Wilhelm von Polenz
Das Land der Zukunft
Wilhelm von Polenz

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Erziehung

Die Freiheit des Denkens und Handelns, die auf die Stellung der Frauen in Amerika einen so günstigen Einfluß ausgeübt hat, spielt ebenso wie ihre Schwester, die Gleichheit, in der Erziehung der Jugend eine bedeutsame Rolle. Die Yankees sind eine frühreife Rasse; sie sind stolz auf diese Arteigenschaft und unterstützen sie. Mit Unrecht! Die Natur lehrt an hundert Beispielen, daß frühe Reife und früher Verbrauch Hand in Hand gehen. Auch bleibt bekanntlich gerade bei den edelsten Tiergattungen das Junge am längsten hilflos, während die niedere Art sogleich fix und fertig im Leben steht. Aber der Yankee hat nun einmal den Drang in sich, die Natur zu vergewaltigen; er ist im höchsten Grade ungeduldig, kann das ruhige Ausreifen der Früchte nicht abwarten. So bricht er denn auch die zarte Knospe der Jugend viel zu zeitig auf. Gewiß ist es sehr gut, wenn junge Menschen früh dazu erzogen werden, sich selbst zu helfen. Aber es ist etwas anderes, ein Kind zur Selbständigkeit systematisch erziehen und etwas anderes, ihm jeden Willen lassen; etwas anderes die Eigenschaft des werdenden Menschen schonend unterstützen und etwas anderes, seine Unarten als Originalität bewundern. Freiheit ist gut für den, der sie zu gebrauchen versteht; dieser bis zum 247 Gemeinplatz wahre Satz gilt für Völker, wie für Stände und Lebensalter. Das Maß der Welt nimmt sich die kindliche Seele vom elterlichen Hause. Sich zu fügen muß der Mensch doch einmal lernen, wenn nicht einem sichtbaren Herrn, dann doch sicher seinem Schicksal. Das wird ihm am leichtesten gemacht, wenn er früh in den milden Formen des elterlichen Regiments die Grenzen erkennen lernt, welche der Schrankenlosigkeit des einzelnen gesteckt sind.

Jungamerika aber wird von Haus aus erzogen, als wäre es allein da im Universum. Das gibt den Jungens jene »Smartness«, die der echte Yankee so bewundert an seinem Sprößling. Nichts wird Kindern versagt; verlangt ein Baby nach Ice-cream, so muß es Ice-cream haben. Dem kindlichen Auge wird nichts verhüllt; in den Stockyards von Chicago sah ich halbwüchsige Kinder, denen von ihren Eltern das grausame Schauspiel jener Massenabschlachtung von Schweinen, Rindern und Hammeln geboten wurde, das selbst Erwachsene, wenn sie nicht abgestumpft sind, anzuekeln pflegt. Jedes Vergnügen, jeden Zeitvertreib müssen die Kleinen zeitig kennen lernen. Kinder nicht als Leser allein, nein, als Herausgeber von Zeitungen, Liebeleien zwischen Knabe und Mädchen, halbwüchsige Jungens, die in Fonds spekulieren, das sind so einige der gröbsten Auswüchse dieses Systems. Die Respektlosigkeit, mit der Kinder gegen Erwachsene auftreten, der burschikose, kaum noch kameradschaftlich zu nennende Ton, in dem Knaben mit ihren Vätern verkehren, befremdet den an die patriarchalischen Formen 248 des Elternhauses gewohnten Deutschländer aufs äußerste. Am schlimmsten sieht es darin in den Häusern der vor noch nicht allzu langer Zeit Eingewanderten aus. Man hat in dem Bewußtsein, im Lande der Freiheit zu sein, mit dem Zopf der Heimat auch ihre guten Sitten über Bord geworfen, und im Drange, sich nur ja recht schnell zu amerikanisieren, jene Yankee-Eigenschaften angenommen, die am meisten in die Augen fallen, aber nicht die besten sind: Ungeniertheit, Leichtsinn, Sichgehenlassen und Disziplinlosigkeit.

In den guten Familien älterer Abstammung sieht es darin schon viel besser aus. Da begegnet man wohl jenem auf kindlicher Achtung und Verehrung und elterlicher Fürsorge beruhenden Verhältnis, das die naturgemäße Atmosphäre schafft, in der die Erziehung gedeihen kann. Man darf also hoffen, daß die verderbliche Affenliebe vieler Amerikaner für ihren Nachwuchs nur ein Jugendfehler ist dieses Volkes, den es mit wachsender Reife abstreifen wird.

Mancherlei Schwächen des amerikanischen Charakters kann man aus dem verfehlten Verhältnis der Kinder zu den Eltern, der Jugend zum Alter überhaupt ableiten. Menschen, die nicht den Imperativ der Pflicht in der Jugend kennen gelernt haben, werden geneigt sein, auch im späteren Leben über Gesetz und Ordnung hinwegzuspringen, brutal ihr Interesse dem der Mitmenschen voranzustellen. Egoismus, Anmaßung, Gefühlsroheit, Leichtfertigkeit sind dem Durchschnitts-Amerikaner nicht immer fern. Aber auch der Mangel an Pietät und historischem Sinn, das 249 Yankee-Protzentum, ziehen Nahrung aus der Verwöhnung im Elternhause und aus jener Arroganz, die der unreife Mensch sich dort hat angewöhnen dürfen.

Einige von diesen Fehlern werden allerdings korrigiert durch die Schule, aber nicht alle; denn auch in die Schule pflanzt sich jene Auffassung fort, daß man dem Kinde nur das bieten solle, was es sich wünscht. Ein an sich wahrer Gedanke liegt darin, nämlich der: Behandle einen Menschen früh als selbstständiges Wesen, so wird er es sein. Das amerikanische Erziehungssystem ruht auf der, auch der Konstitution zu Grunde liegenden echt demokratischen Auffassung, daß alle Menschen gleich geboren sind und darum gleich behandelt werden müssen. Die Abwesenheit von Kastengeist und Standesunterschieden im Volke erleichtert die Aufgabe der Schule ungemein. Mit Ausnahme für die Farbigen, die ja, in der Theorie zwar nicht, wohl aber in der Praxis, als Menschen zweiter Ordnung behandelt werden, gibt es für alle Bürger der Vereinigten Staaten nur die eine allgemeine Volksschule über das ganze Land. Bei uns wird ein Rittergutsbesitzer nur ungern seine Kinder die Dorfschule besuchen lassen, Söhne von Offizieren, höheren Beamten und Universitätsprofessoren wird man selten in den städtischen Bürgerschulen antreffen. In Amerika sitzt der Sohn des allmächtigen Eisenbahnmagnaten neben dem eines Kondukteurs; und vielleicht wird der Sohn des Kondukteurs einmal Präsident, während der andere am entgegengesetzten Ende der sozialen Leiter anlangen mag. Unsere Schule bereitet die Schüler von 250 vorn herein auf einen ganz bestimmten Stand vor, und weckt sogar in einzelnen Fällen, zum Beispiel in Kadettenhaus und Ritterakademie, in den Lehrerseminaren, den katholischen Klosterschulen, den Kaufmannsschulen und anderen Fach-Instituten mit Absicht und Vorbedacht das Standesbewußtsein, ja ausgesprochnen Berufsstolz, wenn nicht Kastengeist. Die amerikanische Schule sucht ihr Ziel in der Einheitlichkeit, sie will möglichst viele tüchtige, ähnlich denkende, gleichfühlende Bürger für die Union erziehen.

