Wilhelm von Polenz
Das Land der Zukunft
Wilhelm von Polenz

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Kunst

Fast dieselben Gründe, die die Wissenschaft in Amerika noch nicht zu der der Intelligenz dieses begabten Volks entsprechenden Entfaltung haben kommen lassen, halten dort auch die Kunst im Zustande des Blütenansatzes zurück.

Es ist und bleibt eine der außerordentlichsten Erscheinungen im amerikanischen Gesellschafts- und Volksleben, daß ein vorgeschrittenes, auf andern Gebieten hochstrebendes und nach allen höchsten Ruhmestiteln ehrgeizig greifendes Geschlecht ein Dasein auf die Dauer zu ertragen vermag, das die Kunst wohl als äußern Zierrat kennt, nirgends aber als Ausdruck innerer Anschauung und tiefquellenden Seelenbedürfnisses betätigt, wie es hier zu Lande in der Musik durchweg und der bildenden Kunst und Literatur gegenüber doch wenigstens bei denen der Fall ist, die zu bewußter Würdigung der Daseinsharmonie erwacht sind.

Hier bleibt eine unbeschriebene Seite, mehr noch: eine störende Einseitigkeit am amerikanischen Charakter, die um so schreiender wirken, je gewaltiger sich drüben Reichtümer auftürmen, je verfeinerter die Genüsse werden und je anspruchsvoller der einzelne dem Leben gegenüber steht. Die Zivilisation bekommt bei allem Raffinement, das ihr sonst eignet, durch diese eine Lücke 281 etwas von der Unausgeglichenheit des Parvenuhaften, um nicht zu sagen von moderner Barbarei. Es ist mehr als letzter Schliff und Politur, was dadurch, daß er noch kein seelisches Verhältnis gefunden hat zur Kunst, dem Amerikaner entgeht, es ist etwas, das einem nationalen Charakterfehler gleichkommt; es weist auf jenen ärgsten Mangel des Amerikanismus hin: den Mangel an Tiefe und an Verinnerlichung.

Ein solches Manko kann natürlich durch jenes refinement, das ja der Traum ist jedes bildungsstrebenden Yankees, nie und nimmer ersetzt werden. Für den, der durch die noch so elegante Maske feiner Kleidung, weltmännischer Gewandtheit und guter Manieren hindurch nach der Bildung des Geistes und Gemüts auszuspähen gewohnt ist, bleibt der typische Yankee doch ein Outsider der höchsten Kultur, mag er den Durchschnitts-Deutschen zehnmal übertreffen in der Modernität seiner Toilette, in Beweglichkeit, Redegewandtheit und Lebensklugheit.

Die beste Entschuldigung für den Amerikaner ist hier wie in so vielem andern, daß Volk und Gesellschaft noch jung sind. Wie sollte sich die Kunst normal haben entwickeln können in einem Volke, das eine eigentliche Kindheit niemals gehabt hat! Die Erfahrung hat bisher gelehrt, daß bei Kindern wie bei Völkern die künstlerische Phantasie zu den ersten Äußerungen des erwachenden Selbstbewußtseins gehört. Kunst, die nicht irgendwie in der Vergangenheit des Stammes wurzelte, hat es bisher noch nirgends zu eigenartigen oder gar dauernden Schöpfungen zu bringen 282 vermocht. Die amerikanische Kunst aber, soweit man eine solche kennt, trägt den Stempel der kolonialen Entwicklung Amerikas; sie gleicht einem Strome ohne Quellen. Die Kindheitsgeschichte des Volks hat sich nicht auf dem Boden abgespielt, den die Nation jetzt inne hat. Daraus allein schon folgt, daß es eine Volkskunst drüben nicht geben konnte und auch heute, wo die Bildung dieser Mischrasse noch lange nicht beendet ist, nicht geben kann.

Die Einwanderer, aus denen sich das moderne Amerikanertum gebildet hat, waren ja Nachkommen alter Kulturvölker, sie brachten einen fertigen Geschmack, ein bestimmtes Kunstideal mit, hatten mannigfache Kenntnisse und Fertigkeiten einzuwerfen in die werdende Zivilisation der Neuen Welt. Dieses junge Volk auf uralter Grundlage, das im Wirtschaftsleben und in der Politik hochoriginelle Institutionen und Werke zu schaffen verstanden hat, vermochte auf geistigem Gebiet, in Kunst ebensowenig wie in Wissenschaft und Religion, die alten Kulturelemente, mannigfaltig und widerspruchsvoll wie sie waren, zu verarbeiten und als eigenartige Neuschöpfung von frischem hervorzubringen. In der höchsten Kultur blieb Amerika abhängig von den Lehrern seiner Jugend. Die künstlerische Zeugungskraft des einzelnen schien durch die Verpflanzung auf neuen Boden, der sich sonst so triebfördernd erwiesen hat, nicht nur nicht vermehrt, sondern eher verringert zu sein. Die große Republik jenseits des atlantischen Ozeans ist uns bisher die Raffaels, Murillos, Dürers und auch die 283 Dantes, Shakespeares, Mozarts und Göthes schuldig geblieben.

Es wird für spätere Jahrhunderte, wenn der Bildungsprozeß der neuweltlichen Rasse erst seinen Abschluß gefunden hat, äußerst interessant sein zu sehen, ob ein Volk ohne Kindheit eine Kunst aus sich selbst herausentwickeln kann, oder ob Amerika für alle Zeiten durch seine Geschichte zum Nachempfinden und Nachschaffen verdammt ist.

Aus alledem geht hervor, daß man von der amerikanischen Kunst weder organische Entwicklung, noch Geschlossenheit und Harmonie, überhaupt keinen festen Stil erwarten darf.

Der Yankee steht in der Kunst noch auf dem Standpunkte der Naturvölker; das »was« ist ihm alles, das »wie« bedeutet ihm wenig. Wenn einem drüben etwas angeblich Schönes gezeigt wird, erfährt man zunächst den Preis, dann vielleicht den Namen des Künstlers. Teuer, folglich schön! ist selbst dem Kunstwerke gegenüber noch immer die Durchschnittsanschauung. Beim Ankaufen von Bildern wird von den Multimillionären vor allem nach dem Namen gekauft und der eigne Geschmack, soweit er überhaupt vorhanden, gänzlich in die Tasche gesteckt. Das Publikum zeigt einmal Sinn für alles Kolossale, den Atem Benehmende, »the big thing«, und sodann für das Spielerische, für starke, schreiende Farben und Töne. Verständnis für die Vornehmheit des Ruhigen, einfach Schlichten, fehlt noch ebenso wie Sinn für Intimität und Nuance.

284 Dabei sind die Amerikaner im gewöhnlichen Leben das Gegenteil von geschmacklos. Der Sinn für das was kleidet reicht tief hinab, bis in die Kreise der einfachsten Arbeiter und Arbeiterinnen. Das gewöhnlichste Mädchen ist wenigstens bestrebt, sich wie eine Dame zu benehmen, und auch die Männer legen mehr Wert auf Äußeres als unsre Leute. Die augenblicklich herrschende Mode des Kauens und Spuckens bei den Männern und des Anmalens bei den Frauen, die nicht gerade für ästhetisches Feingefühl der Rasse spricht, ist wohl nur eine Volksmanie, deren Tage gezählt sein mögen. Die Liebe des Amerikaners für Sauberkeit kommt in allem zum Ausdruck, was ihn körperlich umgibt, feiert im gediegnen Komfort der häuslichen Einrichtung den schönsten Triumph. Der praktische Geist hat neben dem Sinn für persönliche Bequemlichkeit jene typisch amerikanischen Hilfsmittel und Einrichtungen für das alltägliche Leben geschaffen: die eleganten Fahrstühle, die leicht rollenden Schiebetüren, die bequemen Betten, von denen manche tagsüber, in glänzende Spiegelschränke verwandelt, die Wand zieren, die luxuriösen Wasch- und Badegelegenheiten, und vor allem jene mannigfaltigen Sitzeinrichtungen, die sich in geradezu raffinierter Weise den Formen des menschlichen Körpers zum Bedürfnis der Ruhe anschmiegen.

Kraft ihres praktischen Verstandes und ihres glücklichen Verständnisses für das Kleidende, Gefällige und Bequeme haben es die Amerikaner daher in der Nutzkunst zu schönen Erfolgen gebracht. Gibt es 285 zweckmäßigeres und zugleich prächtigeres Glas für die Tafel und den Toilettentisch, als das amerikanische? Sind nicht die Lederarbeiten drüben einzig elegant und haltbar? Haben wir trotz allen Kopfzerbrechens unsrer Künstler, die das Kunstgewerbe zu vergeistigen bestrebt sind, etwas sinnvolleres, einfacheres und schöneres zu schaffen vermocht, als den amerikanischen Schreibtisch und Schaukelstuhl? – Nun besitzen sie drüben ja auch in ihren mannigfaltigen edlen Hölzern, in Steinen, Marmorarten und Metallen das denkbar günstigste und reichste Material. Aber sie bringen zum Rohstoff auch Sinn und Verständnis für seine Eigenart hinzu. Der amerikanische Handwerker besitzt zum Beispiel das Geheimnis beim Möbel Farbe und Maserung des Holzes auf das glücklichste zur Geltung kommen zu lassen. Die Barbarei, eine Holzart durch Anstrich nachzuahmen, die bei uns noch immer im Schwunge ist, fände drüben keinen Liebhaber.

Man fragt sich unwillkürlich, wie in einem Volke, das solche Beweise von Geschmack in seiner Häuslichkeit, im Gewerbe, in allem was zum Tagesleben gehört, abgelegt hat und fortgesetzt ablegt, der Trieb zur großen Kunst so schwach entwickelt und so verbildet sein kann. Zur großen Kunst gehört eben mehr als praktischer Sinn, gutes Material und Reichtum; selbst der gute Geschmack reicht dazu nicht aus. Alle Kunst setzt künstlerische Persönlichkeit voraus, und diese vermochte bisher auf amerikanischem Boden nicht zu gedeihen. Es fehlte einmal die alte bodenständige Kultur, aus der sie hätte erwachsen, und sodann die Umgebung, 286 in der sie sich hätte glücklich weiter entwickeln können. Mit einem Worte, das moderne Amerika besitzt ebensowenig wie das vergangene eine fruchtbare Kunst-Atmosphäre. Es fehlt seinem Alltagsleben am Gehalt des Vertraulichen, der Mannigfaltigkeit des Historischen und des Märchenhaften, kurz an all den unwägbaren und für die Anregung der Phantasie so wichtigen Dingen, die nur eine reiche mit persönlichen Werten gesättigte alte Kultur zu geben vermag.

