-Act selbst in der Hand eines mit sozialem Öl gesalbten Mannes, wie Roosevelt, an dem goldnen Wall des Trusts wirkungslos abprallt. Monopole sind verboten; wer will sie verbieten? – Das war ungefähr die Quintessenz all der unzähligen Reden und Zeitungsartikel über dieses Thema, die man im Herbst 1902 drüben hören und lesen konnte. Durch Gesetze werden die Trusts schwerlich gebrochen werden können; viel wahrscheinlicher ist es, daß sie sich in ihrem eignen Gift auflösen werden. Ein Mann wie Carnegie, dem man doch schließlich einiges Urteil über das amerikanische Geschäftsleben zutrauen kann, hält Syndikate, Monopole, Trusts für Übergangserscheinungen, er nennt sie Produkte menschlicher Schwäche und prophezeit ihnen ein Ende durch die gesunden Kräfte wirtschaftlichen Fortschritts.

Man hat sich in Amerika, wo das: »Hilf dir selbst!« vielen Schwierigkeiten gegenüber das einzige Rezept ist, daran gewöhnt, die Lohnkämpfe als eine notwendige Nebenerscheinung der kapitalistischen Wirtschaft anzusehen; niemand wird sie mehr als ein Zeichen ungesunder Verhältnisse deuten wollen. Anders ist es mit den Störungen, die sie so oft im Gefolge haben, mit Bankerotten, Geschäftsstockung, Flauheit des Marktes, Arbeitslosigkeit. Große Krisen sind in Nordamerika, unabhängig von solchen kleinen Zuckungen und Erschütterungen, mit einer gewissen Regelmäßigkeit 219 eingetreten und haben Dimensionen angenommen, wie sie das auch auf diesem Gebiete zahmere Europa nicht kennt. Am bekanntesten ist die schwere Krise aus dem Anfang der siebziger Jahre, die ungefähr mit unserm Krach zusammenfiel. Die ersten Jahre des neunten Jahrzehnts brachten eine andre tiefe Depression, dann kam im Ausstellungsjahr von Chicago abermals eine heftige Krise.

Seitdem ist ein stetiger, von keiner größern Kreditstörung unterbrochner Aufschwung zu beobachten gewesen. Vieles ist zusammengekommen, die Spekulation zu ermutigen und die Gewinne ins Ungemessene zu steigern. Mit der rasch wachsenden Bevölkerung gewann der innere Markt fortgesetzt an Kaufkraft. Die fast durchweg guten Ernten zogen Ströme von Gold von auswärts ins Land. Auf eignem Terrain wurden neue Erzlager, Kohlenflöze, Ölquellen entdeckt und in Angriff genommen. Alaska erwies sich als ein zweites Kalifornien. Ein leicht gewonnener Sieg über das altersschwache Spanien erweiterte den Machtbereich des Bundes und steigerte das Selbstbewußtsein der Nation. Dazu die Wirkungen der Mac-Kinley-Bill, die die heimischen Industrien erst fest auf die eignen Füße gestellt hat. Die Folge ist auf allen Gebieten des Wirtschaftslebens eine Hausse sondergleichen.

Aber das kann sich mit einem Schlage ändern. Die Amerikaner selbst glauben trotz ihres Optimismus nicht an den Bestand der Lage. Wie viele Unternehmungen drüben sind nicht überkapitalisiert! Viele Werte, mit denen man nach außenhin prunkt, sind 220 nur eingebildet. Das Spekulationsfieber, eine alte Leidenschaft der Yankees, soll schlimmer grassieren als je. Nüchterne Leute warnen umsonst. Man nimmt an, daß der Krach nicht allzulange auf sich warten lassen, und daß er ärger sein werde als alle frühern.

Wir in Deutschland können jedoch nur hoffen, daß Nordamerika von einer schweren Krise bewahrt bleiben möge; besonders hat unsre Industrie gar nichts gutes von einer Geschäftsstockung drüben zu erwarten. Denn massenhaft, wie die Produktion Amerikas unter dem Schutzzoll nun einmal geworden ist, würde sie sich einen Ausfluß nach dem Auslande suchen müssen und zunächst wahrscheinlich uns und die von uns kaufenden Länder mit Ware zu herabgesezten Preisen überschwemmen.