Verschieden wie das Ziel sind die Mittel; die amerikanische Lehrmethode weicht stark ab von der unsrigen. An Stelle der Autorität des Lehrers und der Schuldisziplin tritt Beispiel, Überredung und der Appell an die Vernunft der Zöglinge. Man nimmt an, daß die im Kinde schlummernden sozialen Triebe, wenn sie nur geweckt und gepflegt werden, mit der Zeit die antisozialen überwachsen werden. Vor allem rechnet man mit dem Common Sense des Menschen. Nicht der Eingriff der Erwachsenen mit Strafen, sondern die Erfahrung, daß das Böse Nachteile im Gefolge hat, soll das Kind anleiten, früh das Rechte zu wählen. Man sucht den Ehrgeiz anzustacheln, darum werden Preise verteilt, und mit Auszeichnung an die Tüchtigsten wird nicht gegeizt. Im Ehrgefühl sieht man einen wichtigen Helfer der Selbsterziehung. Daher wird den Kindern die denkbar größte Freiheit der Bewegung und der Meinungsäußerung gelassen. Die Unterhaltung über allgemeinverständliche Dinge in Form der Diskussion tritt schon früh an Stelle des Einpaukens. Die Zöglinge 251 werden dazu angehalten, sich gegenseitig zu kontrollieren. Auf der untersten Stufe der Erziehung, dem »Kindergarten«, ist Lärmen, Singen, sich Balgen sogar im Klassenzimmer erlaubt; wenn es gar zu toll wird, weiß die Lehrerin durch ein geschickt in den Lärm hineingerufenes Wort, ein Bilderbuch, eine Zeichnung, die Neugier der Kleinen zu erregen. Sofort ist alles still, und wer etwa noch weiter stören wollte, wird durch die andern jungen Republikaner schnell zur Ruhe gebracht. So wird auf die einfachste und harmloseste Weise den Kindern früh ein Begriff von parlamentarischer Ordnung beigebracht.

Das Ziel ist bereits im Anfangsstadium klar zu erkennen: man will Demokraten erziehen, Menschen, die sich im späteren Leben selbst regieren sollen. Darum erinnern die Elementarschulen drüben, trotzdem der Yankee bekanntlich abgesagter Feind alles militärischen Drills ist, doch in manchem an unsre Kadettenanstalten. Die Ähnlichkeit liegt in der zielbewußten Einseitigkeit, mit der man alle Begabungen und Individualitäten der einen Idee unterordnet, und in der Energie, mit der ein eng umgrenztes Ideal angestrebt wird. Dieses Ideal heißt für Amerika: Soldaten des öffentlichen Lebens heranbilden.

Deutlich tritt dieses Streben zu Tage in einer Einrichtung, die man an manchen Volksschulen findet: in der »Schulstadt«. Während an unsern Knabeninstituten Schülerverbindungen aufs strengste untersagt sind, werden hier unter Billigung ja Mitwirkung der Lehrer, Comitees gebildet, Vorsitzende gewählt, 252 Sitzungen einberufen, Reden gehalten, Debatten eingeleitet, Resolutionen gefaßt, und so schon in der Schule die Bataillone für die zukünftigen politischen Versammlungen und Wahlschlachten eingedrillt. Sicherlich hat dies auch etwas Lächerliches, ja Widerwärtiges. Wie in so vielem hetzen die Yankees hier einen guten Gedanken zu Tode. Es ist sehr schön, die Kinder frühzeitig mit dem Bewußtsein zu erfüllen, daß sie Mitglieder einer großen Gemeinschaft sind, und daß die glücklichste Art der Verfassung die Selbstregierung ist. Aber muß man die Jugend darum mit dem vertraut machen, was nur zu oft selbst für den Charakter der Erwachsenen eine zu harte Probe bedeutet? Mit der Berufspolitik und ihren ganzen Hilfswerkzeugen! Heißt das nicht den jungen Mann allzu früh auf den bedenklichen Pfad des Ehrgeizes und der Selbstsucht weisen? Ein höheres und reineres Ideal ist es jedenfalls, wenn es auch selten genug erreicht werden mag, das unserem humanistischen Gymnasium vorschwebt: die Entwickelung zur Persönlichkeit durch harmonische Bildung.

An Harmonie aber gerade fehlt es der amerikanischen Schulbildung. Der ganze Erziehungsgang vom Kindergarten aufwärts bis zum Kursus der »postgraduats« bleibt, soviel gutes es auch im Einzelnen enthält, doch ein nach vieler Länder Systemen zusammengestelltes Gebäude. Das Ziel mag ein einheitliches sein, die einzelnen Teile aber weisen Lücken, ja geradezu Widersprüche auf. In der High School zum Beispiel sind Ansätze vorhanden, dem jungen Menschen jene Bildung zu geben, die etwa unser Realgymnasium 253 anstrebt, mit deren Hilfe er sich später in jedem Spezialfach zurechtfinden könnte. Aber diese Darbietung umfassender Kenntnisse wird wieder durchbrochen durch verfrühtes Lehren von Stoffen, die nur in die Fachwissenschaft gehören. Es entspricht der amerikanischen Auffassung, wonach der junge Mensch sich am besten selbst berät, wenn der Jugend schon früh die Wahl gelassen wird zwischen einzelnen Fächern. Dadurch kommt ein dilettantischer Zug in die Erziehung, ein Nippen von allerhand Kenntnissen und jene oberflächliche Eingebildetheit, die so leicht der Vielwisserei entspringt. Die Gefahr einer atomistischen Weltanschauung, die für die Yankees sowieso nahe liegt, wird durch einen so lückenhaften Lehrgang nur vermehrt.

Es geht im Bildungswesen wie bei so vielen Dingen in der Neuen Welt; hält man sich lediglich an den äußeren Schein, verläßt man sich gar auf jene Zahlen, welche eine durchaus nicht immer objektive Statistik angibt, so könnte man leicht zu der Ansicht gelangen, daß Amerika auch hierin an der Spitze der Nationen marschiere. Zum Beispiel hat die Statistik von 1890 für die Vereinigten Staaten einen Schulbesuch von dreiundzwanzig Prozent der Bevölkerung festgestellt, während Deutschland dem gegenüber nur neunzehn Prozent aufzuweisen hätte. Diese Statistik verschweigt jedoch, daß die Dauer des Schuljahrs wesentlich kürzer ist als bei uns, daß der Schulbesuch ein unregelmäßiger bleibt, besonders auf dem Lande, wo Kinder sich oft halbe Jahre lang der Schulpflicht entziehn. Eine 254 ganz natürliche Folge der Kinderarbeit, die theoretisch verpönt, praktisch aber über ganz Amerika im Schwunge ist. Schließlich kommt auch ungünstig für die Vereinigten Staaten in Betracht, daß das, was im Süden und in Teilen des Westens als Schulunterricht geboten wird, bei uns als völlig unzulänglich angesehn werden müßte.