Man kann nicht sagen, daß sich das Publikum in Amerika der Kunst gegenüber gleichgültig verhielte. Besonders in den großen Städten zeigt man das Bedürfnis, etwas für die künstlerische Erziehung des Volkes zu tun. Der Erfolg steht jedoch selten im Verhältnis zu den aufgewendeten Mitteln. Fast in jeder Großstadt besteht eine Kunstschule. Aber es ist hier ganz ähnlich wie bei der Wissenschaft; es fehlt an Tiefe der Auffassung. Die mechanische Seite der Arbeit wird gewöhnlich stärker betont als die organische. Die Lehrer sind praktische Köpfe, doch fehlt es ihnen an großen, künstlerischen Gesichtspunkten; es muß ihnen daran fehlen, weil sie keine Künstler sind. Die Schüler sind von jenem für den jungen Amerikaner charakteristischen ehrgeizigen Streben beseelt, durch Kenntnisse vorwärts zu kommen. Trotz aller Kraftanstrengung bringen sie es aber selten über Routine und anerkennenswerte Handwerksgeschicklichkeit hinaus. Man geht drüben eben von der irrigen Anschauung aus, daß Kunst sich erlernen lasse wie ein Gewerbe. Daß um nichts ernster gerungen werden muß in der Tiefe der Seele als um 287 echtes Künstlertum, ist dem Yankee noch nicht aufgegangen.

Verhängnisvoll wirkt auch die geringe Achtung, die der Künstlerstand in Amerika genießt, auf das Schaffen des einzelnen zurück. Die Union, die ihre Staatsmänner und Soldaten so überschwänglich zu ehren und zu belohnen liebt, hat für ihre Künstlerschaft weder viel Bewunderung noch klingenden Lohn übrig. So fehlt es für den werdenden Künstler außer an der befruchtenden Atmosphäre großer Vorbilder auch am äußern Ansporn, sich vorwärts zu bringen. Das Bewußtsein mit dem besten, was er zu geben hat, doch wahrscheinlich verkannt zu werden, hat drüben schon manchen begabten Menschen dem Konventionalismus in die Arme getrieben, oder ihn veranlaßt, auszuwandern.

Theodor Roosevelt tadelt im »Wahren Amerikanismus« die Maler, die nach Paris gehen, wirft ihnen mangelnden Patriotismus vor und meint, daß der Künstler, der die Heimat aufgibt, sich die Möglichkeit verscherze, je etwas wirklich Originelles zu schaffen. Sehr richtig! Aber wenn nun die Heimat dem Künstler zu wenig Anregung bietet? Wenn die eignen Landsleute den Künstler durch ihr Banausentum verjagen und ihm die Fremde mit ihren schöneren Vorbildern, ihrem feineren Kunstverständnis und ihren reicheren Möglichkeiten wirklichen Kunstlebens verlockender erscheinen lassen? Wie jetzt die Verhältnisse in Amerika liegen, ist es kein Wunder, wenn ihm noch immer viele seiner künstlerisch veranlagten Kinder den Rücken wenden. 288 Mancher amerikanische Maler hat es in Europa zu Erfolgen gebracht, die er daheim schwerlich erworben haben würde.

Auch die Abwesenheit einer wirklichen Hauptstadt auf dem amerikanischen Kontinent hat für seine Künstlerschaft gewisse nicht zu übersehende Folgen gehabt. Zentren des guten Geschmacks wie Paris in der Neuen, Athen in der Alten Welt, haben den Wert einer weithin berühmten Arena für den Künstler. Dort kann er sich zeigen, dort trifft er Gleichgesinnte und Mitstrebende; er wird Kritik finden, Konkurrenz und vielleicht Gönner. Das erst macht ihn zünftig. Freilich erzeugt solche Zentralisation leicht auch Kotteriewesen, Cliquentum, und den ärgsten Feind wahrer Volkskunst: die großstädtische Blasiertheit. Die größten Künstler hat noch immer der stille Winkel der Provinz hervorgebracht; die Großstadt ist für die meisten doch nur ein wichtiger Durchgangspunkt gewesen. Nicht zu unterschätzen aber ist die große Stadt in ihrer Bedeutung als Markt. Hier pflegt der Sitz der Händler und der Verleger zu sein.

Die wichtige Eigenschaft einer Vermittlungsstelle in Kunstdingen haben drüben bisher nur zwei Städte erworben: New York und Boston. Die Empire City mehr als Vorort der ständigen Ausstellungen, der großen Theater, der prächtigen Bilderläden, der allmächtigen Zeitungen und somit der journalistischen Kritik. Boston dagegen, der Sitz der Intellektuellen, ist das Forum, wo die oberste Instanz in Geistesangelegenheiten ihr Urteil fällt. Und trotzdem sind selbst 289 diese beiden großen Städte nicht zu vergleichen in ihren Wirkungen, mit dem Einfluß, den in Deutschland manche Duodezstadt auf die vaterländische Kunstentwicklung in Anspruch nehmen darf. Welche Anregungen sind von kleinen Residenzen wie Weimar, Karlsruhe, Stuttgart, nicht zu sprechen von Berlin, Dresden, München, befruchtend auf den deutschen Kunstacker geflossen. Auch die Neue Welt hat ja ihre einzelstaatlichen Hauptstädte; einige vierzig sind es jetzt. Aber der bürgerlich nüchterne Geist, der um die Staatskapitole weht, wird niemals jene fördernde Kraft echten Mäzenatentums haben, das in der Residenz so manches deutschen Kleinfürsten zu finden gewesen ist.

Die Kunst fragt nicht nach der Staatsverfassung. Sie gedeiht in Monarchien, Aristokratien, Republiken. Sie blüht überall, wo künstlerische Persönlichkeit auf kultiviertem Boden, beschienen von der Sonne des Verständnisses, sich ungehemmt entfalten kann. In Amerika hat die grosse Kunst diese Voraussetzungen bisher noch nirgends vereinigt gefunden.

* * *

Die historische Tatsache, daß Nordamerika gleichzeitig von verschiednen Nationen der Alten Welt besiedelt wurde, spiegelt sich auch in der Architektur seiner Kolonialperiode wieder. Im Nordosten wurden englisch-holländische Motive importiert, im Westen und Süden setzte sich französische und spanische Bauweise fest. Der spanische Stil, der seinerseits auf das Maurische 290 zurückgeht, wird noch heute hier und da in Kalifornien und Florida neu zu beleben versucht. Zukunft kann nur dem »Kolonialstil« englischer Herkunft zugesprochen werden. Das amerikanische Leben hatte von Anfang an soviel vom englischen angenommen, daß für seine weitere Ausgestaltung die Entlehnung vom Mutterlande immer das nächstliegende erschien. In den Neuenglandstaaten hatte man sich begnügt, das englische Wohnhaus nach der Mode der Zeit mit römischen Anklängen den kolonialen Verhältnissen anzupassen und meist in Holz statt in Stein auszuführen. Man blieb aber auch weiterhin im Geschmack abhängig von Grossbritannien und machte dessen Modeschwankungen getreulich mit. Dann, mit der Ausbreitung der Nation über die Grenzen der ersten dreizehn Kolonien hinweg, wurde man kosmopolitisch. Damit begannen auch im Baustil die Experimente. Besonders der Westen mit seinen in stetem Fluss begriffenen Verhältnissen wurde der Schauplatz unsolider und geschmackloser Bauweise. Ganz ähnliche Erscheinungen erzeugte hier das plötzliche Reichwerden der Nation wie bei uns die Gründerperiode der siebziger Jahre. Ein Stil kam auf, der die natürliche Hülle schien für das Parvenütum, das er beherbergen sollte. Pretentiöse Bauweise, unsolide Konstruktion, Protzerei mit Motiven, die von überall her zusammengestohlen waren, kindische Attrappen, die mit unechtem Material den Schein des Großartigen und Kostbaren hervorrufen sollten. Diesen Emporkömmlingsstempel tragen noch heute viele westliche Städte.

Trotz der großen Aufgaben, die die Baukunst in 291 einem Lande fand, dessen Reichtum sich ins Kolossale mehrte und das für seine unter der Sonne wirtschaftlichen Gedeihens pilzartig aufschießenden Städte unzählige neue Bauten brauchte, hat Amerika noch keinen originellen, ihm eignen Baustil entwickelt. Das Eigenartigste vielleicht, was es an Konstruktionen aufzuweisen hat, sind seine Brückenbauten. Manche davon, so die Brooklynbrücken, die Brücke unterhalb der Niagarafälle, die verschiednen Mississippi- und Ohiobrücken, sind Wunder der Technik und befriedigen das ästhetische Bedürfnis in hohem Grade. Ebenso feiert der Geschmack, wie der Natursinn und der Sinn für das Praktische vereinigt, wirkliche Triumphe in der Anlage von »summer ressorts«, von »country clubs« und ländlichen Vorstadthäusern, sowie grosser Hotels an der Küste oder im Gebirge. Hier findet man häufig die schwierige Aufgabe glücklich gelöst, Baulichkeiten der gegebenen Umgebung anzupassen, das menschliche Anwesen in Farbe, Form, Umfang und Stellung harmonisch mit der Natur zusammenklingen zu lassen. Das Einfamilienhaus ferner, das man nicht als Luxus der Reichen allein, nein auch schon hin und wieder im Besitz des kleinen Mannes findet, ist vielleicht berufen, die großstädtische Mietkaserne zu reformieren. Die höheren Anforderungen, die hier selbst von den niederen Klassen an Lebensgenuß und Komfort gestellt werden, haben das Wohnhaus von innen nach außen günstig umgestaltet und vervollkommnet. Die Stuben sind geräumig und gut mit Luft und Licht versorgt, Küche, Keller, Klosett mit allen Hilfsmitteln einer hochentwickelten Technik 292 versehen. Die praktische Inneneinteilung kommt in der sinnvollen Gliederung dieser Bauten auch äußerlich zum Ausdruck. Weitgehende Verwendung von Holz, der das amerikanische Klima entgegenkommt, hat die Einfamilienhäuser auch für kleine Börsen erschwinglich gemacht. Der Stil, der dieser Gattung von Gebäuden zu Grunde liegt, ist der der englischen Cottage in mannigfaltigen Abarten.