Der Gedanke aber, daß die Vereinigten Staaten durch einen Krach ruiniert werden könnten, ist lächerlich. Selbst die grösste Krise wird drüben nur eine vorüber gehende Störung bedeuten. Es ist im Wirtschaftsleben ähnlich wie auf politischem Gebiete, die Union hat mehr als einmal am Rande des Abgrunds gestanden, ihre Rettung mit Hilfe von Kräften, die die Gefahr erst eigentlich geweckt zu haben schien, machte die düstern Prophezeiungen ihrer Feinde und Neider zu nichte und offenbarte die in dem jungen Gemeinwesen schlummernde Heilkraft.

Die Fehler und Gebrechen dieses Staatswesens liegen klar zutage. Die Regierungsmaschinerie ist nichts weniger als ideal. Ein geringeres Maß von Weisheit als im Kongreß ist vielleicht bei keiner andern 221 großen parlamentarischen Körperschaft zu finden. Kein andres konstitutionell regiertes Land hat so wenig Kautelen gegen leichtfertige, ja geradezu schädliche Gesetze. Nirgends in der zivilisierten Welt sind die Besten der Nation so indifferent in politischen Dingen wie dort, halten sie sich in unverantwortlicher Gleichgültigkeit so fern vom Staatsdienst und überlassen die Wahlmache und die Ämterbesetzung so sehr einer Koterie von professionellen Politikern, die, begünstigt durch die Zurückhaltung der eigentlich berufnen Kreise, eine viel zu aufdringliche Rolle im öffentlichen Leben spielen. Kein andres Land könnte sich eine solche allgemein zugegebne Korruption gefallen lassen, wie sie die Union in einzelnen ihrer Staaten und vielen ihrer Kommunen duldet. Kein Staatswesen hätte es wagen dürfen – schon aus dem Triebe der Selbsterhaltung heraus nicht – Unsitten zur Regel werden zu lassen, wie das spoil system bei den Wahlen und die rotation der Ämter.

Aber in einem großen Körper verteilen sich die Schäden über einen weiten Raum; außerdem hängen die einzelnen Glieder der Konföderation recht lose zusammen, und daher braucht, wenn an einer Stelle Krankheit herrscht, noch lange nicht der ganze Körper davon ergriffen zu sein. Störungen, durch die ein kleinerer zentralistischer Staat wahrscheinlich völlig gelähmt würde, verlangsamen hier höchstens den Gang der Maschine. Der Fortschritt im ganzen kann nicht aufgehalten werden. So kraftstrotzend und elastisch, so lebensfähig und widerstandskräftig ist diese Nation, daß sie die in reichem Maße vorhandnen schlechten 222 Säfte doch immer noch auszuscheiden vermag, daß sie spielend Bissen verdaut, an denen eine schwächere Konstitution wohl zu Grunde gehn würde.

Ein großes Volk kann nur an seinen eignen Fehlern scheitern. Wenn man die Gefahren abwägt, die Amerika aus dem eignen Innern drohn, die zersetzenden, verderblichen Säfte, die in seinen Adern kreisen, wenn man Kräfte am Werke sieht, die es nach dem Abgrund ziehn möchten, und dagegen all das Gute, Gesunde, Fördernde und Erhaltende stellt, das zu seinen Gunsten in die Wagschale geworfen werden kann, wenn man dabei nicht außer acht läßt, daß man es mit einem recht jungen Lebewesen zu tun hat, dessen Fehler sich noch auswachsen sollen, so wird man zu dem Urteil kommen, daß heute vielleicht kein Land der Welt einen solchen Vorrat von entwicklungsfähigen und zukunftverheißenden Keimen in sich birgt wie die Vereinigten Staaten von Amerika. 223

 


 


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