Daß nicht alles so glänzend ist, wie man es dargestellt hat, beweist allein schon das zahlreiche Vorkommen von Illiteraten in den Vereinigten Staaten. Auffällig ist auch der große Altersunterschied, der oft zwischen Kindern derselben Klasse herrscht. Nur zum Teil lassen sich solche Erscheinungen erklären durch eine zahlreiche Einwanderung von Familien, die des Englischen nicht mächtig sind. Eine große Rolle spielt dabei die Unrast der viel hin und her ziehenden Amerikaner, die einmal im Osten, dann wieder im Westen, bald auf dem Lande bald in der Stadt wohnen. Naturgemäß hat das nomadenhafte Leben der Eltern keinen günstigen Einfluß auf die Schulerziehung der Kinder.

In den meisten Staaten der Union herrscht Schulzwang. Die Bundesregierung mischt sich nicht in das Schulwesen; sie hat den einzelnen townships reiche Schenkungen gemacht zu Schulzwecken. Der Board of education ist nur eine beratende, keine Aufsichtsbehörde. Man kann die Stellung der Regierung zum Schulwesen so umschreiben: Sie hilft und berät, aber sie kontrolliert nicht.

Für die Elementarfächer ist die Erziehung in 255 Privatschulen Ausnahme. Im Stadium der Mittelschule besuchen sechzig Prozent der Schüler öffentliche, vierzig Privatanstalten. Von den Studenten und Studentinnen besuchen siebzig Prozent nicht staatliche Hochschulen.

Der Unterricht in der Volksschule ist im Prinzip frei; die Ausgaben werden durch direkte Besteuerung der Angesessenen gedeckt. Die Schulvorstände gehen aus Wahlen hervor, sie haben weit mehr zu sagen, als ähnliche Komitees bei uns, weil drüben auch hierin der Selbstverwaltung vieles von dem übertragen ist, was bei uns der Staat besorgt. Die Schulsuperintendenten sind nicht Fachmänner, sondern Privatleute. Die Local school boards verwalten nicht nur das Vermögen der Anstalten, sie berufen die Lehrer und bestimmen sogar den Lehrgang und die Schulbücher. Diese Väter der Schule sind, da auch sie vom Stimmzettel abhängen, natürlich Vertreter der in ihrem Staate oder ihrer Stadt gerade herrschenden politischen Richtung. Von ihnen wiederum hängen die Lehrer ab. So mischt sich auch hier die Politik in Dinge, die unantastbar über allem Partei- und Kotteriewesen stehen sollten. Dafür fehlt dem amerikanischen Schulwesen der verhängnisvolle Zankapfel der Konfessionalität. Auf keinem Stundenplane irgend einer Schule ist Religion zu finden. Religionsunterricht für die Kinder zu suchen, bleibt den Eltern, ihn zu erteilen den einzelnen Denominationen überlassen.

Man findet, wenn man das gesamte Unterrichtswesen der Vereinigten Staaten überblickt, drei große Kategorien von Bildungsanstalten. Die Public Schools 256 mit achtjährigem Kursus, die Mittelschulen mit vierjährigem; sie bringen zu den Elementarfächern Algebra und Geometrie, Latein und Griechisch, neuere Sprachen, Naturwissenschaft, Weltgeschichte und Literatur hinzu. Als dritte Stufe erscheint das, was die Amerikaner mit »higher education« bezeichnen. Hier wird weniger Neues hinzugefügt, als der Versuch gemacht, zwischen den einzelnen Fächern eine Verbindung herzustellen. Dieser Grad zerfällt in sich wiederum in zwei Teile, der erste davon umfaßt das Studium im undergraduate department, der zweite mit der sogenannten postgraduate-Arbeit entspricht etwa den Spezialstudien unserer Fakultäten und ihrer Seminare. Theologie wird besonders in den von den einzelnen Denominationen unterhaltenen Predigerseminaren studiert.

In der Volksschule wird im großen und ganzen der vorgesetzte Zweck erreicht, dem Kinde die Kenntnis jener Dinge beizubringen, die es im alltäglichen Leben unbedingt brauchen wird. Hier werden die Kleinen vor allem zu jungen Amerikanern erzogen. Das wichtigste Mittel dazu ist die englische Sprache, deren Gebrauch selbst die Kinder Eingewanderter aus nicht englisch sprechenden Ländern schnell und für immer mit dem Stempel der Amerikanisierung versieht. Der Geschichtsunterricht, der auf dieser Stufe nur Vaterlandskunde ist, bedeutet ein weiteres Hilfsmittel, das Kind früh mit der Überzeugung zu erfüllen, daß es in der ganzen Welt nur ein schönes Land und ein großes Volk gibt: das amerikanische. Bestenfalls wird noch England in einigem Zwischenraum davon geduldet. 257 Die übrige Welt, soweit sie überhaupt in den Betrachtungskreis gezogen wird, bleibt den englisch sprechenden Völkern gegenüber geringfügiges Anhängsel. So wird schon durch die Schule der Keim zu Chauvinismus und Überhebung in die kindliche Seele gepflanzt, der durch die Presse dann weitere Nahrung erhält.

Dem jungen Menschen, den die Public School als halbes Kind noch, aber doch schon als in den Grundzügen fertigen Amerikaner entläßt, bietet sich nun, wenn er seine Kenntnisse erweitern will, die öffentliche High School, oder auch die private Secondary School.

Diese Kategorie, die wir am besten, wegen ihrer Stellung zwischen Volksschule und Universität, als »Mittelschule« bezeichnen, erzeugt das, was uns der größte Mangel am ganzen amerikanischen Bildungsgang erscheinen will, den Dilettantismus. Hier wird nämlich der Boden des konsequenten Volksschulunterrichts ganz unvermittelt verlassen und ein Lehrziel gesteckt, das in vier Jahren gar nicht zu erreichen ist, vor allem nicht mit einem ungenügend vorgebildeten, schlecht bezahlten, zum größten Teil aus Frauen bestehenden Lehrermaterial. Hier steigt der zu bewältigende Lernstoff auf einmal ins Ungemessene. Neben höherer Mathematik wird alte und neue Geschichte und Literatur gelehrt. Geologie, Zoologie, Botanik, Astronomie, Physiologie machen sich den Rang streitig mit den alten Sprachen. Neben dem Englisch ist eine neuere Sprache obligatorisch; meist wird Französisch gewählt, das man dem schwereren 258 Deutsch vorzieht. Daneben ist Gelegenheit zur Erlernung praktischer Kenntnisse gegeben, wie: Buchführung, Stenographie, Mechanik. Auch die manuelle Tätigkeit wird nicht vernachlässigt.

Natürliches Ergebnis einer so reich besetzten Tafel ist, daß vieles genossen wird, aber nicht alles verdaut werden kann. Die einzelnen Fächer gehen keine rechte Verbindung ein im Geiste des Schülers, vor allem darum nicht, weil die Lehrmethode eine äußerliche und mechanische ist.