Wenn es überhaupt Hoffnung gibt für einen neuen, eigenartigen amerikanischen Baustil, so liegt er in einem organischen sich Auswachsen dieser Keime. Hier steht der Amerikaner auf dem historischen Boden seiner Rasse. Liebe zum eignen Herd, Sinn für Natur, Sauberkeit, Freude am häuslichen Behagen sind wohl als schönstes Erbteil von seinen angelsächsischen Vorfahren auf ihn übergegangen.

Dagegen haben die Amerikaner, was man von ihnen als von einem vorwiegend industriell-kommerziellen Volke wohl hätte erwarten können, den Stil für das moderne Geschäfts- und Kaufhaus noch nicht gefunden. In den Straßen der großen Städte sieht man oft mächtige eiserne Gerüste stehen, die sich wie große Käfige ausnehmen. Daran werden dann nach der Straßenseite zu prächtige Renaissancefassaden geklebt mit Marmorsäulen, Pilastern, Architraven, Palastfenstern. Die Yankees sind stolz auf diese Bauten, und vergleichen ihre Städte mit Rom, Florenz, Genua, Paris, weil sie so prächtig stilvolle Häuserfronten besitzen. Nichts kann ihr mangelhaftes historisches Verständnis und ihr unkünstlerisches Fühlen zugleich besser 293 illustrieren. Ob diese erborgten Fassaden irgendwie mit dem harmonieren, was dahinter vorgeht, und was der eigentliche Zweck des Gebäudes ist, danach fragt man drüben nicht. Für den Fremden ist es in Amerika überhaupt schwer gemacht, auf den ersten Blick festzustellen, was ein Haus beherbergen mag und wofür es errichtet ward, eine Kirche zum Beispiel von einem Theater zu unterscheiden, oder ein Bankhaus von einem Warenlager. Man steht vor einem solchen Gebäude manchmal wie vor einer Attrappe.

Die Frage: auf kleiner Bodenfläche möglichst viel benutzbare Räume zu schaffen, diese Räume leicht zugänglich und möglichst feuersicher zu gestalten, haben die amerikanischen Architekten gelöst. Durch die reine Eisenkonstruktion haben sie die soviel Raum wegnehmenden Mauern entbehrlich gemacht und den gewonnenen Platz nach innen für luftige Räume, nach außen für die Entwicklung riesiger Fensterfronten ausgenutzt. So ist den Wünschen des Kaufmanns und den Bedürfnissen eines hochentwickelten Geschäftslebens wohl nach der Seite der Bequemlichkeit und Reklame hin Rechnung getragen worden, wenn auch der Befriedigung des guten Geschmacks damit nicht Genüge getan werden konnte.

Da wo der Boden unerschwinglich teuer ist, haben es die Yankees erfunden, in Türmen zu wohnen. Mit Hilfe der blitzschnellen Elevatoren lebt es sich ganz bequem in den »sky skrapers«, und für die, die darin schlafen, arbeiten, dinieren, ist es auch ganz gesund und lustig, so hoch erhaben über Dunst und 294 Lärm der Gasse zu sein. Aber diese himmelhohen Kästen nehmen ihrer Umgebung Luft und Licht weg, und sie sind im Städtebild Schandflecke, recht dazu gemacht, Unnatur und Übertreibung der Großstadtentwicklung zu kennzeichnen.

Am meisten Liebe, Studium und Mittel hat man auf die öffentlichen Gebäude und auf die Kirchen verwandt. Bei der Unzahl von Sekten, die es drüben gibt, zählt das Land natürlich eine entsprechende Menge von Gotteshäusern. Außerdem hat jede Stadt, auch die kleinste, den Ehrgeiz, ihr Rathaus, ihre Post, ihr Theater und ihre Banken, Modebazare und Salons zu haben. Alle diese Gebäude sollen möglichst monumental sein. Die Hauptstadt eines jeden Staats sucht ihre Überlegenheit schon von weitem dem Ankömmling durch ein hoch und frei gelegenes, prunkvolles, marmor- und goldstrotzendes Kapitol darzutun.

Man hat für diese Baulichkeiten in Ermangelung eines eignen Stils bei allen Völkern und Zeiten Anleihen gemacht. Gothik, Renaissance, maurischer Stil, Barock sind mit wechselndem Glück angewandt worden. Oft sind durch dieses Anleiheverfahren wahre Karrikaturen entstanden ehrwürdiger, europäischer Baudenkmäler. Bisher hat nur ein Baumeister verstanden, mit fremdländischen Motiven pietätvoll umzugehen und dabei doch etwas Organisches zu schaffen: Richardson, mit seiner Neubelebung des romanischen Stils von Südfrankreich. Er hat eine romanisierende Bauperiode für Nordamerika eingeleitet, die noch anhält.

Unzweifelhaft hübsch sind auch die Kirchenbauten 295 in frühenglischer Gothik. In einzelnen Städten ältern Ursprungs, also vor allem in den Neuenglandstaaten, wo die Straßen ja nicht wie im Westen mit Elle und Winkelmaß angelegt sind, stößt man gelegentlich auf überraschend schöne Städtebilder. Aber man hat doch das Gefühl, als ob mehr der glückliche Zufall als bewußter Geschmack hier einen schönen Platz, dort einen harmonischen Straßenabschluß, da einen wirkungsvollen Aussichtspunkt oder eine stimmungsvolle Ecke habe entstehen lassen.

Jüngern Datums noch als die Architektur sind im modernen Amerika die bildenden Künste. Die Kolonisten hatten sich in der Neuen Welt ihre Häuser in dem Stil erbaut, den sie von der Heimat her kannten. Dem ersten und wichtigsten Bedürfnis des zivilisierten Menschen nach einem Obdach war genügt; der dem Germanen innewohnende Trieb, sein Leben sinnvoll auszugestalten und das Heim zu schmücken, hatte dagegen in diesen primitiven Zeiten mit der Rauhheit der Umgebung, der Armut und der Enge der Verhältnisse zu kämpfen. Ein prinzipieller Feind stand aller künstlerischen Betätigung in der puritanischen Weltanschauung der Pilgerväter entgegen. Mit Bewußtsein wurde alles niedergehalten und beschnitten, was in den Augen der Quäker und Kongregationalisten heidnisch und frivol war, also vor allem die profane Kunst. So konnte es kommen, daß in Zeiten, wo die Niederländer mit ihren Bildern der Welt das Evangelium derber Weltlust und Sinnenfreude verkündeten und wo von Frankreich aus der Geist höfischer Grazie und Galanterie bis in das deutsche 296 Bürgerhaus drang, an den Ufern des Hudson und des Lorenzstromes ein Geist engherziger Askese herrschte, der vielleicht in Bilderstürmerei ausgeartet wäre, hätte es in den jungen Kolonien irgendwelche Bildwerke zum zerstören gegeben. So unterband der Puritanismus nur, was sich etwa regen wollte an Lebenslust, Übermut und Sinnenfreude, und machte das Aufkommen wie die Betätigung künstlerischen Talents, soweit es nicht dem nüchternen Gottesdienst der Sekte diente, unmöglich.

Das besserte sich natürlich, je freier die Neuenglandstaaten heraustraten aus ihrer sozialen und politischen Gebundenheit, je mehr nichtpuritanische Elemente aus dem Mutterlande hinzuzogen und je häufiger die Vermischung der angelsächsischen Kolonisten mit holländischem, französischem, spanischem und deutschem Blute wurde.

Die Anfänge der transatlantischen bildenden Kunst liegen im Historischen. Für Porträts und Schlachtenbilder war am ersten Sinn und Verständnis vorhanden. Sowie die Nation sich als solche zu fühlen begann, wollte sie natürlich die Züge ihrer großen Männer und die Ereignisse ihrer Geschichte der Nachwelt aufbewahrt sehen. So entstand am Ausgang des achtzehnten Jahrhunderts, als die Kolonien den bedeutsamen Schritt taten in die Welt der Großstaaten, eine Schule von Porträtisten, Genre- und Historienmalern. Sie war in der Technik wie in der Auffassung stark beeinflußt von den großen englischen Vorbildern auf diesen Gebieten. Die Bilder aus jener Zeit, die am besten in Washington und in Boston studiert werden können, 297 tragen zwar nicht den auf die Kniee zwingenden Stempel großer Kunst, aber es umgibt sie für den Freund amerikanischer Geschichte doch der Hauch des Ehrwürdigen und Intimen. Es kommen darin die ersten rührenden Gehversuche eines werdenden, noch halb in den Kinderschuhen steckenden Geschlechts zum Ausdruck, das seine Kräfte zu fühlen beginnt und dem erwachenden Selbstbewußtsein auch künstlerisch Gestaltung zu geben versucht.

Die historische Richtung wurde abgelöst von einer Landschafterschule. Der Sinn für Natur ist im Amerikaner immer lebendig gewesen. Die Natur wirkt aber drüben so übermächtig, selbst da wo sie monoton ist, daß der Künstler leicht mutlos den Pinsel fallen läßt vor dem Umfang und der Wildheit der Erscheinungen. Der geniale Maler, der uns die amerikanische Landschaft nahe brächte: die Prärie, das Felsengebirge, den Urwald, die Ackerebene oder die großen Städte, ist bis heute noch nicht erschienen. Die amerikanische Landschafterschule war und ist, verglichen mit der ihr zu Gebote stehenden Fülle interessanten Stoffs, ziemlich nichtssagend und zahm. Man holte sich die Methode von Düsseldorf und Fontainebleau, ohne die Bodenständigkeit dieser aus ihrer Umgebung natürlich hervorgegangenen Schulen mit über den Ozean bringen zu können. Auch von Turner sind Einflüsse zu spüren. Aber gerade das Lebenswerk des großen englischen Impressionisten zeigt, was das einzelne Genie aus der scheinbar überwältigenden Fülle der modernen Erscheinungen zu machen vermag, während kleinere, unselbständige 298 Talente, die sich nach derselben Richtung bemühen, davor kläglich versagen.