Bekanntlich tritt in den amerikanischen Schulen an Stelle des freien Vortrags durch den Lehrer das Textbuch. Der Schüler lernt sein Pensum auswendig, und der Lehrer hört es ab. Verteidiger der Recitiermethode, die dem Deutschen völlig unzulänglich erscheint, behaupten, das Lernen aus dem Textbuch mache selbständig, indem das Kind früh dazu gebracht werde, das eigne Urteil zu brauchen, statt sich völlig dem Vortrage des Lehrers zu unterwerfen. – Ist nicht hier wieder ein klassisches Beispiel für jenen Hang der Yankees zur Gleichmacherei, der alle Unterschiede verwischt, den jungen Menschen bereits früh zum Kritiker machen möchte, und dabei ganz verkennt, daß nichts die persönliche Meinung mehr anregt und hervorlockt, als das Vorbild lebendiger Individualität beim Erzieher.

Höchst charakteristisch ist, was ein Verfechter des Textbuchsystems: W. T. Harris, in einem Artikel über amerikanisches Erziehungswesen anführt. Die Textbuchmethode der Schule, sagt er, sei die beste 259 Vorbereitung des Volks für das Zeitungslesen. Aus den Zeitungen entspringe die öffentliche Meinung und diese regiere nun einmal in unserm Zeitalter. Er hat vollständig recht für Amerika. Wer in der Zeitungszivilisation höchstes Bildungsziel erblickt, könnte gar kein besseres Verfahren ersinnen, als jenes, welches für die Persönlichkeit des Lehrers die Autorität des gedruckten Wortes unterschiebt.

Der Jüngling oder das Mädchen, die mit achtzehn oder neunzehn Jahren die High School verlassen, haben sicherlich eine Menge Lernstoff in sich aufgenommen, aber, gleiche Befähigung vorausgesetzt, werden sie schwerlich die geistige Reife unsrer Abiturienten besitzen; wohl aber mag man ihnen zugestehen, daß sie für das praktische Leben besser vorgebildet sind als diese. Latein und Griechisch hat der normale High School-Abiturient gehabt, das heißt, er hat mit Hilfe des Lehrers einige leichte Schriftsteller übersetzt, aber in den Geist dieser Sprachen ist er nicht entfernt eingedrungen. Was er von Französisch und Deutsch sich angeeignet hat, wird ihm leicht werden, bald und gründlich zu vergessen. Tüchtiges hat er meist in den Realien gelernt; diese Fächer, deren praktische Verwertung offenkundig ist, liegen dem nun einmal auf das Greifbare, Nützliche und Tatsächliche erpichten Sinn des Amerikaners am besten.

Der Unterschied zwischen Schule und Hochschule ist drüben lange nicht so ausgesprochen wie bei uns. Der Begriff University und College erscheint äußerst dehnbar und unklar; häufig werden diese Ausdrücke 260 vermischt gebraucht. Verdächtig muß ja schon die Tatsache erscheinen, daß die Union sich rühmen darf, viele hunderte und hunderte sogenannter Colleges zu besitzen. Der Durchschnitt von ihnen dürfte sich bestenfalls mit der Sekunda unsrer Gymnasien vergleichen. Auch hier besteht der größte Unterschied zwischen den einzelnen Teilen des großen Landes. Der Osten hat bereits einige Universitäten aufzuweisen, die in ihren Leistungen an deutsche Hochschulen heranreichen. Die kleine Stadt Cambridge in Massachusetts mit ihrem ehrwürdigen Harvard College umschwebt etwas vom Geiste Athens, Weimars und Oxfords vereinigt.

Die Staaten sowohl wie die Privaten lassen es nicht an Munificenz fehlen den Universitäten gegenüber. Man geht darin fast zu weit. Gelegenheit zum Erwerben höherer Bildung soll geboten werden, es mag kosten, was es wolle. So ist Leland Stanford University in Palo Alto unweit San Francisco fast über Nacht in märchenhaft schöner Umgebung erblüht, mit Kirche, Bibliothek, Vorhöfen, Marmorbüsten, Blumenparterres, Professorenvillen, Klubs; fast zu üppig für eine Stätte ernsthafter Studien. So erwuchs in Chicago in zwölf Jahren eine zweite große Universität, deren Baulichkeiten heute schon eine kleine Stadt für sich ausmachen. Es vergeht kaum ein Jahr, wo nicht ein Multimillionär einen Teil seines Vermögens mit warmer Hand oder durch Testament für solche Zwecke stiftet.

Gewiß ist es erfreulich, daß der amerikanischen Jugend auf diese Weise überreiche Bildungsgelegenheit geboten wird, aber die Freiheit der Wissenschaft und 261 die exakte Forschung werden dabei nicht immer gefördert. Denn nicht überall überlassen die Begründer jener Anstalten diese dann ungestört der Verfolgung idealer Ziele. Begreiflicherweise haben sich die Stifter die Möglichkeit gesichert, ihren Einfluß auf die Stiftung geltend zu machen. Und wo die private Einmischung fehlt, da ist es oftmals eine Denomination, die den Geist des Instituts beherrscht und bei der Anstellung der Dozenten und der Wahl des Lehrstoffs ihre Auffassung geltend zu machen weiß. In dieser Beziehung sind unsre Hochschulen, trotzdem sie von der Landesregierung überwacht werden, selbständiger und freier als die Colleges der Neuen Welt. Vor Staatskontrolle zwar sind sie sicher, nicht aber vor der vielvermögender Sekten.

Professor Münsterberg von Harvard, der im deutschen Universitätsleben ebenso zu Haus ist wie im amerikanischen, unterscheidet schärfer als es drüben üblich ist, zwischen College und Universität. Das College sollte sich nach ihm mit dem Ansammeln von Wissen beschäftigen, die Universität, wie es bei uns der Fall, mit kritischer Würdigung und exakter Forschung. Er tadelt vor allem an den amerikanischen Universitäten, daß sie noch immer vom Geiste des College beherrscht seien, der alten Stoff ansammelt und wiederkäut, statt neue Ideen zu erzeugen. Münsterberg, ein ausgezeichneter Interpret amerikanischen Geistes, erkennt in der Unwissenschaftlichkeit der Vortragenden den Hauptgrund dieser Mängel. Die Dozenten seien nicht originelle Forscher, nicht Meister der Methode, 262 nicht produktive Gelehrte, sondern, bei noch so viel Spezialkenntnissen, doch nur Handlanger, abhängig von fremden Forschungsresultaten.

Man darf natürlich von einem jungen Lande, das in erster Linie praktische Fragen zu lösen hatte, nicht den hohen Stand wissenschaftlicher Methode verlangen, der als edelste Blüte Jahrhunderte langen Strebens in alten Kulturländern die Forschung krönen mag.

Bei uns werden in den verschiednen Schulen, Akademien und Universitäten Stände erzogen, das demokratische Amerika erkennt auch im Bildungswesen keine Klassenunterschiede an. Die große Aufgabe seines Erziehungsplans ist, die Massen, das ganze Volk zu erziehen. Wenn sich daher deutscher Gelehrtendünkel, wie es vielfach geschieht, über den Tiefstand amerikanischer College-Bildung lustig macht, so beweist er damit, daß er die Verhältnisse verkennt, auf denen drüben die nationale Erziehung ruht.

Daß Amerika bis jetzt keine Hochschulen von Weltruf, keine Wissenschaft von universeller Bedeutung hervorgebracht hat, ist nur zu erklärlich. Es bekam von den Völkern der Alten Welt verschiedene Bildungsideale überliefert, die von diesen Völkern selbst nicht einmal ganz verdaut worden waren. Es mußte diese Ideale mit den Anforderungen des modernen Lebens, die drüben noch viel nackter auftreten als bei uns, zu vereinigen suchen. Der große Einbruch der Naturwissenschaft in die humanistische Weltanschauung war zu verarbeiten. Dem praktischen Leben in Wirtschaft, Konfession, Politik, waren bestimmte Konzessionen 263 zu machen. Und alle diese Forderungen fanden eine Schule ohne Tradition, ohne zünftigen Gelehrten- und Lehrerstand vor. Ist es da zu verwundern, daß zunächst nichts Harmonisches herauskam? Scheint nicht dieses buntscheckige Schul- und Hochschulwesen vielmehr nur charakteristischer Ausdruck der unausgeglichenen amerikanischen Kultur überhaupt zu sein? Sind nicht die unzähligen Colleges for women, StateUniversities, Colleges of liberal arts, wahllos über das ganze Land verstreut, mit dem massenhaften Bildungsstoff, den sie in unvollkommener Methode breitwerfen, Parallelerscheinungen zur amerikanischen Industrie, Kunst, Literatur, Presse, deren Stärke auch in der Massenhaftigkeit liegt, nicht aber in Verfeinerung oder gar im Vertiefen. Es weht rauher Pioniergeist über diesen kleinen, primitiv ausgestatteten Colleges des Westens, die, der Zivilisation voraneilend, zunächst nur wie leichte Zeltlager der Wissenschaft erscheinen; ähnlich entsteht erst ein Kamp im Urwald oder auf der Prärie, wo sich später eine große Stadt mit soliden Gebäuden entwickeln mag.

Einzelne Universitäten haben sich, wie gesagt, längst aus dem Rohesten herausgearbeitet, und gerade diese, wie Harvard, Yale, Columbia, Cornell University und andre mehr werden stark besucht und beginnen eine bedeutsame Rolle im Leben der Nation zu spielen. Es ist nicht gleichgültig, auf welche Seite sich diese großen Zentren des Wissens und der aufstrebenden Intelligenz in den Fragen stellen, welche die Volksseele in der Tiefe berühren. Männer aus den verschiedensten 264 Kreisen sind stolz darauf, sich »graduates« von Harvard oder einer andern bekannten alma mater nennen zu dürfen.

Immer deutlicher erkennbar hebt sich die Arbeit der postgraduates, also die selbständige Forscherarbeit der Seminare, Laboratorien, Observatorien und Bibliotheken von der mehr schülerhaft rezeptiven der undergraduates ab. Dazu kommt die Arbeit an den Anstalten, die für besondre Professionen vorbereiten, die Law Schools für die Juristen, die Medical Schools für die Ärzte, die Theological Schools für die Geistlichen. Diese Hochschulen, die früher sehr geringe Anforderungen stellten, heben sich stetig mit dem Niveau der Colleges, von denen sie die größere Zahl ihrer Studierenden bekommen. Die Schools of Technologie nehmen eine Stellung für sich ein; sie sind Stätten, an denen für die großen industriellen, technischen und kommerziellen Unternehmungen des ganzen Continents das nötige Heer von Ingenieuren, Technikern, Physikern und Architekten vorgebildet wird. Hier, wo nicht so sehr wissenschaftliche Tiefe und spekulative Veranlagung gefordert wird, aber umsomehr praktischer Blick und Sinn für das Reale, ist die eigentlich amerikanische Veranlagung recht an ihrem Platze.

Auf allen Hochschulen, mögen sie nun mehr für das praktische Leben oder für die Wissenschaft vorbereiten, wird Wert darauf gelegt, die jungen Leute für die Öffentlichkeit, für das politische Leben und für die Staatsbürgerpflichten vorzubereiten. Keine Schule versäumt es, die zukünftigen Wähler in die Prinzipien 265 der amerikanischen Verfassung einzuführen, und das College pflegt diese früh erworbenen Kenntnisse weiter. In der sogenannten Society-Arbeit übt sich der Student im Debattieren, Deklamieren und freien Sprechen. Die Yankees sind geborene Redner; ihre rhetorischen Anlagen werden in den Debating Clubs systematisch geschult.

Es wäre wunderbar, wenn in einem Lande, wo Bildung so sehr als Mittel zum Zweck angesehen wird, nicht auch die Hochschulen für den außerhalb der akademischen Bildung stehenden nutzbar gemacht würden. Doch hat die »university extension« bisher in Nordamerika nicht die tiefe sozialpolitische Bedeutung erlangt wie in England. Die Zusammenkünfte am Lake Chatauqua, wo jeden Sommer viele tausende von Lernbegierigen jeden Standes, Alters und Geschlechts zusammenkommen, um den Vorträgen von wissenschaftlichen Größen zu lauschen, tragen in ihrem Umfang, ihrer Formlosigkeit, und in ihrer dem Zweck vorzüglich angepaßten Organisation echt amerikanisches Gepräge.

Überhaupt ist dem Autodidakten drüben reiche Gelegenheit gegeben, seinen Bildungstrieb zu befriedigen; vor allem durch die zahlreichen öffentlichen Bibliotheken und Lesehallen. Amerika scheint das Land der Büchereien werden zu sollen. Bibliotheken werden von Staaten, Städten, Akademien, Denominationen, Klubs, Wohltätigkeitsgesellschaften gegründet. Mancher Großkaufmann oder Fabrikant unterhält für sein Personal eigne Lesezimmer. Andrew Carnegie hat sich das 266 Stiften von Büchereien neben dem Dotieren von Universitäten zur Spezialität gemacht. Das amerikanische Bibliothekswesen unterscheidet sich in manchem vorteilhaft von dem unsrigen. Die ganze Einrichtung ist praktischer, freier im guten Sinne, demokratischer. Jedermann kann diese durch und durch öffentlichen Institute benutzen. Die baulichen Anlagen sind durchweg großartig, dabei höchst übersichtlich, bequem und meist elegant. Die Wahl der Bücher ist keine engherzige; es herrscht der Wunsch vor, allen möglichst alles zu bieten. Die Bedienung des Publikums wird schnell und kulant besorgt. Die Bibliotheken mit ihren Lesehallen werden darum auch erstaunlich stark benutzt, und zwar nicht bloß von den höheren Ständen, sondern ganz besonders auch von der Arbeiter-Klasse. Die Seuche des Leihbibliothekwesens ist drüben nicht entwickelt, weil die Büchereien gelehrte sowohl wie belletristische Werke auch außer dem Hause verleihen.