Die bildende Kunst blieb drüben durch das ganze neunzehnte Jahrhundert im Stadium der Motivjagd und des Tastens nach der Form. Für die Unselbständigkeit amerikanischen Geschmacks ist es charakteristisch, daß nach jeder großen transatlantischen Weltausstellung mit ihrer Einfuhr europäischer Kunst drüben eine Art von Kunstfieber entstand. Maler- und Bildhauerschulen datieren ihren Ursprung von den Ausstellungen in Philadelphia 1876 und in Chicago 1893. In echter Yankee-Selbstüberschätzung nennt man die aus solcher fremdländischen Anregung entsprungene Massenfabrikation von Kunst: »Amerikanische Renaissance«.

Es soll nicht verkannt werden, daß im amerikanischen Leben Kräfte am Werk sind und Keime im Sprießen, aus denen mit der Zeit etwas wie eine nationale Kunst erwachsen mag. Man ist gelegentlich überrascht, in Bilderläden, Privatsammlungen, Museen, mitten unter der Dutzendware, auf Einzelleistungen zu stoßen, die durch Geschmack, tüchtige Technik, ja durch einen Anflug von Eigenart erfreuen.

So wird unter anderm im Aquarell und in der Illustration von Büchern und Magazinen gegenwärtig drüben Anerkennenswertes geleistet. Doch fehlt bei alldem noch der große Zug und die Einheit der Kunstanschauung. Der Mangel an künstlerischer Persönlichkeit hat naturgemäß kleine Ziele und Zerfahrenheit der Bestrebungen zur Folge. Es fehlt auch jene Ungebärdigkeit aus überquellender Kraft, sichere 299 Begleiterscheinung jeder jungen, noch nicht zur Selbstbeherrschung gereiften Kunstära. Wie in der Physiognomie der amerikanischen Gesellschaft so befremden auch im Kunstleben hie und da Züge von Altklugheit, von greisenhaftem Raffinement, die man sonst nur an dekadenten Kulturen zu beobachten gewohnt ist. Amerika hat aber in Gesellschaft und Kunst noch viel zu wenig Jugend und Mannesalter gehabt, um bereits eine Verfallszeit rechtfertigen zu können.

Die ganze Unklarheit und Buntscheckigkeit der Kunstbestrebungen kommt zum krassen Ausdruck in den amerikanischen Durchschnitts-Museen. Sie zeigen im lustigen Durcheinander ägyptische, griechische, römische, frühchristliche Kunst, meist in Gypsabgüssen wahllos nebeneinander gestellt, assyrisch-babylonische Altertümer, Mumien, urgeschichtliche Gräberfunde, fast immer eine recht gute Sammlung von indianischen Waffen und Gerätschaften, oft hervorragend schöne Japan- und Chinakunst und kostbare naturwissenschaftliche Abteilungen. Traurig dagegen ist es meist um die Bilderabteilung bestellt. Jenseits des atlantischen Ozeans eine Dresdner Galerie, eine Münchner Pinakothek, einen Vatikan oder Louvre zu erwarten, wäre natürlich Torheit; aber die naive Unverfrorenheit, mit der die Yankees minderwertige Italiener, Spanier, Niederländer für echt und wertvoll ausgeben, reizt unwillkürlich zum Vergleich mit europäischen Kunstschätzen, wobei dann die ganze Armut Amerikas auf diesem Gebiet zu Tage tritt. Gut vertreten sind durchweg die Engländer, was bei den engen Beziehungen der beiden Nationen nicht wundernehmen kann. Die moderne französische Malerei 300 hat ihren besten Markt in den Vereinigten Staaten gefunden und ist dementsprechend stark vertreten. So finden sich heute die schönsten Werke Millets in Nordamerika. Daß es eine neuere deutsche Malerei und Griffelkunst gibt, würde man aus amerikanischen Sammlungen niemals schließen können. Grützner, Defregger, Makart, Knaus, Gabriel Max, Fritz Kaulbach sind die Künstler, die unsre Moderne drüben repräsentieren. Böcklin, Klinger, Menzel waren bis vor kurzem selbst dem Namen nach unbekannt jenseits des Ozeans.

Es gibt immerhin einige Stellen in Amerika, wo man sich über die heimliche Barbarei der jetzigen Verhältnisse klar ist, wo man erkennt, was der amerikanischen Kunstentwicklung am meisten nottut, nämlich: organisches Wachstum. Neben jenen Museen zweiten Grades, die mehr Raritätenkabinetten als ernsthaften Kunstsammlungen gleichen, gibt es doch auch schon einige, mit feinem Verständnis musterhaft geleitete Anstalten, wie zum Beispiel das Museum of fine Arts in Boston, das Metropolitan Museum in New York und das Kunstinstitut von Chicago. Die ältere deutsche Kunst hat in dem vom deutschen Kaiser reich beschenkten, von Kuno Franke vortrefflich geleiteten »Germanic Museum« von Harvard endlich die ihr gebührende Heimstätte auf amerikanischem Boden gefunden.

Hoffnungerweckend für die Zukunft ist auch die Tatsache, daß man in den bessern Volks- und Mittelschulen anfängt, den jungen Menschen die Kunst der ganzen Welt in Reproduktionen nahezubringen. Einige dieser Schulen machen durch ihren Bilderschmuck, 301 ihre Gipse, Stiche und mannigfachen Ornamente den Eindruck von wahren Schmuckkästchen. Passende Auswahl der Gegenstände vorausgesetzt, ist von dem frühen Vertrautwerden des kindlichen Auges mit Linie, Form und Farbe für Geschmack und Kunstliebe der heranwachsenden Generation sicherlich manch gutes zu erwarten.

Auch für ihre künstlerische Erziehung möchte man den Amerikanern jene Bescheidenheit wünschen, durch die allein der Weg zum Können führt. Nirgends herrscht die unkünstlerische Sucht der Prahlerei drüben mehr als in der Denkmalkunst. Der Amerikaner liebt Marmor- und Erzfiguren als Schmuck seiner Parks und öffentlichen Plätze; da aber das Land sich bei seiner kurzen Geschichte noch nicht allzu vieler nationaler Heroen rühmen kann, so sind in der Neuen Welt auch solche Größen zu Monumenten gekommen, die man bei uns ruhig der Vergessenheit anheimfallen lassen würde. Der Kriegerdenkmalstil hat, ähnlich wie in Deutschland, viele Geschmacklosigkeiten hervorgebracht. Im Süden, dem im Bürgerkrieg unterlegnen, findet man bezeichnender Weise am ersten noch Kriegerdenkmäler von Ernst und Größe.

Dem Stein wie dem Metall wird vom Bildner vielfach Gewalt angetan. Das tritt recht in Erscheinung auf den amerikanischen Friedhöfen, wo man unter der Unzahl von Säulen, Obelisken, Grabplatten, Quadern und Kugeln fast nie ein Monument findet, das einen Gedanken ausspräche, und nur selten einmal eine Arbeit, die dem verschwenderisch verbrauchten Material auch nur einigermaßen gerecht würde.

302 Während es in der bildenden Kunst vor allem von England und Frankreich abhängig geblieben ist, zeigt das moderne Amerika in der Musik tiefe Beeinflussung durch Deutschland.

Die Musik hat drüben ihren Ursprung auf kirchlichem Gebiet. In die Abneigung der Puritaner gegen alle profane Kunst war anfänglich auch die Musik eingeschlossen. Mit dem Aufkommen von allerhand freieren religiösen Richtungen und Sekten wurden die Kirchenchöre eingeführt, die sich auch im heutigen Amerika größter Populariät erfreuen. Gemeindegesang und Einzelvortrag bilden einen wesentlichen Bestandteil des Gottesdienstes bei fast allen Denominationen. Ins Volkesleben haben erst die Deutschen die Musik eingeführt, vor allem als Orchestermusik. Überall dort, wo viel Deutsche wohnen, findet man Konzerte im Freien, deutsches Lied, Männergesangvereine. Die Oper war früher international; jetzt ist die deutsche Oper der italienischen und französischen gefolgt und scheint drauf und dran, ihre Rivalinnen zu verdrängen. Wagner ist heute der populärste Komponist für die großen Opernbühnen, Bach und Händel sind es für das Oratorium. Zu der Gottheit Beethoven hat man drüben noch kein rechtes Verhältnis gewonnen.

Sangesfroh sind nächst den Deutschen vor allem die Neger. Sie haben Amerika und die ganze Welt um eine originelle Liederart bereichert: die Niggersongs. Diese Gesänge, die uns oft komisch vorkommen, sind von ihren Erfindern meist sehr ernst gemeint gewesen. Der Neger ist musikalisch von Natur; Melodie, Rhythmus und Takt bedeuten ihm alles, der Text 303 dazu ist ihm verhältnismäßig gleichgültig. Darum besingt er alles, das Tragische wie das Prosaische. Vers und Melodie entstehen gleichzeitig. Die schwarzen Plantagenarbeiter singen aus dem Bedürfnis heraus, sich das Dasein durch ein wenig Musik zu erleichtern. Sie verfahren dabei wie Kinder, die irgend ein aufgefangnes Wort, einen halb verstandenen Vers vor sich hin summen, der Nachbar bei der Arbeit fällt ein; so entsteht ein Lied, das später vielleicht die Bühne erobern und über den Ozean wandern mag.

Die eigentlichen Schöpfer der bekanntesten Niggersongs haben höchst wahrscheinlich niemals lesen und schreiben gelernt, noch weniger haben sie vom Kontrapunkt etwas geahnt. Viele dieser primitiven Lieder zeugen von der sentimentalen Ader ihrer Komponisten; Empfindsamkeit ist dem Nigger ebensowenig wie andern Naturkindern fremd. Trivial, wie solche Lieder oft sind, fallen sie doch ins Ohr und haben starke Wirkung auf die Nerven. Manche Niggersongs sind, stark gemodelt allerdings, sogar in die Gesangbücher als »spirituals« aufgenommen worden.