Der Yankee hegt großen Respekt vor der Bildung. Er weiß, daß »refinement«, unerläßlich ist für jeden, der in der Gesellschaft eine Rolle spielen will, daß Bildung die Türen öffnet zu den wichtigsten Stellungen und Berufen. Der jedem echten Amerikaner angeborene Drang etwas zu erreichen, der Zug, der durch das ganze Volk geht, nach vorwärts, zeigt sich am schönsten vielleicht im stark entwickelten Lerntrieb der Jugend; Knabe wie Mädchen sind davon durchdrungen. Der Lerntrieb geht aber weniger auf Gelehrsamkeit, auf theoretisches Wissen, als auf Beherrschung des Stoffs, auf das Können. Es ist der Wille zur 267 Macht, der instinktiv in all diesen jungen Menschen arbeitet, die sich während der schönsten Jahre auf die Kollegbank fesseln lassen, die im Laboratorium mit physikalischen Instrumenten, Mikroskop und elektrischer Batterie arbeiten, die im Debattierklub ihren Witz anstrengen und ihre Zunge üben, die in der Postgraduate-Abteilung den schwierigsten Spezialstudien obliegen.

Für Bildung werden die größten Opfer gebracht. Leute von geringen Mitteln wenden all ihr Erspartes auf, um wenigstens den Kindern das angedeihen zu lassen, was sie selbst nicht gehabt, dessen Mangel von ihnen ihr Lebtag schmerzlich empfunden worden ist, eben jenes: Refinement.

Arme Studenten erwerben sich die Mittel für ihren Unterhalt in einer Weise, die sich bei uns schwerlich mit der Würde des akademischen Bürgers vereinigen lassen würde: als Kellner, Holzhacker, Hausierer. Ein reizendes Beispiel solch wundervoller Unbefangenheit, die das Leben so einfach und natürlich und das Fortkommen so leicht macht, erlebte ich an einer Universität der pacifischen Küste. Dort versorgte ein junger Student die Pferde seines Professors, putzte und fütterte sie wie ein Stallknecht; als Entgelt dafür hatte er freie Wohnung und Kost im Hause des Gelehrten.

Wenn man sich die Gesichter der jungen Menschen beiderlei Geschlechts im College ansieht und vergleicht ihre Physiognomien im Geist mit denen, die man bei uns in den Oberklassen der Gymnasien und der höhern Töchterschulen sehen würde, so fällt einem zunächst auf, wieviel gleichartiger und einander ähnlicher drüben die 268 Gestalten und Züge sind. Durch das ganze große Land geht der eine Typus: Student und Studentin, ohne jene tiefen Gegensätze zu zeigen, welche bei uns die Landsmannschaft und der Standescharakter schon an der akademischen Jugend zu Tage treten lassen. Man wird dort mehr Frische und eine kräftigere körperliche Entwicklung finden als bei unserm Durchschnitts-Studenten, weniger Brillen und bleiche Gesichter, mehr grobe, ausgearbeitete Hände und sonnenverbrannte Nacken. Das hängt einmal damit zusammen, daß sich drüben die Kollegbesucher auch aus Ständen rekrutieren, deren Kinder bei uns nur ganz selten studieren werden; außerdem führt der junge Mensch in Amerika außerhalb des Unterrichts ein viel ungebundneres, natürlicheres Leben. Die Klubs sind luftig, hell, geräumig, nicht verräuchert wie unsre Bierstuben, aus denen der Besucher selten etwas bessres als aufgeschwemmtes Fleisch und trägen Sinn heimgebracht hat. Das Trinken spielt überhaupt eine nur nebensächliche Rolle im amerikanischen Studentenleben. Die stete Gegenwart des andern Geschlechts wirkt auch auf die Vergnügungen und Unterhaltungen günstig ein. Oft gibt es in den Klubs gemeinsame Gesellschaftsräume für Student und Studentin, in denen getanzt und Theater gespielt wird. Am gesündesten aber kann die Jugend sich auswirken im Freien, beim Wassersport, beim Tennis, oder auf dem Footballground.

Mancherlei vermögen uns die Physiognomien dieser jungen Leute zur Charakteristik ihrer Art und ihrer Rasse zu sagen. Es fehlt den Gesichtern jene 269 Nachdenklichkeit und tiefe Versonnenheit, die bei uns den Zügen der Jugend oft etwas Träumerisches oder auch altklug Grüblerisches gibt. Ein besonders reges Innenleben spiegelt sich selten in diesen frischen Knabengesichtern und anmutigen Mädchenköpfen wieder; sie sehen nicht aus, als ob sie sich später einmal tief in die Probleme der Menschheit versenken würden. Aber man hat keine Sorge, daß sie sich nicht gut durchs Leben finden werden. In ihren Augen liegt Nüchternheit und Lebhaftigkeit zugleich. Sie folgen mit gespannter Aufmerksamkeit dem Vortrage. Weder Übersättigung noch Träumerei, Eigenschaften, die bei uns so viele Kinder der höhern Stände zu schlechten Schülern machen, legt frühzeitig ihren Lerntrieb lahm. Jung Amerika zeigt bereits die Wachheit des Yankees, das schnelle Zufassen und Ganz-bei-der-Sache-sein, das für viele Erfolge des Amerikanismus eine Erklärung gibt.

Und diese Jünglinge und Jungfrauen kennen ein gefährliches Gift nicht, das im alten Europa in den gebildeten Kreisen sich tief in die Weltanschauung auch der Jugend eingefressen hat: die Übersättigung. Weder gesellschaftliche noch gelehrte Blasiertheit konnte in Menschen aufkommen, die niemals gelernt haben, sich der Handarbeit zu schämen. Die Vorurteilslosigkeit, mit der drüben der akademische Bürger der Arbeit gegenüber steht, die Unbedenklichkeit mit der er, wenn nötig, überall selbst zugreift, die richtige Einschätzung des Praktischen, stellen den jungen Amerikaner hoch über unsern arbeitsscheuen Gigerl einerseits und über 270 die überstudierten, dem wirklichen Leben entfremdeten, geistig hochmütigen Bureaukraten- und Schulmeisternaturen andrerseits, jenem traurigen Produkt unsrer Überschätzung der Gelehrsamkeit und unsrer Unterschätzung des Realen.

Man hat die Jugend eines jungen Volks vor sich, die Kinder einer Rasse, die durch ihre Geschichte gelernt hat, wach und rege zu sein und das Nächstliegende zu tun. Junge Greise zu entwickeln hat Amerika noch keine Gelegenheit gehabt; freilich hat es auch noch keine Zeit gefunden, die Augen tief nach innen zu richten. Im Unterrichtswesen hat die Nation genau den Weg eingeschlagen, wie im Wirtschaftsleben. Ideale Zustände vermochte man nicht zu schaffen, so begnügte man sich mit den relativ besten, die man haben konnte. Die Schule fand die Aufgabe vor, Menschen zu erziehen für dieses Land, diese Verhältnisse, diese Verfassung; die Aufgabe hat sie gut gelöst.

Jene andre größere Arbeit, die von unsern deutschen Hochschulen in bisher unerreichter Weise geleistet wird: die Wissenschaft der ganzen Welt durch freie Forschung zu vertiefen und auszubauen, diese große Aufgabe wird das Volk von Amerika vielleicht erst dann mit der ihm eignen Energie angreifen, wenn es das Ziel erreicht hat, das ihm heute vorschwebt und das seine besten Kräfte in Anspruch nimmt: die wirtschaftliche Eroberung der westlichen Hemisphäre und eines guten Teils der übrigen Welt obendrein.

271 Gegenüber den Leistungen der Neuen Welt auf industriellem und kommerziellem Gebiete erscheint das, was sie an selbständigen wissenschaftlichen Taten aufzuweisen hat, geringfügig. Die Erforschung des eignen Landes, seiner Natur und Urbevölkerung durch Geologie, Biologie, Meteorologie, Paläontologie, Ethnologie, ist wohl als der bedeutendste Beitrag zu betrachten, mit dem Amerika bisher den Wissensschatz der Welt bereichert hat. Hier fielen die Studien der Geographen, Geodäten, Topographen, Ingenieure charakteristischerweise zusammen mit den Plänen der Politiker und den Wünschen der Kaufleute und Kapitalisten. Die Forschungsreisenden dieser Nation waren gelegentlich auch Eroberer; wie Fremont, der auf eigne Faust Krieg mit Mexiko machte und den kalifornischen Aufstand in Szene setzte.

Alle Naturwissenschaft wurde in einem Lande, das zunächst den Kampf mit der Materie im weitesten Sinne zu führen hatte, früh entwickelt. Vor den technischen Leistungen der Ingenieurkunst, dem Aufschwung der Tier- und Pflanzenkunde, den Erfolgen der Landvermessung, der Nautik und Physik mußten jene Disziplinen zurückstehen, die sich mit dem Transzendentalen befassen. Keinen großen Philosophen, keinen wirklich originellen Theologen hat Amerika bisher hervorgebracht. Seine Geschichtsforscher haben auch nur das heimische Gebiet beackert, seine Nationalökonomen wären nichts ohne Adam Smith, Ricardo und Malthus. Die Philologie, vor allem die alte, spielt drüben eine geringe Rolle. Aber selbst auf dem 272 Gebiete der Naturwissenschaft, das ihnen ja liegt, fehlt es den Amerikanern an universellen Geistern. Sie haben einen Agassiz aufzuführen, Dana, Asa Gray, Bowditch, aber Größen wie Laplace, Cuvier, Linné, Darwin, Humboldt, Helmholz können sie keine gleichwertigen Namen entgegenstellen.

Die Ursache für die geringeren Leistungen des amerikanischen Volks auf diesem weiten, der Konkurrenz aller Kulturnationen offen stehenden Gebiete, ist sicherlich nicht in mangelnder Strebsamkeit des einzelnen zu suchen. Die Intensivität des Strebens an den Hochschulen ist drüben mindestens so groß wie bei uns. Und immer stärker schwillt die Zahl der jungen Amerikaner an, die im Auslande, vor allem in Deutschland, ihren Wissensdurst stillen. Schon dieses Suchen und Ausschwärmen nach der Ferne erlaubt den Rückschluß, daß das daheim Gebotene nicht alle Wünsche zu befriedigen vermag. In der Tat steht das Universitätswesen des alten Europa noch immer wie ein mächtiger Baum da, neben dem sich das der Neuen Welt ausnimmt wie ein schlanker Schößling. Die Grundlagen der amerikanischen Wissenschaft sind ja europäisch. Daher ist es nicht zu verwundern, daß sich drüben noch keine Tradition entwickeln konnte. Unsre ausgezeichnete Methode der Forschung sowohl wie des Lehrens ist es, die die jungen Amerikaner zu den deutschen Hochschulen hinzieht.

Ein andrer Grund, warum die Wissenschaft drüben nicht die Rolle spielt, wie man es bei einem 273 so intelligenten Volke erwarten sollte, liegt in der geschichtlichen Entwicklung der Vereinigten Staaten. Von den Bürgern waren zunächst einmal andre Aufgaben zu lösen, politischer und kommerzieller Natur, die die besten Köpfe ganz in Anspruch nahmen. In einem Lande, wo die schwersten Parteikämpfe auszufechten, wo wirtschaftliche Umwälzungen und Krisen an der Tagesordnung sind, die alle Welt in einem fort in Atem halten, gibt es keinen Platz und keine Ruhe für die stille Studierstube des Gelehrten. Jene Interessenkämpfe vernichten jedoch nicht gänzlich das Bewußtsein von der Existenz höherer Ziele und Möglichkeiten. Es bleibt der geheime Wunsch in der Einzelseele zurück, auch in die Welt des Geistes triumphierend vorzudringen, sie sich zu unterwerfen.

Alle materiellen Erfolge können nicht die aus der Tiefe kommende stille Liebe des Yankees für geistige Güter übertäuben. Ein schöner Beleg hierfür sind jene zahlreichen Schenkungen und Stiftungen für Wissenschaft, Kunst, Kultur, die drüben von ungelehrten Leuten gemacht werden. Diese Männer haben, selbst in der Unrast und der Aufreibung des Geschäftslebens stehend, nicht die Zeit, ihren Geist zu kultivieren. Legen jene Stifter von Akademien, Museen, Bibliotheken nicht damit Zeugnis ab dafür, daß über allem, was Geld kaufen kann, doch die geistigen Güter stehen, an denen sie trotz aller sonstigen Erfolge arm geblieben sind? – Anderen wenigstens wollen sie den Zutritt zum Tempel des Wissens und Schauens ermöglicht sehen, den zu betreten es ihnen nicht an Idealismus, nur an Unterweisung gefehlt hat.

274 Ganz sicherlich hängt auch die schwache Bestellung mancher Forschungsgebiete in Amerika damit zusammen, daß es wenig Leute gibt, die Sinn und Lust für Spezialstudien haben. Man bedenke nur, wie in England und Deutschland die Wissenschaft durch Amateure wie Darwin, Rodbertus, Schliemann gefördert worden ist. Der nichtprofessionelle Gelehrte ist in Amerika eine beinahe unbekannte Größe.

Aber für das Brachliegen ganzer großer Gebiete wie der reinen Philosophie und Metaphysik, der theologischen Exegese und Quellenkritik, der alten Philologie und der vergleichenden Sprachwissenschaften, in denen sie wohl Nachdenker aber keine originellen oder gar epochemachenden Forscher besitzen, muß es tiefere Gründe geben als bloß mangelnde Zeit und Gelegenheit. Es muß etwas dem Wesen des Amerikaners eingeborenes sein, was ihn abhält, mit den ihm blutsverwandten Stämmen der Alten Welt, denen er auf so vielen andern Gebieten erfolgreich Konkurrenz macht, auch hier in die Arena zu treten und um den edelsten Lorbeer zu ringen.

Die starke Seite des Germanen ist es von Alters her gewesen, oft unter Vernachlässigung der Formseite, sein Inneres auszubauen und es in Verbindung zu setzen mit dem was über der Erscheinungswelt ist: dem Transzendentalen. Anders der Yankee! Zur Gestaltung der Außenwelt ist er großartig organisiert, aber zweierlei fehlt ihm zur Hervorbringung großer menschheitsbewegender Gedanken: Die Intuition des Dichters und das organische Denken des Philosophen. 275 Scharfsinn besitzen sie und auch Phantasie, das beweisen ihre Erfindungen; aber den Beweis sind uns ihre Forscher bislang noch schuldig geblieben, daß sie Einblick besäßen in den tiefsten Zusammenhang der Dinge.