Wenn man die Programme der ersten Kapellen von New York, Boston und andern Großstädten liest, die allabendlich ein elegantes Publikum in die Konzertsäle locken, wenn man das Interesse beobachtet, das Presse und Publikum der Oper entgegenbringen, kurz, wenn man sich an die Äußerlichkeiten des Musiklebens hält, dann könnte man leicht zu der Ansicht kommen, die Amerikaner seien ein hoch musikalisches Volk; von Anlage sind sie es nicht, aber das Musikverständnis 304 ist drüben im Wachsen begriffen. Dafür sorgen Kirche und Schule. In beiden wird die Musik als nicht zu entbehrendes Mittel der Erbauung und Erziehung gewürdigt und sowohl als Vokal- wie Instrumentalmusik gepflegt. Aber in dem Umfange populär wie in Deutschland ist die Musik jenseits des Ozeans nicht. Bei uns ist sie ja vorläufig noch immer die einzige Kunst, die in jede Häuslichkeit dringt, die von allen Ständen gleichmäßig geschätzt und ausgeübt wird. Immerhin ist in Amerika die Musik die verbreitetste aller Künste, wenn sie auch ihr feierliches Gewand noch nicht abgelegt hat, nicht überall zur schlichten Hausfreundin geworden ist.

Eine Schriftstellerin, die das Deutschtum in Amerika genau kennt und die dabei die eingeborne amerikanische Kultur wie wenige richtig wertet, Frau von Ende in New York, schreibt mir: »Ich habe genug in amerikanischen Kleinstädten gelebt und besitze mit entfernten Winkeln des Landes Verbindung, um behaupten zu können, daß es kaum einen Ort gibt, sei er noch so klein, wo es nicht wenigstens einen Kreis von Menschen gibt, die ihre ganze Muße der Pflege und dem Genuß guter Musik widmen. Musiklehrer behaupten, in dem gebildeten Mittelstande der amerikanischen Provinzstädte häufig gediegneres Verständnis und mehr Begeisterung gefunden zu haben, als in den Großstädten. Und selbst die Bevölkerung dieser Städte hat keinen so üblen Geschmack und ist eines Musikenthusiasmus fähig, der kaum übertroffen werden kann.«

Die Fähigkeit zum Enthusiasmus, von der hier gesprochen wird, ist ja überhaupt einer der erfreulichsten 305 und hoffnungsvollsten Züge am amerikanischen Charakter. Begeisterung für Musik ist ganz unzweifelhaft vorhanden, ebenso für das Theater. Aber leider hält das Verständnis nicht immer Schritt mit dem Enthusiasmus, und das Gebotene steht vorläufig noch nicht im Verhältnis zum Hunger des Volkes nach Anregung und Genuß.

Daß es auch in dieser Beziehung besser wird, geht aus dem hervor, was Frau von Ende weiter schreibt: »Ich hatte Gelegenheit, das Publikum von der Loge wie von der Galerie aus zu studieren. Da machte ich die Beobachtung, daß ich Woche um Woche denselben Leuten begegnen konnte, die sich Opfer auferlegt haben mußten, um sich diese Genüsse zu verschaffen, sei es Symphoniekonzerte oder Opernvorstellungen. Schier unübersehbar ist die Zahl derjenigen Amerikaner, die aus purem Vergnügen jahrelang die ernsteste Musik pflegen; und an Familien, die jeden Winter im intimen Kreise Kammermusik-Abende veranstalten, zu deren Mitwirkung die besten professionellen Kräfte herangezogen werden, ist kein Mangel. Das aber entgeht einem leicht in dem grauenhaften Gewühl des Großstadtlebens.«

Wenn diese Schilderung zutrifft, woran ich nicht zweifle, dann bewiese das Volk von Nordamerika der Musik gegenüber jenes besonders wertvolle Mäcenatentum des kleinen Mannes, das es der Malerei gegenüber ja so vollständig vernachlässigt.

Es wäre somit Hoffnung vorhanden, daß die Amerikaner durch die Musikpflege vielleicht allmählich 306 zu Freunden der Kunst überhaupt, daß sie zum ästhetischen Volk würden.

* * *

In seiner Kunst ist Nordamerika noch nicht über die Kolonialzeit hinausgekommen, wenn es sich auf allen andern Gebieten auch längst vom Mutterlande emanzipiert hat. Mit der Literatur steht es anders. Auch hier stammt der Formen- und Ideenschatz wesentlich aus Alt England. Bis tief in das neunzehnte Jahrhundert hinein stand das amerikanische Schrifttum unter Vormundschaft seiner älteren englischen Schwester. Aber heutzutage besitzt die Neue Welt doch schon einige Autoren, hat eine Anzahl von Werken aufzuweisen, die Freiheit von altweltlicher Auffassung zeigen und ein ausgesprochen transatlantisches Gepräge tragen.

Das auffälligste an der amerikanischen Literatur ist, daß sie in Amerika keine Fundamente hat. Darin trägt sie Kolonialtypus. Die angelsächsischen Einwanderer brachten ihre Muttersprache mit und damit die Möglichkeit, die große, hochentwickelte, englische Literatur zu nützen, als sei es die eigne. Im Anfang hatte man natürlich andre Dinge zu tun, als Gedichte zu schreiben und Dramen zu komponieren. Die literarische Vormundschaft aber blieb bestehen, jemehr und mehr auch das amerikanische Leben sich originelle Formen schuf und eigne Wege einschlug. Der Trieb, sich dichterisch selbständig zu betätigen, fiel weg, da man ja eine quasinationale Literatur besaß, die in ihrer 307 Überlegenheit den Anfänger erdrücken mußte. Infolgedessen beschränkt sich das amerikanische Schrifttum auch noch in der Revolutionszeit und darüber hinaus auf Briefwechsel, Predigt, Biographien, Chronik, Gesetzgebung und allerhand praktische Schriften.

Der eigentliche Mutterboden jeder hochentwickelten Literatur ist bisher die Volkspoesie gewesen. Die amerikanische Nation, die sich im hellen Lichte der Weltgeschichte aus Sprößlingen fertiger Völker gebildet hat, besitzt eine Volkspoesie natürlich nicht. Amerika hat keine Heldensagen, keine Märchen, kein Epos. Wohl ist ihm die Urpoesie der britischen Heimat durch die gemeinsame Sprache erschlossen, aber gerade das, was unsre Märchen und Sagen, unsre Spruchweisheit und geistlichen Lieder uns traut und wert macht, die Beziehung zur Heimat, muß dem modernen Amerikaner abgehen Dichtungen gegenüber, deren Schauplatz, Stimmung und Personen ihm höchstens archäologisches Interesse erwecken können.

Im Vergleich zu den eigentlichen Yankees sind die eingewanderten Niederländer und Deutschen reich an mancherlei alten Gebräuchen, Sprüchen, Volksliedern, Rätseln, Scherzreimen und uraltem Aberglauben. Vor allem die pennsylvanischen Deutschen beweisen damit ihre Abkunft von dem sinnigsten, märchengläubigsten Volke der Welt. Aber selbst die Indianer und vor allem die Neger stechen die Herrenrasse aus mit ihrer stets zum Reimen und Singen bereiten Phantasie und ihrer naiven Erfindungsgabe. Natürlich haben die Yankees, die auf den »Damned Dutchman«, wie auf die Rothaut und den 308 Nigger aus ihrem Kulturdünkel mit tiefer Verachtung herabschaun, von diesen Fremden nichts für ihre Literatur angenommen. Nur Ortsnamen, geographische Bezeichnungen, technische Ausdrücke und slangs erinnern an die Anwesenheit einer Urbevölkerung und vieler Einwanderer von nicht angelsächsischer Abkunft im großen Amerika.

Es gibt einen einzigen Autor in der amerikanischen Literatur, der als eine Art Ersatz für die mangelnde Volkspoesie gelten kann: Fenimore Cooper. Seine Leather-Stocking-Tales umschwebt etwas von der schlichten Wahrhaftigkeit und Selbstverständlichkeit des Märchens, und den Kapiteln von dem letzten der Mohikaner ist der heroische Zug der Heldensage nicht fremd. Für die fehlende Epopöe tritt neuerdings die amerikanische Geschichtsschreibung mit einigen klassisch geschriebnen Werken, die große Popularität erlangt haben, ein. Aber den Zauber der Ursprünglichkeit und die Patina des Alters vermag noch so große Kunst und selbst der glühendste Patriotismus diesen auf wissenschaftlichem Wege entstandnen Chroniken nun einmal nicht zu geben.

Selbst wo Ehrfurcht vor der Vergangenheit und der Wunsch, sie neu zu beleben vorhanden sind, wie bei Longfellow, fehlt es in diesem neuen Lande doch eben an dem unergründlichen Born des Volkstums, aus dem Goethe, Herder, die Romantiker, die Grimms bei uns geschöpft haben. Longfellows beste Balladen spielen im Auslande oder sind Übertragungen nach deutschen und schottischen Mustern. Der Sänger der »Evangeline« 309 besitzt viele schöne Gaben des echten Dichters: Zartheit, guten Geschmack, edle Sprache, Idealismus im besten Sinne; aber diesem anmutigen Geiste ging jene elementare Zeugungskraft ab, jene kühne Rücksichtslosigkeit, ohne die kein Künstler jemals der feindlichen Materie seinen Stempel aufgedrückt hat. Longfellowsche Zartheit und Whitmansche Ursprünglichkeit zusammengeschweißt, hätten Amerika vielleicht den ganz großen Dichter schenken können, auf den es noch immer wartet.

Neben Cooper tritt als feinster Kenner der amerikanischen Landschaft Thoreau mit seinem wunderlich schönen Buche »Walden«. Tief ist von der Urmystik des Naturlebens der geistvoll vielseitige Emerson ergriffen. Der Weise von Concord ist groß, als Philosoph, Seher, Essayist, eine ungebrochen ursprüngliche Künstlerindividualität jedoch stellt er nicht dar. In diesen Kreis gehört auch Hawthorne mit dem »Scarlet letter« und andern Meisterwerken der Erzählungskunst. Er ist vielleicht der uns Modernen am nächsten stehende neuenglische Novellist mit seinen Bohrversuchen im seelischen Gebiet; während psychologische Tiefe sonst nicht eben Charakteristikum des amerikanischen Romans ist.

Die einzigartige Erscheinung der Concord School ist zu erklären aus einer notwendigen Reaktion des Naturgefühls gegen die Übertreibungen neuweltlicher Zivilisation. Ebenso wie das vorrevolutionäre Frankreich einen Rousseau, so mußte das durch und durch materielle moderne Amerika jene Schule von Transzendentalisten und Naturvergötterern hervorbringen, deren glänzendste Namen Emerson, Thoreau, Hawthorne sind.

310 Ralph Waldo Emerson hat vieles mit Goethes Vielseitigkeit und manches mit Schillers moralischem Pathos gemein. Wie der Goethe der spätern Periode ist er im Vollbesitz jener alles schauenden, alles gelten lassenden Weltweisheit, wie Schiller wendet er sich mit starken Beschwörungen an die heroische Seite der Menschennatur.

Man soll große Männer nicht dadurch verkleinern, daß man sie an noch größern mißt; aber Emerson fordert dadurch, daß er Goethe kritisiert hat, dazu heraus, ihn mit Goetheschem Maßstab zu messen. Und da erkennt man die künstlerische Schwäche des Amerikaners. Es fehlt in seinem Leben die Sturm- und Drangperiode, die tolle Weimarer Zeit. Emerson war frühreif wie seine Rasse und dabei angelsächsisch wohlerzogen. Er ist seinem Lande jene Dichtungen schuldig geblieben, die auch Altmeister Goethe nur in der Maienkraft seiner Jugend uns zu geben vermochte, einen Werther, Götz, Faust I.

Emerson ist unzweifelhaft eine reiche Seele, aber kein reicher Dichter. Vielleicht hätte ein stürmischeres, konfliktreicheres Leben, als ihm beschieden war, die Schätze seines Innern vollkommner zu Tage gefördert; vielleicht hätte er die Welt mit herberen, großzügigeren Werken beschenkt, wäre er selbst vom Schicksal minder sanft behandelt worden. Faustische Zweifel, Prometheisches Aufrührergelüst haben ihn niemals gequält, darum hat er auch niemals das Schicksal eines Faust, eines Prometheus zu gestalten versucht. Man vermißt bei diesem feinen milden Geist den Shakespearschen Sinn für die Tragik des Daseins, die elementaren Leidenschaften eines Bonaparte. Es ist charakteristisch für 311 Emerson, daß er in seinen »Representative Men« gerade jenen drei Größen: Goethe, Shakespeare, Napoleon I. nicht gerecht geworden ist. Selbst als Kritiker und Biograph gleicht er also nur dem Geist, den er begreift.

Auch bei dem größten Dichterphilosophen der westlichen Hemisphäre herrscht jene Monotonie, die nun einmal Wesenszug neuweltlicher Kultur zu sein scheint. Emerson ist nicht eben reich an neuen Gedanken, seine vielen geistvollen Einfälle können über die Enge seines Stoffgebiets nicht hinwegtäuschen. Und was uns Deutschen am erstaunlichsten ist, er hat keine Entwicklung. Von Anfang an steht er als ein Fertiger da. Man findet bei ihm nicht jenes titanische Ringen um die Form: eines Kleist, Grabbe, Hölderlin, Hebbel, Lenau, Ludwig, jenes schmerzhafte Suchen und Sich-nicht-genugtun-können, in dem sich so mancher deutsche Künstler verblutet hat. Darum hat sich ihm auch die Muse nie ganz ergeben. Seine besten Essays erscheinen Zufallswerke, sie imponieren weder durch Größe des Wurfs noch durch Wucht der Darstellung.

Wenn auch Emerson nicht zu den führenden Geistern der Weltliteratur gehört, so ist er doch für sein Volk ein großer Anreger geworden. Amerika bleibt ihm ewig zu unendlichem Dank verpflichtet, selbst wenn er seinem Geburtslande nicht den großen Poeten geschenkt hat, den manche in ihm sehen möchten. Gerade für die Neue Welt war jene Stimme nötig, die von hoher Warte herab zu geistiger Schatzgräberei aufforderte, jene Warnung, Gold und Silber zu überschätzen, jener Hinweis auf die Größe des Menschen und 312 auf die relative Wertlosigkeit der Sachen. Der Weise von Concord gab der amerikanischen Literatur das, was ihr bis dahin gefehlt hatte: die Ewigkeitsperspektive.

Emerson besitzt die echte Prophetengabe, über sich selbst hinauszuweisen, den sittlichen Willen anzufeuern und zu starken Gefühlen zu begeistern. Selbst dort, wo er von scheinbar kleinen Dingen redet, hat er doch immer das große Ziel im Auge, seiner Nation Führer zu sein auf unbetretnen Wegen.

In mehr als einer Beziehung fordert Ralph Waldo Emerson zum Vergleich mit Friedrich Wilhelm Nietzsche heraus. Ähnlich ist ihre Herkunft: beide sind Pastorenkinder. Emersons Stammbaum weist genau wie der Nietzsches durch mehrere Generationen geistliche Ahnen auf. Beide traten sie später in bemerkenswerten Gegensatz zur frommen Atmosphäre des Elternhauses; der Puritanerabkömmling Emerson in milderer, wenn auch bestimmter Form durch seine »Divinity School Address«, jenen der offiziellen Theologie hingeworfnen Fehdehandschuh, Nietzsche mit einer ganzen Reihe von Schriften, die, eine immer radikaler und bitterer als die andre, den Christenglauben in seinen Fundamenten angreifen. Beide haben sie auch jene Form gemeinsam, in der sie am liebsten zur Welt gesprochen: den aphoristischen Essay. Beide sind glänzende Stilisten und haben, ohne eigentliche Sänger zu sein, die Sprache um ganz neue Bilder und Wendungen bereichert. Eine Art lyrischer Prosa von leuchtender Farbenpracht tritt bei diesen Dichterphilosophen an Stelle des Liedes. In höchster Extase haben diese Seher etwas trunknes, 313 aber während Emerson in der Begeisterung gelegentlich die Herrschaft über die Gedanken verliert und dunkel wird, bleibt Nietzsche selbst auf steilster Höhe des kaum noch Ausdenkbaren voll hellseherischer Klarheit. Der Verfasser des »Zarathustra« ist der tiefere Philosoph, der schärfere Dialektiker, in seinen besten Sachen auch der größere Künstler. Dem Amerikaner muß man den reineren Willen, die harmonischere Anlage, den edleren Charakter zugestehn. Beide haben auch, so verschieden sonst ihr Lebenslauf gewesen ist, darin ein ähnliches Geschick entwickelt, daß sie von übereifrigen Jüngern sinnlos vergöttert und von Geistern zweiter Ordnung recht unglücklich kopiert worden sind.

Emerson hatte das Glück, im rechten Augenblick vor das rechte Volk zu treten. Seine faszinierende Wirkung auf die Amerikaner liegt darin begründet, daß er ohne Vorgänger im eignen Lande war. Er fand eine leere Fläche vor, auf der er alles neu aufzubauen hatte. Im Gefühl der Endlosigkeit seines Landes, der Ewigkeit seiner Rasse mochte ihn leicht Trunkenheit ergreifen. Wo beginnen, wo enden, um alles zu schildern, was sein Auge sah! Das amerikanische Leben glich einem Frühlingsmorgen, als Emerson sein Erstlingswerk, »Nature«, veröffentlichte.

Aber für eines Menschen Kraft ist es zuviel, einem ganzen Volke die Dichtkunst aus dem Boden zu stampfen. Emerson hat Samen ausgestreut und hier und da eine Furche gezogen im Urwald. Andre werden folgen, die das von ihm nur oberflächlich bestellte Land mit schärferem Pfluge tiefer pflügen müssen, soll Amerika 314 eine der Alten Welt ebenbürtige Literatur sein eigen nennen.

Aus der leidenschaftlichen Naturliebe der Yankees ist noch am meisten Hoffnung zu schöpfen, daß dieses Volk einmal eine der Größe seiner Umgebung und der Vielseitigkeit seines Lebens entsprechende Kunst aus sich heraus gestalten wird. Amerika ist auch in seinem Verhalten zur Natur das Land der Widersprüche. Das Volk als ganzes legt wenig Respekt vor der Schöpfung an den Tag, hat in den ihm von Gott anvertrauten Schätzen gehaust, wie kaum ein andres; der einzelne Amerikaner hingegen ist immer ein Freund und oft ein feiner Kenner der Natur. Allerdings nimmt er ihr gegenüber nicht die untätig beschauliche Stellung des deutschen Naturschwärmers ein; mit Vorliebe sucht er ihre rauhen Seiten auf. Er liebt es, den Verkehr mit ihr durch Strapazen und Entbehrungen gleichsam körperlich zu fühlen. Tagelang kann er wandern, rudern, reiten, wochenlang nachts unter freiem Himmel kampieren, um nur im Genuß der Bewegung zu schwelgen und im Freien zu sein. Der Durchschnitts-Deutsche wird immer die Neigung haben, unter ein gastliches Dach einzukehren, und bei vielen unsrer Landsleute kann man im Zweifel sein, ob sie die Natur nicht vielleicht nur darum gern aufsuchen, weil in ihr so viele Restaurationen angebracht sind. Der Yankee, Mann wie Frau, geht, wenn er sich aus der Stadt einmal in die Natur geflüchtet hat, am liebsten in die Wildnis, wohnt im Zelt, fühlt sich um so wohler, je mehr er in der Zubereitung aller Genüsse nur auf sich selbst angewiesen ist.

315 Einen Begriff von der Neigung der Amerikaner für das Naturleben geben die vielen Bücher, Broschüren und Zeitschriften, die dieses Thema ganz ausschließlich behandeln. Theodor Roosevelt selbst hat verschiedne Bücher über Jagd und jagdbare Tiere veröffentlicht. Aber es gibt auch ungezählte Schriften, die, von jedem sportlichen Interesse absehend, die Natur nur um der Natur willen schildern. Die amerikanischen »Nature Books« bilden eine kleine Bibliothek für sich, für die in keiner andern Literatur etwas entsprechendes gefunden werden kann. Intimste Schilderungen der nächsten Umgebung, schlichte Betrachtungen über einzelne Naturerscheinungen, die bei uns den Leser langweilen würden, finden drüben Verständnis und Liebhaber. Eines dieser Bücher, das in letzter Zeit Aufsehen unter den literarischen Feinschmeckern gemacht hat, schildert weiter nichts, als was der Autor vom Hinterhofe seines Hauses in Brooklyn aus gesehen hat.