Es fehlt ihren hervorragenden Geistern mit einem Worte das Künstlertum im höchsten Sinne. Alle unsre großen Männer von Luther über Friedrich und Kant zu Bismarck sind Künstler gewesen. Nicht allein daß diese Männer ihr Leben zum Kunstwerk gestalteten, sie verstanden es auch, die inneren Gesichte so zwingend zu modeln, daß die von ihnen empfangenen Wahrheiten zum Gesetz wurden, vor dem die Welt sich beugte. Amerikas große Männer verblassen, wenn neben solche Riesen gestellt. Nicht daß Washington, Franklin, Jefferson, Lincoln Geringes erreicht hätten, ihre Taten scheinen nur viel loser mit ihrer Persönlichkeit verknüpft, scheinen nicht aus der Tiefe der Natur hervorgewachsen. Sie wurden mehr von äußern Kräften, die in der Zeit lagen, getrieben, als von jener innern Not, die Luther den Ruf abrang: »Ich kann nicht anders, Gott helfe mir!« – Drüben ist eben das Volk im ganzen bewußter, wacher, temperamentvoller, als bei uns, wenn man will genialer in seinen Instinkten, seine großen Männer aber treten nur wie ausführende Organe des Massenwillens in Erscheinung. Bestenfalls nehmen diese geführten Führer eine populäre Bewegung in die Hand, verwirklichen eine Idee, die in der Luft schwebt, aber sie stellen nicht den scharfen Kiel ihrer Sonderanschauung dem Strom der öffentlichen Meinung 276 entgegen, wie es für den Träger jeder neuen fruchtbaren Idee in Deutschland geschichtliches Gesetz zu sein scheint.

Ich kenne nur zwei Ausnahmen. Die eine ist Emerson, der bei aller äußern Popularität den Amerikanern als Denker noch heute im Innersten fremd und unverständlich ist. Er, der seinen Heroenkult, seinen durch und durch aristokratischen Geschmack vornehm gelassen der Meinung des Bildungspöbels entgegensetzte, muß auf den Durchsclmitts-Yankee peinlich wirken. Der andre mutige Prophet, der in neuerer Zeit gegen den Strom orthodox demokratischer Anschauung angeschwommen ist, war Henry George. Im modernen Amerika, wo die Bodenspekulation von der Regierung selbst großgezogen worden ist und wo von Alters her eine Korruption sondergleichen als Schooßkind des Kapitalismus heranwächst, war der Vorschlag der »single tax«, man mag ihn für durchführbar halten oder nicht, eine Tat, weniger des Geistes als des sittlichen Willens.

Das deutsche Gelehrtenideal ist von dem amerikanischen himmelweit verschieden. Franklin, Staatsmann und Naturforscher in einem, kann als bester Typus des amerikanischen Gelehrten großen Stiles gelten. Ein Mann, dessen Interessen vor allem dem äußern Leben galten, der sich nicht durch tiefes Denken, durch Intuition oder ein originelles System, sondern durch praktische Erfindungen und die Bewährung bürgerlicher Tugend die Unsterblichkeit gesichert hat. Ihm gegenüber steht sein Zeitgenosse Kant als Vertreter 277 edelsten deutschen Gelehrtentums. Der unscheinbare Mann, der nicht über das Weichbild seiner Vaterstadt hinausgekommen ist und der von seiner engen Studierstube aus doch eine Revolution der Logik wie des sittlichen Empfindens angestiftet hat, deren Kreise noch lange nicht zum Stillstand gekommen sind. Erscheinungen, kleiner zwar aber von gleicher Wesensart wie der Weise von Königsberg, sind nicht selten in der deutschen Gelehrtenwelt. Solch ein Mann, um einen für viele anzuführen, war Gustav Fechner in Leipzig. Unbekümmert um den Lärm des Tages, den Blick nach den Sternen gerichtet, hat Fechner der Welt ein Kind seines Geistes nach dem andern geschenkt. Und so fern lag ihm alle Reklame, daß man erst jetzt, wo er schon über ein Jahrzehnt von uns genommen ist, anfängt, die Barren echten Goldes neu zu entdecken, die dieser schlichte Schatzgräber in einem langen arbeitsvollen Leben angesammelt hat.

Solche Erscheinungen sind in Amerika unmöglich. Erstünde dort ein Fechner, er würde sich nicht ausleben können. Der Yankee ist viel zu sehr Erfolgsanbeter auch auf geistigem Gebiet, um ein Leben Fechnerischer Selbstlosigkeit, Bescheidenheit und Zurückgezogenheit, das im Dienste der reinen Forschung restlos aufging, würdigen zu können. Das oft nicht unbeträchtliche positive Wissen amerikanischer Gelehrten gleicht einer äußerlich angeklebten prunkvollen Straßenfassade, nicht einem traulichen Familienhaus, welches sich der Eigentümer von Grund aus selbst aufgerichtet hat. 278 Es ist charakteristisch, daß die bedeutendsten Wissenschaftler, die Amerika besitzt, ihre Popularität vor allem öffentlichen Vorträgen verdanken, in denen sie – für hohes Honorar natürlich – ihre Forschungsresultate einem großen Publikum mundgerecht machen. Hier zu Lande wird sich ein Gelehrter seinen Befähigungsnachweis nicht von der Menge holen, sondern nur von seinesgleichen ausstellen lassen.

Die Achtung vor der exakten Wissenschaft ist nicht groß jenseits des atlantischen Oceans. Der Yankee erscheint auch in dieser Beziehung schnelllebend und ungeduldig. Er kann den Zweck philosophischer Spekulation, abstrakter Systeme, logischer Deduktion nicht sehen; er will immer gleich praktische Resultate haben. Daß diese Resultate an ganz andrer Stelle, oft erst nach Jahren, zu Tage treten: in der Schulung der Jugend, in den Gedankengängen und Taten einer ganzen Generation, daß übersinnliche Wahrheiten immer erst von Wenigen erkannt werden, um dann langsam, aber sicher, in die breiteren Schichten hinabzusickern, geht seinem Utilitarierschädel nicht ein. Erfindungen wie die eines Morse oder Edison sind für ihn groß, weil handgreiflich und nutzbringend.

Oberflächlichkeit äußert sich ja nur zu gern im Hochmut. Die Amerikaner sind sehr stolz auf ihre Wissenschaft, und nur selten einmal findet man drüben die Tatsache anerkannt, daß ihre Resultate auf europäischer Grundlage ruhen. Weil er vieles kann, glaubt der Yankee alles zu verstehen und zu können.

Er wird noch Bescheidenheit lernen müssen, jenes 279 stolz schlichte Bekennen des: »ich weiß, daß ich nichts weiß!« ehe er zu den Hallen Zutritt erhalten kann, wo selbstlose Forscherarbeit vom Suchen zum Schauen gelangt. 280

 


 


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