Solche Bücher sind in Wahrheit keine Kunstwerke; sie dürfen besten Falls als Skizzen, als Vorarbeiten zu Kunstwerken angesehen werden. Aber in Amerika nimmt man sie als vollgültige Literatur. Es fehlt ihnen am Knochenbau, sie sind künstlerisches Protoplasma, formlos, zerfließend, ohne Anfang und Ende, oft gänzlich pointelos.

Nur ein Volk, das noch keine selbständige Literatur von Grund aus entwickelt hat, in der alles gesagt ist, was sein Inneres bewegt hat im Laufe der Zeiten, ein Volk, dem vielmehr noch alles neu und wunderbar erscheint an seinem eignen Wesen und an seiner Umgebung, kann solche kindliche Bücher schreiben und wird sie lesen.

316 Charakteristischer Gegensatz zu den Bewohnern der Neuen Welt sind in dieser Beziehung die Franzosen, das kultivierteste aber auch raffinierteste Volk der Alten Welt. Sie haben jeden Gedanken schon gedacht, jedes Ding schon beobachtet, jede seelische und körperliche Regung, jedes Gefühl schon analysiert, alle Formen längst versucht und ausgebeutet. Ihre Dichter sind schwer belastet durch die Vergangenheit. Bei jedem Satz, den sie schreiben, müssen sie sich überlegen, ob das, was sie sagen wollen, nicht schon viel besser ausgedrückt worden ist; sie wissen sich einem verwöhnten, anspruchsvollen Publikum gegenüber. Der amerikanische Autor ist glücklicher dran; er fühlt nicht jene geheime Sorge vor unbeabsichtigten Plagiaten, und sein Publikum kennt nicht die Blasiertheit der Übersättigung. Man schreibt sich die Eindrücke von der Seele und darf sicher sein, wenn man einfach erzählt, was man mit unvoreingenommenem Auge gesehen hat, beim Leser eine verwandte Ader zu treffen.

Bei uns kenne ich nur zwei moderne Autoren, die von aller Handlung, allem Effekt absehend, die Natur gewissermaßen zum Selbstzweck erhoben haben: Karl Hauptmann und Johannes Schlaf. Sie würden beide, lebten und dichteten sie in Amerika, das finden, was sie hier nicht haben, nämlich: Leser.

Die gröbsten Mängel des amerikanischen Lebens: Oberflächlichkeit, Monotonie, Mangel an Verinnerlichung und feinster Geisteskultur, hatten die empfindsamen Seelen der Neuen Welt früh der Natur in die Arme getrieben. Aber es gab eine Klasse Autoren, die diese Mängel, 317 vermöge ihres Temperaments vom entgegengesetzen Standpunkte auffaßten. Man kann sich der Brutalitäten des Lebens auch auf andre Weise als durch Weltflucht erwehren. Den Gegensatz von Ideal und Wirklichkeit zu zeigen und die Unvollkommenheiten dieser Welt zu belächeln, fordert den Humoristen heraus.

Es ist kein Zufall, daß Nordamerika für die Kürze seiner literarischen Laufbahn eine ungewöhnlich große Zahl witziger Schriftsteller hervorgebracht hat. Die Kontraste, die herauskamen, als ein aus allen Rassen, Farben, Konfessionen, Ständen und Sprachen gemischter Völkerstrom sich in einen fast menschenleeren Kontinent ergoß und ihn in kürzester Zeit oberflächlich besiedelte, drückten dem Satyriker geradezu die Feder in die Hand. Andrerseits ist es kein Wunder, daß der Witz, der hier geboren wurde, nicht vom allerfeinsten Korn war; meist verfuhr er nach dem Worte: »Auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil!«

Der amerikanische Humor ist ein ziemlich ungewaschener Geselle, indiskret und prahlerisch, der seine Erfindungen selbst mit lautem Gelächter begleitet. Nach der Träne, die sein deutscher Bruder heimlich im Auge zerdrückt, sucht man bei ihm vergebens. Nur zwei amerikanische Autoren weisen jenes Mitgefühl des echten Humoristen auf, das, wo es Hiebe versetzt, auch gleich lindernd mit der Hand darüber streicht: Irving und Holmes. Aber populärer, weil für den Yankeegeist typischer, sind Mark Twain und Bret Harte geworden.

318 Man braucht drüben nur eine beliebige Zeitung in die Hand zu nehmen, oder eine der beliebten Monatsschriften, um in Sketches, Shortstories, Epigrammen, Anekdoten und Gedichten Proben für den amerikanischen Witz die Menge zu finden.

Eine besondre Stellung nimmt Poe ein. Manche halten ihn für den bedeutendsten neuweltlichen Dichter, jedenfalls ist er ein großer Wortmaler. Sein Sinn für das Groteske ist amerikanisch, in seinen Detektiv-Neigungen verrät er den Yankee. Es ist auch ein Zug in ihm genialer Perversität, der ihn den französischen Dekadenten nahe bringt; die pessimistisch greisenhafte Weltanschauung gallischen Rassenverfalls ist aber so unamerikanisch, wie nur möglich.

Das, was sie drüben »Fiction« nennen, also etwa unsre Belletristik, ist zum überwiegend größten Teile Durchschnittsware und steht unter dem Zeichen der Schnellschreiberei. Nirgends in der Welt sind Bücher so von der Mode des Tages abhängig, wie in Amerika. Ein Werk macht aus irgend einem Grunde, der mit Kunst nicht das geringste zu tun hat, Aufsehen, bringt es in kürzester Zeit zu hundert und mehr Auflagen, um nach wenig Jahren einer durchaus berechtigten Vergessenheit anheimzufallen. Die beliebtesten Autoren sind nicht die, welche etwas Neues zu sagen haben, sondern jene mit feiner Witterung für den Geschmack der Menge begabten Schreibkünstler. Mit einem Worte, es herrscht der Konventionalismus.

Er wird unterstützt durch die Presse. Die Manie des Zeitungslesens, wütend wie sie in der Neuen Welt 319 grassiert, wirkt nicht nur zerstreuend, sie hat auch den Nachteil für die ästhetische Bildung, daß sie die geistigen Werte drückt und die Grenzen unmerklich verrückt zwischen dem, was bedeutend und unbedeutend, wichtig und gleichgültig, vornehm und gewöhnlich, schön und unschön ist. Die urteilslose Menge schlingt alles wahllos hinab, was ihr in den Zeitungsspalten vorgesetzt wird und überträgt diese Art gierig oberflächlichen Lesens auf das Buch, das ja schließlich auch nur Drucksache ist. Und der überreizte Gaumen verlangt dann von der Dichtung die Sensation, an die er von der Zeitung her gewöhnt ist.

Weit gewählteren Lesestoff als die Tageszeitungen bieten die Monthlies und die Revüen ihren Lesern. Aber auch sie können ihrer Abonnenten wegen nur die herrschende Mode wiederspiegeln. Das beste, was man der amerikanischen Unterhaltungsliteratur nachrühmen kann, ist: elegantes Englisch, geschickte Technik und gute Beobachtung von Äußerlichkeiten. Über den Mangel an Eigenart und Tiefe jedoch können diese Vorzüge nicht hinwegtäuschen. Noch schlimmer ist es um die Lyrik bestellt. Auch Amerika hat, so befremdlich das klingen mag, seine sentimentale Periode gehabt; sie erreichte ihren Höhepunkt etwa um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Nichts blieb damals unangeschwärmt und unbesungen. Aber diese Massenproduktion von Versen hat doch keinen Lyriker hervorgebracht, den man neben die ersten Sänger der Welt stellen könnte. Auch heute, wo die empfindsame Welle längst zurückgeebbt ist, hat sich die Neigung für Lyrik 320 nicht gelegt. Man kann kaum ein Zeitungsblatt in die Hand nehmen, ohne auf Verse zu stoßen; meist stammen sie von zarter Hand. Wenn man einige von diesen Gedichten gelesen hat, so kennt man sie alle; so gänzlich fehlt es ihnen an jeder persönlichen Note.

Ein bedenkliches Zeichen für die Gestaltungskraft amerikanischer Dichter ist es, daß sie sich bisher so wenig an die Geschichte ihres Volkes herangewagt haben. Die große Zeit der Revolution gegen das englische Mutterland hat ebensowenig wie der Bürgerkrieg eine Epoche literarischer Blüte eingeleitet. Es fehlt den Großtaten in der amerikanischen Geschichte noch die Verklärung durch den Sänger. Ihre nationalen Gesänge, wie der »Yankee doodle«, das »star spangled banner«, oder gar das berühmte »Dixie«-Lied, der Kampfhymnus des Südens, sind von verblüffender Trivialität.

Nicht gänzlich ohne Einfluß ist die Literatur auf die Verschärfung jener Gegensätze geblieben, die schließlich zur Teilung Nordamerikas in zwei feindliche Heerlager geführt haben. Bekannt ist die Rolle, die der Roman von Mrs. Beecher Stowe »Onkel Toms Hütte« in der Sklavenfrage gespielt hat. Nur in einem Volke, bei dem der Weg von der leicht entflammten Einbildung zur leidenschaftlich verfochtenen Überzeugung so kurz ist, wie bei den Yankees, konnte ein verhältnismäßig harmloses Buch eine so durchschlagende Wirkung üben. Bedeutendere literarische Verfechter als diese Frau fand die Sache der Abolition in dem Quäker-Dichter Whittier und andern Intellektuellen der Neuenglandstaaten.

Die großen Dichter unsrer klassischen Periode 321 sind drüben zwar keineswegs ihrem ganzen Werte entsprechend bekannt geworden, aber ihren Spuren begegnet man doch hier und da in der amerikanischen Literatur. Besonders Emerson hat bei den feineren Geistern ein gewisses Verständnis für Goethe angebahnt. Den tiefsten Einfluß jedoch haben auf die Generation von 1830 zu 1870, die ihren tatkräftigen Idealismus in der Sklavenemanzipation und im Bürgerkriege zu erweisen hatte, unsre großen Denker von Kant bis Hegel geübt.

Das ist aber auch alles was sich im neunzehnten Jahrhundert von deutschem Einfluß auf die amerikanische Literatur, soweit sie nativistisch ist, nachweisen läßt. Während sich die Wissenschaft von deutschen Forschungsresultaten nährte, schienen alle Brücken abgebrochen, über die unsre Dichtung an das Herz des großen Volkes jenseits des atlantischen Ozeans hätte gelangen können. England stand uns im Wege, das seit Carlyles Heimgang selbst keinen Interpreten deutschen Genies mehr hatte. Unsre Romantiker und Nachklassiker, die Dichter der Befreiungskriege, Männer wie Arndt, Kleist, Grillparzer, Hebbel, Ludwig sind der englisch sprechenden Welt unbekannt.

Großbritannien und die Vereinigten Staaten beweisen ihre nahe Verwandtschaft auch durch ihre ähnliche Stellungnahme zur modernen Literaturbewegung. Während der Naturalismus seinen Siegeszug durch ganz Europa antrat, ausgehend von Frankreich, wo er durch die Positivisten Comte und Taine vorbereitet und durch Balzac und Zola zum Prinzip erhoben worden war und sich über Rußland, Skandinavien, Deutschland, 322 nach Italien und Spanien ausbreitete, hielten die Völker angelsächsischer Abkunft diesem stürmischen Gesellen ihre Tore verschlossen. Anhänger der alten Schule werden geneigt sein, die von dieser Kunstrichtung verschont gebliebnen Länder zu beneiden. Aber wenn man auch die Auswüchse und Übertreibungen der kürzlich verflossnen Literaturperiode missen möchte, so muß es doch gerade im Angesicht des heute in England und Amerika herrschenden literarischen Konventionalismus ausgesprochen werden, daß Revolution besser ist als Stagnation.

Übrigens kann es gar nicht verwundern, daß Nordamerika sich an der naturalistischen Bewegung nicht beteiligen wollte oder konnte. Die Grundlagen des Naturalismus sind durchaus altweltliche. Er stammt aus drei Wurzeln: der Evolutionstheorie mit ihrer Weiterbildung des Vererbungsgedankens, dem Sozialismus, speziell dem anklagenden, und dem philosophischen Pessimismus. Seine Methode war die impressionistische, die sich auf genaue Beobachtung und Forschung gründete. Alle diese Richtungen konnten in Nordamerika keinen Boden finden. Der Yankee liebt es nicht, sich mit seelischen Problemen herumzuschlagen, er überläßt ihre philosophische Lösung gern dem Denken andrer. Werden ihm gar noch in der Kunst kniffliche Fragen vorgelegt, so empfindet er das als Erschwernis. Mit dem Pessimismus weiß er nun schon garnichts anzufangen. Der Alteruismus eines Tolstoy, die Anklagedramen eines Ibsen, der schonungslose Verismus eines Dostojewsky erscheinen ihm Schläge ins Wasser, 323 deren Zweck er nicht einsieht. Den tiefen, sittlichen Ernst, der diesen Werken zu Grunde liegt, vermag er in seinem zur Oberflächlichkeit verführenden Optimismus nicht anzuerkennen. Auch herrschen die Mißstände, gegen die diese modernen Propheten eifern, in der Neuen Welt teils garnicht, teils in andrer Form und Verkleidung.

Einen wirklich modernen Dichter, der durch und durch Original ist, hat Nordamerika immerhin hervorgebracht: Walt Whitman.

Seine Art ist typischer für den amerikanischen Charakter als irgend etwas, was die transatlantische Kunst, Malerei und Musik eingeschlossen, bisher hervorgebracht hat. Whitman erscheint mit allen Mängeln und Tugenden als die Person gewordne Natur jenes großen Landes. Er ist grotesk und voll von Widersprüchen, massiv, grobkörnig, verschwommen, zerfließend, deutlich und dunkel in einem, weiblich feinfühlend, männlich derb und kindlich naiv, primitiv und hypermodern, hier stammelnd und lallend wie ein Trunkener, dort hellseherisch wie ein Prophet, brutal und ideal, tiefsinnig und trivial.

Seine Gedichte sind einander sehr ähnlich, haben dasselbe lose Maß, das eigentlich kaum ein Versmaß genannt werden kann, haben alle den nämlichen Inhalt: Amerika. Der Titel »Grashalme« für seine beste Sammlung besagt genau, was seine Lieder sind: natürliche Triebe der Mutter Erde, alle von der nämlichen Sonne hervorgebracht. Es ist, als ob der Wind über die Baumwipfel des Urwaldes streiche und ihnen stets 324 verwandte und niemals ganz gleiche Töne entlocke, oder als ob der Ozean tief Atem holend seine Wellen im ewigen Rhythmus der Brandung zum Ufer sende.

In Whitmans Liedern wird man alles finden, was Amerika vor andern Ländern auszeichnet und ziert, und was es uns fremd und abstoßend macht. Wie sich dieser Dichter in seinen Bekenntnissen mit erstaunlicher Ungeniertheit selbst entblößt, so zeigt er auch ganz naiv, ohne jede erzieherische Absicht, die intimsten Instinkte und Defekte des Amerikanismus. In ihm spiegelt sich, wie in einem ruhigen Gewässer, die ganze neuweltliche Umgebung getreulich wieder. In seiner Phantasie erlebt die amerikanische Natur ohne Verklärung ihre Auferstehung: die Unendlichkeit der Steppen, die Dunkelheit der Wälder, die Wildheit des Westens, das Raffinement der großen Städte, die Biederkeit des Lagerlebens, die Gebundenheit und das unklare Streben der Massen und die Freiheit des einzelnen. Die ganze Buntscheckigkeit des neuweltlichen Rassenkaleidoskops muß diesem Dichter Farben leihen, dabei bleibt er bis in die letzte Faser Yankee. Man riecht bei ihm den Kohlendunst der Fabrikstädte und Industriezentren, den Broden der frisch aufgebrochnen Ackerscholle, der Viehherde, den Schweiß der Arbeit. Er klagt nicht an, er schildert nur und prophezeit. Er singt, ein moderner Barde, Lieder von der Größe und dem Heldentum des Volkes; dabei kennt er keine Helden in seinen Dichtungen. Die Demokratie ist sein Glaube, die Zukunft Amerikas seine Religion. 325

»Mit festem Taktschritt ziehen sie vorbei und halten nimmer ein,
Geschlechter von Menschen, Americanos, die Hundert Millionen,
Ein Geschlecht seine Rolle spielend und hinfahrend,
Ein andres Geschlecht seine Rolle spielend und hinfahrend,
Mit dem Antlitz seitwärts gewandt oder rückwärts, mir zu lauschen,
Mit Augen rückschauend nach mir.«

Wir haben niemanden, der für das ganze Deutschland ähnlich charakteristisch wäre, wie Whitman es für sein Vaterland ist. Fontane repräsentiert die Mark, Raabe das Philistertum mitteldeutscher Städte, Keller schweizerisch süddeutsches Wesen. Jeder einzelne groß und originell, aber in seinem Stoffgebiete beschränkt. Whitman, monoton und formlos wie er ist, hat doch das ganze riesenhafte Amerika hinter sich. Er ist der Dichter der Weiträumigkeit, der in der Demokratie aufgehenden und verschwimmenden Einzelpersönlichkeit.

Die tiefste Lücke, die in der amerikanischen Kunst und damit in der Kultur der ganzen Nation klafft, bleibt der Mangel eines nationalen Dramas. Hier fehlt auch jeder Ansatz, der zukünftiges Wachstum verspräche. Es gibt Theater und es gibt Truppen, aber die Komödie hängt gänzlich von England, und die Oper von Italien und Deutschland ab. Das Starsystem verdirbt die Schauspielkunst, zu der die Yankees von Natur gute Anlagen mitbringen. Der Geschmack des Publikums ist der denkbar niedrigste. Man will keine ernsten Probleme auf der Bühne behandelt sehn. Der Abhub des englischen Repertoirs scheint für Amerika gerade gut genug. Das wichtigste Requisit der amerikanischen Komödie ist der Revolver. Ein Detektivstück mit 326 Kolportageroman-Effekten hatte in New York den höchsten Rekord der letztjährigen Bühnenerfolge aufzuweisen. Shakespeare wird als Ausstattungsstück gegeben, oder um irgend einen populären Mimen in einer Paraderolle herauszubringen. Am erträglichsten ist noch das Melodrama; Pantomime, Ballet, Gassenhauer, Minstrelgesang, Klownkünste liegen den Darstellerkräften, und sind nach dem Herzen eines Publikums, das sich im Theater weniger erheben als vor allem amüsieren will. Die Theaterdirektionen kennen nur ein Ziel: Kassenerfolg, und nur ein Mittel zum Erfolg: Sensation. Das Publikum aber scheint nicht zu ahnen, welche Quelle ästhetischen Genusses und ethischer Verjüngung ihm in einem guten Theater entgeht; es zeigt sich mit den herrschenden Bühnenzuständen ganz zufrieden.

Unter diesen Umständen ist es nicht zu verwundern, daß es eine nationale dramatische Dichtung jenseits des Ozeans überhaupt kaum gibt. Die Bühne bietet originellen Talenten keine Möglichkeiten zur Entfaltung, und die Autoren wiederum stellen die Bühne nicht vor große Aufgaben und das Publikum nicht vor Probleme, an denen sie sich erziehen könnten. Wohl existiert eine Bewegung für die Schaffung einer nationalen amerikanischen Bühne; sie geht von Künstler- und Journalistenkreisen in New York aus. Aber es wird dieser Bewegung schwer fallen, die geeigneten Stücke für ihr Repertoire aus dem Boden zu stampfen. Und selbst, wenn dies gelänge, wird denn ein Publikum, das so ganz an Sensation und Seichtigkeit gewöhnt ist, mit 327 einem wirklich künstlerischen Programm etwas anzufangen wissen? –

Die moderne amerikanische Gesellschaftskomödie ist ebensowenig geschrieben wie das historische oder soziale Yankee-Drama; hier ist in Amerika noch Amerika zu entdecken. 328

 


 


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